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Konfliktmanagement: Denken in Gegensätzen | APuZ 43/1995 | bpb.de

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APuZ 43/1995 Artikel 1 Die Kultur des Friedens Toleranz im Umbruch. Über die Schwierigkeit, tolerant zu sein Konfliktmanagement: Denken in Gegensätzen Das Ende des Liberalismus? Der philosophische Kommunitarismus in der politischen Theorie Kommentar und Replik

Konfliktmanagement: Denken in Gegensätzen

Wolfgang Grunwald

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Konflikte gelten bei den meisten Menschen als etwas Negatives. Demgegenüber wird aufgezeigt, daß Konflikte allgegenwärtig sind: sie können -je nachdem, wie sie aufgefaßt und gehandhabt werden -negative, positive oder neutrale Wirkungen haben. Wesentliche Voraussetzung für ein konstruktives Konflikt-management ist daher ein Konfliktverständnis, das sich durch Denken in Gegensätzen auszeichnet. Diese Behauptung wird philosophisch-psychologisch begründet. In diesem Zusammenhang werden praktikable Konfliktbegriffe sowie eine praxisbewährte Typologie wichtiger Konfliktarten vorgestellt. Überdies wird gezeigt, daß sich Konflikte effektiver handhaben lassen, wenn ihr dynamisch-zirkulärer Charakter erkannt wird. Kernelement jedweder zufriedenstellender Konfliktregelung bleiben jedoch die Grundannahmen über Bedeutung und Funktion von Konflikten bei den beteiligten Konfliktparteien.

I. Ausgangslage

Betrachtet man Wirtschaft, Staat und Gesellschaft im Deutschland der ausgehenden neunziger Jahre, so fällt das Streben vieler Funktionsträger auf, ihren Status quo zu konservieren. Dies ist -anthropologisch gesehen -durchaus verständlich: Führt doch alles Unbekannte, Unvertraute und Ungewisse in der gegenwärtigen Epochenwende zu Unsicherheit, Unbehagen oder gar Angst. Interessenvertreter jedweder Couleur berufen sich auf angestammte Rechte und verschärfen gerade damit jene Probleme, die sie beklagen oder zu lösen vorgeben. Mittlerweile aber häufen sich die Krisenindikatoren: ökonomische (Massenarbeitslosigkeit, abnehmende Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen), technologische (zu wenig Hochtechnologie), politisch-administrative (exorbitante Staatsverschuldung, Bürokratismus), sozio-kulturelle (Individualismus, Hedonismus, Werteverfall) sowie ökologische (Umweltzerstörung).

Der stetig zunehmende Wohlstand in den Jahren 1960-1990 hat dazu beigetragen, daß -insgesamt gesehen -zu viele Menschen überangepaßt, bequem, selbstgefällig, egoistisch und gefühlsarm geworden sind. Davor hat schon Demokrit vor ca. 2500 Jahren gewarnt: „Wohlgemutheit erlangen die Menschen durch Maßhalten in der Lust und Harmonie ihres Lebens. Denn Mangel und Überfluß pflegen umzuschlagen und große Erschütterungen in der Seele zu verursachen. Die Seelen aber, die infolge schroffer Gegensätze erschüttert werden, sind weder festgegründet noch wohlgemut.“

In weiten Kreisen der Bevölkerung haben sich individualistische Werte wie Selbstverwirklichung und persönliche Nutzenmaximierung auf Kosten von Selbstdisziplin, Fleiß, Maßhalten, Redlichkeit und sozialer Verantwortung breitgemacht. Nicht von ungefähr gehören die Deutschen weltweit zur Spitzengruppe bei Fernreisen, bei den Urlaubs-tagen, bei den Krankschreibungen, bei der kürze­ sten Lebensarbeitszeit sowie beim Alkohol-und Tablettenmißbrauch. So nimmt es nicht wunder, daß sich in den letzten zehn Jahren eine „Mentalität des Aussitzens“ -auch und gerade bei den so-genannten Führungseliten -etabliert hat: Man wartet ab, setzt auf den Zeitablauf, duckt sich weg, muckt nicht auf, „neutralisiert“ Querdenker und reagiert erst, wenn es unumgänglich erscheint. Kurz: Die Mehrzahl der Führungskräfte sind konflikt-, risiko-und dialogscheu.

Das März-Heft des „Manager Magazin“ spricht denn auch von einer „angepaßten Elite“: Mittelmaß ist die Norm. In den Führungsetagen tummeln sich zu viele Jasager, Karrieristen und Bürokraten. Ihre Maximen sind: „Mehr scheinen als sein“; „das Hemd ist mir näher als der Rock“; „kommt Zeit, kommt Rat“; „keine Experimente!“ Diese Führungseliten pflegen nicht die offene Auseinandersetzung, sondern die Politik der „leisen Sohlen“. Dementsprechend werden unvermeidbare Konflikte möglichst „geräuschlos“ aus der Welt zu schaffen versucht. Heute zieht man das Scheckbuch, um Gegner „ruhigzustellen“ (jüngstes Beispiel der geplante Personalabbau bei der Telekom durch hohe Geldversprechen). Man fühlt sich hier an ein Bonmot von Woody Allen erinnert: „Man hat mich gezwungen -mit Geld!“

Die Gründe solchen Verhaltens sind immer die gleichen: Es fehlt vielen Politikern und Führungskräften an Visionen, an Konfliktfähigkeit, an Prinzipienorientierung, an Zivilcourage; man möchte in Ruhe gelassen werden. Nicht zeitlose, ethische Prinzipien bestimmen primär ihr Denken, Sprechen und Handeln, sondern opportunistische adhoc-Überlegungen. Und das Ganze wird dann noch als „situative Führung“ ausgegeben. „Diese Führungsschicht (deutsche Manager, W. G.) ist seltsam glatt, durchschnittlich, wenig farbig-eigenwillig, ohne deutlichen Ausdruck einer selbstgewonnenen Identität.“ Nach meiner Einschätzung würden nur 15 Prozent aller Top-Manager und Politiker (1. und 2. Ebene) ein Assessment-Center bezügl. sozialer und ethischer Kompetenz bestehen Die „Mentalität des Aussitzens und Verwaltens“, so meine These, fördert latente Konflikte, die bei ungünstiger gesellschaftspolitischer Konstellation -durch wechselseitige Verstärkung der gemannten Krisenindikatoren und bei Erreichen eines kritischen Schwellenwerts -in manifeste Konflikte Umschlagen. Diese Erkenntnis führt zur Kardinalfrage, welches Konfliktverständnis für politische und wirtschaftliche Organisationen funktional oder dysfunktional ist.

II. Sinn und Zweck eines Denkens in Gegensätzen

Die Auffassung der opinion leaders über Wesen, Funktion, Ursachen und Folgen von Konflikten bestimmt auch die Wahrnehmung sowie das Denken, Sprechen und Handeln vor, während und nach einer Konfliktregelung. Fragt man Politiker und Führungskräfte aller Ebenen, was sie mit „Konflikt“ assoziieren, so werden primär genannt: Ärger, Aufregung, Spannung, Streß, Aggression, Unsicherheit, Angst, Wut, Schuldgefühle, Kampf, Angriff, Streit, Gewinn-Verlust-Spiel; d. h. es werden vornehmlich negative Sachverhalte genannt. Erst in zweiter Linie -und viel seltener -wird Neutrales oder gar Positives erwähnt: Veränderung, Weiterentwicklung, Innovation, andere Meinung, Diskussion, Kompromiß, Schlichtung, Hoffnung, Konsens, Chance, Unterschiedlichkeit sowie neue Lösungen

Diese Erfahrungen und/oder Sichtweisen prägen sowohl den individuellen wie den gesellschaftli-eben Umgang mit Konflikten. Ein Grund für die negative Einschätzung von Konflikten liegt zweifellos in der frühkindlichen Erziehung des Menschen: „Ja“ wird belohnt, „Nein“ wird mißbilligt oder gar bestraft. Zudem bedarf ein „Nein“ größerer psychischer Energien als ein „Ja“; „Nein“ grenzt ab oder aus Zudem dürfte die Sehnsucht des Menschen nach Harmonie, Stetigkeit und Beständigkeit der Hauptgrund sein, warum Konflikte vorrangig als etwas Negatives und Destruktives empfunden werden. Das eher Negative zeigt sich denn auch im Lateinischen: „confligere“, „conflictare“ = Zusammenstößen, streiten, zu kämpfen haben mit.

Ungeachtet dieses historischen und sozialen Begriffsverständnisses ist „Konflikt“ jedoch ein integraler Bestandteil unserer natürlichen und sozialen Welt. Denn der rhythmische Wechsel von Gegensätzen kennzeichnet den Kosmos: Werden und Vergehen, Anspannung und Entspannung, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Einatmen und Ausatmen, Auf und Ab, Anfang und Ende, Erfolg und Mißerfolg, Bejahung und Verneinung, Licht und Schatten etc. Kurz: Gegensätze kennzeichnen die Natur, und der Mensch ist Teil von ihr.

Zumal in einer Welt knapper Ressourcen, unterschiedlichster Bedürfnisse der Menschen, unvollkommener Information und komplex-arbeitsteiliger Organisationen ist Konflikt etwas Normales! So gesehen sind Konflikte per se weder gut noch schlecht, sondern sie „sind“. Ohne sie gäbe es keinen Wandel („Der Streit ist der Vater aller Dinge“, Heraklit). Konflikte sind demnach allgegenwärtig. Je nach Bewertung und Handhabung können sie für die Konfliktparteien negative, positive oder neutrale Folgen haben. Eine einseitig negative Sichtweise des Konflikts würde den Blick für seine positiven Facetten verstellen: z. B. als Quelle für die Persönlichkeitsentwicklung, als Indikator für Komplexität, als Motor für Veränderungen, als Stabilisator der Gruppenidentität etc. Gegensätze kennzeichnen also die Welt, freilich nicht kontradiktorische (sogenannte ausschließende, z. B. die Entweder-oder-Sichtweise des Marxismus-Leninismus oder des religiösen Fundamentalismus). Vielmehr geht es um konträre oder relative Gegensätze, die sich ergänzen können (z. B. eine Sowohl-als-auch-Sichtweise; statt Sein -Nichtsein nunmehr Sein -Anderssein). Kurz: Obwohl die Sachverhalte nicht identisch sind, können sie nicht ohne den jeweils anderen bestehen: Sie bedingen einander in komplementärer Weise (Subjekt -Objekt, Struktur -Prozeß, Vorgesetzter -Mitarbeiter, Mann -Frau etc.) Anschaulich hierzu ist auch das Herr-Knecht-Beispiel bei Leibniz, Hegel, Tolstoi oder Brecht: „Der Herr ist so stark, wie es der Knecht zuläßt.“

Diese Gegensätzlichkeiten sind dialektisch zu sehen (gr. dia = zwischen, dazwischen; dialego = ich unterscheide, ich unterrede mich). Sie sind insofern aufeinander bezogen, als a) beide nicht aufeinander zurückgeführt werden können; b) keines von beiden ohne das jeweils andere bestehen kann; c) eine Veränderung in einem zu einer Veränderung im anderen führen würde (z. B. Kapital -

Arbeit, Arbeitgeber -Gewerkschaften, Macht -Recht, Vorgesetzter -Mitarbeiter).

Akzeptiert und praktiziert man das Denken in Gegensätzen, erkennt man den Januskopf in allen Dingen („Jede Medaille hat zwei Seiten“; „audiatur et altera pars“ = man höre auch die Gegenseite) und somit auch die Berechtigung der gegnerischen Auffassung.

III. Merkmale des Konflikts

Vom Denken in Gegensätzen ist es nicht mehr weit zu einem kompromißfördernden Konfliktverständnis, das den relativen Gegensatz und die relative Wahrheit zum Credo hat. Mithin läßt sich „Konflikt“ durch drei basale Merkmale kennzeichnen 1. Gegensätzliche, unvereinbare Interessen/Handlungen (die Beteiligten sind sich dessen bewußt); 2. alle Beteiligten haben (aus ihrer subjektiven Sicht) recht; 3. alle Beteiligten hängen (direkt oder indirekt)

voneinander ab und sind auf dieselben Ressourcen angewiesen.

Beispiele: Konflikte zwischen politischen Parteien; Regierung und Parlament; Stab/Linie; Zentrale/Niederlassung; Produktion/Vertrieb; Kaufleuten/Technikern; Vorgesetzten/Mitarbeitern usw.

Akzeptiert man diese Sichtweise, so ist dies der erste Schritt zu einer tragfähigen, einvemehmlichen Konfliktregelung. Wir haben es hier nicht so sehr mit Logik, als vielmehr mit Psycho-Logik zu tun: Danach ist die subjektive Wahrnehmung eines Menschen für ihn stets auch objektive Realität. Mag die Angst eines Menschen um die Sicherheit seines Arbeitsplatzes subjektiv und unbegründet sein; seine Angst ist insofern „real“, als sie sein Denken, Sprechen und Handeln bestimmt. Der Philosoph Leibniz (1646-1716) hat die „Wahrheiten“ subjektiver Wahrnehmung anschaulich beschrieben: Vier Wanderer nähern sich aus den vier Himmelsrichtungen einer Stadt. Zwar sieht jeder die Stadt aus seiner Perspektive, aber alle sehen dieselbe Stadt. Und alle haben recht, wenn sie sagen, daß die Stadt so aussieht, wie sie sich aus ihrer subjektiven Perspektive zeige. Denn jedwede Wahrnehmung ist selektiv, perspektivisch und wertend! Diese Aussage gilt gleichermaßen für die optische, kognitive und emotionale Wahrnehmung von Konflikten.

Ein weiterer Grund für die negative Bewertung von Konflikten ist neben den oben genannten auch die christlich-abendländische Tradition des zweiwertigen Denkens (ja/nein; richtig/falsch; gut/schlecht) im Gefolge der aristotelischen Logik (Satz vom ausgeschlossenen Dritten; Satz vom Widerspruch, Satz der Identität) Psychologisch betrachtet ist es für eine kompromißorientierte Konfliktregelung förderlich zu sagen: „Nur wenn man die widersprüchlichen Aspekte einer Sache gleichzeitig vor Augen hat, hat man die volle Wahrheit. Begreift man nur die eine Seite eines Wider-spruchs, so kennt man nur einen Teilaspekt, und man muß sich bemühen, nach der zweiten Seite zu suchen.“ Ähnliches meint auch das alte Gleichnis über Recht und Unrecht: Zwei Männer kamen zu einem Weisen und baten ihn zu entscheiden, wer von ihnen weise sei. „Ich weiß, was Recht ist“, sagt der erste. „Ich weiß, was Unrecht ist“, sagt der andere. „Gut“, sagt der Weise, „zusammen seid ihr weise!“

Diese Denkweise wird überzeugend vertreten von dem großen Erkenntnistheoretiker Immanuel Kant (1724-1804): „Ein totaler Irrtum ist unmöglich.“ Und: „Aller Irrtum, in welchen der menschliche Verstand geraten kann, ist ... nur partial, und in jedem irrigen Urteile muß immer etwas Wahres liegen.“ Ferner: „Nie kann aber ein Mensch ganz und gar irren, etwas Wahres ist immer in seiner Erkenntnis.“ Aus dieser Einsicht ergeben sich nach Kant vier wichtige Verhaltensregeln für den Alltag: 1. Zurückhaltung und Behutsamkeit gegenüber den Auffassungen Andersdenkender. 2. Aufgeschlossenheit gegenüber den Erkenntnis-bemühungen Andersdenkender im wohlverstandenen Eigeninteresse. 3. Sich in die Situation des anderen hineinversetzen, um somit zeitweise den Standpunkt des anderen einzunehmen. 4. Die Bereitschaft, jederzeit auch den eigenen Irrtum einzukalkulieren und zuzugestehen. Hierzu Kant: „Man unterwirft, was man gelernt hat oder selbst gedacht hat, genzlich der Critick.“

Zu den ersten beiden Verhaltensregeln für den Konfliktfall schreibt Kant: „Aller unser Streit über Wahrheit hat ein gemeinschaftliches Interesse wie zwischen Freunden ..., soll also theilnehmend, nicht ausschließend, selbstsüchtig und egoistisch seyn. Ich muß davon anfangen, zu bemerken, worin der andere Recht habe.“

Das bedeutet letztlich nichts anderes, als daß man auf abweichende Auffassungen anderer geradezu angewiesen ist, um die Enge und Beschränktheit des eigenen Denkens zu überwinden! Demzufolge sollte jeder Konflikt zunächst aus drei unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden (perspektivische Konfliktanalyse): 1. Wie sehe ich den Konflikt aus meiner Sicht als Betroffene(r)? (eigene Sichtweise). 2. Wie würde ich den Konflikt beschreiben, wenn ich mich in die Situation der Gegenseite hinein-versetzte? (Sichtweise des anderen). 3. Wie würde ein neutraler Dritter den Konflikt beschreiben und beurteilen? (Außenstehender).

Diese Konfliktanalyse müßte von allen Konfliktparteien durchgeführt werden, um so das wechselseitige Verständnis tatsächlich zu fördern. Damit würde auch eine einvemehmliche Konfliktregelung sehr wahrscheinlich.

Daß der in Manager-Journalen und in der populärwissenschaftlichen Berätungsliteratur propagierte omnipotente Manager als „Macher“ wenig mit dialektischem Denken anzufangen vermag, liegt auf der Hand: denkt er doch häufig in Schwarz-Weiß-Kategorien.

Der beschriebene allgemeine Konfliktbegriff muß noch durch eine engere, praktikable Begriffsfassung präzisiert werden, um sich von anderen, ähnlichen Begriffen -wie etwa „Mißverständnis“ oder „Aggression“ -abgrenzen zu können. Eine solche Beschreibung könnte lauten: Konflikte sind -„Spannungssituationen, -in denen zwei oder mehr Parteien, -die voneinander abhängig sind, -bzw. aufeinander bezogen sind, -mit Nachdruck versuchen, -scheinbar oder tatsächlich unvereinbare -Handlungen bzw. Handlungspläne -zu verwirklichen und -r sich dabei ihrer Gegnerschaft bewußt sind.“

Gelänge es, die Führungseliten vom praktischen Nutzen einer dialektischen Sichtweise bei Konflikten zu überzeugen, ließe sich eine kreative Konfliktkultur schaffen, die im Gegensatz zu den weit-verbreiteten hierarchischen Bürokratien und ihnen entsprechenden Denkweisen stünde, in denen Konflikte stigmatisiert, verdrängt, verleugnet oder gar unterdrückt werden, aber gleichwohl wirksam sind (z. B Konkurrenzdenken, »innere Kündigung').

Für die Früherkennung und Regelung von Konflikten ist die Unterscheidung zwischen latent und manifest sowie zwischen objektiv und subjektiv be-deutsam. Denn wie der schweigende Neid im Schweigen wächst (F. Nietzsche), so wächst der schwelende (latente) Konflikt, wenn er nicht manifest wird bzw. werden darf

In Theorie und Praxis wird häufig von Konfliktlösung gesprochen. Dies suggeriert, Konflikte seien endgültig aus der Welt zu schaffen und hätten stets einen definierbaren Anfang und ein endgültiges, sichtbares Ende. Diese Sichtweise ist in den meisten Fällen nicht nur falsch, sondern auch wenig nützlich: Sie ist unhistorisch, statisch und häufig auch individualistisch. Sie übersieht den unlösbaren Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft struktureller, personaler und umfeldbezogener Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen von Konflikten.

Anders formuliert: Die Konfliktparteien in den Organisationen behalten gut im Gedächtnis, wie, durch wen, wann, bei wem, wo, womit und vor allem mit welchen beabsichtigten oder unbeabsichtigten Neben-und Spätfolgen Konflikte gehandhabt wurden. Diese Einschätzung bestimmt nachhaltig (zuweilen über viele Jahre!) die Konfliktkultur von Organisationen -und damit das Ausmaß von Vertrauen und Kooperation bzw. Mißtrauen und Konkurrenz; und folglich auch die Art, Intensität, Dauer und Häufigkeit künftiger latenter und/oder manifester Konflikte.

Deshalb ist es notwendig, Konflikte und deren Regelung stets aus prozeßorientierter-systemischer Sicht, als (fast) immerwährendes, kreiskausales Geschehen ohne eindeutigen Anfangs-und Endpunkt zu begreifen Der zirkuläre Charakter jedweder Konfliktregelung kann mit dem Dichter T. S. Eliot (1888-1965) beschrieben werden: „Was wir als Anfang bezeichnen, ist oft das Ende. Und etwas zu beenden bedeutet, einen Anfang zu machen. Wir beginnen am Ende.“

IV. Typologie der Konfliktarten

Vor jeder Konfliktregelung ist die Analyse der Konfliktursachen und -arten unabdingbar. Über Konfliktarten gibt es eine Fülle unterschiedlich­ ster, zumeist unvollständiger und widersprüchlicher Klassifikationsversuche. Eine praktikable Typologie sollte die Vielfalt der Konflikte auf überschaubare Dimensionen reduzieren. Denkbar wären die folgenden Unterscheidungen 1. Mißverständnisse (Scheinkonflikte aufgrund von Sprachbarrieren, Fehlzuschreibungen, unvollkommener Information, Irrtümern); 2. Persönlichkeitskonflikte (Zwiespalt „in“ der Person: er bedingt soziale Konflikte und umgekehrt); 3. Beziehungskonflikte (Antipathien zwischen Personen); 4. Verteilungskonflikte (knappe Ressourcen:

Geld, Personal, Arbeitsmittel, Zeit); 5. Rollen-Konflikte (widersprüchliche, unvereinbare Erwartungen an den Inhaber einer Position: z. B. Meister im Spannungsfeld von , oben‘ und , unten'); 6. Ziel-Konflikte (verschiedene Ziele und/oder Prioritäten); 7. Ziel-Mittel-Konflikte (Über Ziele besteht Konsens, nicht über Wege, Mittel und Instrumente ihrer Realisierung); 8. Strukturelle Konflikte („Sachzwänge“ aufgrund der Aufbau-/Ablauforganisation, Rechts-und Eigentumsverhältnisse); 9. Werte-Konflikte (divergierende Grundwerte, Ideologien, Welt-und Menschenbilder); 10. Bewertungs-und Beurteilungskonflikte.

In der Praxis finden sich zumeist Mischformen, was die Unterscheidung von Konfliktursachen und -arten erschwert. Auch kann sich z. B. ein ursprünglicher Zielkonflikt zu einem Werte-und Beziehungs-Konflikt ausweiten, so daß Ursachen, Formen und Folgen nur noch systemisch-zirkulär begriffen werden können.

Es sind mindestens sechs typische Grundmuster unterscheidbar (eingeteilt nach der „Reife“ der Kontrahenten), die einzeln oder kombiniert von den Konfliktparteien gewählt werden, um ihren Handlungsspielraum abzusichern. Dabei ist jede Form der Konfliktregelung für die beteiligten Parteien mit Vor-und Nachteilen verbunden. Es sind dies: 1. Flucht (Aus-dem-Wege-gehen), 2. Kampf (Gewinner-Verlierer-Spiel), 3. Unterwerfung des Gegners, 4. Delegation nach , oben‘ bzw. Rein-regieren von , oben‘, 5. Kompromiß (Gefahr: , fauler'Kompromiß) und 6. Konsens.

V. Die Beziehung zwischen Konflikt, Konkurrenz und Kooperation In einer Welt knapper Ressourcen, bürokratischer Herrschaft und hierarchischer Arbeits-und Sozial-beziehungen ist Konkurrenz im Sinne geregelten Wettbewerbs allgegenwärtig -und damit auch der Konflikt um Güter, Rechte und Bedürfnisbefriedigung. Innerhalb dieses Rahmens finden sich viele Spielarten von Kooperation.

In Theorie und Praxis wird Kooperation häufig als gut, positiv und konfliktfrei, hingegen Konkurrenz als schlecht, negativ und konfliktär gesehen. Abgesehen davon, daß sich zumeist Mischformen finden, ist eine polare Sichtweise -hier das Gute, dort das Schlechte -ebenso undialektisch wie falsch. Kooperation und Konkurrenz gehen stets mit Konflikten einher: nämlich Kooperations-und Konkurrenzkonflikten. Das Entscheidende zwischen beiden sind jedoch nicht die Konfliktmerkmale oder -arten, sondern deren Intensität, Dauer, Verlauf und Folgen sowie die vorherrschenden Grundwerte, die jeweilige Untemehmenskultur sowie das Betriebsklima. Danach sind Konkurrenzkonflikte eher durch Mißtrauen, Neid, Intrigen, Rivalitäten und Angst gekennzeichnet (sich selbstverstärkende Ursachen und Folgen); Kooperationskonflikte durch Vertrauen, Wohlwollen, Offenheit, Wechselseitigkeit und Wir-Gefühl. Wie betriebliche Erfahrungen und vor allem die experimentelle Sozialpsychologie zeigen, führen Konkurrenz-Konflikte zu Verlierer/Verlierer-bzw. Verlierer/Gewinner-Situationen; hingegen Kooperations-Konflikte zu Gewinner/Gewinner-Situationen

In den nächsten Jahren werden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft -nicht zuletzt der eingangs erwähnten Probleme wegen -die Verteilungskonflikte und somit auch die Werte-und Beziehungskonflikte erheblich zunehmen. Führung wird somit zur Kunst, unvereinbare Erwartungen und/oder Forderungen fair auszubalancieren, so daß Staats-, Organisations-, Vorgesetzten-und Mitarbeiter-interessen gleichwertig berücksichtigt werden (sog. Führungsdilemmata S.. Parteiprogramme oder Führungsgrundsätze auf Hochglanzbroschüren sind hierfür untauglich. Vielmehr bedarf es zeit-und modeunabhängiger ethischer Prinzipien, die von sittlich reifen, konfliktfähigen und mutigen Politikem/Managem täglich erkämpft und vorgelebt werden müssen. In diesem Sinne hieße Glaubwürdigkeit nicht bloße zielorientierte Verhaltens-steuerung in technokratischer Manier, sondern dienen -und nicht: sich bedienen!

Moden, Leitbilder, Zeitgeist -und erst recht Techniken und Technologien -unterliegen einem Wandel; die Grundprobleme im Zwischenmenschlichen hingegen bleiben: nämlich die Auseinandersetzungen um sozialverträgliche Konfliktregelungen. Die hierfür notwendige innere Grundhaltung hat schon der lateinische Kirchenvater Augustinus (354-430) beschrieben: „Keiner von uns sage, er habe die Wahrheit schon gefunden. Laßt sie uns vielmehr so suchen, als ob sie uns beiden unbekannt sei. Wenn keiner sich anmaßt, sie schon gefunden und erkannt zu haben, dann werden wir sie gewissenhaft und einträchtig gemeinsam suchen können.“

Ein solches Konfliktverständnis bedeutet freilich die Abkehr von jeder Form selbstgerechter, autoritär-bürokratischer Führung. Das erfordert freilich bei den Führenden in Politik und Wirtschaft eine tiefgreifende Einstellungs-und Verhaltensänderung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. in: Baldur Kirchner, Dialektik und Ethik, Wiesbaden 1992, S. 112f.; vgl. ferner Wilhelm Nestle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Wiesbaden 1956, S. 159f.

  2. (Engl, to assess = einschätzen, beurteilen) Auswahl-und Beurteilungsinstrument. Mehrere Kandidaten werden über mehrere Tage mit mehreren Beurteilungsverfahren (Interviews, Tests, Fallstudien, Übungen etc.) von mehreren Beurteilen! nach mehreren Kriterien auf der Basis eines Anforderungs-Profils eingeschätzt. Resümee aus über zehnjähriger Trainingserfahrung des Autors in großen Unternehmen. Vgl. ferner: Wirtschafts-Woche, Nr. 9 vom 26. 2. 1993, S. 40-46 („Manager-Enquete: Die Deutschen führen falsch“), sowie Nr. 11 vom 11. 3. 1994; Erwin K. Scheuch/Ute Scheuch, Bürokraten in den Chefetagen, Reinbek 1995; Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener, München 1993; Werner Bruns, Zeitbombe Bürokratie, Berlin-Frankfurt/M. 1994; Hans G. Möntmann, Protzkis Traumland, Frankfurt/M. 1995; Wolfgang Grunwald, Führung in der Krise: Rückbesinnung auf die Tugend-Ethik, in: Heinz Kappel/Roland Müller (Hrsg.), Offen Führen, Zürich 1995, S. 61- 73; ders., Wie man Vertrauen erwirbt: Von der Mißtrauens-zur Vertrauensorganisation, in: io Management Zeitschrift, (1995) 1-2, S. 1-5; Meinhard Miegel/Stefanie Wahl, Das Ende des Individualismus, München 19942; Günther Ogger, Nieten in Nadelstreifen, München 1992.

  3. So das Ergebnis von Befragungen in Seminaren des Autors bei mehreren hundert Führungskräften aus Großunternehmen.

  4. Vgl: Ren 6 Spitz, Nein und Ja, Stuttgart 1978 (engl. 1957).

  5. Vgl. Anton Stangl/Marie-Luise Stangl, Das Entspannungs-Programm, Düsseldorf-Wien 1974; Herbert Pietschmann, Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, Stuttgart-Wien 1990, S. 216ff.

  6. Vgl. Wolfgang Grunwald/Hans-Georg Lüge (Hrsg.), Kooperation und Konkurrenz in Organisationen, Bem-Stuttgart 1982, S. 50ff.; Wolfgang Grunwald/Wolfgang Redel, Teamarbeit und Konflikthandhabung, in: Zeitschrift Führung und Organisation (Zfo), 5 (1986) 5, S. 305-312; Gerhard Schwarz, Konflikt-Management, Wiesbaden 1990; Willem Mastenbroek, Verhandeln; Frankfurt/M. 1992; Heiner Müller-Merbach, Philosophie-Splitter für das Management, Bad Homburg 1991; Heinz-Rolf Lückert, Konflikt-psychologie, München-Basel 1972; Morton Deutsch, Konfliktregelung, München-Basel 1976; Erika Regnet, Konflikte in Organisationen, Göttingen-Stuttgart 1992; Frank D. Peschanel, Phänomen Konflikt, Paderborn 1993; Karl Berkel, Konfliktforschung und Konfliktbewältigung, Berlin 1984; Wilfried Krüger, Grundlagen, Probleme und Instrumente der Konflikthandhabung in der Unternehmung, Berlin 1972; Friedrich Glasl, Konfliktmanagement, Stuttgart 19892; Bruno Rüttinger, Konflikt und Konfliktlosen, München 1977.

  7. Vgl. Hans Heinz Holz, Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel, Neuwied-Berlin 1968; Hartmut Zwahr, Herr und Knecht -Figurenpaare in der Geschichte, Leipzig-Jena-Berlin 1990; H. Pietschmann (Anm. 5).

  8. Vgl. Gerhard Schwarz, Konflikt-Management, Wiesbaden 1990; Roger Fisher u. a., Jenseits von Machiavelli, Frankfurt-New York 1995, S. 28f.

  9. Vgl. Werner Strombach, Die Gesetze unseres Denkens, München 1970.

  10. G. Schwarz (Anm. 8), S. 14.

  11. Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg-München 1980, S. 44f.

  12. Ebd., S. 61 f. (Originalschreibweise).

  13. B. Rüttinger (Anm. 7), S. 22.

  14. Vgl. Wolfgang Grunwald, Konflikt-Konkurrenz-Kooperation: Eine theoretisch-empirische Konzeptanalyse, in: ders. /H. -G. Lüge (Hrsg.) (Anm. 6), S. 58f.; Wolfgang Krüger, Der alltägliche Neid und seine konstruktive Überwindung, München-Basel 1983, S. 56.

  15. Vgl. L. R. Lee Pondy, Organizational conflict: Concepts and models, in: Administrative Science Quarterly, (1967) 12, S. 296-320.

  16. Vgl. Christian Naase, Konflikte in der Organisation, Stuttgart 1978; W. Grunwald/H. -G. Lüge (Hrsg.) (Anm. 6), S. 50L; Wolfgang Grunwald, Psychotherapie und experimentelle Konfliktforschung, München 1976; Wolfgang Grunwald/Wolfgang Redel, Soziale Konflikte, in: Erwin Roth (Hrsg.), Organisationspsychologie, Zürich 1989, S. 529-551.

  17. Vgl. W. Granwald, Wie man Vertrauen erwirbt (Anm. 2); ders., Über die Grenzen unternehmensinterner Öffentlichkeit, in: ZfO, (1995) 2, S. 95-99; Werner A. Kraus, Collaboration in Organizations, New York-London 1980; Helmut Schoeck, Der Neid und die Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. Slff.; Heinz-Kurt Wahren, Grappenund Teamarbeit in Unternehmen, Berlin-New York 1994, S. 172ff.; Hans W. Bierhoff/Günter F. Müller, Kooperation in Organisationen, in: Zeitschrift für Arbeit-und Organisationspsychologie, (1993) 2, S. 42-51.

  18. Vgl. Gerhard Blickte, Ist Führen immer ein auswegloses Unterfangen?, in: Zeitschrift für Personalforschung, (1993) 4, S. 404-415; Oswald Neuberger, Führen und geführt werden, Stuttgart 19944; ders., Mikropolitik, Stuttgart 1995; Walter Wesser/Wolfgang Granwald, Das Dilemma der Führung, in: Harvard-Manager, (1985), S. 46-50.

  19. Vgl. Baldur Kirchner, Benedikt für Manager, Wiesbaden 1994, S. 135ff.

  20. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, München 1982.

Weitere Inhalte

Wolfgang Grunwald, Dr. phil., Betriebswirt (grad.), Diplom-Psychologe, geb. 1944; Ausbildung als Industriekaufmann bei der AEG, EDV-Organisator bei Siemens, Stabstätigkeit bei Schering; Fachhochschullehrer an der Bayer. Beamtenfachhochschule in Hof/S.; seit 1984 Trainer und Berater in Wirtschaft und Öffentlicher Verwaltung; seit 1986 Professur für Arbeits-und Betriebspsychologie an der Universität Lüneburg. Veröffentlichungen u. a.: Psychotherapie und experimentelle Konfliktforschung, München-Basel 1976; (zus. mit R. Wunderer) Führungslehre, 2 Bde, Berlin-New York 1980; (Hrsg. zus. mit H. -G. Lüge), Partizipative Führung, Bern-Stuttgart 1980; (Hrsg. zus. mit H. -G. Lüge) Kooperation und Konkurrenz in Organisationen, Bern-Stuttgart 1982; zahlreiche Zeitschriftenaufsätze über Konfliktregelung, Teamarbeit, Vertrauen, Menschenbilder, Führung etc.