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Erfolgreiche demokratische Sozialisation. Eine empirische Jugendstudie zur politischen Bildung | APuZ 47/1995 | bpb.de

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APuZ 47/1995 Politische Bildung im vereinigten Deutschland. Über die schwierigen Bedingungen eines notwendigen Dialogs Politische Bildung aus ostdeutscher Sicht Erfolgreiche demokratische Sozialisation. Eine empirische Jugendstudie zur politischen Bildung Medienkompetenz: Neue Aufgabe politischer Bildung

Erfolgreiche demokratische Sozialisation. Eine empirische Jugendstudie zur politischen Bildung

Steffen Harbordt

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1017 West-Berliner Jugendliche, die sich in der Ausbildung in Metall-und Elektroberufen befanden, wurden 1989/90 nach ihrem Konfliktverhalten und nach demokratischen sowie autoritären Einstellungen befragt. Gesucht wurde nach Zusammenhängen mit dem Konfliktverhalten der Eltern und Ausbilder und mit deren Erziehungs-bzw. Führungsstil. Wie die Ergebnisse zeigen, hatten diese Jugendlichen überwiegend gute Chancen, demokratisches Konfliktverhalten zu erlernen. Dabei kommt es vor allem auf eine gute Beziehung der Autoritätspersonen zu den Jugendlichen an. Auf der Einstellungsebene ließ sich feststellen, daß autoritäre Einstellungen sehr wohl mit demokratischen Einstellungen koexistieren können. Der Zusammenhang dieser Einstellungen mit den elterlichen Erziehungsstilen ist jedoch erstaunlich schwach.

Vor siebzehn Jahren beklagte die engagierteste liberale Politikerin der Bundesrepublik, die jüngere Generation bestehe zwar im Unterschied zur älteren Generation aus geborenen Demokraten, aber anscheinend nicht aus gelernten. Demokratische Überzeugungen und Verhaltensweisen lerne die jüngere Generation weder in ihren Elternhäusern noch in den Schulen. Sorgenvoll schloß Hildegard Hamm-Brücher zwei Fragen an: Mit welchen Einstellungen zur Demokratie diese Generation wohl ihren Kindern gegenübertrete und wie demokratische Kontinuität entstehen könne Das war 1978, zehn Jahre nach dem Aufstand der „Achtundsechziger“ gegen undemokratische Verhältnisse in unserer Gesellschaft. Inzwischen sind die damals geborenen Kinder 17 Jahre alt, und wir können uns anschicken, die beiden Fragen zu beantworten. Wer aus den vorhandenen Informationen recht einseitig auswählt, kann ein Bild von „der heutigen Jugend“ malen, das Frau Hamm-Brücher recht gibt: Gewalttätigkeit von und unter Jugendlichen, kriminelle Jugendbanden, rechtsextremistische Untaten, Drogentote, Jugendsekten, Okkultismus -ein einziges Trauerspiel.

Demgegenüber berichtet dieser Beitrag von einer Untersuchung unter ganz „normalen“, unauffälligen Jugendlichen, die in ihrem Alltag -von den Massenmedien unbemerkt -offenbar ein grundlegendes Kapitel demokratischer Sozialisation lernen Befragt wurden Jugendliche in Berlin (West), die eine gewerbliche Berufsausbildung durchlaufen, nach ihren Einstellungen zu bestimmten demokratischen Grundsätzen, umge­ kehrt auch nach autoritären Einstellungen, sowie nach ihrem Verhalten in Konflikten mit Eltern und Ausbildern. Sie gaben ferner Auskunft über den Erziehungsstil ihrer Eltern, über den Führungsstil ihrer Ausbilder und über das Konflikt-verhalten beider Gruppen von „Autoritätspersonen“. Zum Vergleich wurden die zugehörigen Ausbilder selbst nach ihrem Führungsstil und ihrem Konfliktverhalten befragt. So konnte geprüft werden, ob es Zusammenhänge zwischen den politisch bedeutsamen Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen und dem (selbst-oder fremdwahrgenommenen) Verhalten der Erziehungspersonen gibt, piese Personen gehören zu eben jener Generation der nur „geborenen“ Demokraten, über die Frau Hamm-Brücher sich Gedanken machte. Ihre Sorgen waren glücklicherweise unnötig, wie sich heute für den betrachteten Teil der Jugend herausstellt.

I. Fragestellungen und zentrale Begriffe der Untersuchung

Tabelle 1: Die zentralen Variablen im Überblick

(1) Wie verhalten sich demokratische und autoritäre Einstellungen der Jugendlichen zueinander? (2) Wie stehen die Chancen, daß die Jugendlichen bei Auseinandersetzungen mit Eltern und Ausbildern ein demokratisches Konfliktverhalten üben können? (3) Passen ihre demokratischen oder auch ihre autoritären Einstellungen zu ihrem Konfliktverhalten? (4) Gibt es Zusammenhänge dieser Variablen mit dem Erziehungsstil und dem Konfliktverhalten der Eltern oder mit dem Führungsstil und dem Konfliktverhalten der Ausbilder? Das sind die Fragestellungen der Studie, soweit es um die politische Bildung geht. Es gilt dabei auch herauszufinden, was Erziehende besser machen könnten, um demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen der nächsten Generation zu fördern.

Wer sich nicht mit Einstellungen begnügt, sondern auch Verhalten untersuchen will, muß Kriterien und Begründungen finden, wonach bestimmte Verhaltensweisen als „demokratisch“, andere als „nichtdemokratisch“ eingeordnet werden können. Im vorliegenden Fall war das beim Konflikt-verhalten nicht allzu problematisch. Aus den Angaben der befragten Lehrlinge ließen sich drei Konfliktstrategien ermitteln: einen Kompromiß suchen, sich durchsetzen (wollen), sich fügen bzw.den Konflikt vermeiden. Das Schließen von Kompromissen ist in Interessenkonflikten eine demokratische Strategie, weil beide Kontrahenten ihre subjektiv berechtigten Interessen zu einem Teil durchsetzen können Per Umkehrschluß ergibt sich, daß Konfliktvermeiden und Sich-Fügen zur Kategorie des nichtdemokratischen Verhaltens gehören. Gewiß kann es vernünftige Gründe für das Konfliktvermeiden geben, doch als Strategie -abgehoben von konkreten Situationen -kann es nicht demokratisch genannt werden. Die Durchsetzungsstrategie, die man nicht nur im Zusammenhang mit „Ellenbogengesellschaft“ sehen kann, nimmt hier die mittlere Position zwischen den beiden anderen ein. Nach dem Kriterium „ist demokratischer als“ kann somit eine normative Rangfolge begründet werden 1. Kompromiß schließen, 2. sich durchsetzen, 3. sich fügen. Dieselben Strategien waren laut Angaben der Jugendlichen bei den Eltern zu unterscheiden, bei den Ausbildern waren es nur zwei: eine „umgängliche“ und eine „harte“ Konfliktstrategie.

Die Erziehungsstile der Eltern und die Führungsstile der Ausbilder wurden mit einem Instrumentarium erfaßt, das von dem japanischen Sozialwissenschaftler Misumi in Anlehnung an die Ohio-Schule der amerikanischen Führungsforschung entwickelt wurde Danach werden im Erziehungs-wie im Führungsverhalten zwei Dimensionen unterschieden: Eine Dimension der Erziehung ist, wie sehr sich die Eltern an bestimmten Erziehungszielen orientieren; hier sind das Leistung und die Befolgung von Vorschriften. Die andere Dimension ist das Bemühen um eine gute emotionale und soziale Beziehung zu ihren Kindern. Aus der Kombination der beiden Dimensionen ergeben sich vier Erziehungsstile: Die Eltern legen sowohl auf die Leistung der Jugendlichen als auch auf eine gute Beziehung zu ihnen Wert, sie achten entweder nur auf die eine oder auf die andere Dimension, sie kümmern sich um beides nicht besonders. Die Führungsstile der Ausbilder sind nach dem gleichen Muster konstruiert, nur ist die erste Verhaltens-dimension hier die „Aufgabenorientierung“ der Ausbilder. Der Übersichtlichkeit halber sind die zentralen Variablen der Untersuchung in Tabelle 1 zusammengestellt.

II. Die empirische Grundlage der Studie

Tabelle 2: Stichprobe und Gesamtheit der gewerblich Auszubildenden in der Industrie in Berlin (West) Ende 1990

Schriftlich befragt wurden 1017 gewerbliche Auszubildende aus industriellen Metall-und Elektroberufen in West-Berliner Betrieben und ihre 123 Ausbilder. Die Befragung fand zwischen Juni 1989 und Mai 1990 statt, je ein halbes Jahr vor und nach dem Fall der Berliner Mauer. Eine Zufallsstichprobe der Betriebe konnte nicht realisiert werden; in der Studie sind die „guten“ Ausbildungsstätten vermutlich (leicht) überrepräsentiert. Tabelle 2 zeigt, wie sich die Lehrlingsstichprobe nach fünf untersuchungsrelevanten Merkmalen zusammensetzt; zum Vergleich sind die entsprechenden Zahlen für die Grundgesamtheit angegeben. Die Grundgesamtheit sind alle gewerblichen Auszubildenden in Berlin-West, die im Erhebungszeitraum in der Industrie ausgebildet wurden. Im Hinblick auf die tabellierten Merkmale ist die Stichprobe nur bedingt repräsentativ für die gewerblichen Auszubildenden in Berlin-West.

III. Für die politische Bildung bedeutsame Ergebnisse

Abbildung: Autoritär eingestellte deutsche Jugendliche mit deutlich demokratischen Einstellungen (n = 142 = 100 %)

1. Demokratische und autoritäre Einstellungen .

Die demokratischen Einstellungen wurden folgendermaßen erhoben Ein Index Demokratische Grundsätze bezieht sich auf demokratische Prinzipien wie Meinungsfreiheit, Streikrecht und Oppositionsprinzip; ein Index Konfliktakzeptanz betrifft Einstellungen zu politischen Konflikten, zum Beispiel zwischen Regierung und Opposition oder zwischen Interessengruppen; ein einzelnes Item bezieht sich auf Gewalt, auf die gewaltlose Austragung von gesellschaftlichen Konflikten.

Wie in früheren Untersuchungen ist die Zustimmung zu den demokratischen Prinzipien am höchsten, 92 % der Jugendlichen stimmen zu. Erheblich darunter liegt die Ablehnung von Gewalt in gesellschaftlichen Konflikten (66%). Am geringsten ist die Zustimmung zu politischen Konflikten (48 %). Bemerkenswerterweise hat aber die Konfliktakzeptanz um 7 bis 12 Prozentpunkte gegenüber Daten von Jugendlichen aus dem Jahr 1982 zugenommen. Im gleichen Zeitraum hat allerdings auch die Gewaltablehnung abgenommen -von 78 % auf 66 %

Gewissermaßen zur Kontrolle wurden autoritäre Einstellungen der Lehrlinge erhoben Sie betreffen Unterordnung und Nationalismus sowie eine starke Bindung an die Eltern. Die Zustimmung zu Unterordnung und Nationalismus hat gegenüber einer ähnlichen Erhebung von 1979 deutlich zugenommen. Das deckt sich mit anderen, vergleichbaren Befunden aus diesem Zeitraum In der vorliegenden Stichprobe sind 21 % der deutschen Jugendlichen autoritär eingestellt, 25 % nichtautoritär (sie lehnen die autoritären Aussagen ab), 54% liegen mit „teils/teils“ dazwischen. Solche quantitativen Befunde hängen von den gewählten Grenzziehungen auf der Autoritarismus-Skala ab, außerdem können sie inzwischen überholt sein.

Aufschlußreich war die Frage, ob Jugendliche -und nicht nur sie -sowohl demokratisch als auch autoritär eingestellt sein können. Die nachstehende Abbildung zeigt die Antwort. Darin symbolisiert der gepunktete Kreis die autoritär eingestellten Befragten, der rechte Kreis die jeweilige Teilmenge mit deutlich demokratischen Einstellungen. Die Überschneidungsmengen sind die gesuchten Antworten.

Wie man sieht, können autoritäre Einstellungen sehr wohl mit demokratischen Einstellungen zu Meinungsfreiheit, Streikrecht, politischer Opposition und Abwahl der Regierung koexistieren, nämlich bei fast zwei Drittel der Befragten. Autoritäre Einstellungen und Gewaltablehnung kommen noch bei jedem Dritten zusammen vor. Bei politischen Konflikten scheiden sich aber die Geister: Autoritär Eingestellte können -bis auf 1 Prozent -politische Konflikte (der erfragten Art) nicht akzeptieren. Aber selbst bei den nichtautoritär Eingestellten läßt die Konfliktakzeptanz zu wünschen übrig: Nur 41 % von diesen Jugendlichen haben politische Konflikte deutlich akzeptiert. Aus diesen Befunden folgt: -Von autoritären Einstellungen darf man nicht allgemein auf fehlende demokratische Einstellungen schließen. -Ebensowenig darf man umgekehrt aus der Ablehnung von autoritären Einstellungen ganz allgemein auf demokratische Einstellungen, hier speziell auf die Befürwortung von politischen Konflikten, schließen. -Menschen mit autoritären Einstellungen dürfen nicht mit Rechtsextremisten verwechselt werden, weil es sehr wohl sein kann, daß sie bestimmte demokratische Prinzipien befürworten -beispielsweise Gewalt (verbal) ablehnen.

2. Demokratisches und nichtdemokratisches Konfliktverhalten

Doch was besagen schon Einstellungen? An der politischen Sozialisation interessiert uns vorrangig, ob Jugendliche sich demokratisch verhalten. Der Schluß von Einstellungen auf Verhalten ist bekanntlich aber sehr gewagt. Wenden wir uns darum lieber den Konfliktstrategien der jugendlichen Befragten in Alltagssituationen zu. Tabelle 3 zeigt: Am häufigsten wählen sie die Kompromißstrategie, nicht nur im Elternhaus, sondern auch -knapp vor dem Sich-Fügen -in der betrieblichen Ausbildung. Darin steckt ein Lob für die Eltern und Ausbilder, denn zürn Kompromiß gehören immer zwei! In diesem Punkt klappt die demokratische Sozialisation in dem untersuchten Gesellschaftsausschnitt anscheinend recht gut; bei den deutschen Befragten übrigens in höherem Maße als bei denen ausländischer Herkunft. Sich-Durchsetzen und Sich-Fügen kommen im Elternhaus im Mittel ungefähr gleich häufig vor, doch rund 10 % der Jugendlichen geben an, daß sie die Durchsetzungsstrategie „oft“ oder „fast immer“ wählen, während das beim Sich-Fügen nur rund vier Prozent sagen. Im Betrieb sind die Durchsetzungschancen verständlicherweise äußerst gering.

3. Zusammenhänge zwischen Einstellungen und Konfliktverhalten der Jugendlichen

Wie gut „passen“ die politisch bedeutsamen Einstellungen der Jugendlichen zu ihrem Konfliktverhalten? Die Zusammenhänge sind schwach, denn die Korrelationen (gemessen durch den Korrelationskoeffizienten r auf einer Skala von 0. 0 bis 1. 0) sind niedrig, sie liegen unter r = . 28. Das illustriert, wie gewagt der Schluß von Einstellungen auf Verhalten (oder umgekehrt) ist Immerhin zeigt sich aber ein klares qualitatives Muster: Kompromißverhalten der Jugendlichen hängt positiv mit demokratischen Einstellungen und negativ mit autoritären zusammen. Hartes Sich-Durchsetzen gegen die Eltern kommt bei autoritär Eingestellten seltener vor als bei Nichtautoritären. Je autoritärer ein Jugendlicher oder eine Jugendliche eingestellt ist, um so weniger wahrscheinlich wird er oder sie in Auseinandersetzungen mit den Eltern an seinen (ihren) Konfliktzielen festhalten. Sich-Fügen geht mit autoritären Einstellungen einher, paßt aber nicht ganz zu demokratischen Einstellungen.

In Auseinandersetzungen mit Autoritätspersonen neigt somit der autoritär Eingestellte dazu, sich zu fügen oder solchen Konflikten von vornherein aus dem Weg zu gehen. Die allgemeine These, daß er mehr als andere zur Konfliktscheu tendiert, bestätigt sich in zweifacher Weise: in seinem Alltagsverhalten und in der ablehnenden Einstellung zu politischen Konflikten.

4. Zusammenhänge mit dem Verhalten der Eltern und Ausbilder

Die demokratischen und autoritären Einstellungen der Befragten haben anscheinend nur wenig mit dem untersuchten Verhalten der Autoritätspersonen zu tun, übrigens auch wenig mit dem Schulabschluß der Jugendlichen. Jedenfalls sind die Korrelationen so niedrig, daß man sich erstaunt fragt, woher diese Einstellungen nur kommen mögen. Lediglich die Einstellungen zu den demokratischen Prinzipien korrelieren in nennenswertem Maß mit Faktoren des Elternhauses: Je öfter die Eltern mit den Kindern über Politik diskutieren und je häufiger sie im Konfliktfall Kompromisse schließen, um so häufiger -etwas häufiger -ist diese Art von demokratischen Einstellungen. Die untersuchten betrieblichen Variablen stehen in keinem nachweisbaren Zusammenhang mit den demokratischen Einstellungen.

Bei den autoritären Einstellungen liegen die Dinge nur wenig anders. Es gibt schwache Beziehungen zum Erziehungsverhalten der Eltern und noch schwächere zum Führungsverhalten der Ausbilder. Je mehr die Eltern für eine gute Beziehung zu ihren Kindern tun, um so häufiger -mäßig häufiger -sind autoritäre Einstellungen bei den Jugend-liehen zu verzeichnen. Das kommt zum Teil daher, daß vier der erfragten autoritären Einstellungen die Bindung an die Eltern betreffen Wenn die Eltern zugleich auf Leistung Wert legen (LB-Stil), ist der Anteil der Autoritären am höchsten (36 %), am niedrigsten ist er bei dem entgegengesetzten lb-Stil (10%). In der betrieblichen Ausbildung verhält es sich abgeschwächt ähnlich: Bei dem AB-Führungsstil gibt es eine leichte Häufung der autoritär Eingestellten (27 %) bei dem ab-Stil sind es nur 18 % -also etwas weniger als der Stichproben-durchschnitt. Eine Bemerkung wert sind auch die „Fehlanzeigen“, d. h. erwartete, aber nicht bestätigte Zusammenhänge: Die autoritären Einstellungen haben in dieser Stichprobe nichts mit Zukunftssorgen oder mit Ohnmachtsgefühlen der Jugendlichen zu tun.

Auf der Verhaltensebene sind die Beziehungen enger als auf der Einstellungsebene. Beim Konflikt-verhalten ist das kein Wunder, handelt es sich doch um Interaktionen par excellence. Vergleichen wir zuerst die demokratische mit der nichtdemokratischen Strategie der Jugendlichen. Zwei Bedingungen „fördern“ das Kompromißverhalten der Jugendlichen: a) wenn die Eltern ebenfalls die Kompromißstrategie bzw. wenn die Ausbilder die umgängliche Strategie anwenden und b) wenn sie sich um eine gute Beziehung zu den Jugendlichen bemühen.

Beim nichtdemokratischen Konfliktverhalten verhält es sich entgegengesetzt: Die Jugendlichen neigen um so häufiger zum Sich-Fügen, je mehr die Autoritätspersonen die harte Konfliktstrategie bevorzugen, je mehr im Elternhaus auf Vorschriften und Leistung Wert gelegt wird und, im Betrieb, je weniger die Ausbilder für eine gute Beziehung tun. Im Betrieb sind die Zusammenhänge schwächer, vermutlich hängt das jugendliche Konfliktverhalten dort von mehr Faktoren ab als im Elternhaus -zum Beispiel vom Verhalten der Mitlehrlinge. Diese. Ergebnisse sind soweit nicht sonderlich überraschend; interessant ist aber der Zusammenhang zwischen dem Kompromißverhalten der Jugendlichen im Elternhaus und im Betrieb: Je häufiger sie zu Hause die demokratische Strategie wäh­ len, und je häufiger die Eltern das tun, um so mehr neigen die Jugendlichen auch zur Kompromißstrategie gegenüber ihren Ausbildern. Anscheinend wirkt das elterliche Kompromißverhalten als ein Modell, das die Jugendlichen lernen und auf andere Lebensbereiche übertragen.

Wie steht es mit der Durchsetzungsstrategie? Das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt auch hier: Je häufiger die Eltern oder Ausbilder zur harten Konflikt-strategie greifen, um so häufiger tun das die Jugendlichen ebenfalls -oder umgekehrt. Neben diesem Bumerangeffekt gibt es noch eine andere Beziehung: Je häufiger die Jugendlichen die Durchsetzungsstrategie wählen, um so häufiger geben die Eltern auf. Da Korrelationen nichts über die Wirkungsrichtung sagen, kann es auch umgekehrt sein: Je häufiger die Eltern nachgeben oder sich fügen -weshalb auch immer um so öfter setzen die Jugendlichen auf die Durchsetzungsstrategie. Diese Strategie hat außerdem etwas mit dem Erziehungs-bzw. Führungsstil zu tun. Je mehr die Erwachsenen um eine gute Beziehung bemüht sind, um so weniger versuchen die Jugendlichen, sich durchzusetzen. Der Bumerangeffekt kommt noch in einer weniger häufigen Variante vor, wobei er sozusagen die Falschen trifft: Je öfter die Eltern sich in Konflikten durchsetzen, um so eher schalten die Jugendlichen auch im Betrieb auf Durchsetzen; und je öfter die Ausbilder Härte zeigen, um so eher tun das die Jugendlichen auch gegenüber den Eltern. Wenn also Eltern oder Ausbilder auf mangelnde Kompromißbereitschaft der Jugendlichen stoßen, muß das nicht „selbstverschuldet“ sein.

IV. Folgerungen

Tabelle 3: Mittelwerte und prozentuale Werte für die Konfliktstrategien der Jugendlichen in Elternhaus und Betrieb

Nur zwei Schlußfolgerungen aus diesen Befunden können hier dargelegt werden. Die erste betrifft die betriebliche Ausbildung. Ihr überliefertes Image, sie bringe autoritär eingestellte Arbeitnehmer hervor, wird für den untersuchten Bereich widerlegt, denn die aufgefundenen Beziehungen sind zu dünn. Unterteilt man die Befragten nach Lehrjahren, so ergibt sich vom ersten zum dritten/vierten Ausbildungsjahr sogar eine leichte Abnahme der autoritären Einstellungen. Mehr noch, die Ausbilder (in den untersuchten Betrieben) tragen mehrheitlich etwas zur demokratischen Sozialisation, nämlich zum demokratischen Konfliktverhalten der Jugendlichen bei. Die Lehrlinge nehmen bei ihren Ausbildern die „umgängliche“

Konfliktstrategie ungefähr gleich häufig wahr wie die „harte“; die Ausbilder selbst geben interessanterweise etwas öfter die harte Strategie an. Vor allem ältere Ausbilder halten diese Strategie oftmals für notwendig. Wie weit das neue Image verallgemeinert werden kann -etwa auf weniger angesehene Ausbildungsberufe oder auf die handwerkliche Ausbildung -, bleibt allerdings offen.

Die andere Schlußfolgerung betrifft die elterlichen Erziehungsstile. Da tut sich ein Widerspruch auf: Wenn die Eltern sich um eine gute Beziehung zu ihren Kindern kümmern, dann „fördern“ sie (mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit) einerseits deren autoritäre Einstellungen, andererseits aber (mit einer bedeutend größeren Wahrscheinlichkeit) deren Kompromißverhalten. Für die Minimierung von autoritären Einstellungen wäre der Minimal-Erziehungsstil (lb-Stil) am besten. Dieser Stil weist eine gewisse Nähe zur „antiautoritären Erziehung“ auf. Insofern spricht der empirische Befund gegen Spekulationen, wonach der heutige Rechtsradikalismus unter Jugendlichen unter anderem auf die antiautoritäre Erziehung zurückzuführen sei Zur Förderung des Kompromißverhaltens ist hingegen der beziehungsbetonte B-Stil der beste. Um zugleich autoritäre Einstellungen der Kinder möglichst gering zu halten, sollten Eltern darauf achten, daß sie ihre eigenen autoritären Einstellungen nicht auf die Kinder übertragen. Denn nach kanadischen Untersuchungen gehören elterliche autoritäre Einstellungen zu den bedeutsamsten Faktoren im Elternhaus, die autoritär eingestellte Jugendliche hervorbringen

Die Studie erlaubt eine Reihe von praktischen Folgerungen für die politische Bildung. Ganz allgemein kann man sagen: Autoritätspersonen sollten sehr bewußt auf ihr Verhalten in Auseinandersetzungen mit den Jugendlichen achten, denn das ist für die demokratische Sozialisation genauso wichtig wie ihr Erziehungs-und Führungsverhalten. Eine andere Folgerung lautet: Autoritätspersonen -und nicht nur sie -sollten wissen, daß ihr Verhalten von den Jugendlichen anders wahrgenommen wird, als sie selbst es sehen. Für das Verhalten der Jugendlichen hat aber ihre eigene Wahrnehmung mehr Gewicht als die Selbstwahrnehmung der Erwachsenen. Wer die Reaktionen von Jugendlichen richtig verstehen will, sollte also auf geeignete Weise in Erfahrung bringen, wie er (oder sie) von den Jugendlichen gesehen wird. Diese und weitere Empfehlungen haben allerdings den Haken, daß sie aus statistischen Gründen strenggenommen nur als Vermutungen über kausale Zusammenhänge anzusehen sind; sie gelten darum nur „versuchsweise“, falls sie nicht durch zusätzliche Erfahrung gestützt werden.

V. Zur Generalisierbarkeit der Befunde

Damit sind wir bei den unvermeidlichen Begrenztheiten dieser Studie. Eine zentrale Frage ist stets: Wie weit sind die Befunde thematisch, sozial-räumlich und zeitlich gesehen verallgemeinerbar?

1. Thematisch: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, demokratisches Konfliktverhalten beweist nicht schon eine voll etablierte Demokratie im Alltag. Andere Studien haben aber weitere Belege geliefert. Demokratieförderliche Erziehungsziele und -praktiken der Eltern, Entscheidungsbeteiligung der Jugendlichen in der Familie und in anderen sozialen Systemen sind Beispiele dafür, daß demokratische Elemente zunehmend in die Alltagskultur im Nachkriegsdeutschland Eingang gefunden haben Andererseits ist beispielsweise Gewalttätigkeit unter Jugendlichen ein krasser Beleg für mangelnde Demokratie im Alltag. Die These von der allmählichen Demokratisierung auf der gesellschaftlichen Mikroebene trifft wohl nur für einen Teil der Jugendlichen, allerdings den weitaus größeren, zu. Ein kleiner Teil -wahrscheinlich aus schwierigen Familienverhältnissen, mit schlechter Schulbildung, ohne Berufsausbil-düng, mit Identitäts-und Beziehungsproblemen -steht auf der benachteiligten Seite einer polarisierenden gesellschaftlichen Entwicklung

2. Sozial-räumlich: Ob die Untersuchungsergebnisse auf andere Teile der Jugend oder auf andere Landesteile übertragen werden können, hängt von der Art der Ergebnisse ab. Quantitative Befunde, etwa zur Häufigkeit von autoritären Einstellungen oder von Führungsstilen, können von der Zusammensetzung der Stichprobe beeinflußt sein und sollten darum nicht verallgemeinert werden. Häufigkeitsangaben für gewerbliche Auszubildende in der Industrie können z. B. keine Geltung für kaufmännische Lehrlinge in Industrie und Handel beanspruchen, weil diese Teilgruppe sich nach Schulbildung und Geschlecht anders zusammensetzt. Erst recht gelten sie nicht für „die Jugendlichen“ in Berlin oder gar in ländlichen Gegenden. Qualitative Befunde, Beziehungen zwischen bestimmten Untersuchungsvariablen betreffend, können eher verallgemeinert werden. Es ist beispielsweise gut denkbar, daß das elterliche Bemühen um eine gute emotionale und soziale Beziehung auch in Bayern oder Sachsen mit demokratischem Konfliktverhalten der Jugendlichen einhergeht.

3. Zeitlich: Quantitative Aussagen können (müssen aber nicht) aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen seit 1989/90 überholt sein. Nehmen wir als Beispiel die Ausbilderführungsstile: Viele Unternehmen haben bereits Personal in den Ausbildungsabteilungen „eingespart“, andere werden folgen. Falls sich dadurch die Zahl der Auszubildenden pro Ausbilder erhöht und die verbleibenden Ausbilder weniger Zeit pro Lehrling haben, kann sich das leicht auf ihre Führungsstile und Konfliktstrategien auswirken. Das Bemühen um eine gute Beziehung wie auch die Suche nach Kompromissen kostet Zeit -überhaupt, Demokratie kostet Zeit. Aber der Zusammenhang zwischen der Beziehungsdimension und der Kompromißstrategie bleibt davon unberührt.

Trotz der dreifach beschränkten Reichweite der quantitativen Ergebnisse kann man aber sagen -und sollte es laut sagen Es gibt ein Element demokratischer Kultur mehr, nämlich demokratisches Konfliktverhalten, das ein Teil der deutschen Jugendlichen gelernt hat und das in ihrem Alltag gut verwurzelt ist. Gewiß lernt eine Gesellschaft Demokratie nicht in einer Generation, aber die ersten Schritte zur Demokratie im Alltag und zu einer demokratischen Kontinuität sind gemacht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hildegard Hamm-Brücher, Was bedeutet uns unsere Demokratie? Vorwort zu: Die Zukunft unserer Demokratie. Die Tagung 1978 der Stiftung Theodor-Heuss-Preis und des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, München 1979, S. 9.

  2. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie entstand in Zusammenarbeit des Instituts für Politikwissenschaft der Technischen Universität Berlin mit dem Institut für Berufsbildung in Berlin: Steffen Harbordt/Dorothea Grieger (Hrsg.), Demokratie lernen im Alltag? Führung, Konflikte und Demokratie in Ausbildung und Elternhaus, Opladen 1995. Im Folgenden wird auf einzelne Teile dieses Forschungsberichts verwiesen.

  3. Vgl. beispielsweise den „Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 10. Dezember 1991, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Sonderdruck vom 10. April 1992, S. 4 und 14.

  4. Ausführlicher wird das begründet von Almut Kühler u. a., Soziale Konflikte in der Ausbildung und im Elternhaus, Kapitel 7 des Forschungsberichts (Anm. 2), S. 235 ff.

  5. Vgl. Jyuji Misumi, The Behavioral Science of Leadership. An Interdisciplinary Japanese Research Program, Ann Arbor 1985.

  6. Ausführlicher beschrieben von Michael Pranger, Empirische Basis und Methoden, Kapitel 2 des Forschungsberichts (Anm. 2).

  7. Zugrunde liegt die Demokratieskala von Max Kaase, vgl.ders., Demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik, Bd. 2, München-Wien 1971, 8. 119-326.

  8. Vgl. Steffen Harbordt, Demokratische und autoritäre Einstellungen von Auszubildenden, Kapitel 6 des Forschungsberichts (Anm. 2), Tabelle 6. 1.

  9. Die Autoritarismus-Skala wurde übernommen aus Gerda Lederer, Jugend und Autorität. Über den Einstellungswandel zum Autoritarismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Opladen 1983. Die nachstehenden Befunde sind ebenfalls in Kapitel 6 des Forschungsberichts (Anm. 2) belegt.

  10. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation, Weinheim-München 19893; ferner Gerda Lederer/Joachim Nerger/Susanne Schmidt/Christian Seipel, Autoritarismus unter Jugendlichen der ehemaligen DDR, in: Deutschland Archiv, 24 (1991), S. 587-596.

  11. Die Häufigkeit von Einstellungsuntersuchungen im politischen Bereich steht vermutlich in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Erkenntniswert für die politische Bildung.

  12. Die gesamte Autoritarismus-Skala hat 10 Items, davon gehören 4 Items zur Subskala „Starke Elternbindung“.

  13. Genau gesagt: Von denjenigen Befragten, die ihren Ausbildern den aufgaben-und beziehungsorientierten Stil zuschreiben, sind 27% autoritär eingestellt, d. h. haben auf der A-Skala, die von 1 bis 5 reicht, einen Wert > 3. 5.

  14. Die Anführungszeichen sollen korrigierend zum Ausdruck bringen, daß Korrelationen keine Kausalaussagen zulassen. Auf Verfahren der schließenden Statistik mußte in dieser Studie verzichtet werden, siehe dazu Michael Pranger in Kap. 2. 3 des Forschungsberichts (Anm. 2).

  15. Vgl. dazu auch Roland Merten, Erziehung -Rechts-extremismus -Gewalt. Zur politischen Sozialisation Jugendlicher, in: Hans-Uwe Otto/Roland Merten (Hrsg.), Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1993, S. 126-146.

  16. Vgl. Bob Altemeyer, Enemies of freedom. Understanding right-wing authoritarianism, San Francisco -London 1988.

  17. Weitere Folgerungen bei Steffen Harbordt, Demokratische Sozialisation und berufliche Bildung von Jugendlichen, Schlußkapitel des Forschungsberichts (Anm. 2).

  18. Vgl. zur Familie etwa Walter Jaide/Hans-Joachim Veen, Bilanz der Jugendforschung. Ergebnisse empirischer Analysen in der Bundesrepublik Deutschland von 1975 bis 1987, Paderborn u. a. 1989; R. Merten (Anm. 15); Karl-Heinz Reuband, Von äußerer Verhaltenskonformität zu selbständigem Handeln. Über die Bedeutung kultureller und struktureller Einflüsse für den Wandel in den Erziehungszielen und Sozialisationsinhalten, in: Heinz-Otto Luthe/Heiner Meulemann (Hrsg.), Wertewandel -Faktum oder Fiktion? Bestandsaufnahmen und Diagnosen aus kultursoziologischer Sicht, Frankfurt a. M. -New York 1988, S. 73-97; Jürgen Zinnecker, Kindheit. Erziehung. Familie, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugendliche und Erwachsene ’ 85. Generationen im Vergleich, Bd. 3: Jugend der fünfziger Jahre -heute, Opladen 1985, S. 97-292.

  19. Zur „Polarisierungsthese“ siehe Ulf Preuss-Lausitz, Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000, Weinheim-Basel 1993, S. 112.

Weitere Inhalte

Steffen Harbordt, Dr. phil., geb. 1934; Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Computersimulation in den Sozialwissenschaften, 2 Bde., Reinbek 1974; (Hrsg.) Wissenschaft und Nationalsozialismus, Berlin 1983; (Hrsg, und Mitautor) Demokratie lernen im Alltag? Führung, Konflikte und Demokratie in Ausbildung und Elternhaus, Opladen 1995.