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Medienkompetenz: Neue Aufgabe politischer Bildung | APuZ 47/1995 | bpb.de

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APuZ 47/1995 Politische Bildung im vereinigten Deutschland. Über die schwierigen Bedingungen eines notwendigen Dialogs Politische Bildung aus ostdeutscher Sicht Erfolgreiche demokratische Sozialisation. Eine empirische Jugendstudie zur politischen Bildung Medienkompetenz: Neue Aufgabe politischer Bildung

Medienkompetenz: Neue Aufgabe politischer Bildung

Horst Dichanz

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Verfasser entwickelt an zwei Medienbeispielen aus dem Alltag (das BVG-Urteil zu Kruzifixen in der Schule und der versuchte Eingriff des Medienunternehmers Leo Kirch in die Personalpolitik einer Zeitungsredaktion) Fragen und Problemzusammenhänge, die sich aus der Berichterstattung zu diesen Ereignissen ergeben. Er überprüft, über welche Kenntnisse ein Bürger verfügen muß, um diese Berichte sachgerecht zu entschlüsseln. Anhand von Daten über Verbreitung und Nutzung von Medien wird deren hohe Bedeutung für den Alltag der Bürger nachgewiesen. Im Anschluß an die Frage, was „Medienwelten“ eigentlich darstellen, wird das Problem der Wirklichkeitsabbildung in Medien erörtert und anhand zahlreicher Beispiele aufgeschlüsselt. Mit Rückgriff auf Presseberichte demonstriert der Autor, daß in jede Berichterstattung „Bearbeitungs-Spuren“ der Journalisten eingehen, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit prägen. Wenn solche „Bearbeitungen“ bewußt aus politischem Interesse erfolgen oder verlangt werden, wird die gesellschaftspolitische bzw. machtpolitische Bedeutung der Arbeit in Medien bzw.des Besitzes von Medien klar. Im Anschluß an die häufig erhobene Forderung Aach einer wirksameren Medienerziehung erörtert der Verfasser realistische Erwartungen und Merkmale einer instrumenteilen wie einer konstruktiven Medien-kompetenz.

I. Medienalltag

Tabelle 1: Mediengeräte im Haushalt: Relativer Anteil der Familien mit mindestens einem Gerät und durchschnittliche Anzahl der im Haushalt vorhandenen Geräte (n = 200 Familien) Quelle: Bettina Hurrelmann u. a. Lesesozialisation Band 1, Gütersloh 1993, S. 87.

Im August 1995 sorgten zwei Ereignisse bundesweit für politische Aufmerksamkeit und verursachten in den bundesdeutschen Medien erhebliches Aufsehen, das sich in vielen Schlagzeilen und Kommentaren niederschlug. -Am 10. August verkündete das Bundesverfassungsgericht (BVG) ein Urteil seines Ersten Senats: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnis-schule ist, verstößt gegen Art. 41 GG ... Insofern ist auch der entsprechende Paragraph 1313 der Bayerischen Volksschulordnung, der die Anbringung von Kreuzen bzw. Kruzifixen vorschreibt, mit Art. 41 des GG nicht vereinbar und insofern nichtig.“

Abbildung 2: Kirch-Konzern: Ausländsbeteiligungen (Anteile in Prozent) Quelle: s. Abb. 1, S. 39.

Die Zeitungen titelten und kommentierten wie . folgt:

„Karlsruhe verbannt Kreuze aus Klassen“

(Frankfurter Rundschau, 11. 8.)

Welle der Empörung gegen Kruzifix-Urteil 6* (Die Welt, 11. 8.)

#„Kruzifix-Urteil unverständlich“

(Die Welt, 12. /13. 8.)

„Kreuze dürfen vorerst bleiben“

(Die Welt, 12. 8.)

„Das Kreuz, die Kirche und der Staat“

(Süddeutsche Zeitung, 12. /13. 8.)

„Die Kirche bleibt im Dorf“

(Die Zeit, 18. 8.)

„Das Kreuz ist kein Maskottchen“

(Die Zeit, 18. 8.)

„Fünf Richter auf der Anklagebank“

(Die Zeit, 18. 8.) „Das Kreuz ist der Nerv“ (Der Spiegel, Nr. 33) „Das Kruzifix -mehr als ein Wandschmuck“ (Süddeutsche Zeitung, 11. 8.) „Die Welt“ veröffentlichte am 11. August einen Gastkommentar von Rudolf Wassermann: „Schule ohne Kreuz“, der in dem Urteil des BVG die Anerkennung „der Trennung von Staat und Kirche als einem grundlegenden Verfassungsprinzip“ sieht und die Bundesrepublik Deutschland als einen „weltanschaulich neutrale(n) Staat“ betrachtet. Dieser Kommentar löste das zweite Ereignis aus: -Alle überregionalen Zeitungen meldeten und kommentierten z. T. ausführlich den Versuch des Medienuntemehmers und Großaktionärs beim Springer-Konzern, Leo Kirch, die Ablösung des Chefredakteurs der Tageszeitung „Die Welt“ durchzusetzen. Mit Blick auf den Gastkommentar schrieb Kirch an den Springer-Verlag, er mißbillige die Entscheidung des Chefredakteurs, diesen Kommentar zu drukken. Er sei nicht bereit, die „Mißachtung der Grundposition“ des Verlages und der Zeitung hinzunehmen. „Daher fordere ich die umgehende Ablösung des Chefredakteurs.“

Die Zeitungen meldeten:

„Großaktionär Kirch rüttelt am Stuhl des , Welt‘-Chefredakteurs“ (Frankfurter Rundschau, 14. 8.) „Springer-Verlag trotzt Groß-Aktionär“ (Süddeutsche Zeitung, 14. /15. 8.)

„Kirch bekräftigt: Chefredakteur soll Hut nehmen“ (Ruhr Nachrichten, 15. 8.)

„Leo Kirchs Kulturkampf um die , Welt‘ geht weiter“ (Die Tageszeitung, 15. 8.)

„Angriff auf die Meinungsfreiheit. Leo Kirch und , Die Welt 6“

(Der Tagesspiegel, 15. 8.) Auf den ersten Blick haben diese Ereignisse, auch wenn sie beide in Beziehung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts stehen, nichts miteinander zu tun: Das eine ist eine heftige öffentliche, z. T. politische Reaktion auf ein Urteil des höchsten deutschen Gerichts, das andere eine Kritik an der und eine gewisse politische Erregung über die Absicht eines Medienuntemehmers, in die Personalpolitik eines Unternehmens einzugreifen, von dem ihm 35, 1 Prozent der Aktien gehören.

Beide Ereignisse sind über die Zeitungsbeiträge hinaus in zahllosen regionalen und überregionalen Hörfunk-und Fernsehsendungen dargestellt, kommentiert und in Talkrunden diskutiert worden. Beide sind innerhalb von Stunden zu politischen Ereignissen ersten Ranges geworden. Jedes von ihnen hat seine eigene, begrenzte Logik -die Reaktionen darauf sind verständlich. Aber weder das Urteil des BVG noch der versuchte Eingriff von Leo Kirch in eine Chefredaktion stehen hier zur Debatte, eine Interpretation soll nicht vorgenommen werden. Vielmehr möchte ich an diesen Beispielen das Problem der Medienkompetenz deutlich machen, die erforderlich ist, um beide Nachrichtenkomplexe im richtigen Kontext betrachten zu können. Ich will die Frage zu beantworten versuchen, was Leser der Zeitungen erfahren und wissen müssen, um die Nachrichten zu verstehen, die ihnen die Zeitungen übermitteln (wollen).

II. Medienspezifische Merkmale

Tabelle 2: Mediennutzung und Freizeitbeschäftigung 1994 (in Prozent) Quelle: Media-Analyse AG MA Media-Micro-Census 1994

Was machte die Meldung über das Urteil des BVG zu einer Nachricht, die fast alle Zeitungen am 11. August, meist mit einer dicken Schlagzeile und oft als „Aufmacher“, auf die Titelseite nahmen? -Das höchste deutsche Gericht hat geurteilt. -Es hat in einer Sache geurteilt, in der sich einzelne Bürger gegen den Staat wenden. -Das Urteil ist -trotz seines Endgültigkeitscharakters -weiter konfliktträchtig. -Es kann viele Menschen betreffen. -Es hat Auswirkungen auf die Politik. -Es betrifft einen Sachverhalt in einem aktuellen Streitthema.

Hinter diesen Gründen stecken folgende allgemeine Themen, die für die Presse generell wichtig sind: -Eine wichtige staatliche Institution ist betroffen. -Es findet eine Auseinandersetzung zwischen einem Schwachen (Bürger) und einem Starken (Staat) statt. -In den Konflikt sind eine Länderregierung und das oberste deutsche Gericht verwickelt. -Der Sachverhalt ist populär. -Das Thema (Kirchenkritik) ist aktuell und paßt in die politische Landschaft.

Dies sind nur einige Gründe, die das BVG-Urteil für die Presse zu einem „Thema“ machen, ja machen müssen.

Bei der Durchsicht der Zeitungsberichte fällt auf, daß nur ganz wenige Zeitungen aus dem Urteil zitieren, das im vollständigen Text sechseinhalb Seiten umfaßt Die meisten begnügen sich damit, über den Inhalt zu berichten. Schon die oben zitierten Überschriften zeigen aber, daß aus den Informationen, die das BVG herausgegeben hat, Zeitungsmeldungen gemacht werden:

Diese Meldungen -wählen aus, -lassen weg, -fassen zusammen, -verkürzen, -illustrieren, -interpretieren, -kommentieren.

Besonders deutlich wird dies daran, daß das gesamte Urteil inzwischen unter dem Kürzel „Kruzifix-Urteil“ zitiert und diskutiert wird, qbwohl es im Kern darum geht, die in Artikel 4 GG garantierte Unverletzlichkeit der „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ in staatlichen Schulen sicherzustellen. Aber für eine differenzierte Darstellung fehlt in einer Tageszeitung der Platz; die Leser sind an rascher, kurzer und übersichtlicher Information interessiert; die Zeitungen, genauer: die Redakteure haben ihre eigenen Vorkenntnisse, Vorlieben, Arbeitsschwerpunkte und Interessen. Diese und viele andere Faktoren gehen als Zeitungs-„Handwerk“ in die Berichterstattung ein: Eine Meldung muß in einer Schlagzeile zusammengefaßt werden, die Schlagzeile muß die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sie muß „catchy“ sein, lange Artikel ermüden die Leser, zu differen-zierte Darstellungen überfordern viele Leser, eine (hier: juristische) Fachsprache ist unverständlich und schreckt Leser ab, die Verbindung mit anderen kontroversen Themen reizt die Neugier.

Viele dieser „handwerklichen“ Grundsätze finden sich in den oben zitierten Schlagzeilen wieder. Sie bestätigen, daß es die neutrale, objektive Nachricht nicht gibt. Jede Information, die in unseren Zeitungen auftaucht, trägt Spuren dessen, der sie „bearbeitet“ hat. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Auch die Leser nehmen eine Nachricht, eine Information nicht sachlich neutral, objektiv auf. Zeitungen zielen auf bestimmte Adressaten, auf Bevölkerungsgruppen, die die Pressemeldungen mit ganz bestimmten Voreinstellungen, Erwartungen, Vorkenntnissen und Interessen aufnehmen. Sie lesen und denken mit sehr unterschiedlichen Vorinformationen und auf unterschiedlichen Sprach-niveaus. Dies zeigen auch die „Headlines“ der Beiträge zu den beiden Beispielen.

Kann man beim „Kruzifix-Urteil“ noch davon ausgehen, daß der strittige Grundsachverhalt -die Anwesenheit von Kreuzen in öffentlichen Schulen -vielen Lesern bekannt ist, ist dies bei der „KirchAuseinandersetzung“ anders. Für zahlreiche Leser wird der Name Leo Kirch wenig sagen, anderen sind dieser Name und seine gewichtige Position in der Medienszene bestens vertraut. Was die Information „Großaktionär“ für die Beurteilung des berichteten Sachverhaltes bedeutet, wird längst nicht jedem Leser bekannt sein. Deshalb bedarf es zu dem Ereignis „Leo Kirch“ auch mehr Hintergrundinformationen, die seine Stellung im Springer-Konzern, seine Tätigkeiten als Medien-Großaktionär, sein „Medien-Imperium“ und auch seine Person betreffen. So zählt W. Schulz das Axel Springer/Leo Kirch-Konglomerat neben der Bertelsmann/CLT-Gruppe zu den zwei mächtigsten überregionalen Medienmulti-Gruppen In viel größerem Umfang als beim Urteil des BVG finden sich ausführliche Diskussionen und Kommentare, die den Eingriff in die Redaktionsfreiheit als „Gefährdung der Pressefreiheit“ und der Demokratie werten. Hier reagieren Betroffene.

Diese wenigen Erläuterungen zu den beiden Ereignissen und ihrer Verarbeitung in den Printmedien müssen ausreichen, um deutlich zu machen, daß Informationen, die von den Medien aufgenommen und an die Gesellschaft weitergegeben werden, zunächst redaktionell „verarbeitet“ werden. Genauso nehmen aber auch die Adressaten eine „Bearbeitung“ der ihnen präsentierten Meldungen vor. Der Austausch von Meldungen zwischen „Sendern“ und „Empfängern“ über verschiedene Medien ist nur möglich, weil beide Seiten den Informationen ihre Bearbeitung, ihren Stempel aufdrücken. Diese Bearbeitung ist unvermeidlich, sie wird in der Kommunikationstheorie als „Codierung“ bzw. „Decodierung“ bezeichnet. Daß in diesem Sinne die Fähigkeit zur Kommunikation unter Nutzung aller Medien eine der Voraussetzungen zum Leben in einer demokratischen Gesellschaft -und damit auch ein sehr wichtiges Element der politischen Bildung -ist, braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Sie ist eine seit langem beschriebene, schon fast traditionelle Komponente von „Medienkompetenz“, die für jedes Medium etwas anderes bedeutet. Diese Fähigkeit, die ich instrumenteile Medienkompetenz nennen möchte, ist unverzichtbar; sie allein reicht für eine sachgemäße Nutzung von Medien unter heutigen Bedingungen aber nicht mehr aus.

III. Mediennutzung und Medienwirkungen

Tabelle 3: Lesedauer der Kinder und durchschnittliche Medien-Nutzungsdauer pro Tag (in Minuten) Quelle: B. Hurrelmann u. a. (s. Tab.1)

Wer sich heute ein zutreffendes Bild von den Sachverhalten und Ereignissen machen will, die ihn umgeben, kommt ohne Medien nicht mehr aus -er kann ihnen aber auch nicht mehr entgehen. Dabei wird die Frage immer wichtiger, was uns Medien eigentlich präsentieren, wieviel Wirklichkeit und wieviel „Bearbeitetes“ sie uns übermitteln. Wenn Medien nicht die Wirklichkeit abbilden, was beinhalten sie dann? Eine genauere Bestimmung dessen, was wir unter Medium verstehen, kann dies klären:

Medien sind technische Instrumente, Einrichtungen und/oder Systeme, mit deren Hilfe die Kommunikation zwischen zwei Kommunikationspartnern unterstützt und/oder ermöglicht wird. Dabei können Medien Informationen übermitteln und bearbeiten, ohne daß die Partner in direktem Kontakt stehen; ihr Kontakt ist medial „vermittelt“.

Diese Definition konnte solange gelten, als Medien als technisches System zwischen zwei Kommunikanden traten und Informationen wert-und interessenneutral übermittelten, ohne auf diese Informationen irgendwelchen Einfluß auszuüben. Die eingegebenen Informationen wurden „originalgetreu“ weitergegeben, die Übermittlung erfolgte quasi analog: Die gedruckten Texte stimmten mit dem handgeschriebenen Manuskript überein, die Fotografie lieferte ein Abbild des „natürlichen“ Originals, die Tonwalze zeichnete ein „tatsächliches“ Konzert auf, ein Film gab „natürliche“ Abläufe einer Handlung wieder.

Diese Bedingungen treffen heute nicht mehr zu. Wir haben uns in Werbung und Kunst längst an die Möglichkeiten der Fotomontage gewöhnt; in Konstruktionsbüros brauchen heute keine Modelle mehr gebaut zu werden, weil der Bildschirm sie simuliert; komplizierte technische Verfahren, chemische Abläufe, Hypothesen zur Klimaentwicklung werden an Computern erstellt, ja es existieren Computermodelle, die unterschiedliche Variationen der Entwicklung der Menschheit in Verbindung mit Klimafragen, Ernährungs-oder Energieproblemen simulieren, um Entscheidungsgrundlagen für die Politik vorzubereiten. Längst können nicht nur Menschen, sondern auch Maschinen, z. B. Rechner, miteinander in Kontakt treten; Informationen werden nicht nur ausgetauscht und bearbeitet, sie werden von Computern neu geschaffen. Die Bemühungen um Cyberspace, bei dem versucht wird, mit Hilfe umfangreicher Computerprogramme „virtuelle Wirklichkeiten“ zu schaffen, lassen die Grenzen zwischen „natürlicher“ und generierter Wirklichkeit immer mehr verwischen. Von der „Abbildung“ von Wirklichkeit durch und in Medien kann heute also keine Rede mehr sein.

Die obige Definition von „Medium“ ist also heute nicht mehr ausreichend. Sie muß angesichts der Möglichkeiten von Multimedia, unzähligen Datenbanken und weltweiten Informationsnetzen erweitert werden „Alles das, was wir als alltägliche Realität erfahren, ist... medial vermittelt... wie sehen die Techniken aus, die uns unser Bild von Wirklichkeit heute vermitteln ... (es) sind das im wesentlichen solche, die eben nicht mehr zulassen ... zwischen Darstellung und Dargestelltem zu unterscheiden ... Wir beobachten auf allen Ebenen ..., daß Ereignisse erst in dem Augenblick Ereignisse werden, in dem sie medial vermittelt, aufgezeichnet und gesendet werden.“ Dies führt Bolz zu einer vielleicht allzu entschiedenen Schlußfolgerung: „Angesichts dessen, daß unsere Erfahrung von Realität medienvermittelt ist, ist es sinnlos geworden, die Darstellung vom Dargestellten zu unterscheiden.“

Im Jahr 1938 führte die Ausstrahlung des Hörspiels „The War of the Worlds“ von Orson Welles über einen angeblich gerade stattfindenden Angriff der Marsbewohner auf die Erde zu panikartigen Reaktionen in der New Yorker Bevölkerung. Die Rundfunkanstalt mußte sich heftig gegen den Vorwurf der Manipulation wehren. Bei der Berichterstattung über den Golfkrieg wurde der internationalen Presse nach Beendigung des Krieges klar, daß sie sich, wie der amerikanische Oberkommandierende auch offen zugab, zum Instrument des Militärs hatte machen lassen, weil sie sich der Militärzensur unterworfen hatte. Von einer freien Berichterstattung über die „Wirklichkeit“ des Krieges konnte keine Rede sein. Ein Jahr nach dem Golfkrieg sendete die ARD ein Fernsehspiel, in dem die These vertreten wurde, der Golfkrieg sei eine Inszenierung des amerikanischen CIA und Saddam Hussein sei ein Agent dieses Geheimdienstes gewesen und habe in dessen Auftrag gehandelt. Der perfekt angewandte Stil eines Dokumentarfeatures täuschte viele Zuschauer.

Was ist Wirklichkeit, was ist Schein, wo hört Information auf, wo beginnt die Manipulation? Wenn im Zeitalter der Computersimulation schon Cybersex für möglich gehalten wird, ist unser traditioneller Begriff von Wirklichkeit brüchig geworden -mit ihm aber auch die obige Definition des Begriffs „Medium“. Wenn wir also Abstand nehmen müssen von der Vorstellung, daß Medien uns ein zutreffendes Bild der Wirklichkeit vermitteln, sie „objektiv“ abbilden, zwischen der Wirklichkeit und dem Menschen „vermitteln“, so ist es zunächst erforderlich, den Medienbegriff neu zu bestimmen. Heute gilt:

Medien sind technische Instrumente, Einrichtungen und! oder Systeme, mit deren Hilfe die Kommunikation zwischen zwei Kommunikationspartnern und/oder Kommunikationssystemen unterstützt, ermöglicht oder simuliert wird. Mediensysteme können Informationen übermitteln, bearbeiten und/oder neu schaffen und in Netzwerken zu neuer Wirklichkeit zusammenfügen und damit neue, „virtuelle Wirklichkeiten“ schaffen, ohne auf ein „reales“ Vorbild zurückgreifen zu müssen.

Neben den technischen Bedingungen und Funktionen von Medien hat sich aber auch ihre gesellschaftliche Bedeutung durchgreifend geändert. Einige aktuelle Zahlen verdeutlichen, welche Rolle Medien in unserer Gesellschaft spielen und welche Bedeutung ihnen zukommt: Welches Gewicht die Medien im Kontext der übrigen Freizeitaktivitäten einnehmen und wie hoch die Mediennutzung schon bei Kindern ist, verdeutlichen Tabelle 2 und 3.

Die Daten über das Ausmaß der Verbreitung und Nutzung von Medien in unserer Gesellschaft belegen das Gewicht, das sie mit durchschnittlich sechs Stunden im Alltag einnehmen. „Mediennutzung ist daher in der heutigen Gesellschaft die häufigste und für viele auch wichtigste Beschäftigung.“

Die Verbreitungs-und Nutzungszahlen werden noch gewichtiger, wenn man sie mit einigen wirtschaftlichen Daten verbindet. Die Tabelle 4 zeigt die knapp 50 %ige Steigerung der Umsätze in der Werbung in den verschiedensten Medien von 1989 bis 1993.

Die Rundfunkgebührenerträge stiegen im gleichen Zeitraum von 4669 Millionen DM auf 8653 Millionen DM; davon entfielen zuletzt 6906 Millionen auf die ARD und 1578 Millionen auf das ZDF. Im gleichen Zeitraum sanken die Einnahmen aus Werbung infolge der starken Konkurrenz der privaten Rundfunk-und Fernsehanstalten bei den öffentlichen Anbietern von 1614 Millionen DM (1989) auf 815 Millionen DM

Würde man diesen Daten noch die Zahlen aus anderen Unterhaltungsbereichen wie Film und Video sowie die Umsätze aus dem Computerbereich und der Telekommunikation hinzufügen, so wird die Feststellung nachvollziehbar, daß heute der Informations-und Kommunikationsbereich zum wichtigsten Wirtschaftssektor geworden ist. Auch aus ökonomischer Perspektive trifft zu, daß wir in einer Informationsgesellschaft leben.

Wir haben einige Daten zur Verbreitung, Nutzung und wirtschaftlichen Bedeutung der Medien dargestellt, um die Bedeutung der Medien für den einzelnen und für die gesamte Gesellschaft zu belegen. Vor diesem Hintergrund werden zwei Fragen verständlich, die Eltern, Erzieher, Medienpolitiker, aber auch Medienproduzenten und Unternehmer stellen: -Mit welchem Interesse, aus welchen Motiven heraus, von welcher Weltanschauung aus werden Medienbotschaften produziert und verbreitet? -Welche Wirkungen haben diese Meldungen und Medienbotschaften auf die Mediennutzer?

Beide Fragenkomplexe, die ich hier nicht ausführlich diskutieren kann, haben zu einer umfangreichen Medienforschung geführt, in der zahlreiche Einzelfragen untersucht worden sind und werden Von der Forschung werden Antworten auf die Frage erwartet, welche Medien bei welchen Personengruppen unter welchen Rezeptionsbedingungen welche Wirkungen verursachen, womit also „zu rechnen“ sei. Das verständliche Interesse am Einfluß der Medien hat dazu geführt, daß sich in der Medienforschung die Frage nach den Wirkungen als leitendes Forschungsinteresse durchgesetzt hat. Es wäre für die Wirtschaft, die Parteien, die Kirchen usw. zu verlockend zu wissen, wie eine Medienbotschaft „ankommt“, wie sie wirkt: -Wenn wir den Politiker XYZ zehn Mal im Fernsehen präsentieren, dann erhalten wir ein Prozent mehr Stimmen.

-Wenn wir für das Produkt ABC vier Wochen lang Werbeanzeigen in Tageszeitungen schalten, dann steigt der Umsatz um drei Prozent. -Wenn die Protagonisten (Hauptpersonen) einer Kindersendung Sportschuhe der Firma ABC tragen, dann veranlassen drei Prozent mehr Kinder ihre Eltern, auch ihnen diese Schuhe zu kaufen.

Diese Erwartungen tauchen immer wieder auf, obwohl die Medienforschung selbst die Begrenztheit ihrer Ergebnisse, besonders aber des Wirkungsparadigmas, immer wieder betont hat. Es ist nicht so einfach, wie die Werbeforschung gelegentlich glauben macht. „Publizisten, Psychologen und Soziologen tendieren dazu, nach der , Wirkung 6 von Massenkommunikation zu fragen ... (es) werden jedoch bei diesem Ansatz die Kommunikate selbst als die eigentlichen Ursachen des Rezeptionsergebnisses angesehen. Die Forschung folgt dem Muster von Wirk-Analysen, wie wir sie aus dem naturwissenschaftlichen Forschungsrahmen kennen: , Wie wirkt das Medikament X auf eine Gruppe von Personen P, die an dem Symptom A leiden? Den Hinweis darauf, daß es im Allgemeinverständnis „keine Ursache ohne Wirkung“ gebe, interpretieren Charlton/Neumann als „medizinisch-technischen Blick“, der deutlich mache, „daß wir als Menschen selbst ein Stück Natur sind -eben den Naturgesetzen unterworfen“ -auch in der Mediennutzung, wie viele meinen.

Ein solcher Forschungsansatz scheint nicht nur auf den ersten Blick geeignet, Antworten auf die verständlichen Fragen von Eltern, Erziehern und Politikern mit Hilfe der Forschung geben zu können, auch der einzelne Rezipient könnte wichtige Informationen über seine eigene Medienrezeption erhalten: hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Informationen oder der Gefahren, in seiner Meinungsbildung manipuliert zu werden; über das Gewicht der Medien in seiner Freizeit; über ihren Beitrag bei der Erziehung der Kinder und die Möglichkeiten, hier gegenzusteuern, usw.

Wissenschaftliche Untersuchungen, die von einem solchen Wirkungsansatz ausgehen, beobachten in der Regel einen oder mehrere Faktoren -Variable genannt -, die für die Wirkung der Medien von besonderem Gewicht zu sein scheinen. Ergebnisse solcher Projekte erwecken den Anschein, unter genau kontrollierten Bedingungen entstanden und 11 daher sehr sicher zu sein. Schließlich liefern Forschungsmethoden, bei denen es um die kontrollierte Beobachtung einzelner Variablen geht, vielfach quantifizierte, in Daten, Mengen, Prozentanteilen usw. benennbare Ergebnisse. Auch diese Quantifizierung erweckt den Anschein großer Genauigkeit und Zuverlässigkeit, mit der sich gut argumentieren läßt.

Die Hoffnung, aufgrund von Forschungsergebnissen Hinweise darauf zu erhalten, was zur Begrenzung des vermuteten Einflusses der Medien getan werden könnte, erklärt den Wunsch nach klaren, einfachen, möglichst quantifizierten Antworten. Den Fragestellern ist aber nur selten klar, daß sie von einer Grundlage ausgehen, die die komplizierte Handlungssituation bei der Nutzung von Medien stark verkürzt abbildet: „Wenn man den methodischen Anspruch erhebt, Medienwirkungen mit Hilfe von Gesetzen kausal erklären zu können, dann muß man zugleich auch eine bestimmte Gegenstandskonzeption zugrunde legen. Die Medien müssen als Dinge, genauer gesagt als Reizkonfigurationen angesehen werden, und die Handlungen der Rezipienten müssen als Zustands-veränderungen von Körpern, als materielle Ereignisse also, beschreibbar sein. Kommunikation muß in diesem physikalistischen Konzept als Austausch von Informationen definierbar sein. Unter bestimmten Bedingungen löst ein Medienreiz eine genau angebbare Zuschauerreaktion aus.“

So einsichtig diese Überlegungen im Einzelfall auch sein mögen, wir wissen seit langem, daß Meinungsbildungsprozesse komplizierter verlaufen: „Zweifellos wird die Lernleistung von mehr Faktoren determiniert als von den beiden unabhängigen Variablen Medium und Befragungszeitpunkt.“ Die wichtigste „Variable“ in diesem Kontext bleibt der Mensch -der individuelle, aktiv handelnde Nutzer.

Trotz der sehr komplexen Mediennutzungssituationen, in denen wir von morgens bis abends mit Medien individuell umgehen, hat die Medienforschung eine Reihe von Ergebnissen erarbeitet, aus denen sich wichtige Merkmale der Mediennutzung gewinnen lassen und die Rückschlüsse auf mögliche Wirkungen der Mediennutzung erlauben. In jüngster Zeit gibt es kaum einen Bereich, der so viel öffentliches Interesse auf sich gezogen hat und so intensiv erforscht wurde wie die Frage nach den Wirkungen der Gewaltdarstellungen in den Fernsehprogrammen. Ich wende mich deshalb diesem Sektor der Medienwirkungsforschung zu, um einige allgemeine Ergebnisse zu referieren, die auch für die unterschiedlichsten Aspekte der politischen Bildung wichtig sind. Ohne daß ich auf Einzelheiten der Gewaltforschung eingehen kann werden folgende Ergebnisse weitgehend akzeptiert: -Im gesamten Sozialisationsprozeß und -feld sind die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, nur ein Sozialisationsfaktor neben zahlreichen anderen.

-Medienangebote, Medienprogramme, Mediennutzungsmöglichkeiten sind heute überall und zu jeder Zeit erreichbar.

-Mediennutzer bedienen sich nicht nur des für bestimmte Gruppen gedachten Programms (Kinder, Jugendliche, Erwachsene, ältere Menschen ...), sie nutzen die ganze Breite des zur Verfügung stehenden Programms mit den unterschiedlichsten Trägermedien.

-Die Adressaten neigen immer mehr dazu, massenmediale Angebote individuell zu nutzen und ihren speziellen Bedürfnissen gemäß zu konsumieren.

Die Frage nach der Wirkung der Medien -wie ganz besonders die nach den Folgen der Gewalt-darstellungen -muß also sehr differenziert beantwortet werden, wie dies z. B. in dem Bericht für den Bundespräsidenten zur Lage des Fernsehens geschieht. Zunächst wird zum Gewaltverständnis der Kinder allgemein festgestellt: „Der Gewaltbegriff der Kinder ist vor allem abhängig von ihren Lebensumständen und Orientierungen. Das enge Gewaltverständnis der Jungen ist von ihrer Alltagspraxis, die auch spielerisches Gewalthandeln integriert, ebenso beeinflußt wie von ihren realen Vorbildern und ihren Idealvorstellungen des Mann-Seins ... Die Mädchen hingegen suchen in den Medien vor allem Ablenkung von den psychischen Belastungen ihrer Realität und Material, um ihre Wunschträume zu erfüllen.“

Die Schlüsse hinsichtlich der direkten Bedeutung der Medien für ein mögliches gewalttätiges Verhalten werden sehr vorsichtig gezogen: „Fernsehen ist als Sozialisationsinstanz nicht nur gegenüber Kindern wirksam. Als elektronisches Fenster zur Welt schult es wie nach einem geheimen Lehrplan auch Anschauungen von politischen und gesellschaft-liehen Realitäten. Vor diesem Hintergrund gilt die Allgegenwart von Gewaltszenen in den Fernsehprogrammen als besonders problematisch ... Die Menge an Gewaltdarstellungen kann zu Gewöhnung und Abstumpfung führen. Wo Gewalt in Fernsehbildern ständig präsent ist, prägt sie die Vorstellung der Zuschauer, kann die Hemmschwelle, selbst aggressiv zu werden, senken oder läßt die Welt als besonders bedrohlich erscheinen. Das kann auch autoritäre Gesellschaftsvorstellungen fördern.“

Aus den zahlreichen Untersuchungen zu den Wirkungen der Mediennutzung lassen sich zusammengefäßt folgende Erkenntnisse gewinnen: -Medienwirkungen sind ein Teil des Sozialisationsprozesses, an dessen Verlauf und Ausprägung auch zahlreiche andere Sozialisationsinstanzen mitwirken. Eine der wichtigsten unter ihnen ist, besonders für die frühkindliche Phase, die Familie. -Kausale Wirkungszusammenhänge zwischen menschlichem Handeln und Mediennutzung haben sich kaum nachweisen lassen, wohl aber verstärkende Wirkungen bei schon vorhandenen Veranlagungen bzw. Einstellungen. -Isolierte pädagogische Maßnahmen zur Veränderung von Mediennutzungsverhalten und -Wirkungen haben nur geringe Aussicht auf Erfolg, es sei denn, sie nehmen das gesamte soziale Umfeld in den Blick.

Aus medienpädagogischer Sicht ist also nicht so sehr die Frage interessant, wie man eventuell Medienwirkungen entgegensteuern kann -wichtiger ist es, zu überprüfen, wie der einzelne Nutzer ausgerüstet, befähigt ist, mit Medien sachgerecht umzugehen. Sind Mediennutzer in der Lage, zu prüfen, aus welchem Interesse, aus welcher Welt-Sicht Medienbotschaften produziert und an ein Nutzerpublikum verteilt (gesendet) werden? Die DFG-Kommission zur Medienwirkungsforschung weist auf die Schwierigkeit hin, zu bestimmen, „was überhaupt Wirklichkeit ist und welche Beziehungen zwischen einer wie auch immer gearteten Definition von Wirklichkeit und der in den Massenmedien wiedergegebenen Wirklichkeit besteht. Vielmehr geht es um die sozialen Folgen von Massenkommunikation, um deren Einfluß auf , Weltsichten, um deren Einfluß auf Lebenschancen der Bürger, ... um die Frage, wieweit Massenkommunikation zentrale Ele-mente menschlicher Vergesellschaftung berührt, verändert.“

Die Beantwortung dieser Frage hängt keineswegs nur davon ab, wie die Medien mit der „Wirklichkeit“ umgehen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Medienforschung ist eine neue Sicht der Rezeptionssituation und der Rolle des Nutzers. Aus vielen Untersuchungen ist deutlich geworden, daß der Nutzer kein willen-und tatenloser „Rezipient“ ist. Vielmehr gehen alle Nutzer mehr oder weniger aktiv mit den Medien um. Diese aktive Rolle des Empfängers verbietet es, künftig weiter ohne Einschränkung vom „Rezipienten“ zu sprechen. Ich habe deshalb häufig, wenn nicht besondere Gründe Vorlagen, vom „Nutzer“ gesprochen, um diese aktive Rolle des Adressaten von Medienbotschaften zu berücksichtigen. Sie liegt auch dem Satz zugrunde, der hinsichtlich der Beziehung zwischen Medienautor und Nutzer -etwas zugespitzt -feststellt: „Die Botschaft des Redakteurs entsteht im Kopf des Zuschauers.“

Ein weiteres Ergebnis der Wirkungsforschung hebt die Bedeutung der Biographie und der sozialen Umgebung eines Adressaten für seine Mediennutzung hervor. Die medienbiographische Forschung nutzt „die grundlegende Annahme, daß sich in jedem Leben und seiner biographischen Rekonstruktion gesellschaftliche Strukturen niederschlagen“ Gerade aus der kritischen Medienforschung, die den empirisch-experimentellen Ansätzen distanziert gegenübersteht, habe sich ein Bedürfnis entwickelt, „mehr und differenzierte Erkenntnisse über die mikrosoziologischen, subjektiven Konstitutionsprozesse von Medienrezeption und alltäglicher, biographisch konstituierter Lebenswelt zu schöpfen“

Diese Überlegungen sind inzwischen so weit differenziert worden, daß die Forschung nicht mehr nur auf die Gesamtbiographie eines Nutzers abhebt, sondern als besonderen Interessenschwerpunkt die Me^/enbiographie eines Nutzers zu beschreiben und zu interpretieren sucht. Eine Reihe von neueren Untersuchungen zum Selbstverständnis der heutigen Jugend läßt erkennen, in welch starkem Ausmaß Medien zum Bestandteil ihrer Biographie geworden sind Medien-pädagogische Konzepte und Vorhaben müssen zur Kenntnis nehmen, daß Teilnehmer an medienpädagogischen Veranstaltungen neben ihrer allgemeinen Biographie auch eine Medienbiographie mitbringen, die ihr Medienverhalten in einem großen Umfang geprägt hat. Wenn Eltern und Erzieher sich vergegenwärtigen, daß z. B. Kinder häufig mehr Stunden pro Woche vor dem Fernseher verbringen, als sie Unterrichtsstunden in der Schule erleben, braucht man über die Wirkungsmöglichkeiten von medienpädagogischen Maßnahmen der Schule nicht mehr viel zu sagen

Die in diesem Abschnitt dargestellten unterschiedlichsten Materialien und Beispiele haben genügend Anknüpfungspunkte für die Erkenntnis gegeben, daß die heute genutzten Medien nur noch in einem engbegrenzten Bereich gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden: „Die Massenmedien definieren somit die Welt jenseits unserer persönlichen, unmittelbaren Erfahrung.“ Wenn dies ein wesentliches Merkmal unserer Medienwirklichkeit ist, kann nur deijenige sie sachgemäß nutzen, der weiß, nach welchen Prinzipien und Handlungsmustern die Welt in den Medien definiert wird. Von diesen Überlegungen aus liegt es nahe, den Bogen zurückzuschlagen zu den eingangs geschilderten jüngsten Ereignissen in der Medienszene.

IV. Der medienpolitische Kontext

Tabelle 4: Werbeumsätze der Medien 1989 und 1993. Netto-Werbeeinnahmen erfaßbarer Werbeträger ohne Produktionskosten 1 in Millionen DM Quelle: Zentralausschuß der Werbewirtschaft (ZAW), Werbung in Deutschland 1994, und eigene Berechnungen; ferner: Media-Perspektiven (Anm. 9), S. 84.

Es kann jetzt nicht mehr schwer sein, nachzuvollziehen, daß die verschiedenen Pressebeiträge zum „Kruzifix-Urteil“ bei genauer Analyse unterschiedliche Einschätzungen dieses Ereignisses und damit unterschiedliche Wertungen des Verhältnisses von Kirche und Staat erkennen lassen. Berichte, und Kommentare spiegeln Welt-Sichten mit unterschiedlichen Interessen wider. Ähnlich läßt sich die Kirch-Kontroverse untersuchen. Auch hier zeigen Plazierung, Berichte und Kommentare der Beiträge, welchen Standpunkt eine Zeitung einnimmt. In beiden Fällen können diejenigen Me­ diennutzer, die über eine gewisse instrumenteile Medienkompetenz verfügen, dies erkennen. Die Kirch-Auseinandersetzung geht aber über diesen Rahmen hinaus: Kaum hatte die Presse über den Eingriffsversuch des Großaktionärs Kirch berichtet, meldeten sich Politiker und Chefkommentatoren zu Wort und stellten das Ereignis in einen größeren Zusammenhang:

Der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt sprach von einem „unverhohlenen Versuch der Einflußnahme“ Leo Kirchs und der Gefahr einer „ferngesteuerten Presse“ (Frankfurter Rundschau, 16. 8.); der SPD-Medienexperte Reinhard Klimmt nannte die Macht Leo Kirchs „demokratiefeindlich“ und warnte davor, „daß weltweit operierende Medien-konzerne in der Lage seien, »Öffentlichkeit zu bestimmen'.“ (Ebd., 16. 8.) Die Zeit brachte in einer knappen Überschrift die Zusammenhänge zwischen Medien, Kirche und Politik auf den Punkt: „Kirche, Kirch und Kohl“ (Die Zeit, 18. 8.); die Frankfurter Allgemeine Zeitung schließlich habe schon durch die Plazierung der Meldung auf deren politischen Rahmen hingewiesen: „Die FAZ hat den Fall (, Zoff mit Kirch') richtig plaziert: im Wirtschaftsteil. Da gehört er hin. Kirch ist in erster Linie Katholik und in allererster Kaufmann“ (Die Zeit, 18. 8.).

Wieso es zu diesen heftigen Reaktionen kam, ist für diejenigen Nutzer, die zwar einiges über die Mechanismen und das Handwerk der Massenmedien verstehen, aber nichts über Daten und Verhältnisse der Medienpolitik wissen, nicht mehr nachvollziehbar. Die Argumente offenbaren erst ihre politische Bedeutung, wenn man sie mit Informationen über die wirtschaftliche Macht und ihre Verflechtungen mit anderen Presseorganen etc. in Verbindung bringt. Die Abbildungen 1 und 2 verdeutlichen dies für den Kirch-Konzern in aller Kürze.

Unsere bisherigen Überlegungen, in denen wir uns mit der Frage befaßt haben, wie sich der einzelne Mediennutzer gegen eine „Perfektionierung der Irreführung“ wappnen kann, werden jetzt in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt, aus dem hervorgeht: „Medienpolitik ist Machtpolitik!“

Wir brauchen nur an die politischen Ambitionen des italienischen Medienmoguls Silvio Berlusconi zu erinnern, um ein aktuelles Beispiel dafür zu finden, daß die Verfügung über Medien ein politischer Machtfaktor ersten Ranges ist. Auch die Bedeutung, die vor allem das Fernsehen in heutigen Wahlkämpfen bei uns hat, weist darauf hin, daß die westlichen Industrienationen Informationsgesellschaften geworden sind, die ohne Medien nicht mehr funktionieren. Vertreter großer Medienkonzerne machen aus ihrem umfassenden medien-politischen Interesse keinen Hehl mehr: Der Vorstandsvorsitzende des größten deutschen und weltweit drittgrößten Medienkonzerns Bertelsmann, Mark Wössner, erklärt: „Wir sind auf dem Weg vom internationalen Medienhaus zum globalen Kommunikationskonzern.“

Die technischen Entwicklungen machen es immer schwerer, die medienpolitischen Absichten vieler Medienmacher zu erkennen. Die Ausrüstung mit instrumenteilen Kenntnissen, mit instrumenteller Medienkompetenz, reicht dazu immer weniger aus. In einer multimedialen Informationsgesellschaft ist mit Medienkompetenz mehr gemeint: eine Grund-qualifikation, die jeder mündige Bürger benötigt, um als aktiver Bürger in unserer demokratisch strukturierten Informationsgesellschaft zu leben. Eine solche Kompetenz kann nicht nur analytisch-reaktiv, instrumenteil sein, wie ich dies oben nannte, sie muß die gestalterischen Möglichkeiten von Medienprodukten und -Produzenten kennen und für sich selbst wahrzunehmen versuchen. So verstanden, muß der Bürger über eine konstruktive Medienkompetenz verfügen; nur sie entspricht der medienpolitischen Interpretation heutiger Medien-welten. Dieser Begriff schließt die Erkenntnis ein, daß Medien als Mittel der Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen selbst zu verstehen und zu nutzen sind. Deshalb sieht Bolz in der Medien-kompetenz „eine Art entree-billet ins 21. Jahrhundert“ (Medien-) Pädagogen beschwören häufig die Gefahren einer völlig mediatisierten Welt, in der der Mensch nicht mehr in seiner Umwelt verwurzelt, sondern mit ihr verkabelt sei (Botho Strauß); sie fürchten den Verlust aller emotionalen Kontakte, z. B. durch die Cybertechnik -mit Recht. Die eigentlichen, politischen Gefahren lauern aber an anderer Stelle. Diese sieht der französische Kommunikationstheoretiker Flusser nicht in der Reizüberflutung oder einem „Informations-Overkill“, in dem sich niemand mehr zurechtfindet, sondern in der „Umsteuerung des Informationsstroms. Der öffentliche Raum wird vermieden und wird dadurch fortschreitend überflüssig. Die Informationen werden im Privatraum ausgearbeitet und mittels Kabeln und ähnlichen Kanälen an Privat-räume gesandt, um dort empfangen und prozessiert zu werden.“

Dies sind keine übertriebenen Zukunftsvisionen, sondern mediale Realitäten. Kürzlich wurde bei Überprüfungen des Internet ein Netzteilsystem entdeckt, über das sich rechtsradikale Gruppen verständigten und ein umfangreiches logistisches System für ihre Aktionen entwickelt hatten -im gleichen Netz, über das auch Daten z. B.der Polizei laufen. Datenkompression und Digitalisierung machen diese Informationen für die Öffentlichkeit unkenntlich.

V. Medienpädagogische Konsequenzen

Abbildung 1: Kirch Konzern: Inlandsbeteiligungen (Anteile in Prozent) Quelle: Media Perspektiven: Daten zur Mediensituation in Deutschland 1994, Frankfurt 1994, S. 38.

Ich schließe die Überlegungen zur Bedeutung von Medienkompetenz als Bestandteil der politischen Bildung mit einigen Thesen ab: -Was für die Beurteilung der Wirkung von Medien gesagt wurde, gilt in begrenztem Umfang auch für Maßnahmen zur Entwicklung und Förderung von Medienkompetenz im Rahmen politischer Bildung: Isolierte Einzelmaßnahmen können nur begrenzten Erfolg haben.

-Die Entwicklung von Medienkompetenz muß als langwieriger Prozeß verstanden werden, der in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Menschen verschiedenartig abläuft. An ihm sind Veranlagungen, frühkindliche Erfahrungen und familiale Sozialisationseinflüsse ebenso beteiligt wie Kontakte zu Gleichaltrigen und die jeweilige Umwelt.

-Da Medien wegen ihrer Allgegenwart und Multifunktionalität ebenfalls Teil der menschlichen Umwelt sind, müssen sie auch als ein solcher Bestandteil begriffen werden.

-Je selbstverständlicher Menschen diese Medien als Teil ihrer Umwelt nutzen, um so unverkrampfter werden sie mit ihnen umgehen. Je mehr Alternativen sie neben den Medien ken-nen und zur Verfügung haben, um so geringer wird die Bedeutung der Mediennutzung für sie sein. Aber auch das Gegenteil gilt: Wer in einer anregungs-und abwechslungsarmen Umgebung lebt, wird sich gern von den „Abwechslungen“ der Medienwelt einfangen lassen. -Die „Aufklärung“ über Merkmale und Ziele von Medienprodukten hat um so mehr Erfolg, je besser Mediennutzer gelernt haben, die Produktionsbedingungen von Medien kennenzulernen. Das heißt: Aktive, praktische Medienarbeit sollte der Analyse wenn möglich vorausgehen, mindestens jedoch sie begleiten.

Dies kann in Schule und Erwachsenenbildung mit einfachen Mitteln geschehen.

-Eine Auseinandersetzung mit Medien, die auf die Ausbildung instrumenteller und konstruktiver Medienkompetenz zielt, darf nicht damit beginnen, die alltägliche Mediennutzung zu verteufeln und so einen wichtigen Bestandteil der Freizeit negativ zu werten. Sie kann und muß von den vielen positiven Funktionen ausgehen, die die Medien in unserer demokratischen Gesellschaft haben.

Ich halte eine „Pädagogisierung des Alltags“ durch Institutionen oder Personen, die den Bürgerinnen und Bürgern „die Wirklichkeit erklärt“, wie Hermann Boventer dies für nötig hält für demotivierend und weitgehend wirkungslos. Beobachtungen bei Kindern zeigen, daß viele von ihnen durchaus in der Lage sind, sich medienkompetent zu informieren, wenn zwei Voraussetzungen gegeben sind: Sie haben hinreichend Alternativen zum Medien-angebot kennengelernt und zur Verfügung, und sie finden Kommunikationspartner, die sie mit den Medien nicht allein lassen.

Die Ausbildung von Medienkompetenz ist nicht nur eine Frage des analytischen Verstandes und des Informiertseins, sondern die einer sozialen Kompetenz von uns allen. Sie ist gefragt, wenn wir verhindern wollen, daß Menschen heute „nicht mehr verwurzelt sind, sondern verkabelt würden“ Medienkompetenz zeigt ihre wirksamste Form, wenn sie als Teil sozialer Kompetenz entwickelt wurde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neue Juristische Wochenschrift (NJW), (1995) 38, S. 2477.

  2. Süddeutsche Zeitung vom 14. /15. September 1995.

  3. Vgl. NJW (Anm. 1).

  4. Vgl. Winfried Schulz, Medienwirklichkeit und Medien-wirkung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/93, S. 18.

  5. Vgl. Horst Wokittel, Medienbegriff und Medienbewertungen in der pädagogischen Theoriegeschichte, in: S. Hiegemann/W. H. Swoboda (Hrsg.), Handbuch der Medienpädagogik, Opladen 1994, S. 25-36.

  6. Norbert Bolz, Die Postmodeme ist die moderne Post. Gespräch mit N. Bolz, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 42 (1995) 1, S. 25.

  7. Ebd., S. 26.,

  8. W. Schulz (Anm. 4), S. 18.

  9. Vgl. Media-Perspektiven, Basisdaten. Daten zur Medien-situation in Deutschland, Frankfurt a. M. 1994, S. 10.

  10. Vgl. zusammenfassend Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1987; Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, vorgelegt von J. Groebel u. a., Gütersloh 1995; ferner die Zeitschrift Media-Perspektiven.

  11. Michael Charlton, Argumente für eine strukturanalytische Methode in der Medienforschung, in: Von Sinnen und Medien. Dialoge zur Medienpädagogik, hrsg. vom Institut Jugend Film Fernsehen, München 1991, S. 46.

  12. Ders. /Klaus Neumann, Kinder, Jugendliche und Massenmedien. Studienbrief der FemUniversität Hagen, Hagen 1992, S. 44.

  13. M. Charlton (Anm. 11), S. 50.

  14. Ebd., S. 9.

  15. Vgl. Bettina Hurrelmann/Michael Hammer/Ferdinand Nieß, Lesesozialisation. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung, Bd. 1: Leseklima in der Familie, Gütersloh 1993.

  16. Bericht zur Lage des Fernsehens (Anm. 10), S. 129.

  17. Ebd., S. 15.

  18. DFG, Medienwirkungsforschung (Anm. 10), S. 14.

  19. Hans-Dieter Kühler, Medien und Lebensgeschichte, in: Medien und Erziehung, 26 (1982), S. 203.

  20. Ebd., S. 195.

  21. Vgl. Dieter Baacke/Uwe Sander/Ralf Vollbrecht, Lebenswelten sind Medienwelten. Medienwelten Jugendlicher, Bde. 1 u. 2, Opladen 1990.

  22. Vgl. Marie Winn, The Plug-In-Drug, New York 1977 (deutsch: Die Droge im Wohnzimmer, Reinbek 1979); Patricia Greenfield, Kinder und neue Medien: Die Wirkung von Fernsehen, Videospielen und Computern, München 1987; Horst Dichanz, Medien in der Erwachsenenbildung, in: Handbuch der Erwachsenenbildung, hrsg. von Hans-Dietrich Raapke/Wolfgang Schulenberg, Stuttgart 1985, S. 53-61.

  23. Michael Schenk, Kommunikationsforschung und Me-, dienpädagogik, in: S. Hiegemann/W. H. Swoboda (Anm. 5) 1994, S. 101.

  24. Albrecht Müller in: Frankfurter Rundschau vom 18. 5. 1994.

  25. Frankfurter Rundschau vom 21. 9 1995.

  26. N. Bolz (Anm. 6), S. 27.

  27. Viläm Flusser, Telematik: Verbündelung oder Vernetzung?, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 42 (1995) 1, S. 21f.

  28. Vgl. Hermann Boventer, Ohnmacht der Medien. Die Kapitulation der Medien vor der Wirklichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/93, S. 28.

  29. Botho Strauß, zitiert nach Peter Glotz, Chancen und Gefahren der Telekratie, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 42 (1995) 1, S. 35.

Weitere Inhalte

Horst Dichanz, Dr. phil., geb. 1937; seit 1975 Professor für Erziehungswissenschaften an der FernUniversität Hagen. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Didaktik und Schultheorie, vergleichende Erziehungswissenschaft (Schwerpunkt USA), Medienpädagogik. Veröffentlichungen u. a.: Medienerziehung, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 3, Stuttgart 1986; Wirklichkeit, Medien und Pädagogik, in: Medien, Sozialisation und Unterricht, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 287, Bonn 1990; Schulen in den USA, München 1991; Komplexe Grundlagen medienpädagogischen Handelns, in: Medien und Erziehung, (1992) 6; How to renew public schools by means of mediea, in: School Improvement through Media in Education, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1995.