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Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung Ostberliner Kinder | APuZ 11/1996 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1996 Kinder im Übergang Ein wissenschaftlicher Essay Sozialberichterstattung über Kinder in der Bundesrepublik Deutschland Zielsetzungen, Forschungsstand und Perspektiven Soziale Ungleichheiten beim Bildungserwerb innerhalb und außerhalb der Schule Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hessen und Sachsen-Anhalt Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung Ostberliner Kinder

Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung Ostberliner Kinder

Dieter Kirchhöfer

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Es werden alltägliche Lebensführungen von Ostberliner Kindern im gegenwärtigen Transformationsprozeß und der Beitrag von Kindern rekonstruiert, den diese zur Gestaltung ihrer Kindheit leisten. Unter einer kindzentrierten Perspektive werden an Fallstudien von Kindern des Geburtsjahrganges 1980 Inhalte, Strukturen und Richtungen von Veränderungen während der Jahre 1989 bis 1994 identifiziert. Der Beitrag verweist auf die Widersprüchlichkeit, die komplexe Ungleichzeitigkeit und die Mehrdimensionalität der Richtung der Veränderungen, wie auf die wachsende Entflechtung und zugleich auch sich intensivierende Verflechtung der Eltern-Kind-Beziehungen, die Individualisierung und Entsolidarisierung in den Schulen, die Erweiterung der kindlichen Handlungsräume in der Öffentlichkeit (aber auch deren Einschränkung), die zunehmende Optionsvielfalt und die wiederum einengenden Wirkungen vorgefertigter Denk-und Verhaltensmuster in einer kommerzialisierten Kinderkultur. Kinder reagieren in ihren alltäglichen Lebensführungen nicht nur auf die längerfristigen Transformationsprozesse in Ostdeutschland, sondern gestalten auch selbst den Wandel ihrer Kindheit mit.

I. Der Rechts-und Sozialstatus Kind’ in der Diskussion

Tabelle 1 Tätigkeitswechsel in der alltäglichen Lebensführung des zehnjährigen Jungen Max (1990)

Kind’ und Kindheit werden zunehmend nicht nur als spezifische Alters-und defizitäre Entwicklungsphase diskutiert, sondern auch in ihrer soziokulturellen Wirklichkeit und mit Blick auf ihren politischen Anspruch. Kinderberichte und Kindersurveys, Kinderbeauftragte und Kinderbüros, Kinderkommissionen und „Kids“ als Berater deuten darauf hin, daß Kindheit als gesellschaftliches Phänomen und politisches Aktionsfeld verstanden wird. Öffentliche Themen wie Gewalt gegen und Mißbrauch von Kindern, Rechte für Kinder und das Wohl von Kindern, Pflichten der Eltern und Rechte der Kinder haben Bewegung in Bildungs-, Betreuungs-, Jugendhilfe-und Rechtssysteme gebracht, wenn auch viele noch auf die unübersehbaren Defizite verweisen. Um so mehr überrascht es, daß trotz des allgemeinen Interesses an soziologischer Kindheitsforschung die sozialen Prozesse im gegenwärtigen Transformationsprozeß von Kindheit in Ostdeutschland kaum thematisiert worden sind. Die wenigen Arbeiten lassen nur ansatzweise Konturen einer wissenschaftlichen Diskussion erkennen.

Vertreter einer ersten Richtung suchen die durch den gesellschaftlichen Umbruch infolge der Vereinigung bedingten Veränderungen in der ostdeutschen Kindheit vor allem aus kulturvergleichender Perspektive aufzuspüren Der soziale Wandel von Kindheit in Ostdeutschland wird insbesondere von den Vertretern eines modernisierungstheoretischen Ansatzes als ambivalente Modernisierung der Sozialisationsbedingungen von Kindheit gesehen, die mit größeren Unsicherheiten und Risiken belastet ist. Stellvertretend dafür kann Peter Büchner stehen. Büchner konstatiert einen Übergang von einer stärker traditionell geprägten Kindheit zu einer modernen Kindheit, die nach bestimmten Modernitätsindikatoren durch Individualisierung, Rationalisierung und Ausdifferenzierung gekennzeichnet ist und eine Ambivalenz von individueller Optionserweiterung und gesellschaftlicher Vereinnahmung des Kinderlebens erzeugt

Protagonisten einer mehr sozialisationstheoretisch orientierten zweiten Diskussionsrichtung sehen Kindheit in Ostdeutschland als Phase, in der gesellschaftliche Strukturen reproduziert werden Aus der Perspektive der Erwachsenen und des Erwach-senseins wird auf die Entwicklung von Unerwünschtem -wie z. B. Gewalt -oder Erwünschtem -wie z. B. Gemeinschaftssinn -in der heranwachsenden Generation aufmerksam gemacht. Die gegenwärtigen Transformationen werden vor allem als anomie-und streßträchtige Phänome für Kindheit reflektiert, und es wird ein zivilisationskritisches Bild für ostdeutsche Kindheit gezeichnet. Unter einer solchen Perspektive wird auch der anhaltende Geburtenrückgang in seinen demographischen Konsequenzen diskutiert. Bernhard Nauck und Hans Bertram verweisen allerdings in diesem Zusammenhang darauf, daß man „tatsächliche Wandlungstendenzen von kulturpessimistischen Interpretationen des Wandels trennen“ und „zukünftig an einer ausschließlich an der politischen Verfaßtheit von Kindheit orientierten Betrachtungsweise“ nicht festhalten solle.

Im Gefolge einer internationalen kindheitssoziologischen Diskussion wird drittens versucht, Kindheit in den rechtlichen und politischen Gesamtzusammenhangdes Transformationsprozesses zu stellen und nach den sozialen Konstitutionsbedingungen von Kindheit zu fragen. Dazu zählen die Kindersurveys und die auch in Ostdeutschland auf Länderebene praktizierte Kinderberichterstattung (vgl. z. B. Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) sowie die Arbeiten der Jugendhilfeforschung oder der regionalen und politischen Interessenvereinigungen der Kinder. Jürgen Zinnecker sieht in diesem Zusammenhang in der zunehmenden Befragung von Kindern einen wichtigen Indikator für den Wandel des sozialen Status von Kindern, die sich jetzt als kompetente soziale Akteure und Partizipanten öffentlicher Meinungsbildung darstellen können

II. Forschungsfeld und theoretische Konzeption der Untersuchung

Tabelle 2 Tätigkeitswechsel in der alltäglichen Lebensführung des zehnjährigen Jungen Stave 1990

Die eigenen Untersuchungen setzten bei Tagesläufen (mit Tageslauf wird der Handlungsfluß eines Tages bezeichnet) von Kindern und deren zeitlich-räumlichen und biographischen Kontexten an und verbanden sozialräumliche mit handlungstheoretischen Forschungsansätzen der Kindheitsforschung.

Es sollten aus kindzentrierter Perspektive Zusammenhänge zwischen den veränderten Handlungsspielräumen, die Kinder in Familien, Kinderinstitutionen und lokalen Milieus haben, den Handlungsvoraussetzungen, über die sie aufgrund ihrer Handlungsvoraussetzungen in der DDR verfügten, und die Art und Weise ihrer alltäglichen Lebensführung aufgespürt werden. Dabei gingen wir davon aus, daß sich die Umbruchsprozesse nicht nur in den veränderten Bedingungen von Kindheit oder in den Befindlichkeiten der Kinder, sondern vor allem im Alltagshandeln erkennen lassen müßten, und in der Art und Weise, wie Kinder über ihr Handeln entscheiden und es im Alltags-verlauf organisieren. Seit 1990 wurden deshalb in einem Längsschnitt in zwei innerstädtischen Wohnquartieren Ostberlins jeweils vier Kinder des Geburtsjahrganges 1980 in ihren Tagesläufen begleitet. Die Kinder protokollierten jeweils einen Tag ihres Tagesverlaufes, am folgenden wurde der Tag gemeinsam mit den Bearbeitern rekonstruiert. Zu jedem Erhebungszeitpunkt arbeiteten die Kinder sieben Tage in dieser Form auf. 1992 und 1994 wurden weitere jeweils zehn bzw. acht zehnjährige Kinder in die Untersuchung einbezogen, so daß Kinderjahrgänge erfaßt wurden, die zu verschiedenen Zeiten in die Veränderungsprozesse eingestiegen waren.

Die bisherige und hier vorgestellte Analyse konzentriert sich auf die Rekonstruktion der Veränderungen in den Lebensführungen der Kinder des Geburtsjahrganges 1980 während der Jahre 1989 bis 1994. Das Zusammenfallen einer in der biologischen Entwicklung der Menschen relativ dynamischen Phase -der Kindheit -mit der entscheidenden Phase der gesellschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland bot die Chance, die subjektive Verarbeitung von veränderten Lebensbedingungen in ihrer Veränderung nachzuzeichnen und den Prozeß der Identitätsfindung unter den Bedingungen eines Umbruchs zu studieren. Der Vergleich der Veränderungen im Jahrgang 1980 mit den Lebensführungen der späteren Jahrgänge half, die eventuell nur alters-von den sozial bedingten Veränderungen zu unterscheiden. Mögliche soziale Regelhaftigkeiten oder gesellschaftliche Zusammenhänge wurden nicht aus Häufigkeiten oder über Typenbildung ermittelt, sondern mit Hilfe theoretischer Begriffe aus den Zusammenhängen in der Lebensführung erschlossen, ohne daß auf die konkrete individuelle Vielfalt verzichtet zu werden brauchte. Die untersuchten Kinder stehen nicht als Repräsentanten einer Gesamtheit ostdeutscher Kinder, sondern verweisen auf Prozesse in der Kindheit Ostdeutschlands.

Das theoretische Konzept der alltäglichen Lebensführung In den Tätigkeiten und Tätigkeitsabläufen der Kinder eröffnen sich die Zugänge zu ihren Lebenswelten, vermitteln sich Subjektives und Objektives, Individuelles und Gesellschaftliches, Gedankliches und sinnlich Konkretes, und so verwundert es auch nicht, daß alltägliche Lebensführung seit längerem Gegenstand soziologischer Forschung ist Die von Helga und Hartmut Zeiher entwickelte spezielle Theorie der alltäglichen Lebensführung, auf die wir uns im weiteren vor allem gestützt haben, geht von der Vorstellung aus, daß der Tageslauf aus einer Abfolge von Tätigkeiten besteht, die mit einer Sequenz von Entscheidungen korrespondiert. Mit den Entscheidungen trifft das Kind seine verschiedenen Arrangements mit der Umwelt und verleiht seinem Tagesverlauf eine bestimmte Gestalt. Sieht man von den einzelnen konkreten Tätigkeiten ab und konzentriert man sich auf das, was die Lebensführung eines bestimmten Menschen charakterisiert, was sich bei ihm wiederholt oder verändert, sprechen wir von der Art der Lebensführung. Hier setzt die Analyse an. Das Kind wird in seinen Entscheidungen zum Akteur, es produziert und reproduziert seine Verhältnisse und auf diese Weise auch seine Kindheit. Die Auffassung von Kindheit als soziales Phänomen oder soziale Konstruktion basiert auf einem solchen Verständnis der Kindheit als Ensemble gesell-schaftlicher Verhältnisse, die auch durch das Kind angeeignet, umgeformt oder neu gestaltet werden. Kindheit steht nicht beziehungslos neben den gesellschaftlichen Strukturen, sondern prägt diese auch.

III. Tagesläufe und ihre Handlungszusammenhänge

Tabelle 3 Tätigkeitswechsel in der alltäglichen Lebensführung des 14jährigen Jungen Max 1994

1. Zwei morgendliche Tagesläufe 1990

Im folgenden sollen an zwei Auszügen (vgl. die Tabellen 1 und 2) aus der Tagesgestaltung zweier zehn-und (später) vierzehnjähriger Jungen -Max und Stave -die Tätigkeitswechsel und die dahinterstehenden Handlungs-und Entscheidungszusammenhänge sichtbar gemacht werden. Es wurde mit Absicht auf die scheinbare Banalität und Monotonie der ersten Morgenstunde eines Schultages zurückgegriffen, da diese gerade in ihrer Normalität die sozialen Beziehungen in der Familie gebündelt zum Ausdruck bringen könnte

Der kontrastive Vergleich der beiden morgendlichen Abläufe läßt unschwer Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen, die auf die sozialen Inhalte von Kindheit in Ostdeutschland verweisen: Beide Jungen gestalten selbständig ihren eigenen Tageslauf, sie folgen dabei in der Familie vereinbarten Regeln und Gewohnheiten, die den Tag berechen-und überschaubar werden lassen. Beide haben ihr morgendliches Handeln mit ihren Geschwistern selbständig koordiniert. Für die Arbeitsteilung in den Familien gibt es Festlegungen, zu den Aufgabenressorts gehört die Verantwortung für die Wohnung. Bei beiden Kindern ist auffällig, daß sie den morgendlichen Ablauf strikt am pünktlichen Besuch der Schule orientieren und von dort her -rückrechnend -einen rationellen und souveränen Umgang mit der Zeit entwickeln.

In der Lebensführung von Max könnten die Tätigkeiten auf eine stärkere Abkopplung des eigenen Tageslaufes von dem der Eltern verweisen, wobei schon aus dem einen morgendlichen Ablauf erkennbar wird, daß die Mutter sich über den Fortgang des Tageslaufes informiert und konflikt-vermeidend in die Tagesläufe der Geschwister eingreift. Es könnte Resultat dieser Entkopplung sein, daß Max sich in höherem Maße selbstbestimmt verhält und über einen größeren Entscheidungsspielraum verfügt. Der Tageslauf bei Stave scheint demgegenüber deutlicher geregelt und seine Mithilfe in stärkerem Maße gefordert zu sein. Max wiederum ist in höherem Maße als Stave verpflichtet, sich um seine Schwester zu kümmern, obwohl auch in dieser Familie die Mutter Sorge dafür getragen hat, daß die Tagesbahnen der Geschwister weitgehend entflochten sind und sich nicht unnötigerweise Reibungsflächen ergeben. Bei Stave scheinen die Tagesläufe der Geschwister weitgehend entkoppelt zu sein.

Völlig unterschiedlich verhalten sich beide Jungen zu ihren Schulkameraden. Max scheut das Zusammentreffen mit seinen Kameraden, bei denen er als „Spinner“ gilt. Stave sucht es auf dem Schulhof (und an den Nachmittagen nach der Schule). Seine Strategie der Zeitorganisation ist darauf gerichtet, möglichst viel Zeit für das Zusammensein mit den Freunden zu gewinnen; die von Max, über möglichst wenig Zeit frei verfügen zu müssen. 2. Zwei morgendliche Tagesläufe 1994

Die Tabellen 3 und 4 zeigen den jeweiligen morgendlichen Ablauf -vom Aufwachen bis zum Verlassen der Wohnung -der jetzt (1994) vier Jahre älteren Kinder Max und Stave.

In den Lebensführungen finden sich zwischen 1990 und 1994 nicht nur altersabhängige Veränderungen, sondern auch solche, die offensichtlich auf transformationsbedingte Einflüsse zurückzuführen sind. Die Lebensführungen zeigen zugleich, daß diese Einflüsse nicht linear und monokausal wirken, sondern in den biographischen, familialen und sozialen Handlungszusammenhängen subjektiv verarbeitet werden.

Obwohl die Eltern von Max durch neue Arbeitsverhältnisse jetzt morgens zu Hause sind, greifen sie nicht in die Tagesgestaltung der Kinder ein, sondern verbleiben in dem bisherigen Muster derTagesorganisation. Die Tagesbahnen bleiben entkoppelt und die Eigenverantwortung des Jungen für seinen Tageslauf von den Veränderungen unberührt. Nicht mehr synchron laufen -bedingt durch den jetzt getrennten Schulbesuch -die Tagesbahnen der Geschwister. Die bisherige Verantwortung des älteren Bruders gegenüber der Schwester ist einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen. In der Familie ist er von Arbeits-und Kontrollpflichten völlig entbunden worden; die Mutter hat weitere Aufgaben an sich gezogen. Die von Max bisher praktizierte strenge Zeitorganisation wird von ihm zwar grundsätzlich weiterverfolgt, aber er gestattet sich jetzt Abweichungen und Entspannungszeiten. Völlig verändert hat sich sein Verhältnis zu den Schulkameraden. Im Gymnasium ist er auf Schüler mit gleichen oder ähnlichen Interessen gestoßen, er bemüht sich um seine Integration und sichert durch Verabredungen das Zusammensein. Die Schulwege haben für ihn jetzt einen sozialen Inhalt.

Auf die morgendliche Lebensführung von Stave nimmt die Mutter durch ihre Anwesenheit stärkeren Einfluß, ohne jedoch kontrollierend oder regelnd einzugreifen. In einzelnen Bereichen ist das strenge Regelsystem jetzt durchlässiger geworden. Zu bestimmten Tageszeiten greift die Mutter allerdings stärker in die Zeitorganisation ein, indem sie z. B. mit Stave übt und Lernmotivation und -bereitschaft organisiert. Sie hat auch die Kontrolle der schulischen Lernaufgaben verstärkt. Stave ist wie Max von häuslichen Arbeiten entlastet worden, Ordnung und Sauberkeit in seinem Zimmer und in der Wohnung werden allerdings nach wie vor arbeitsteilig organisiert und kontrolliert. Stringenter als vor vier Jahren ist in der Familie die Sicherheit der Wohnung geregelt. Die Zeit-organisation ist weiterhin auf eine Minimierung des Zeitverbrauchs gerichtet.

IV. Widersprüchliche Entwicklungen in den Lebensführungen der Kinder

Tabelle 4 Tätigkeitswechsel in der alltäglichen Lebensführung des 14jährigen Jungen Stave 1994

Das Forschungsvorhaben steht in einer qualitativen Forschungstradition und verfolgt deshalb auch nicht das Anliegen, allgemeingültige Aussagen zu konstruieren, unter die dann alle weiteren Fälle subsumiert werden können. Mit der Herausarbeitung von Fallbeispielen soll gezeigt werden, daß es solche Prozesse mit bestimmten Eigenschaften, Strukturen und Richtungen in einem Feld vieler möglicher Entwicklungen gibt. Der Einzelfall ist allerdings mehr als das Singuläre, er enthält auch das Allgemeine, das Notwendige und Regelhaftige. Man gewinnt es, indem man das Allgemeine im einzelnen aufspürt und vom Sinnlich-Konkreten über das Begrifflich-Abstrakte zum Gedanklich-Konkreten voranschreitet. 1. Wachsende Entflechtung und zunehmende Verflechtung der Eltern-Kind-Beziehungen In den untersuchten Familien werden widersprüchliche Tendenzen sichtbar: Einerseits driften die Welten der Erwachsenen und der Kinder weiter auseinander, andererseits werden Kinder auf neue und veränderte Weise auf die soziale Unterstützung der Eltern zurückverwiesen -die Formen der sozialen Einbindung in die Familien haben sich geändert. Für jeweils beide Prozesse fanden sich bei ein und demselben Kind wie auch zwischen den Kindern Belege, so daß zumindestens auf Basis der vorliegenden Befunde nicht von einer generellen Tendenz des Übergangs von einer traditionellen zu einer modernen Kindheit gesprochen werden kann, in der die Eltern-Kind-Beziehungen zunehmend entflochten seien.

Entkopplung der Zeit-und Raumorganisation von Eltern und Kindern -die Zunahme der elternabhängigen Aktivitäten der Kinder Die Tagesläufe der Familienmitglieder sind nach wie vor in vielen Phasen und zu vielen Zeitpunkten miteinander verflochten, wobei eine solche Verflechtung nicht die unmittelbare räumlich-körperliche Nähe bedeuten muß, sondern das mehr oder weniger bewußte Aufeinanderabgestimmtsein und die gegenseitige Wahrnehmung. Konstant geblieben sind Zusammenhänge wie die zwischen: -Arbeitszeitbeginn, Verlassen des Hauses durch die Eltern und Weck-bzw. Aufstehmodalitäten der Kinder mit der vorrangigen Orientierung auf deren Selbständigkeit und Unabhängigkeit; -Anwesenheit der Eltern und den Mahl-und Kommunikationszeiten;

-Rückkehr der Mutter und der Freigabe des folgenden Nachmittags für die Freizeitbeschäftigungen der Kinder;

-Kontrollanrufen und Präsenspflichten der Kinder;

einzelnen gemeinsamen Mahlzeiten und Aktivitäten an den Wochenenden.

Im Verlaufe der Untersuchung deutete sich allerdings eine zunehmende Entkopplung der Raum-Zeit-Organisation von Eltern und Kindern an, die -vor allem aus der stärkeren zeitlichen Belastung der berufstätigen Mütter und Väter resultiert. Zwar ist der Anteil arbeitsloser Eltern dieser Altersgruppe in der Stichprobe relativ gering, aber 1990 und 1992 begonnene Arbeitsverhältnisse waren häufig wieder unterbrochen worden, die Eltern mußten Neueinstiege organisieren und dafür erforderliche Qualifikationen und Probezeiten durchlaufen. In der Mehrzahl der Familien haben sich die Wegezeiten der Eltern zu ihren Arbeitsstätten verlängert. Auch in Zeiten, in denen einzelne Eltern arbeitslos waren oder nur Nebenbeschäftigungen nachgingen, klagten diese deshalb über Zeitnot.

Die veränderten Zeitressourcen und die höhere psychische Arbeitsbelastung der Eltern haben dazu geführt, daß vor allem Abendmahlzeiten nicht mehr gemeinsam eingenommen, feste Gesprächszeiten nach der Rückkehr der Mutter nicht mehr wahrgenommen und Abendbeschäftigungen isoliert voneinander laufen. Gemeinsame Arbeitsverrichtungen (z. B. Pflege des Autos, Säubern der Treppe) stellen jetzt eine Seltenheit dar, bisherige gemeinsame Einkaufsgänge in die Kauf-halle des Wohngebietes werden durch elterliche Großeinkäufe in Billigmärkten ersetzt, von denen die Kinder ausgeschlossen sind. Die gemeinsam verbrachten Wochenenden werden reduziert und die Aufenthalte in den Wochenendhäusern nicht mehr so ausgedehnt wie bisher. Kinder und Eltern folgen auch an diesen Tagen ihrem eigenen Zeit-rhythmus. Die oft gleitenden Arbeitszeitregelungen, nicht geplante längere Arbeitszeiten, Behördengänge, Wechsel der Arbeitsstellen bzw. Tätigkeitsorte haben zudem zu enger werdenden elterlichen Zeitabläufen und zu einer wachsenden Unbestimmtheit der Zeitpunkte des Zusammen-treffens der Kinder mit den Eltern geführt. In Abhängigkeit von den getrennten Zeitbahnen haben sich auch die räumlichen Bindungen gelokkert. Abend-und Wochenendaktivitäten der Kinder erfolgen zunehmend im eigenen Kinderzimmer. das durch die neuen Fast-food-Gewohnheiten und die Ausstattung mit Radio, Fernseher und Computer immer mehr den Charakter eines geschlossenen multifunktionalen Lebensraumes hat.

Einer solchen Tendenz der Entkopplung der Zeit-organisation von Eltern und Kindern steht eine wachsende Abhängigkeit der kindlichen Zeitorganisation von den Eltern gegenüber. Die Mehrzahl der Freizeitaktivitäten der Kinder war vor der Wende nicht durch die Familie, sondern in der Regel durch die Schule organisiert und verantwortet worden. Die Eltern waren also weitgehend entlastet. Der Rückzug der Schulen aus dieser Verantwortung hat zu einer Verlagerung auf die Eltern geführt. Neue Freizeitaktivitäten machen Absprachen und „Preisverhandlungen“ erforderlich; häufig bedingt der Besuch von Veranstaltungen zugleich den Transport des Kindes zum Ort der Veranstaltung. Eine völlig neue Dimension hat die Unterstützung der Kinder durch die Eltern in bezug auf die Schulkarriere angenommen. In allen Familien diskutieren Eltern und Kinder spätestens mit Beginn des Lebensjahres -also zwei Jahre vor der Schuldifferenzierung -die künftige Gestaltung der Schullaufbahnen. Die elterliche Kompetenz, die in anderer Hinsicht abgenommen hat, ist in diesen Kommunikationsprozessen größer geworden: Eltern übernehmen eine neue Rolle als Vermittler zwischen Gesellschaft und kindlichem Individuum.

Einbindung in und Entbindung von der Gemeinschaftsverantwortung In der Literatur wird die kindliche Arbeitsleistung in der Familie und die damit verbundene reale Entlastung der Eltern als Indikator für DDR-Kindheit gewertet 10. In den Interviews verweisen die Eltern zusätzlich auf den hohen erzieherischen Wert einer solchen Arbeitsleistung, die zur Wertschätzung der eigenen körperlichen und auch fremder Arbeit, zu höherer Sorgfalt gegenüber dem materiellen Inventar, zu Verantwortung gegenüber dem gemeinsam Erworbenen und zur Einbindung in die Familien führen soll. Die Anschaffung von Haustieren oder die Übertragung von Verantwortung für das eigene Zimmer sind vor dem Hintergrund solcher Zielsetzungen zu sehen und auch unter den veränderten Bedingungen konstante Forderungen geblieben.

In allen Familien haben sich mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und ihren Auswirkungen auf das Privatleben (Ausstattung der Haushalte, weniger bzw. neue Dienstleistungen, Vielfalt des Warenangebotes, flexible Preisgestaltung) die Haushaltspflichten der Kinder reduziert. Einzelne Arbeitstätigkeiten wie Treppe säubern, Altstoffe wegbringen sind entfallen, andere wie das Einkäufen für die Familie werden auf Grund der unterschiedlichen Preiskategorien und geänderten Preis-Leistungs-Verhältnisse eingeschränkt. Ähnliches ist in bezug auf die Verantwortung für jüngere Geschwister oder die Kontrollverantwor-tung für die Wohnung zu beobachten. Die spürbare Verringerung der Leistungsanforderungen in der Grundschule und die Reduzierung häuslicher Verpflichtungen haben zu einer Erweiterung der frei verfügbaren und selbst bestimmbaren Zeiten der Kinder geführt.

Formalisierung und Informalisierung der sozialen Kontrolle in den Familien In allen untersuchten Familien weist die soziale Kontrolle der Zeitorganisation, der Hygiene, der Ordnung, der gegenseitigen Unterstützung und Rücksichtnahme eine hohe Konstanz auf -wenn man von einzelnen Alterseffekten im Längsschnitt absieht. Die nach 1990 zu verzeichnende Tendenz, verschiedene Lebensbereiche der Kinder verstärkt zu regeln und zu kontrollieren, hat sich fortgesetzt. Neue Kontrollbereiche sind definiert und mit Regeln besetzt worden, in anderen Bereichen hat sich die Stringenz der Forderungen erhöht. Diese Formalisierung betrifft -den gesamten Sicherheitsbereich der Wohnung und die dafür definierten Regeln;

-die persönliche Sicherheit in der Öffentlichkeit und der Umgang mit Fremden;

-die Sicherung der persönlichen Eigentumsrechte auch in den Beziehungen zu den Freunden;

-den Umgang mit hochwertigen technischen Geräten und deren kontrollierte, in den Familien oft abgestimmte Nutzung;

-die Kommunikation in der Öffentlichkeit (vgl.

den nachfolgenden Abschnitt) und das Kauf-verhalten. So gesehen kann für die in die Untersuchung einbezogenen Kinder nicht festgestellt werden, daß sich die Entscheidungsräume generell erweitert hätten bzw. die Kontrolle reduziert hätte.

Allerdings finden sich auch gegenläufige Prozesse, die man als Informalisierung der sozialen Kontrolle und Liberalisierung der familialen Beziehungen bezeichnen könnte: Auffällig ist seit der ersten Erhebung, daß sich die elterliche Einflußnahme auf die Art und die Dauer des Musikhörens und Fernsehens reduziert, die Stringenz der Forderungen nach Aufräumen des Kinderzimmers verringert und daß die Kontrolle des Telefonierens nachläßt. Dieser Lockerungsprozeß geht mit der Herausbildung einer spezifischen Kultur des Verhandelns einher: Kinder nehmen jetzt in erhöhtem Maße ein Vorschlagsrecht in Anspruch, das sie auch von den Eltern eingeräumt bekommen.

Eltern müssen bei ihren Forderungen erhöhten Begründungs-und Rechtfertigungsaufwand bringen, die Widerspruchs-und vor allem Ignoranz-schwelle von Seiten der Kinder ist niedriger, die Duldungsschwelle von Seiten der Eltern höher geworden. Damit hat sich ein Prozeß fortgesetzt, der schon in der DDR begonnen hatte und dort mit einem Harmonisierungsstreben in den Familien begründet worden war.

Die Entfremdung der Arbeitswelt der Eltern -das wachsende Sozialprestige dieser Beziehung Die 1990 in die Untersuchung einbezogenen Kinder -Zehnjährige -konnten die Arbeitstätigkeiten der Eltern noch relativ genau beschreiben, sie kannten die Arbeitsplätze der Eltern, die sie z. T. mehrmals aufgesucht hatten, „den Chef“ und die Kollegen -zumindest vom Ansehen. Das ist mit der Veränderung der Arbeitsverhältnisse anders geworden: Heute unterbleiben nicht nur die direkten Kontakte der Kinder zur Arbeitswelt der Eltern, sondern die Arbeitstätigkeiten, die sozialen Beziehungen und die konkreten Aufgaben nehmen auch in den familialen Gesprächen einen geringeren Raum ein. Berufliche Arbeit wird vor allem unter der Perspektive potentieller Arbeitslosigkeit thematisiert. Häufiger Ortswechsel während der Arbeit, z. B. bei Vertreter-oder Präsentationstätigkeit, unklare Aufgaben in vorübergehenden Beschäftigungsverhältnissen haben für die Kinder zu einer größeren Undurchschaubarkeit des Arbeitsgeschehens der Eltern geführt. Zugleich hat bei den Kindern in den untersuchten Familien die Bedeutung des Status der Arbeit zugenommen, hinsichtlich -der Arbeitstätigkeit überhaupt, verbunden mit einer Abwertung von Arbeitslosigkeit;

-des sozialen Status, verbunden mit einer hohen Wertschätzung des Unternehmertums („mein Vater hat eine Firma“), leitender Positionen („mein Vater ist Manager“) oder des Beamten-status. Entsprechend sensibel reagierten Kinder, wenn sie den Status „Arbeiter“ angaben;

-der Statussymbole der Position (Dienstauto und der entsprechende Autotyp, Dienstreisen, Mitarbeiter).

Alle Beobachtungen verweisen auf eine hohe Wahrnehmungsintensität der Kinder gegenüber solchen Statusdifferenzierungen der Eltern und auch auf die wechselseitige Kenntnis der Kinder voneinander.

Die Entfremdung der Kinder von der Arbeitswelt der Eltern schlägt sich insbesondere im Ver39 lust sozialer Beziehungen nieder. Kinder erlebten bisher, daß Kollegen aus den Arbeitskollektiven der Eltern zu deren Freundeskreis gehörten und die Kinder dieser Kollegen zu ihren zeitweiligen Spielgefährten wurden. Sie lernten die Kollegen und die herrschenden sozialen Beziehungen bei Besuchen oder Veranstaltungen kennen und nahmen ihre eigenen Eltern in diesen Beziehungen wahr. Sie erfuhren von der kollegialen Unterstützung und profitierten selbst davon. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Betriebsferienlager, Ferienheime, Betriebsfeiern u. ä. m. In den folgenden Jahren werden von den Kindern keine Aussagen mehr über die sozialen Beziehungen der Eltern zu ihren Arbeitskollegen gemacht. Die Eltern betonen allerdings auch, daß sie kaum noch Zeit fänden, solche Freundschaften intensiv zu pflegen. Insofern könnten für Kinder dieses Jahrganges soziale Verluste entstanden sein, die in den nachfolgenden Jahrgängen nicht mehr eintreten. 2. Individualisierung und Entsolidarisierung in den Schulen Nach wie vor wird der kindliche Tageslauf durch das Zeitregime und die Leistungsforderungen der Schule bestimmt: Der Unterrichtsbeginn, die Schulwege, die Abhol-und Treffzeremonien und Rituale, die Zeiten auf dem Schulhof oder in den Pausen bilden neben dem Unterricht wichtige Bestandteile des kindlichen Tageslaufs. Die Grundschulen liegen wohnortnah, Nachbarschaftsgruppe und Schulklasse fallen in Ostberlin bis zum zwölften Lebensjahr zusammen. Mit dem Hort, der den Schulen meist angegliedert ist, dem Schulessen und einzelnen Arbeitsgemeinschaften nehmen die Schulen der in die Untersuchung einbezogenen Kinder nach wie vor eine -wenn auch inzwischen stark reduzierte -soziale Funktion wahr. Über das Klassenlehrerprinzip wirken in den ersten Schuljahren sozial-emotionale Strukturen der persönlichen Bindung und in der Klasse Gruppenbeziehungen der Gleichrangigkeit. Insofern könnte die sozio-kulturelle Eigengesetzlichkeit der Institution Schule und der in ihr agierenden Subjekte quasi systemunabhägig wirken Zugleich haben die nach der Vereinigung veränderten schulischen und außerschulischen Bedingungen gegenläufige Tendenzen hervorgerufen, deren Kern ein derzeit in seinen Konsequenzen noch nicht überschaubarer Individualisierungs- schub ist: Die an der Untersuchung beteiligten Kinder durchliefen in dieser Zeit die Grundschule und vollzogen den Statusübergang zu den weiterführenden Schultypen (als Gymnasiast bzw. Gymnasiastin. Gesamtschüler bzw. Gesamtschülerin usw.). Die Analyse ergab, daß schon vor der die Schüler auseinanderdividierenden Schulwahl Maßnahmen in den Schulen getroffen wurden (Wahl der Sprache ab der vierten Klasse, Einrichtungen von Förderkursen), die auf die künftige Trennung vorbereiten. Die nach wie vor existierende äußere Gemeinsamkeit der ersten sechs Schuljahre wird durch diese einsetzende Differenzierung aufgebrochen und führt zu längerfristig wirkenden Entsolidarisierungen. Die antizipierte Schulwahl beeinflußt auch über die Schule hinaus die alltäglichen Lebensführungen und die in ihnen wirkenden Verflechtungen. Das geschieht über -die Organisation zusätzlichen Lernens, verstärkter Lernkontrolle und Motivation von Seiten der Eltern;

-die Planung von Freizeitaktivitäten, die künftigen Schulkarrieren dienlich sein könnten (z. B.

Computerlehrgänge, Schreibmaschinenlehrgänge, Sprachaufenthalte);

-eine bewußtere Wahrnehmung und Kontrolle der sozialen Beziehungen der Kinder;

-die angestrebte Herausbildung von Arbeitsgewohnheiten (der Tages-und Wochenplanung, der rationellen Zeitnutzung).

Die Bemühungen der Eltern um eine effektive und instrumentell orientierte Schulbildung ihrer Kinder knüpfen in vielerlei Beziehungen an Muster an, die für den Bildungserwerb in der DDR charakteristisch waren. Vor der Wende war die Schule vor allem auf die gemeinsame Verantwortung für den Lernfortschritt der Klasse -aller Schülerinnen und Schüler -orientiert (es gab Patenschaften, Lernkonferenzen, Lernwettbewerbe) und stellte ein ganztägiges Lernangebot bereit. Heute dominiert die individuelle Verantwortung für den eigenen Lernfortschritt, was zu einem Konkurrenzverhalten zwischen den Schülern, aber auch zu wechselseitiger Gleichgültigkeit führt. Zudem hat sich das Verhältnis der Eltern zur Schule im Sinne eines konkurrierenden Rechtsverhältnisses (Lehrerrecht -Elternrecht -Kinderrecht) verändert, das die gemeinsame Verantwortung der Eltern einer Klasse für alle Kinder dieser Klasse ausschließt und das elterliche Interesse an den schulischen Angelegenheiten verringert. Die Erfahrung der Kinder mit Differenzierungen in und durch Schule, mit erhöhter Eigenverantwortung für den eigenen Lernfortschritt und einer dabei wirkenden Entsolidarisierung sind unterschiedlich, z. T. in -Abhängigkeit von den unterrichtenden Lehrern -auch gegensätzlich. Unabhängig davon nahmen aber alle in die Untersuchung einbezogenen Kindern solche Prozesse wahr. Die Kinder der entsprechenden Jahrgänge standen erstmalig vor der Situation, in ihren Beziehungen der Gleichrangigkeit auch Unterschiede und Asymmetrie zu denken, wofür sie weder ein moralisches noch ein geistiges Potential zur Verfügung hatten. 3. Erweiterung und Einschränkung der Handlungsräume der Kinder in der Öffentlichkeit Die Okkupation kindlicher Lebensräume durch die Erwachsenen -die Reaktion der Kinder Die gegenwärtigen technischen, ökonomischen und juristischen Veränderungen beschleunigen auch die Okkupation von kindlichen Lebensräumen durch die Erwachsenen und deren Institutionen, wie sie in der Literatur als Moment der Urbanisierung beschrieben ist. In den untersuchten Wohnquartieren dehnten sich die Parkplätze aus. Grün-, Freiflächen und Gehwege wurden als Abstellmöglichkeiten genutzt, die Spielstraßen wurden wieder zu normalen Straßen oder nicht mehr beachtet, die Verkehrsdichte auf den Straßen erhöhte sich. Die Einschränkung ihres Lebensraumes ist von den Kindern in Aufsätzen über ihre Lebenssituation, in Petitionen und Protesten, in Gesprächen mit Politikern, weniger in den persönlichen Interviews, kritisch reflektiert worden. Diese Tatsache ändert nichts daran, daß das Auto für die Kinder nichts von seiner Faszination als Status-und Techniksymbol verloren hat.

Die Eingriffe in die kindlichen Lebensräume vollziehen sich aber auch auf anderen Wegen: Bisherige Freiflächen werden bebaut, verwahrloste Gebiete beräumt, öde Schulhöfe bepflanzt. Infolge der Rekonstruktion von Spielplätzen und Freiräumen entstehen alters-und tätigkeitsspezialisierte Spielwelten. Die Räume kindlichen Spielens und kindlicher Mobilität werden nicht nur drastisch eingeschränkt, sondern auf veränderte Weise vor-strukturiert. Zugleich werden Kinder nicht nur von den Erwachsenen verdrängt, sondern verdrängen jetzt auch selbst -z. B. als Radfahrer auf den Fußwegen. Kinder erobern sich die durch Erwachsene besetzten Räume wieder zurück, beziehen sie in ihre Streifzüge ein bzw. funktionieren sie um: Baustellen mit Sandhaufen, Röhrenlagern, Bauwagen zu Spielplätzen; Rampen und betonierte Freiflächen an Kaufhallen zu Skateboardbahnen; Wartehallen und Hauseingänge zu Treffpunkten zum Beispiel zum Musikhören. Auffällig ist dabei die über Jahre hinweg zu beobachtende Tendenz, „wilde“, unüberschaubare, „dreckige“ Räume zu meiden, z. B. Bahndämme, besetzte oder leerstehende Häuser, Gebüsche außerhalb der Wohngebiete, Schrott-oder Sperrmüllplätze. Die Kinder, mit denen wir zusammenarbeiteten, erklärten ihr Verhalten dahingehend, daß es dort zu „keimig“ sei, daß es dort „stinke“. Längerfristig könnten hierbei Muster eines spezifischen Ordnungs-und Reinlichkeitsverhaltens wirken. Statt sich in kontrollarme „freie“ Territorien zurückzuziehen, suchen sie für alle einsichtige, scheinbar kontrolldichte und belebte Räume auf. Bei teilnehmender Beobachtung stellte sich jedoch heraus, daß gerade diese belebten Räume zugleich auch anonym und damit letztlich kontrollarm sind.

Die Formalisierung der sozialen Kontrolle im öffentlichen Raum Während der Wende tat sich ein kurzzeitiges Rechts-und Kontrollvakuum auf, in dem viele institutionalisierte „Ortswächter“ -gemeint sind bspw.der Abschnittsbevollmächtigte, der Haus-vertrauensmann bzw.der Vorsitzende der Hausgemeinschaft, die Mitglieder verschiedener Ausschüsse der Wohnbezirke -ausfielen. In den beiden Wohnquartieren in Ostberlin hatten bis zur Wende nicht nur legitimierte „Ortswächter“ gewirkt, sondern auch nichtlegitimierte Personen. Die Küchenfrauen der Kindereinrichtungen, die Verkäuferinnen, die Eltern von Klassenkameraden bildeten ein Netz von Personen, die sich und die Familienverhältnisse der anderen und deren Kinder auf Grund des gemeinsamen Wohnens im Quartier kannten. Informationen wurden relativ unkompliziert und schnell weitergegeben. Nach der Wende ist dieses Netz nicht nur löcherig geworden, auch die Bereitschaft, sich gegenseitig zu informieren oder sich auf Aktivitäten der Kinder aufmerksam zu machen, ist gesunken. Vor allem die zuletzt genannte Tendenz scheint anzuhalten. Zugleich verstärkt sich die soziale Kontrolle im öffentlichen Raum wieder. Die veränderten gesell-schaftlichen Machtverhältnisse äußern sich zum einen in einer Zunahme der strukturellen Kontrolle: Haustüren, die auch am Tage verschlossen bleiben, Sprechfunkanlagen auch in Altbaugebieten, neudefinierte Ordnungsbereiche, z. B. Keller-und Hauseingangsbereiche, Privatwege, neugestaltete Höfe, Verbote von Kleintierhaltung auf Baikonen und Höfen. Der unpersönliche Sachzwang ersetzt nicht die personifizierte Kontrolle, sondern es entstehen neue Verfügungsrechte von Personen über Personen Als „Ortswächter“ fungieren nicht nur neue oder alte Hauseigentümer und -Verwalter, sondern auch die Mieter selbst. Diese operieren gegenüber den Kindern mit einem neuen Rechtsbewußtsein, indem sie z. B. auf die Einhaltung der Mittagsruhe dringen, das Spielen und Lärmen im Treppenhaus untersagen, rigide die Wiedergutmachung bei Schäden fordern, den Eltern gegenüber drohen, ggf. zu klagen. Auf relativ hohem Niveau stehend, hat sich die Toleranz-schwelle der Erwachsenen gegenüber den Kindern verringert.

Die soziale Entfremdung im öffentlichen Raum Die von den Eltern meist neu definierten Regeln für den Aufenthalt der Kinder außerhalb der Wohnungen könnten längerfristig zu einer Entfremdung im öffentlichen Raum führen. Anders als vor der Wende ermahnen Eltern heute ihre Kinder, gegenüber Erwachsenen -bei Mädchen häufig vor allem gegenüber männlichen Personen -mißtrauisch zu sein; sich nicht änsprechen zu lassen und selbst niemanden anzusprechen, nichts anzunehmen, nicht mit Fremden mitzugehen, sich mit Erwachsenen nicht allein in geschlossenen Räumen (z. B. Fahrstühlen) aufzuhalten. Von den Eltern wird der andere Erwachsene unbewußt als potentieller Feind des Kindes dargestellt. In einzelnen Familien werden die Kinder explizit darauf hingewiesen, Hilfe (z. B. bei Auskünften) zu verweigern und selbst auch nicht um Hilfe nachzusuchen. Das durch Regeln gesteuerte Mißtrauen wird durch Vorschriften ergänzt, die auf eine neue Verschwiegenheit als Erziehungsvorstellung verweisen. Die Eltern fordern von den Kindern, nicht über Geld, Einkommen. Krankheiten oder über familiale Schwierigkeiten zu sprechen, und erzeugen eine Schirm-und Schutzbedürftigkeit der Familie, die sich im übrigen auch in Vorbehalten gegenüber unseren soziologischen Datenerhebungen geäußert hat. 4. Die kommerzialisierte Kinderkultur Optionsvielfalt sowie vorgefertigte Denkund Verhaltensmuster durch den Markt Eine völlig veränderte Handlungssituation mit neuen Anforderungen ergab sich für die Kinder des Jahrganges 1980 mit dem neuen Konsumangebot des Marktes. Kaufhandlungen hatten vor der Wende die Funktion, die Reproduktion der Familie zu sichern, eigene Bedürfnisse zu befriedigen, wobei eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Angebot einkalkuliert wurde. In den Monaten nach der Währungsunion konnten die Kinder viele ihrer Wünsche (Matchboxautos, Bravo, Walkman, Kassettenrecorder, Barbiepuppen, LEGO-und Playmobilspielzeug, diverse Süßigkeiten) befriedigen. Inzwischen haben sie als selbständig agierende Teilnehmer am Marktgeschehen neue Verhaltensweisen herausgebildet: -Die Einkaufshandlungen haben sich verselbständigt. sie werden geplant, mit Freunden vorbereitet, durch Vergleichs-und Auswahlprozesse begleitet. Für den jeweiligen Tag zentrieren Kaufhandlungen die übrigen Aktivitäten im Tageslauf. Neu ist die Orientierung an und in Versandkatalogen, die ausnahmslos in den Familien zur Verfügung stehen und in die Kinder auch hineinschauen und sich ein „Bild machen“. Zunehmend bildet sich in diesem Zusammenhang ein Preis-Leistungs-Denken heraus.

-Neu ist für die Kinder die Möglichkeit, sich für Geld Dienstleistungen von Erwachsenen kaufen (in Form von Reitstunden, Nachhilfestunden, Fitneßangeboten) und gegenüber diesen als Partner auftreten zu können. -Bei allen Kindern finden sich Präferenzmuster für Kaufentscheidungen, die auf Werbung zurückzuführen sind. Entsprechend hoch ist das Markenbewußtsein, das zunehmend auch im sozialen Vergleich genutzt wird. Soziale Stigmatisierungen auf Grund des Nichtbesitzes von Markenartikeln wurden in unserer Untersuchung nicht beobachtet, allerdings wurde deren Fehlen bemerkt und gewertet. Kinder geben auf diese Weise soziale Differenzierungen weiter bzw. erzeugen sie auf spezifische Weise.

-Unter dem Einfluß von Werbung entwickeln sich bei den Kindern Fan-und Sammelkulturen. Diese bleiben nicht auf die Gegenstände beschränkt, sondern erzeugen soziale Bindungen in Tauschbörsen (z. B. für Überraschungseierfiguren), Kommunikationszirkeln (für Barbiepuppenfreunde), über Fanzeitschriften, Fanwettbewerbe oder Preisausschreiben.

Auf dieser Grundlage könnte sich unter dem Einfluß von technischen Entwicklungen, Markt und Medien längerfristig auch in Ostdeutschland eine neue Raum-Zeit-Struktur der Freizeit und darüber hinaus eine neue Freizeitkultur der Kinder herausbilden, auf die Heinz Hengst schon 1981 als kommerzielleKinderkultur aufmerksam gemacht hatte und die sich als Teil der kulturellen Beziehungen der Gesellschaft -nicht neben ihnen -herausbildet.

Die Analyse der Tätigkeitssequenzen -vor allem an den Nachmittagen -deutet darauf hin, daß die Kinder heute einer veränderten, selbstgeschaffenen Zeitorganisation unterliegen: Die Nutzungszeiten der TV-Medien haben sich geändert und nehmen zusätzlich auch den Morgen und die späten Abendstunden ein und erfahren an den Wochenenden eine Konzentration. Zugleich hat die Tätigkeit des Fernsehens -zumindest bei älteren Kindern -eine Entwertung erfahren; neben dem Fernsehen werden andere, z. T. sogar mehrere Tätigkeiten ausgeübt; das Fernsehen hat den Status einer zusätzlichen, einer begleitenden Tätigkeit angenommen, die weniger konzentrierte Aufmerksamkeit erfordert. Hatten bislang die Sendezeiten für eine Segmentierung des Tages gesorgt, so machen Videogeräte die Kinder jetzt wieder unabhängig davon. Der Computer, dessen Nutzungsvarianten sich innerhalb weniger Jahre zwischen den Kindern enorm differenzierten, erweist sich immer mehr als konkurrierendes Medium zum Fernsehprogramm. Zwischen Computer, ausgestrahlten TV-Sendungen und Videoeinblendungen pendeln die Kinder hin und her. Innerhalb nur weniger Minuten -wir beobachteten in Zeiträumen von 15 Minuten einen fünfmaligen Wechsel -brechen sie das eine ab, um sich dem anderen zuzuwenden, um bei Überdruß wieder zum ersten zurückzukehren oder ein drittes zu suchen.

In die differenzierte Welt des Musikhörens der Kinder einzutauchen, ist für einen Erwachsenen fast aussichtslos. Auffällig ist, daß schon zu Beginn der mittleren Kindheit sehr präzise Kenntnisse und Urteilsstrukturen über Titel, Interpreten, Musikstile vorliegen, und aus der beiläufig gehörten Musiksendung Informationen entnommen werden. In den meisten Familien versuchen die Eltern, den Mediengebrauch zu kontrollieren und entwickeln dazu eigene Formen der sozialen Kontrolle (Codierungen, Sperren, Zeitzuteilungen für die Nutzung), ohne die Nutzung tatsächlich beeinflussen zu können.

In der zeitlichen Organisation ihres Spielverhaltens in den Wohnungen hat sich ein Trend fortgesetzt, der schon in der DDR zu beobachten gewesen war. Die Kinder verfolgen immer weniger längerfristige Spielprojekte, sondern wenden sich kurzzeitig unterschiedlichen Spielgegenständen zu. Dabei hat sich in den Kinderzimmern die Vielfalt der Spielrepertoire erweitert. Im Spielverhalten auf der Straße -und das außenorientierte Spiel besitzt sowohl im Alt-wie auch im Neubaugebiet eine hohe Anziehungskraft für die Kinder -dominieren nach wie vor das Streifzugverhalten der Jungen und das wohnungsnahe Spielen der Mädchen. Das Streifzugverhalten mündet in der Regel nicht in längere Projektaktivitäten, sondern trägt stärker Beobachtungscharakter und bedient sich verschiedener Mittel (Fahrrad), deren Nutzung sich häufig verselbständigt. Das wohnungsnahe Spiel verbindete sich mit längeren Gesprächen.

Als allgemeine Tendenz des äußeren Spiels war zu beobachten, daß es häufig nur noch als Vermittlungsglied für das Zusammensein, Reden und Musikhören dient. In und außerhalb der Wohnungen scheint das Spielen in der bisherigen Form nicht mehr das Zentrum kindlicher Lebenstätigkeiten zu bilden, sondern als eine Tätigkeit neben und zwischen anderen zu fungieren. In den Tages-abläufen finden sich immer häufiger Entspannungszeiten (Bummeln, Träumen, Ausspannen, Nichtstun), die von den Kindern auch als selbständige Tätigkeiten reflektiert und legitimiert werden.

Die neue Freizeitkultur ist durch veränderte, nichtsdestoweniger sehr vielfältige soziale Beziehungen gekennzeichnet. Technik und Konsum-möglichkeiten haben neue Handlungsfelder hervorgebracht, welche die Kinder mit den ihnen eigenen Formen besetzen. Allein durch das Computerspielen -die häufigste Nutzungsform des Gerätes -ist eine eigene Sozialkultur entstanden. Wir beobachteten solche Formen wie die Beratung vor dem Kauf eines Spiels, die Information, daß man gekauft hat, die Ankündigung, daß dieses neue Programm besichtigt oder genutzt werden kann, die Vereinbarung des gemeinsamen Spielens, die Diskussion um Vorzüge und Nachteile, das vorsichtige Erkundigen, ob die Diskette ausleihbar und überspielbar sei, die Tauschangebote. Kinder brechen die drohende Vereinsamung am Gerät selbst auf, indem sie diese Mittel instrumentalisieren und zu Objekten oder Zielen ihrer gemeinsamen Tätigkeiten machen.

In ähnlicher Weise stellen die geschilderten veränderten Beziehungen zum Markt und zur Konsumtion eine neuartige Herausforderung dar. Das Einkäufen ist zu einem eigenen sozialen Akt geworden der Interaktionen erfordert und ermöglicht. Wie schon geschildert, entwickeln die Kinder auch dafür eigene Strategien.

Die neue Freizeitkultur der Kinder weist außerdem eine interessante Widersprüchlichkeit auf: Sie hat sich scheinbar als Antipode zur Kultur der Erwachsenen herausgebildet, trägt aber zugleich viele Momente einer Vermischung. Kinder und Erwachsene besitzen jetzt häufig die gleichen Spielinventare und verfolgen ähnliche Spielintentionen (Computerspiele, Sportspiele, Denk-und Wissensspiele, Rätsel, Roulette und Glücksspiele, Automatenspiele). Die Welt des Spiels könnte auch zu neuen Verflechtungen und Annäherungen der Generationen führen. 5. Neue Einsichten in die „gesellschaftliche Konstruktion 1’ Kindheit Erstens: Die Analyse der Veränderungen bzw. Nichtveränderungen verwies darauf, daß Kindheit nur als Prozeß charakterisierbar ist und dieser Prozeß eine spezifische Struktur aufweist, die mit dem Begriff der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem oder der komplexen Ungleichzeitigkeit beschrieben werden kann. Die einzelnen Veränderungen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Intensität oder der Geschwindigkeit, sondern weisen auch eine eigene Struktur auf. Sie treten in widersprüchlicher Form auf, bringen Ambivalenzen hervor und führen zu Verzögerungen und Beschleunigungen. Die Entwicklung von Kindheit im gegenwärtigen Transformationsprozeß läßt sich nicht auf eine Dimension festlegen (z. B. zunehmende Informalisierung oder Formalisierung der sozialen Kontrolle) und deshalb auch nicht sofort normativ-wertend belegen. In unseren Untersuchungen fanden wir sowohl das Abstoßen von alten Inhalten und Formen als auch deren Wiederaufnahme, die Herausbildung neuer Formen und deren Erlöschen. Über die Veränderung von Kindheit könnten unter einer solchen Sicht vor allem Untersuchungen in konkreten Tätigkeitsfelder Aufschlüsse geben.

Zweitens: Die Analyse der veränderten bzw. nicht-veränderten Lebensführungen des Geburtsjahr-ganges 1980 ließ Zweifel an der Linearität der Richtung der Veränderungen im Sinne der Anpassung oder Angleichung an westliche Muster entstehen. Die durch den Transformationsprozeß ausgelösten Veränderungen hatten sich zum einen partiell schon in der DDR herausgebildet, zum anderen sind viele Formen der Lebensführungen konstant geblieben oder haben sich nur modifiziert. In der Analyse der Veränderungen alltäglicher Lebensführungen war in der Untersuchungskonzeption noch 1994 auf die Tragfähigkeit der Weberschen Typologie der Lebensführungen verwiesen worden. Im Zusammenhang mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise und der sie begleitenden Machtverhältnisse hatte Max Weber herausgearbeitet, daß sich aus den traditionellen Lebensführungen präkapitalistischer Gesellschaften rationale Lebensführungen als ein Typ menschlichen Handelns entwickeln, bei dem bewußt gesetzte Ziele unter Kalkulation der Mittel und der Wirkungen verfolgt würden. Aus einem Wechselverhältnis von religiös-ethischen Normen, praktischen Lebensführungen und sozialer Ordnung würde ein Lebenszusammenhang entstehen, der „in der rational-kapitalistischen Organisation von (formell) -freier Arbeit“ gründet und zumindestens für den Okzident einen Übergang von einem traditionalen oder affektualem zu einem rational, methodisch geführten Handeln hervorbringe. Für einen solchen Übergang ließen sich in unserer Analyse weder in bezug auf die vermeintliche traditionale noch in bezug auf die gegenwärtige rationale Lebensführung Belege finden. Es muß vielmehr angenommen werden, daß sich die Lebensführungen heute rationalen Mustern der Folgenantizipation und der längerfristigen Planung entziehen und zunehmend Züge der Nichtrationalität annehmen.

Drittens: Die historischen Retrospektiven und der Vergleich der Lebensführungen von 1994 auf 1989 ließen unter sozialhistorischer Perspektive Kindheit in der DDR als soziales Phänomen genauer identifizieren: -Kindheit könnte in der DDR über die verschiedenen Lebensbereiche stärker mit der Welt der Erwachsenen verwoben gewesen sein, als in den westlichen Industriegesellschaften. Indikatoren fanden sich u. a. in der Verbindung zur Arbeitswelt der Erwachsenen. -Kindheit bildete sich in der DDR -regional sicher unterschiedlich -in geschlossenen ganzheitlichen Lebensräumen heraus, in denen viele Lebensfunktionen auch für Kinder zugängig und realisierbar waren. Diese Ganzheitlichkeit wurde in hohem Maße durch die integrierende, koordinierende und kontrollierende Funktion der Schule realisiert und durch die Bedingungen in den Wohnquartieren erleichtert.

-In der Tagesgestaltung wurde erkennbar, daß kindliches und elterliches Handeln einem Rationalitätstypus folgte, der durch die Ökonomie der Zeit (Zeitgewinn, Zeiteinsparung, planmäßige Zeitorganisation und den Zusammenhang von Zeit und Wert) geprägt war.

Damit drückte sich auch in den Lebensführungen der Kinder ein gesellschaftliches Grundverhältnis von Zeit und gebrauchswertschaffender Tätigkeit aus, das Karl Marx als Grundverhältnis der modernen Gesellschaft bezeichnet hatte. Es muß offenbleiben, ob Kindheit in der DDR nicht stärker durch das kulturhistorische Muster proletarischer Kindheit geprägt war, als bisher angenommen wurde. Kindheit in der DDR könnte unter den Bedingungen eines allgemeinen zivilisatorischen Prozesses in Europa Merkmale einer allgemeinen Moderne getragen haben, die in spezifischer proletarischer Form erschien oder -umgekehrt -eine proletarische Kindheit gewesen sein, die als spezifische Moderne erschien. Dabei wäre für spätere sozialhistorische Arbeiten die Gliederung einer solchen Kindheit in der DDR in verschiedene Phasen von großem Interesse, da -mit der Bundesrepublik Deutschland übereinstimmend -für den Zeitraum bis 1970 kaum Arbeiten über Kindheit vorliegen.

Die Erörterung läßt die Frage offen, ob sich damit das in der westlichen Theorietradition entstandene Konzept der Moderne -selbst in seiner analytischen und nichtnormativen Form -überhaupt für eine sozialhistorische Analyse von Kindheit im jetzigen Transformationsprozeß nutzen läßt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lieselotte Ahnert/Alfred Schmidt, Familiäre Anpassungsbelastungen im gesellschaftlichen Umbruch: Auswirkungen auf die frühkindliche Entwicklung, in: Hubert Sydow/Uta Schlegel/Andreas Helmke (Hrsg.), Chancen und Risiken im Lebenslauf: Beiträge zum gesellschaftlichen Wandel in Ostdeutschland, Berlin 1994; Lieselotte Ahnert/Simone Krätzig/Tatjana Meischner/Alfred Schmidt, Sozialisationskonzcple für Kleinkinder: Wirkungen tradierter Erziehungsvorstellungen und staatssozialistischer Erzichungsdoktrinen im intra-und innerkulturellen Ost-West-Vergleich, in: Gisela Trommsdorff, Psychologische Aspekte des soziopolitischen Wandels in Ostdeutschland. Berlin-New York 1994, S, 94 bis 110; Peter Büchner/Burkhard Fuhs. Außerschulisches Kinderleben im deutsch-deutschen Vergleich. Überlegungen zur Modernisierung kindlicher Sozialisations

  2. Vgl. Peter Büchner, Lebenswelt und Sozialisationsbedingungen von Kindern heute, in: eurosocial, report, (1994) 50. S. 21-34, hier: S. 25.

  3. Vgl. z. B. Wolfgang Edelstein, Eröffnungsansprache zur Internationalen Konferenz „Familie und Kindheit im Wandel“, in: Dokumentation zur Internationalen Konferenz, Potsdam 1995, S. 3-5; Georg Ncubauer/Wolfgang Melzer/Klaus Hurrelmann, Jugend im deutsch-deutschen Vergleich. Neuwied 1992; Ute Schönpflug/Adam Fraczek, Kindheit in Ost-und Westeuropa, in: Manfred Markefka/Bernhard Nauck (Hrsg.), Handbuch der Kindheitsforschung, Neuwied

  4. Hans Bertram, Kindheit in einer individualisierten Gesellschaft, in: Familie und Kindheit im Wandel. Dokumentation zur Internationalen Konferenz Potsdam 1994, Potsdam 1994, S. 247; vgl. auch Bernhard Nauck, Sozialstrukturelle Differenzierung der Lebensbedingungen von Kindern in West-und Ostdeutschland, in: M. Markefka/B. Nauck (Hrsg.) (Anm. 3) S. 143-164, hier: S. 162.

  5. Jürgen Zinnecker, Kindersurveys: Ein neues Kapitel Kindheit und Kindheitsforschung, Vortrag auf dem 27.der Deutschen für Soziologie Kongreß Gesellschaft (DGS) in Halle (Plenum X), Halle 1995. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von J. Zinnecker in diesem Heft.

  6. Vgl. Hans-Rolf Vetter (Hrsg.), Muster moderner Lebensführung. DJI-Forschungsbericht, Weinheim 1990; Gert-Günther Voß, Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft. Stuttgart 1991; Karin Jurczik/Maria S. Rerrich (Hrsg.), Die Arbeit des Alltags, Freiburg 1993; Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung. Sonderforschungsbereich 333, Alltägliche Lebensführung, Opladen 1995; Hartmut J. Zeiher/Helga Zeiher, Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadt-kindern, Weinheim 1994.

  7. Vgl. H. J. Zeiher/H. Zeiher (Anm. 6) S. 55.

  8. Vgl. Jens Qvortrup/Marjatta Bardy/G. Sgritta/Helmut Wintersberger (Hrsg.), Childhood Matters. Aldershot, Avebury 1994; Jens Qvortrup (1993), Die soziale Definition von Kindheit, in: M. Markefka/B. Nauck (Hrsg.) (Anm. 3), S. 109-124; Helga Zeiher/Hartmut Zeiher, Organisation von Raum und Zeit im Kinderalltag, in: ebd., S. 394; Michael-Sebastian Honig, Sozialgeschichte der Kindheit im 20. Jahrhundert, in: ebd.; ders., Kindheit als soziales Phänomen. Zum Stand der soziologischen Kindheitsforschung. Vortrag auf dem 27. Kongreß des DGS in Halle (Plenum X), Halle 1995; Helga Zeiher, Die Entdeckung der Kindheit in der Soziologie, Vortrag auf dem 27. Kongreß der DGS in Halle (Plenum X).

  9. Vgl. Dieter Kirchhöfer, Brüche, Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten. Zum Verhältnis zwischen Lebensbedingungen und alltäglichen Lebensführungen ostdeutscher Kinder, in: Gesellschaften im Umbruch, 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft f. Soziologie. Kongreßband II, Konsistenzen und Inkonsistenzen in Familienideologien, in: Gesellschaften im Umbruch, 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft f. Soziologie. Abstractband, Halle 1995; ders., Soziale Formen alltäglichen Handelns Ostberliner Kinder; in: ders., E. Renner (Hrsg.), Kindliche Lebenswelten, Weinheim 1995.

  10. Vgl. Werner Georg, Jugendliche Lebensstile -ein Vergleich, in: Jugend ’ 92. Jugendwerk der Deutschen Shell, Opladen 1992; Hartmut Lüdtke (1992), Zwei Jugendkulturen? -Freizeitmuster in Ost und West, in: ebd., S. 239-264.

  11. Vgl. Hans Merkens/Gabriele Claßen/Dieter Kirchhöfer/Folker Wenzke, Schuljugendliche beiden Schmidt/Gerhard in Teilen Berlins. Tendenzen der Entwicklung seit der Wende, Berlin 1994, S. 34.

  12. Imbke Behnken/Manuela du Bois-Reymond/Jürgen Zinnecker, Stadtgeschichte als Kindheitsgeschichte. Lebensräume von Großstadtkindern in Deutschland und Holland um 1900, Opladen 1989.

  13. Hartmut J. Zeiher/Helga Zeiher, Organisation von Raum und Zeit im Kinderalltag, in: M. Markefka/B. Nauck (Hrsg.) (Anm. 3).

  14. Vgl. Heinz Hengst, Tendenzen zur Liquidierung von Kinderkultur, in: ders. u. a. (Hrsg.), Kindheit als Fiktion, Frankfurt am Main 1981, S. 11-72; ders., Richtung Gegen-welt? Kinderkultur als gleichaltrigenorientierte Konsumkultur, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Handbuch Medien-erziehung im Kindergarten. Teil I, Opladen 1994, S. 134-153.

  15. Vgl. H. Oswald/L. Krappmann (Anm. 1) S. 18.

  16. Vgl. H. J. Zeiher/H. Zeiher (Anm. 6) S. 188.

  17. Max Weber, Rationalisierung und entzauberte Welt,

  18. M. -S. Honig (Anm. 8); außerdem ders., Kindheit als sozialer Status, unveröff. Ms. 1996; ders., Kindheit als Sozialisationsphase und als kulturelles Muster. Zur Strukturierung eines Forschungsfeldes, unveröff. Ms. 1996.

Weitere Inhalte

Dieter Kirchhöfer, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1936; Studium Pädagogik und Philosophie. -Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Gudrun Leidecker und Peter Güttler) Ich weiß nicht, ob ich froh sein soll. Kinder erleben die Wende, Stuttgart 1991; (Mitautor) Jugend ’ 92, hrsg. vom Jugendwerk der Deutschen Shell, Opladen 1992.