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Die politische Rezeption des kommunitarischen Denkens in Deutschland | APuZ 36/1996 | bpb.de

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APuZ 36/1996 Die politische Rezeption des kommunitarischen Denkens in Deutschland Kommunitarismus -diesseits und jenseits des Ozeans Demokratie als Solidarität unter Fremden. Universalismus, Kommunitarismus, Liberalismus Gesellschaft versus Gemeinschaft? Zur Tradition des dichotomischen Denkens in Deutschland

Die politische Rezeption des kommunitarischen Denkens in Deutschland

Walter Reese-Schäfer

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das neue Gemeinschaftsdenken des Kommunitarismus ist in den achtziger Jahren in den USA entstanden. Dort war es eine Antwort auf den Marktliberalismus der Reagan-Bush-Jahre. Zur Zeit unternimmt vor allem Amitai Etzioni umfangreiche Anstrengungen, dafür auch in Europa und der Bundesrepublik Anhänger und Multiplikatoren zu finden. Zugleich hat sich bei den meisten der bundesrepublikanischen Parteien sowie auch im kirchlichen Umfeld ein genuines Interesse entwickelt. Eine Art kommunitarisches Manifest für mehr Bürgersinn befindet sich in der Diskussion. Das kommunitarische Denken ist so ambivalent wie der Gemeinschaftsbegriff, weil es neben der Betonung von Selbsthilfe und Selbstorganisation oft auch Züge von Tugendterror und angestrengter Moralisierung sozialer Beziehungen aufweist. Als innerliberales Korrektiv kann es durchaus erwünschte Auswirkungen haben, als Legitimation eines neuen Paternalismus und Gruppenautoritarismus dagegen geriete es in die Gefahr, die individuelle Assoziationsfreiheit zu beschränken.

I. Einleitung: Die kommunitarische Ambivalenz

Das kommunitarische Projekt ist der Versuch einer Wiederbelebung von Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen postmoderner Dienstleistungsgesellschaften. Diese Kurzdefinition beleuchtet schlaglichtartig die ganze Ambivalenz kommunitarischen Denkens. Vormoderne Formen von Gemeinschaftlichkeit boten den Menschen traditionaler Gesellschaften die Möglichkeit, sich heimatlich zu fühlen. Die Auflösung dieser Bindungen im Prozeß der Modernisierung provozierte moderne, durchstrukturierte Gemeinschaftsideologien wie zum Beispiel den Sozialismus des 19. Jahrhunderts. Heute kann Gemeinschaftlichkeit als internes Korrektiv liberaler Gesellschaften auftreten, jedoch auch als paternalistisches Relikt der Prämoderne oder als neoautoritärer Fundamentalismus. Die politische Diskussion über den Kommunitarismus bewegt sich im Spannungsfeld dieser Alternativen

Diese Ambivalenz ist unvermeidlich, weil sie in der positiven Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs schon von vornherein angelegt ist. In Deutschland allerdings ist es besonders schwierig, die mit einer derartigen Ambivalenz verbundenen Spannungen zu ertragen. Eine positive Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs stößt hier sogleich auf sehr ernstzunehmende Einwände. Selbst wenn man nicht als erstes an die nationalsozialistische Volksgemeinschaft oder Walter Ulbrichts sozialistische Menschengemeinschaft denkt, ist doch in der theoretischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema immer wieder der Weg von der traditionalen Gemeinschaft zur modernen Gesellschaft, von der Einbindung der Menschen in hergebrachte Strukturen zu ihrer Emanzipation als Individuum nachgezeichnet worden. Die Soziologen beklagten vielleicht den Verlust der Gemeinschaft, waren sich aber von dem Sozialdemokraten Ferdinand Tönnies bis zum konservativen Revolutionär Hans Freyer darin einig, daß dieser Verlust nun einmal unvermeidlich sei. In Amerika denkt man in diesem Punkt anders. Diese Einwanderungsgesellschaft hat die Erfahrung gemacht, daß die entwurzelten Auswanderer aus der alten Welt nach dem Verlust der meisten ihrer überkommenen Bindungen in den USA neue Formen von Gemeinschaften bildeten. Bis weit in die dreißiger Jahre bedeutete die Auswanderung nicht unbedingt das Aufgehen des einzelnen in einer anonymen Massengesellschaft, sondern die Bildung neuer Gemeinschaften, die oft sogar mehr Elemente von Gleichberechtigung enthielten als in der Alten Welt

Traditionsgemeinschaften wurden also durch Gemeinschaften des Willens ersetzt, die die Bedürfnisse nach enger sozialer Kommunikation, nach Selbstverwaltung und Mitgestaltungsmöglichkeiten in einem überschaubaren Rahmen befriedigen konnten. Die hierzu erforderliche Mentalität der Selbstorganisation, die nicht auf staatliche Anstöße wartet, ist in den USA bis heute lebendig geblieben. Das ist der Grund dafür, daß die kommunitarischen Ideen zur Zeit von dort mit eben diesen Formen der Selbstorganisation vorangetrieben und verbreitet werden.

II. Versuche zur Organisation einer kommunitarischen Bewegung

Mittlerweise hat sich in den USA so etwas wie eine kommunitarische ’ Bewegung gebildet. Ihr aktivster Promoter ist Amitai Etzioni, der mit außerordentlich begrenzten finanziellen Mitteln inzwischen einen organisatorischen Apparat von beeindruckender Öffentlichkeitswirksamkeit aufgebaut hat. Dazu gehört ein mit Freiwilligen und einer Teilzeitmitarbeiterin besetztes Büro in Washington, das ein Netz von Multiplikatoren mit regelmäßigen Rundbriefen und Informationen versorgt und in wichtigen Städten Konferenzen organisiert, die durchweg außerordentlich prominente Referenten aufweisen. Zum Beispiel waren die Referenten einer Genfer Tagung vom 12. bis 14. Juli 1996 Francis Fukuyama, Kurt Biedenkopf, Rudolf Scharping, Amitai Etzioni, Jürgen Moltmann und andere. Seit sechs Jahren wird zudem eine eigene Zeitschrift, The Responsive Community, als Vierteljahresheft herausgegeben. Zur Redaktion gehört die Creme der amerikanischen Sozialphilosophie. Das entscheidende Dokument dieser Bewegung, die man soziologisch als eine Art middle-class-movement kennzeichnen könnte, ist eine kommunitarische Plattform, die Etzioni in seinem Buch Spirit of Community. Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda veröffentlicht hat Besonderer Wert wird in Etzionis Kreis auf eine regelmäßige Regierungsberatungstätigkeit gelegt; zwischen ihm und der Clinton-Gore-Administration bestehen in der Tat vielfältige Kontakte.

In Deutschland ist diese Bewegung inzwischen angekommen. Etzioni hat 1994 und 1996 Rundreisen durch die Bundesrepublik unternommen, bei denen er nicht im Stile eines altmodischen Erweckungspredigers, wohl aber in der Art eines selbstironischen und wissenschaftlich aufgeklärten modernen Gurus Anhänger um sich zu scharen versuchte. Diese Aktivitäten stießen dann auch zunächst bei den evangelischen Akademien in Deutschland auf die größte Resonanz, so daß nun dort an der Gründung einer „Initiative für Bürgersinn“ sowie unter der Federführung von Bernd Guggenberger, Thomas Meyer und anderen an einem „Kommunitarischen Manifest für die Bundesrepublik Deutschland“ gearbeitet wird. Der Kontext dieser Bemühungen ist also die sozialökologisch angehauchte progressive Religiosität in der Bundesrepublik. Die entsprechenden katholischen Kreise haben sich mittlerweile ebenfalls in Bewegung gesetzt. So hat das Cusanuswerk, die katholische Stiftung zur Studienförderung, sich des Themas neuerdings angenommen, nachdem der Papst schon 1989 durch eine Einladung des führenden kommunitarischen Philosophen, Charles Taylor, in seine Sommerresidenz nach Castel Gandolfo sein allgemeines Interesse signalisiert hatte

Die Entwürfe zur Erarbeitung eines kommunitarischen Manifests für den spezifisch deutschen Kontext lehnen sich eng an das amerikanische Vorbild an. Von den üblichen Parteiprogrammen unterscheiden sie sich vor allem in einem Punkt: Sie leugnen die Allzuständigkeit der Politik und der von ihr kontrollierten staatlichen Verwaltungsinstanzen zugunsten einer neuen Arbeitsteilung zwischen Politik, Gesellschaft und den einzelnen.

Die folgende Passage entstammt einem derartigen Entwurf: „Wir müssen zu einem lebendigen Verständnis aktiver Demokratie gelangen als einer Gesellschaft freier Menschen, die ihre Angelegenheiten zunächst einmal selbstverantwortlich und in freiwilligen Zusammenschlüssen mit Gleichgesinnten regeln. In der griechischen Demokratie galt nur derjenige als Bürger (polites), der sich aktiv in das Leben der Gemeinde einschaltete; wer sich nur um seine Privatangelegenheiten kümmerte, den bezeichneten die Bürger als idiotes. Gemeinschaften können nicht überleben, wenn ihnen nicht die Bürger einen Teil ihrer Zeit und ihrer Energie widmen. Die ausschließliche Konzentration auf das Privatleben ist aber auf lange Sicht nicht einmal dem Eigeninteresse förderlich. Denn sie führt zu einem immer weiter expandierenden Regierungsapparat, aufgeblähten Sozial-und Wohlfahrtsbürokratien, einem Anschwellen von Regulierungen, die das Privatleben immer mehr einschnüren, und in der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt zu einer Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.“

Die kommunitarische Verbindung einer Kritik am Wohlfahrtsstaat mit der Betonung stärkerer kollektiver Selbstverantwortung findet man bislang vor allem bei Vordenkern der Grünen. Liberale Sozialstaatskritik setzt demgegenüber auf die Verantwortung des isolierten Individuums. Beide wollen die Zuständigkeit staatlicher und staatsnaher Bürokratien reduzieren, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen. Sie befinden sich damit in einer Frontstellung gegen die Sozialdemokratie sowie gegen den sozialstaatlich orientierten Teil der christdemokratischen Parteien, so daß die kommunitarische Fragestellung im Parteiensystem ein wenig quer liegt zu den bislang vorrangigen Trennungslinien. Die Diskussion hierüber steht in der Bundesrepublik aber immer noch am Anfang.

III. Die amerikanischen Ursprünge

Möglicherweise könnte ein Blick auf die amerikanischen Ursprünge dieser Debatte etwas zur Erhellung des Problems und auch zur besseren Strukturierung der deutschen Frontlinien der Meinungsbildung beitragen. Michael Sandel, neben Etzioni und Taylor der dritte wichtige Theoretiker des Kommunitarismus, hat sich von Anfang an als Berater der demokratischen Partei verstanden Er machte darauf aufmerksam, daß unter den demokratischen Präsidenten bzw. Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy der letzte war, der es vermocht hatte, sowohl für die benachteiligten -vor allem schwarzen -Minderheiten als auch für die weiße Mittelklasse zu sprechen.

Anders als Lyndon B. Johnson, Walter Mondale oder Mario Cuomo war er nicht der Meinung, die Nation sei die große Gemeinschaft, an die zu appellieren wäre. Er hielt sie vielmehr für zu groß, um für die Art von kommunitärer Selbstverwaltung tauglich zu sein, die er befürwortete: Gemeinschaft braucht einen Raum, in dem die Menschen einander sehen und kennen können. Er lehnte deshalb anders als viele Linksliberale, zu denen er ja ansonsten zählte, ein gesamtstaatliches Wohlfahrtssystem und ein an jeden zu zahlendes Minimaleinkommen ab, weil es die Menschen abhängig davon machte, daß ihre Mitbürger ihnen Schecks zukommen ließen. Gemeinschaftssinn und Staats-bürgersinn konnten seiner Auffassung nach nicht dadurch befördert werden, daß man jeden in die Lage versetzte, Waren zu kaufen und zu konsumieren. Statt dessen kam es vielmehr auf einen gemeinsamen Sinn für individuelle Unabhängigkeit und persönliche Anstrengung an, mittels derer diese Dinge überhaupt erst erwirtschaftet werden konnten.

Kennedy plädierte deshalb durchaus für staatliche Programme, die würdige Arbeit bei anständiger Bezahlung garantieren sollten, allerdings sollten es Programme sein, die in der community, in der Nachbarschaft wirksam wurden. Er befürwortete zum Beispiel Steuernachlässe für Investitionen in Armutsgebieten, was freilich erst jetzt, 30 Jahre nach seinem Tod, mit den enterprise zones zum Beispiel in Harlem mit einigem Erfolg praktiziert wird. Er stellte sich also eine Art politische Ökonomie der Bürgerbeteiligung vor, die zu reflektieren hatte, daß der entmündigenden Staatsversorgung des Passivbürgers die Aktivierung der Eigentätigkeit grundsätzlich vorzuziehen ist. Mit dieser Haltung konnte er eine Wählerkoalition hinter sich bringen, die seitdem auseinandergedriftet ist.

Auf der Gegenseite steht der wirtschaftspolitische Laissez-faire-Konservativismus, den Milton Friedman und einstmals Barry Goldwater verkörperten. Ronald Reagan hat es geschafft, Teilen ihrer Programmvorstellungen zum Durchbruch zu verhelfen. Das gelang ihm aber nur dadurch, daß er seinerseits eine Koalition weit voneinander entfernt liegender politischer Strömungen zu seiner Unterstützung zu mobilisieren vermochte. Er hat den Wirtschaftsliberalismus mit kulturkonservativen Positionen verbunden, wie sie von der religiösen Rechten favorisiert wurden. Wenn man bedenkt, daß Friedman für die Freigabe des Rauschgifthandels und die Abschaffung der Wehrpflicht eintritt, kann man ermessen, welche Überbrückungsleistung hier vollbracht wurde. Reagan vermochte es, die Rhetorik der Familie und der Gemeinschaft erfolgreich zu nutzen.

Es spricht sehr viel dafür, die Entstehung des derzeitigen kommunitarischen Impulses in den USA als Gegenreaktion der Mittelklasseprogressiven, der Basisdemokraten usw. auf diese Erfolgsgeschichte zu interpretieren, denn Reagan hatte sich ja zum Sprecher eines diffusen, gegen das Washingtoner Establishment und das Ausufern des bürokratischen Staatsapparates gerichteten Protestes gemacht. Diese Kritiken Reagans aber konnten aus kommunitarischer Sicht durchaus geteilt werden, so daß die Empfehlung lautete, von Reagan zu lernen.

Bill Clinton hat genau dies beherzigt und sich als „New Democrat“ präsentiert. Die demokratischen welfare-Traditionalisten hatten den Konservativen mit oftmals berechtigten und anschaulichen Argumenten nur den Sozialstaatsabbau vorgehalten.Als Gegenmittel jedoch hatten sie lediglich mehr Geld zum Zweck der Umverteilung gefordert und dadurch die breite Mittelschicht abgeschreckt, die wußte, daß sie dies würde zahlen müssen. Clinton dagegen setzte mit der Glaubwürdigkeit, die zum Wahlsieg ausreichte, auf den Appell an kommunitarische Eigenaktivität und vermochte es dadurch sehr viel besser, die unzufriedene Stimmung auch dieser sozialen Schichten anzusprechen.

Das Fazit dieses Exkurses lautet: So simpel das kommunitarische Denkmodell im Kern auch sein mag, in den USA hat es sich gegenüber einer komplexen politischen Aufgabe bewährt -nämlich heterogene soziale Interessen politisch handlungsrelevant und mehrheitsbildend zusammenzubringen, indem wenigstens in der Zieldefinition ein dritter Weg gefunden wurde: Legitimierung von Transferzahlungen durch Eigenaktivität -wenn irgend möglich -der Zahlungsempfänger und Dezentralisierung der Verantwortlichkeit zugunsten von basisnäheren Bereichen. Ob dies auf europäische Probleme übertragbar ist, steht zur Erprobung frei.

IV. Kommunitarismus in Europa

Der Boden ist auch in Europa für kommunitarische Denkansätze empfänglich, weil die Probleme ganz ähnlicher Natur sind. Das Thema der Legitimierung und Finanzierung wohlfahrtsstaatlicher Transferzahlungen steht in allen EU-Ländern auf der Tagesordnung, nachdem man lange Zeit geglaubt hatte, die Krise des Wohlfahrtssystems sei ein angelsächsisches Sonderproblem. Wo verwandte Fragestellungen vorliegen, bietet sich dann auch der Rückgriff auf verwandte Antwortmöglichkeiten an. Die kommunitarische Antwort ist in dieser Situation für viele grüne und kirchlich geprägte Aktivisten gewiß attraktiver als die an einem radikalen Wirtschaftsliberalismus orientierte Antwort Milton Friedmans, wie sie vor allem in Großbritannien mit einiger Konsequenz umgesetzt wurde. Über dieses Problem des Wohlfahrtsstaates hinaus kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der kommunitarische Überlegungen auch im europäischen Kontext interessant macht. Bürgerinitiativen besonders der Nach-68er-Zeit hatten ihre Tätigkeit vor allem dann als genuin politisch begriffen, wenn sie Forderungen an den Staat richten konnten: ein Projekt zu fördern, zu genehmigen, oder umge-kehrt, bestimmte Wirtschaftsaktivitäten zu unterlassen und Verkehrswege abzubauen bzw. gar nicht erst zu projektieren. Die deutschen Initiatoren eines kommunitarischen Manifests treten demgegenüber für einen deutlich weiteren Begriff des Politischen ein. Erneut sei aus dem unveröffentlichten Textentwurf zitiert: „Auch die Bürgerinitiative, die sich zur Lösung eines Problems der Gemeinde zusammenfindet, die gemeinnützige Vereinigung, die Geld und Hilfsgüter sammelt, Nachbarschaftshilfeaktionen, auch Selbsthilfe-gruppen und Einzelpersonen, die, statt nach dem Staat zu rufen, die Dinge selbst in die Hand nehmen, sie alle handeln politisch.“

Dies bedeutet auch, daß Basisaktivitäten gegen Rassismus und Intoleranz dem Ruf nach schärferen Gesetzen vorgezogen werden. Die amerikanischen Ideengeschichtler sprechen hier, meist an Hannah Arendt anknüpfend, von einem „bürgerhumanistischen“ oder „republikanischen“ Engagement im Unterschied zur rechtsstaatsgeschützten Passivität des liberalen Individualbürgers. Es geht nicht bloß darum, den Staat durch Selbsthilfe von Kosten zu entlasten, sondern genauso um die Funktion der Aktivität selbst als Mittel für den Zusammenhalt und das Funktionieren der Gesellschaft.

Die deutschen Kommunitarier lehnen sich ganz eng an das amerikanische Vorbild der kommunitarischen Plattform an, wenn sie die besondere Rolle der Familie und der Schule bei der Entwicklung des Bürgersinns betonen. Auch hier ist die Ambivalenz des Kommunitarismus spürbar. Als Familie wird von den Kommunitariern jede Form des Zusammenlebens von einem oder mehreren Erwachsenen mit mindestens einem Kind begriffen. Die dadurch mögliche Vielfalt sprengt gewiß alle Vorstellungen konservativ-christlicher Familienpolitik und wirkt deshalb auf den ersten Blick außerordentlich liberal.

Bei genauerem Hinschauen allerdings wird deutlich: Eine Familie im Sinne des Zusammenlebens von mehreren Generationen soll erhalten bleiben, um auf diese Weise die Werteerziehung, die moralische und staatsbürgerliche Charakterbildung zu garantieren. Kindererziehung soll also nicht an Babysitter oder professionelle Einrichtungen übertragen werden. Scheidungen bzw. Trennungen während der für die Kinder prägenden Jahre werden als hochgradig problematisch angesehen.

Etzioni schlägt sogar vor, Scheidungen zu erschweren und unter den Imperativ zu stellen, daß die Interessen der Kinder Vorrang haben müssen. Die Familie wird von den Kommunitariernalso nicht wie von klassischen Liberalen als Privat-sache angesehen, sondern als gesellschaftliche Aufgabe: „Es ist daher im dringenden Interesse einer demokratischen Gesellschaft, denjenigen ihrer Mitglieder, die Kinder , hochbringen 1, die äußeren Möglichkeiten zu erleichtern, ihrer Erziehungsaufgabe optimal nachzukommen.“ Ähnlich argumentieren die Kommunitarier in dem oben genannten Papier -dem auch das vorangegangene Zitat entstammt -für den Bereich der Schule. Diese soll nicht vor der Aufgabe der Charakterbildung und der aktiven Werteerziehung zurückschrecken, weil andernfalls in das dadurch entstehende Vakuum andere Einflüsse eindringen würden: „Wir wollen also den Erziehenden Mut machen, wieder Standpunkte einzunehmen und Wertmaßstäbe zu setzen und diese offensiv, aber in offener Diskussion mit den Schülern zu vertreten, damit diese erfahren, daß es Verbindlichkeiten gibt. Denn Wertevermittlung geschieht vor allem durch die gesellschaftliche Erfahrung von gleichen Rechten und vernünftig begründeten Pflichten.“

Nach den Frontverläufen und Denkgewohnheiten der siebziger Jahre wäre dies eine klassisch konservative Position. Sie wurde beinahe mit den gleichen Worten im Jahre 1978 unter dem Titel „Mut zur Erziehung“ von Robert Spaemann, Hermann Lübbe und anderen vertreten, was damals zu energischen Protesten von Jürgen Habermas und zu einer erregten Diskussion in der Zeit geführt hatte.

Zu jener Zeit wurden derartige Überlegungen als abenteuerlicher Obskurantismus angesehen, der den weiteren Fortgang der Aufklärung gefährdete und die Tendenzwende einleitete Heute beginnen sie Eingang zu finden in die Manifeste progressiver Pastoren, Erzieher und sogar Politikwissenschaftler. Dient der Kommunitarismus hier zur Legitimation einer konservativen Wende auch noch jener versprengten Linken, die bisher übrig-geblieben sind? Nun, wenn man auf beiden Seiten die Spitzen aus einer derartigen Diskussion her-ausnimmt, dann bleibt der Blick darauf, welche Werte eigentlich vermittelt, was für eine Art von Charakter eigentlich gefördert und gebildet werden soll. Die deutschen Kommunitarier bleiben an diesem Punkt unbestimmt, wohl weil sie ahnen, daß Wertediskussionen erfahrungsgemäß endlos und unentscheidbar sind.

Etzionis Antwort hierauf ist dagegen ziemlich direkt: Es sind jene Werte, die seiner Auffassung nach „alle Amerikaner“ teilen, nämlich beispielsweise, daß die Würde aller Menschen respektiert werden muß, daß Toleranz eine Tugend, daß Diskriminierung abscheulich ist, daß friedliche Konfliktlösungen besser sind als Gewalt, daß Wahrhaftigkeit im allgemeinen moralisch höher zu bewerten ist als die Lüge, daß demokratische Regierungsformen moralisch höher stehen als Totalitarismus und Autoritarismus und daß eine gewisse Arbeitsethik gilt, nach der man auch einen Tag lang zu arbeiten hat, wenn man für einen Tag bezahlt wird. Speziell mit der Etablierung von verschiedenen Formen des Ethikunterrichts in den einzelnen Bundesländern werden sich bei uns hierzu ausführliche Diskussionen ergeben. Es spricht sehr viel dafür, daß die kommunitarischen Antworten, gerade weil sie so einfach und unmittelbar sind, sich durchaus werden Gehör verschaffen können. Auch hier reagiert das kommunitarische Denken auf Problemlagen, wie sie in unserer Gesellschaft längst vorgeprägt sind.

In einer hochinteressanten kleinen Studie hat Ansgar Häfner die rezeptionssteuernden Voraussetzungen und Erwartungen einer ganz besonderen Gruppe untersucht, nämlich von Lehrern der politischen Bildung in einem ostdeutschen Bundesland, die mit Charles Taylors Aufsatz Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung , konfrontiert wurden. Diese Studie ist gewiß nicht repräsentativ, eignet sich aber als Problemaufriß. Die verschiedenen von Häfner betreuten Lehrer-gruppen identifizierten sich spontan sehr stark mit gewissen Zügen von Taylors Kritik am atomistischen Individualismus und seiner Betonung der institutioneilen Gebundenheit des Individuums. Bei aller Kritik der repressiven Züge der sozialistischen Menschengemeinschaft empfanden sie diese insgesamt doch als positiven Wert und als wünschenswertes Ziel der sozialen Entwicklung und entdeckten bei Taylor neue Formulierungen für dieses intuitiv bejahte Ziel. Der Kommunitarismus erschien ihnen als Gegenmittel gegen westliche Kälte und Ellbogenmentalität und als neue, attraktivere Form, solche Gemeinschaftsbeziehungen, die aus der DDR als positiv rückerinnert wurden, weiterhin zu begründen und zu befördern. Auf der anderen Seite aber waren sie irritiert dadurch, daß Taylor in seinem Text keine substantiellen Vorgaben macht, welche Wertvorstellungen nun genau befördert werden sollten. Häfner konstatiert hier eine bemerkenswerte kognitive Dissonanz. Er kommt zu dem Ergebnis, „daß die spontane Zustimmung der Teilnehmer auf einem Mißverständnis beruht, und daß sie deshalb in Wirklichkeit eine andere Aussage enthält als die von Taylor. Dieser argumentiert nämlich durchgehend auf der Basis einer Identitätsvorstellung, die das Individuum als entscheidungsfrei, wertgebunden und autonom versteht. Viele Teilnehmer blendeten dies jedoch immer wieder aus und zeigten in ihren Beiträgen, daß sie von der Vorstellung eines entscheidungsdeterminierten, normgebundenen und nicht autonomen Individuums ausgingen. Im erwünschten Ergebnis, dem Erscheinungsbild einer gemeinschaftlichen Gesellschaft, fanden sie sich durch Taylor bestätigt, obwohl dieser als deren Voraussetzungen eine aktive Wertegemeinschaft annimmt, und nicht nur eine bloße Normen-anpassung der Subjekte“

Der westlich geprägte Kommunitarismus Taylors besteht auf der freiwilligen gegenseitigen Wertschätzung als Bedingung für jegliche Gemeinschaftsorientierung. Eine östliche Sozialisation (um das Problem nicht allein an einigen Politiklehrern aus der ehemaligen DDR festzumachen, ist an dieser Stelle vielleicht der Hinweis angebracht, daß Deutschland aus angelsächsischer und französischer Sicht geographisch wie mental insgesamt östlich liegt) fördert offenbar die Neigung, diese Bedingung zu übersehen und zu übergehen, so daß in die Texte der Kommunitarier eine eher traditionalistische oder autoritäre Form der Gemeinschaftsbildung hineingelesen wird. Die Häfnersche Vermutung ist zunächst nur eine begründete Hypothese, die noch der Überprüfung durch entsprechende Untersuchungen bedarf.

V. Zukunftsperspektiven des kommunitarischen Denkens

Welche Zukunftsprognose ist dem kommunitarischen Denken zu stellen? Handelt es sich um eine jener teils eher rührenden, teils hochgefährlichen Aufwallungen des romantischen Gemeinschaftsgefühls angesichts eines erneuten Modernisierungsschubs? Michael Walzer könnte es sich als permanentes Korrektiv des modernen atomistischen Liberalismus vorstellen, als ständige Minderheitsströmung, die den kalten Projekten der Moderne einige Wärmegrade der Mitmenschlichkeit hinzufügt. Diese Perspektive hat gewiß einiges für sich. Die heutigen amerikanisch-europäischen Kommunitarier verkörpern eine innerdemokratische, in gewisser Weise sogar innerliberale, nämlich die Rechte des Individuums gegenüber der Gemeinschaft respektierende Form dieser Grundhaltung, die allerdings auch ganz andere Formen einer radikaleren Reaktion des Gemeinschaftsbedürfnisses auf Entfremdungs-und Entwurzelungsprozesse der Moderne annehmen kann. Die totalitären Bewegungen unseres Jahrhunderts, aber auch der islamische Fundamentalismus zeigen, welche vulkanischen Eruptionen hier möglich sind.

Es wäre ein politisch böswilliger und intellektuell unzulässiger Umgang mit den gemäßigten westlichen Kommunitariern, diese strukturelle Analogie zu jenen gefährlichen Gemeinschaftsbewegungen als Argument gegen sie zu verwenden -genauso unzulässig wie zum Beispiel der Stalinismusvorwurf gegen gemäßigte westliche Sozialdemokratien es einst war. Es ist aber wichtig zu verstehen, daß es sich in allen diesen Fällen um Reaktionen auf Defizite und Beschleunigungseffekte in den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen handelt. Nimmt man die gemäßigte Form nicht ernst, tabuisiert man gar ihre Fragestellungen, hat man nicht viel gewonnen, weil die soziale Tatsache bestehen bleibt, nämlich das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Gerade weil die Grenzen der Nationalstaaten im momentanen Prozeß der Europäisierung an Bedeutung verlieren, wird das Bedürfnis nach kleineren regionalen Anbindungsund Identifikationsformen wachsen, werden kommunitarische Antworten weiterhin gefragt sein. Dies ist nicht ohne Ambivalenzen zu sehen: Kommunitarische Elemente eignen sich immer auch zur Bildung abgeschlossener Nachbarschaften. Eine sich nach außen öffnende nationalstaatliche Gesellschaft könnte sich, das ist die Befürchtung Michael Walzers, in „tausend kleine Festungen“ aufspalten Aus solchen Gedanken resultiert Elmar Altvaters Befürchtung, der Kommunitarismus könnte versuchen, so etwas wie ein „Stammeswesen im globalen Dorf“ zu etablieren Die Betonung der Gemeinschaft als Reaktion auf die Vereinzelungsprozesse der Modernisierung kann radikale und gemäßigte, linke wie rechte, selber modernistische wie traditionalistische Formen annehmen. Da das kommunitarische Denken als politische Kraft auftritt, muß es sich selbstverständlich der politischen Frage stellen, ob es nun eher links, eher rechts oder wo auch immer einzuordnen sei. Es wäre aber ein Kategorienfehler, diese politisch unvermeidliche Perspektivik unmittelbar auf das kommunitarische Denken insgesamt anzuwenden -ein Fehler, der vor allen Dingen in der ersten, noch unpräzisen und vergröbernden und damit meist auch denunziatorischen Rezeption gemacht wurde. Die Links-rechts-Unterteilung erlaubt es lediglich, innerhalb des Kommunitarismus ein Spektrum von Positionen zu unterscheiden, das vom Kulturkonservatismus Alasdair MacIntyres auf der einen Seite bis zum Sozialliberalismus Michael Walzers reicht.

Aus diesem Grunde sind Elemente des kommunitarischen Denken für beinahe das gesamte politische Spektrum der Bundesrepublik anschlußfähig -mit einer naheliegenden Ausnahme: Der deregulativ orientierte Wirtschaftsliberalismus, der sich mit einem Individualismus der Rechte verbindet, müßte diesem Denken gegenüber konsequenterweise Abscheu empfinden. Eine Umfrage des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen unter Parteitheoretikern ergab dann auch differenziert-positive Antworten Thomas Meyer von der SPD macht auf die Schattenseiten möglichen Tugend-terrors aufmerksam, möchte auch vermeiden, daß wichtige staatliche Aktivitäten durch Selbstorganisation ersetzt werden, glaubt aber, daß der Kommunitarismus zur Belebung, Erweiterung und Neufundierung gesellschaftlicher Politik in der Bundesrepublik beitragen kann. Rudolf Scharping hat in einem Zeit-Artikel sogar hinzugefügt: „Der Sozialdemokratie in Deutschland wäre eine ähnliche Bürgerbewegung als Partnerin hoch willkommen.“ Thomas Gauly von der CDU verweist auf kommunitarische Elemente im CDU-Programm, insbesondere die dortige Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs, beklagt aber, daß der Gegen-begriff der individuellen Freiheit von den Kommunitariern zu wenig betont wird. Winfried Kretschmann von den Grünen betont den kommunitären Gründungsmythos der Grünen aus den Bürgerinitiativen und der Devise „small is beautiful". Aus seiner Erfahrung auf grünen Parteitagen kritisiert er jedoch die Schattenseiten einer zu starken Moralisierung der Politik, bei der Kandidaten-befragungen eher einem Abfragen von Glaubensbekenntnissen gleichen.

Diese Übereinstimmung von genereller Zustimmung bei partieller Distanzierung vor allem beim Aspekt des Moralisierens zeigt eine bemerkenswerte Konvergenz über die Parteigrenzen hinweg. Bei der teilweisen Distanzierung handelt es sich um eine typisch europäische Reaktion auf den moralisierenden Amerikanismus der Kommunitarier. Eine säkularisierte Sektenreligiosität pflegt dort hohe Anforderungen an die persönliche Glaubwürdigkeit von Politikern zu stellen, während in Europa doch eher die Haltung eines nüchternen politischen Realismus geeignet ist, öffentliche Anerkennung zu finden.

Die PDS als weitere Bundestagspartei wurde nicht befragt, hätte aber vermutlich am Kommunitarismus lediglich die zu starke Betonung gesellschaftlicher Eigenaktivität gegenüber staatlicher Sozialpolitik zu kritisieren gehabt.

Doch auch auf der Rechten hat das kommunitarische Denken, wie nicht anders zu erwarten, aufmerksames Interesse gefunden. Die Junge Freiheit hat ihrem jungkonservativen Publikum schon im Jahre 1994 einen Problemaufriß des kommunitarischen Denkens gegeben Diese Art der Rezeption tendiert allerdings zu einer eigentümlichen Verkürzung des kommunitarischen Denkens auf den Aspekt des Nationalstaats. Die Hauptfragen sind ist dann: Wie und wo kann analog zur amerikanischen Geschichte eine identitätsstiftende Tradierung deutscher Geschichte stattfinden? Hätte nicht ein stärker nationalistischer Appell an die Opferbereitschaft statt des Versprechens schnellen Wohlstands den Prozeß der Wiedervereinigung erleichtern können? -und dergleichen mehr. Das heißt, die gemeinschaftsstiftende Potenz wird vor allem von der Nation erwartet -die aber im Denken des Kommunitarismus nur eine und keineswegs unbedingt die zentrale Größe ist, weil sie im Vergleich zu den lokalen communities doch den Nachteil der Abstraktheit und Neigung zu symbolischer statt face-to-face-Kommunikation hat.

Es hat sich geradezu so etwas wie ein kleiner ideenpolitischer Meinungskampf um die Frage herausgebildet, ob das kommunitarische Denken eher für rechte oder für linke Projekte mobilisiert werden kann. Tilman Mayer beklagt in seinem Aufsatz Kommunitarismus, Patriotismus und dasnationale Projekt, daß der Kommunitarismus in Deutschland bislang vor allem sozialdemokratisch interpretiert und rezipiert worden sei und versucht dem die These entgegenzusetzen, „daß die Nation die größtmögliche Gemeinschaft ist, der der Mensch identitär angehören kann“ Der Kommunitarismus wird als kulturverändernde Wende gesehen, die den „überzogenen Individualismus“ ausbalancieren könnte und auf diese Weise zur tragenden Idee in der Weltordnung nach 1989 mit ihren vielen nationalen Projekten würde. Auch hier trägt das nationalstaatliche Begriffsdenken dogmatische Züge und übersieht in der Begeisterung darüber, daß Charles Taylor und Alasdair MacIntyre keine Scheu haben, das Wort „Patriotismus“ in positivem Sinn zu verwenden daß ein eher basisdemokratisches und zivilgesellschaftliches Engagement unterhalb der nationalen Ebene für das kommunitarische Denken sehr viel charakteristischer und prägender ist als die Identifikation mit dem großen Ganzen. Die ausschließliche Fixierung auf den Nationalstaat führt Mayer darüber hinaus zu der recht starren These, daß Zivilisationen und Religionen zwar auch Identitäten stiften, aber keine die Nation ersetzenden politischen Einheiten sind Entscheidend ist demgegenüber jedoch, daß sie genauso wie andere Identitätsformen eine Person ganz und gar ausfüllen und auf diese Weise politisch prägend und handlungsleitend werden können. Auch Zivilisationsgrenzen und Religionsdifferenzen sind politisch dramatisierbar.

Man könnte hinzufügen, daß derartige, doch zur Abstraktheit und Anonymität neigende Großeinheiten, wenn sie versuchen, als wärmespendende Gemeinschaften aufzutreten, eine große Illusion produzieren. Francois Furet hat am Beispiel des Mythos der Oktoberrevolution die Geschichte einer solchen grundlegenden Illusion in unserem Jahrhundert kritisch nachgezeichnet So anonym und „atomistisch“ alleingelassen das liberale Individuum sich auch in modernen wirtschaftsliberal geprägten Gesellschaften fühlen mag -es verfügt doch über mehr Freiräume als es in jenen Staaten hatte, die eine bedingungslose Unterordnung unter eine große Idee verlangten.

Die kommunitarische Perspektive scheint deshalb nur unter solchen Bedingungen erträglich zu sein, wo sie in sozusagen postmoderner Form auf die Vielfalt kleiner selbstorganisierter und eine Zeit-lang zusammenbleibender Gemeinschaften setzt, auf freiwilliges Engagement von freiwilligen Vereinigungen mit begrenzter Dauer. Die kommunitarische Betonung der Bürgerinitiativen geht in diese Richtung, die anders als die Nation oder einstige kommunistische Parteien auf der Höhe ihrer Macht keine existentielle Bindung und auch nicht den Einsatz der ganzen Persönlichkeit verlangen. Selbst der moderne kommunitarische Familienbegriff beinhaltet genaugenommen nur die Verpflichtung zur gemeinschaftlichen Organisation der Kindererziehung, also auch nur eine begründete Verpflichtung von zwar längerer, aber doch begrenzter Dauer.

Das heißt, die Politisierung des Gemeinschaftsbegriffs muß sehr genau reflektieren, auf welche Einheiten sich die Gemeinsamkeit beziehen soll und welche Bindungsintensität angestrebt wird. Die Gemeinschaft ist in der Mikropolitik wesentlich besser aufgehoben als in den nationalstaatlichen oder religiösen Großräumen. Die letzte und zentrale Verantwortlichkeit des Staates für alle wichtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen ist nur dann erträglich, wenn sie den Individuen die Freiräume läßt, sich nach eigenen Vorstellungen zu assoziieren und zu engagieren. Die Assoziationsfreiheit ist strukturell die Freiheit des Individuums, Bindungen an andere einzugehen und sich aus ihnen zu lösen. Sie ist die für kommunitarisch ausgerichtete Aktivitäten entscheidende Grundfreiheit. Wird sie nicht als individuelles Freiheitsrecht, sondern vielmehr als Gruppenrecht verstanden, dann liegt ein Mißverständnis des liberal geprägten amerikanischen Kommunitarismus vor und zugleich eine Gefahr für die Freiheit des einzelnen. Dann nämlich würde eine paternalistische Gruppenpolitik an die Stelle freiwilliger Assoziationen treten, würde eine Herrschaft der Gruppensprecher die Selbsttätigkeit der Bürger verdrängen. Die Rhetorik der Gemeinschaft könnte dabei unverändert weiterlaufen, denn es handelt sich nur um einen kleinen Unterschied, der allerdings aus der Perspektive des Individuums und der demokratischen Selbstbestimmung ein Unterschied ums Ganze ist.

Die entscheidende Frage ist, ob sich in unserer Gesellschaft besser leben läßt, wenn mehr kommunitarische Aktivitäten sich entfalten. Diese Frage läßt sich nur dann mit Ja beantworten, wenn allederartigen Gruppen sich aus freien und gleichen Einzelpersonen zusammensetzen. Da jede dieser Einzelpersonen zugleich in mehreren Rollen lebt, als Produzent, Steuerzahler, Verbraucher etc., ist die Radikalisierung einer Teilidentität nicht zu befürchten. Wenn Mitglieder oder Aktivisten dagegen nur noch Gruppenvertreter und Gruppenrepräsentanten sein wollen, dann wird der Streit um Ressourcen durch kommunitarische Argumentationsweisen in gefährlicher Weise zugespitzt und moralisierend aufgeladen. Wenn die Ressourcenverteilung gar in nennenswertem Maß der demokratisch nicht kontrollierten inneren Organisation von Gemeinschaften überlassen wird, ergibt sich die Gefahr einer Auflösung der Gesellschaft in kommunitarische Inseln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Solche Kurzdefinitionen sind immer problematisch. Eine ausführliche und gründliche Gesamtdarstellung, die auch der inneren Differenzierung der einzelnen kommunitarischen Theoretiker gerecht zu werden versucht, findet sich in Walter Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt/M. -New York 19952.

  2. Es ist vor allem das Verdienst von Hans Joas, einem der besten Kenner amerikanischer Sozialphilosophie, auf diesen Punkt nachhaltig aufmerksam gemacht zu haben; vgl. Hans Joas, Gemeinschaft und Demokratie in den USA. Die vergessene Vorgeschichte der Kommunitarismus-Diskussion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1992) 7, S. 859-869.

  3. Der Band ist 1993 in New York erschienen. Eine deutsche Übersetzung liegt inzwischen vor: Amitai Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995.

  4. Vgl. Charles Taylor, Die Beschwörung der Civil Society, in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), Europa und die Civil Society. Castelgandolfo-Gespräche 1989, Stuttgart 1991, S. 52-81.

  5. Es handelt sich um einen unveröffentlichten Entwurf, der derzeit mit der Bitte um Anregungen und Ergänzungen verbreitet wird. Er wurde hier zitiert, weil er eine Übertragung auf deutsche Verhältnisse darstellt und weil er charakteristisch sein dürfte. Ein repräsentativ zu nennendes Dokument einer kommunitarischen Bewegung in der Bundesrepublik gibt es dagegen bislang nicht -und es ist auch nur schwer vorstellbar, wie ein so lose verkoppelter Kontext zur Erstellung eines solchen Textes kommen könnte.

  6. Vgl. Michael Sandel, The Politics of Community: Robert F. Kennedy versus Ronald Reagan, in: The Responsive Community, 6 (1996) 2, S. 14-18.

  7. Man kann diese Polemik nachlesen in Jürgen Habermas, Mut zur Erziehung. Brief an Robert Spaemann, in: ders., Kleine Politische Schriften (I-IV), Frankfurt/M. 1981, S. 407-411.

  8. Vgl. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit Kommentaren von Amy Gutmann, Steven C. Rockefeller, Michael Walzer, Susan Wolf. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 1993.

  9. Ansgar Häfner, Was heißt Gemeinschaft heute?, in: Gegenwartskunde, 44 (1995) 1, S. 33-44, hier S. 36.

  10. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/M. -New York 1992 (zuerst als Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983), S. 75.

  11. Vgl. Elmar Altvater, Stammeswesen im globalen Dorf, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 37 (1992) 5, S. 540-551.

  12. Vgl. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 8 (1995) 2.

  13. Rudolf Scharping, Von den Kommunitariern lernen, in: Die Zeit vom 22. September 1995, S. 33.

  14. Vgl. Herbert Ammon, Die Rückkehr der Gemeinschaft, in: Junge Freiheit vom 18. November 1994.

  15. Tilman Mayer, Kommunitarismus, Patriotismus und das nationale Projekt, in: Bernd Estel/Tilman Mayer (Hrsg.), Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften. Länderdiagnosen und theoretische Perspektiven, Opladen 1994, S. 115-130, hier S. 120.

  16. Vgl. dazu Alasdair MacIntyre, Ist Patriotismus eine Tugend?, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. -New York 1993, S. 84-102.

  17. Vgl. T. Mayer (Anm. 15), S. 121.

  18. Vgl. Francois Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München -Zürich 1996.

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Walter Reese-Schäfer, Dr. phil., Privatdozent, geb. 1951; Studium in Hamburg; Dokumentationsjournalist für den Stern und die Zeit; seit 1992 Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen u. a.: Jürgen Habermas, Frankfurt/M. -New York 19942; Jean-Franois Lyotard zur Einführung, Hamburg 19953; Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt/M. -New York 19952; Luhmann zur Einführung, Hamburg 19962; Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. (i. E.).