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Demokratie als Solidarität unter Fremden. Universalismus, Kommunitarismus, Liberalismus | APuZ 36/1996 | bpb.de

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APuZ 36/1996 Die politische Rezeption des kommunitarischen Denkens in Deutschland Kommunitarismus -diesseits und jenseits des Ozeans Demokratie als Solidarität unter Fremden. Universalismus, Kommunitarismus, Liberalismus Gesellschaft versus Gemeinschaft? Zur Tradition des dichotomischen Denkens in Deutschland

Demokratie als Solidarität unter Fremden. Universalismus, Kommunitarismus, Liberalismus

Hauke Brunkhorst

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Es werden zwei Richtungen des Kommunitarismus unterschieden, eine universalistische („Solidarität unter Fremden“) und eine partikularistische („Solidarität unter Freunden“). In den Abschnitten III-V werden die berechtigten Elemente der kommunitaristischen Kulturkritik diskutiert. Universalisten und Partikularisten sind sich in ihrer Kritik am Liberalismus („Atomismus“, „Demokratiedefizit“ usw.) weitgehend einig. Aber sie unterscheiden sich in ihrem Demokratieverständnis: Während die Partikularisten der verlorenen Tugend nachtrauern und die antiken Stadtrepubliken verklären, verteidigen die Universalisten die Demokratietheorie Rousseaus und Kants, die einen individualistischen Egalitarismus favorisiert und Demokratie als Gesetzgebungskompetenz des Volkes definiert.

I. Einleitung

Der Begriff ist neu. Kongresse wie der Frankfurter über „Gemeinschaft und Gerechtigkeit“ haben ihn hierzulande populär gemacht Mittlerweile ist „Kommunitarismus“ der Liebling der Saison. „Kommunitarismus“ füllt die Schaufenster der Buchhandlungen und die großen und kleinen Feuilletons. Fernsehmoderatoren, Ministerpräsidenten und Bundestagsabgeordnete greifen begierig nach dem Stichwort, das ihr ramponiertes Ansehen aufzubessern verspricht. Bürgertugend, wohin man blickt. Das Gesicht aus den Tagesthemen präsentiert dem Zeitungsleser einen Titel von stiller Einfalt und edler Größe: Das Buch der Tugenden -pünktlich zur letzten Buchmesse. Es will zum Nachdenken über den ganzen Katalog -Gerechtigkeit, Mut, Tapferkeit, Zivilcourage, Verantwortung, Gemeinsinn, Toleranz und last not least Wahrhaftigkeit -ermuntern und ermutigen.

Sucht man im Historischen Wörterbuch der Philosophie nach dem Stichwort „Kommunitarismus“, so sucht man vergebens zwischen „Katholizismus“, „Kommunismus“ und „Kompensation“, alles Stichworte, die einiges zum Thema beizusteuern haben. Auch in den Artikeln über „Gemeinschaft“ und „Gemeinsinn“ hat die jüngste Debatte noch keine Spuren hinterlassen. Wie sollte sie auch, sind die Bände mit den Buchstaben „L“ und „G“ doch schon 1974 bzw. 1976 erschienen, und damals sprach selbst in den Vereinigten Staaten noch niemand vom Kommunitarismus.

Zwar war das Buch, das zum Stein des Anstoßes werden sollte, A Theory ofJustice von John Rawls, schon 1971 erschienen, und Charles Taylors einflußreiche, weder konservative noch marxistische Liberalismuskritik reicht bis weit in die siebziger Jahre zurück. Aber die wichtigsten Publikationen zum Thema, Alasdair MacIntyres After Virtue, Michael Sandels von Taylor angeregtes Buch Liberalism and the Limits of Justice und Michael Walzers Spheres of Justice, erschienen alle erst in den frühen achtziger Jahren. Auch die Soziologie zog erst Mitte der achtziger Jahre nach, mit einer bedeutenden Studie des Forscherteams um Robert Bellah, das sich die von MacIntyre skizzierte Typologie liberaler Pathologien, der Manager-, Therapeuten-und Ästheten-Krankheit, zunutze macht, um die immer schlechter werdenden „Gewohnheiten des amerikanischen Herzens“ zu erforschen.

II. Ein weites Feld

So neu der Begriff ist, so alt ist die Sache, um die es geht. Paradigmatisch ist immer noch die Diagnose der Korruption und des Sittenverfalls, die Cicero und seine Mitstreiter der späten römischen Republik gestellt hatten. Indem die eigene Zeit als gänzlich korrupt beschrieben wird, wird deren realer zivilisatorischer Fortschritt -der damals immerhin in einer erheblich breiteren Streuung des wachsenden Wohlstands, einer relativen Emanzipation der Frauen und einer humaneren Behandlung der Sklaven, in der Aufklärung der gebildeten Schichten und in der Entzauberung der archaischen Religion bestanden hatte -zum integralen Bestandteil eines ubiquitären Sittenverfalls. Zivilisatorischer Fortschritt und Sittenverfall werden im Lichte eines nostalgisch das „dunkle Vergangene“ verklärenden Grundwerteidealismus ununterscheidbar. Der reale Fortschritt der Aufklärung wird so als bloßes Symptom, wenn nicht gar als eigentliche Ursache der Krise im Sittlichen denunzierbar.

Das Spektrum kommunitaristischer Strömungen im politischen Denken des Westens ist breit und schillert in allen Farben. Kommunitaristisch ist die Nikomachische Ethik des Aristoteles ebenso wie die politische Theorie Thomas von Aquins. Kommunitaristisch ist die Politik der Propheten und die Antipolitik des Urchristentums. Zu den Kommunitaristen zählen politische Romantiker wie der späte Friedrich Schlegel oder Adam Müller, aber auch die frühen Sozialisten und die späteren Sozialdemokraten gehören zur Familie. Auf der Gegenseite wäre gleich zu Beginn, in der erbitterten Gegnerschaft zur Französischen Revolution mit ihrem „abstrakten“ Menschenrechtsuniversalismus, Edmund Burke, der Begründer des modernen Konservatismus, zu nennen -auch er ein Kommunitarist. Kommunitaristisch durch und durch ist der Begriff des „Katholischen“, der sich vom griechischen katholikos, dem Allgemeinen, Umfassenden und Integrativen herleitet und im Lateinischen mit communis und universalis übersetzt werden muß. Katholisch ist die umfassende und organisch gegliederte Gemeinschaft der Rechtgläubigen im Unterschied zur „idiotischen“ Vereinzelung der Ungläubigen. Idios ist im Griechischen sowohl der Gegenbegriff zu katholikos wie zu koinia und polis.

Zur communitas gehört jedoch im Katholizismus -von Augustinus bis Taylor -auch die universalitas, die alles übergreifende Körperschaft, die Verkörperung eines allmächtigen Willens, die vernünftig gegliederte Totalität. Und die universalitas catholica erlaubt die Distanzierung der richtigen, durch Gott gestifteten und institutionell verbürgten, universellen Gemeinschaft von den bloß partikularen Sekten und damit auch die Ausgrenzung der häretischen Sozialbewegungen, wogegen diese wiederum im Namen der wahren Gemeinschaft mit Gott protestiert haben. Noch die universelle Kommunikationsgemeinschaft von Charles S. Peirce und Karl-Otto Apel verdankt sich der Säkularisierung des katholischen Universalismus. Und die Häretiker der kommunikativen Vernunft protestieren heute im Namen des Kommunitarismus und der unübersteigbaren Besonderheit der vielen Kulturen und Lebenswelten gegen den abstrakten, ausgrenzenden und repressiven Universalismus der Diskursethiker wie einst Aron gegen Moses oder später die Katharer und Albingenser gegen das umfassende Gesetzes-und Glaubensmonopol der römischen Kirche.

Auch der Kommunismus, der im 19. Jahrhundert als Gespenst in Europa umging, ist ein Produkt kommunitaristischen Denkens. Ursprünglich ist „Kommunismus“ einfach „Gütergemeinschaft“. Exemplarisch ist die alles überragende Figur von Karl Marx, weil in dessen Denken beide Wurzeln des alteuropäischen Kommunitarismus zu einer eigenwilligen und höchst folgenreichen Synthese zusammenlaufen. Denn Marx kann das materialistische Erbe des christlichen Universalismus der civitas Dei, das er als junghegelianischer Religionskritiker antritt, ebenso für sich reklamieren, wie das republikanische des heidnischen Bürgerbundes, der res publica, deren radikaldemokratischen Impuls der junge Marx, der Aristoteles zeit seines Lebens verehrt und ständig zitiert, gegen Hegels Rechtsphilosophie stark gemacht hat. Biblischen Ursprungs hingegen ist die Kritik der Verdinglichung, des Warenfetischismus, des Götzendienstes. Säkularisiertes Erbe der Erlösungshoffnung, die die civitas Dei eint, ist der Begriff der revolutionären, weltverändernden Praxis. Und in der Utopie einer „freien und gleichen Assoziation der Produzenten“ kehrt die Vorstellung der „regulierten Anarchie“ (Christian Sigrist) wieder, eine Vorstellung, die nicht nur archaischen Gesellschaften, sondern, in neuer, universalistischer Gestalt, dem Buch der Richter und damit einer frühen Version der biblischen Bundesidee eigentümlich ist

Altrepublikanisch hingegen ist Marxens Kritik an Hegels Trennung von Staat und Gesellschaft, die die römische res publica oder die aristotelische koinia politike in zwei einander entgegenwirkende Teile zerreißt. Zumindest der frühe Marx denkt hier ganz republikanisch. Es gibt im jüngeren kommunitaristischen Denken eine Entfremdungskritik, die jüdisch-christliche Wurzeln hat und eine, die sich aus aristotelischen und römischen Quellen speist. Ein paradigmatischer Fall der letzteren Option ist Hannah Arendts politisches Denken, das im Verlust des Politischen den Sündenfall der europäischen Moderne erkennen zu können glaubt. Während der späte Marx von der Kommune, der Aufhebung des Staats in die Gesellschaft träumt, träumt Hannah Arendt von der Polis, der Aufhebung der Gesellschaft in die öffentliche Freiheit des Politischen.

Kommunitaristisch sind ferner alle korporatischen Lehrmeinungen, von den Höhen Montesquieus und Hegels bis in die Niederungen des italienischen Faschismus. Kommunitaristisch ist auch noch die „Volksgemeinschaft“ der Nationalsozialisten. Ein Kommunitarier war der ehemalige Bundespräsident Heinrich Lübke, der zusammen mit seiner Frau Wilhelmine eine „Aktion Gemein-sinn“ ins Leben gerufen hatte, die in einer Anzeigenkampagne den deutschen Michel, der mit seiner Zipfelmütze auf den Anzeigen abgebildet war, ermahnte: „Sei kein Ohne-Michel!" Für den kanadischen Philosophen Charles Taylor ist denn auch die Bundesrepublik Deutschland ein kommunitaristisches Musterland -mit ihrer Sozialpartnerschaft, ihren starken Gewerkschaften, der Tarif-autonomie, der konzertierten Aktion und ihrer föderalistischen Verfassung. Hinzu kommen ihr weitverzweigtes Genossenschafts-und Vereinswesen, die Fischerei-, Turn-, Gesangs-und Bürgervereine, die Knappschaftskassen und die Banken für Gemeinwirtschaft. Und seit Helmut Willke die„Verhandlungssysteme“ entdeckt hat, kann man sogar von einer kommunitaristischen Selbstreflexion der Luhmannschen Systemtheorie sprechen

In Deutschland ist ein romantisierender Zeitgenosse und Kritiker Kants, der Sprach-und Geschichtsphilosoph Johann Gottfried Herder, der Vater des Kommunitarismus, der Erfinder der „Kulturnation“ und der „Sprachgemeinschaft“. Er hat einen zugleich kosmopolitischen und ethnischen Begriff der Nation entwickelt und eine Utopie des friedlichen Konzerts der vielen Völker, deren Geister sich verstehend durchdringen, um sich in ihrer Verschiedenheit gegenseitig anzuerkennen. Kommunitaristen denken in konzentrischen Kreisen. Ihre Soziologie ist einfach. Kreise in der Nähe, Kreise in mittelbarer und Kreise in weiter Ferne. Rechtskreise, Kulturkreise, Sprach-kreise: die Welt ein großer Kreistag. Herder träumte von einer erdumspannenden Wertschätzungsgemeinschaft von Wertschätzungsgemeinschaften. Annemarie Schimmel mit ihrem romantischen Islamismus ist hier eine ebenso gute Nachfolgerin wie Taylor mit dem Vorschlag, Sprach-und Kulturkreisen ein Grundrecht auf Artenschutz zu sichern, oder Walzer mit seiner Empfehlung, die Mächtigen des Ostens mögen doch dem Sezessionsdrang der Region nachgeben und die „Völker ziehen lassen“. Den Segen Herders hätten sie. Kommunitaristisch -um noch dies, wieder ganz anders geartete Beispiel zu erwähnen -ist auch die zeitdiagnostische Formel von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“, die Jürgen Habermas zu Beginn der achtziger Jahre publik gemacht hat.

Alle Kommunitaristen appellieren an die Kräfte menschlicher und gesellschaftlicher Solidarität, aber sie tun das auf eine so verschiedene Weise, daß man rasch die Orientierung auf diesem weiten Feld des Streits der Argumente und Parteien verliert. An allen Fronten steht Kommunitarist gegen Kommunitarist, und mancher kämpft an zwei bis drei Fronten zugleich. Zur ersten Klärung der Lage ist eine Unterscheidung hilfreich. Die eine Gruppe der Kommunitaristen versteht unter „Solidarität“ primär die nachbarschaftliche Solidarität unter Freunden. Ein gutes Beispiel sind die Theoretiker der Polis und der Res publica, aber auch die gegenwärtigen Anwälte der „selbstbewußten Nation“. In einer modernen Nation sind die Bande der Solidarität freilich weit abstrakter als unter den Aktivbürgern einer antiken Stadtrepublik. Deshalb braucht man Historiker, die der fehlenden faktischen das Rührstück einer fiktiven Nationalgeschichte von über 1 000 Jahren nachliefern. „Solidarität unter Freunden“ meint im weiten Sinn alle partikularistischen Vorstellungen von Solidarität, die eine bestimmte Gruppe von Menschen ein-und andere ausschließen. Solidarität unter Fremden hingegen ist prinzipiell universalistisch. Das klassische Beispiel ist die von Jesus in der Bergpredigt propagierte „Feindesliebe“, die Nächstenliebe zur Fernstenliebe generalisiert. Ob eine derart generalisierte Liebe oder Freundschaft funktionieren kann, ist höchst strittig Aber es gibt in modernen Gesellschaften viele Beispiele gut funktionierender, abstrakter Solidarität unter einander vollkommen fremden Menschen. Ein gutes Beispiel ist die ärztliche Hilfe und der professionelle Beistand des Juristen, die ganz ohne Liebe und Freundschaft funktionieren und gerade deshalb so enorm leistungsfähig und erfolgreich sind. Andere Beispiele sind global operierende Hilfsorganisationen aller Art, aber auch die Sozialhilfe, die „ohn‘ Ansehn der Person“ ausgezahlt wird

III. Freiheit und Bindung

Berechtigt ist die kommunitaristische Kritik am Liberalismus und an Entfremdung, Verdinglichung und Komplexität moderner Gesellschaften in drei Punkten:

-als Kritik am atomistischen Individualismus (Kapitel III), -als Kritik der Verselbständigung des Sozialen (Kapitel IV) und -als Kritik an einem minimalistischen Verständnis von Demokratie (Kapitel V). Zutreffend ist zunächst die Kritik am Atomismus des liberalen Denkens von Hobbes bis Westerwelle. Weder macht die Vorstellung einer vorgesellschaftlichen oder gar vorsprachlichen menschlichen Natur Sinn noch der Gedanke eines vorsozialen Sozialsystems, das von den Kontraktualisten des 17. und 18. Jahrhunderts „Naturzustand“ genannt wurde. Aus dieser Perspektive erscheinen dann Kultur und Gesellschaft, Recht und Moral als Einschränkungen einer ursprüngli-chen, eben vorgesellschaftlichen „Natur“ des Menschen. Eine solche „Natur“ aber gibt es ebensowenig wie einen „Naturzustand“, der im Zustand („Status“, „Staat“) der Gesellschaft und des Rechts aufgehoben und in seiner „wilden, natürlichen Freiheit“ (Kant) beschränkt wäre.

Unsere Freiheit ist ganz und gar ein Produkt der sozialen Evolution und „immer schon“ regulierte und nominierte, geschichtlich geprägte Freiheit. Sprachlose Freiheit ist -von Grenzfällen abgesehen -eine widersinnige Vorstellung. Die Freiheit hat eine Stimme, die sich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit bemerkbar macht. Sie ist „immer schon“ (so könnte man mit Heideggers apriorischem Perfekt sagen) eingebettet in ein dichtes Netz aus nie ganz durchsichtigen Praktiken unter einem Horizont geschichtlicher Möglichkeiten, deren „mitlaufender“ Sinn unsere jeweilige Wirklichkeit bei weitem übersteigt. Unsere Freiheit wird durch die (immer schon normierte und „verrechtlichte“) Gesellschaft „miteinander sprechender und handelnder Individuen“ (Marx) nicht eingeschränkt -das anzunehmen, war der Grundirrtum des klassischen Liberalismus -, sondern überhaupt erst hervorgebracht. Freiheitsbeschränkungen gibt es nur in der Gesellschaft und eingeschränkt wird immer nur unsere gesellschaftliche Freiheit.

Blickt man mit den Augen von Karl Marx und Emile Durkheim, Talcott Parsons und Jean Piaget, Charles Taylor und Niklas Luhmann auf die Geschichte des Liberalismus zurück, dann sieht man, daß die liberale Freiheit von allen sozialen Bedingungen ein höchst artifizielles Resultat der Geschichte sozialer Bindungen ist und eine höchst komplexe, evolutionär fortgeschrittene und differenzierte Gesellschaft voraussetzt. Atomismus ist nicht der Anfang, sondern das (vorläufige) Ende einer langen Entwicklungsgeschichte. Wenn Kontraktualisten den Begriff verwenden, um liberale Rechte zu begründen, dann schöpfen sie das Begründungspotential, das schon in unsere Umgangssprache eingelassen ist, nicht aus und reduzieren Kommunikation auf Instrumentalismus. Freilich ist die kritische Reichweite des kommunitaristischen Arguments, das die durch und durch gesellschaftliche „Natur“ unserer Freiheit und unseres Freiheitsverständnisses behauptet, begrenzt. Es trifft Hobbes, vielleicht auch Locke, ganz gewiß alle Varianten des Thatcherismus, aber schon gegen Kant trifft es höchstens zur Hälfte zu. Für Kant ist Freiheit „Autonomie“, und das heißt „Selbstgesetzgebung“ oder „Selbstbindung“. Und Selbstgesetzgebung heißt, daß nur diejenigen meiner normativ gehaltvollen Maximen gültig sind, die sich aus der Perspektive eines jeden als brauchbar und akzeptabel erweisen würden. Insofern sind sie (zumindest virtuell) auf die öffentliche Kritik anderer sozialer Akteure angewiesen. Freilich ist Kants Autonomievorstellung in ihrem virtuellen Charakter und ihrer Verbindung mit der Idee eines reinen „guten Willens“ zu idealistisch. Das haben die Kommunitaristen von Herder bis Humboldt, von Heidegger bis Habermas zu Recht kritisiert.

Gegen den universalistischen Kommunitarismus aber, der die Solidarität unter Fremden zum Kriterium legitimer Solidaritäten im Nahbereich macht, ist die These der „immer schon“ vergesellschafteten oder vergemeinschafteten Freiheit kein Einwand mehr. Die Kritik von MacIntyre, Taylor oder Sandel an Autoren wie Rawls oder Habermas läuft hier ins Leere. So berechtigt die Kritik dieser Kommunitaristen am Liberalismus ist, so unzutreffend ist sie als Kritik am Universalismus. Man muß Universalismus und Liberalismus unterscheiden.

IV. Die Verselbständigung des Sozialen

Der Kommunitarismus artikuliert ein zwar diffuses und höchst ambivalentes, aber durchaus berechtigtes und in der Sache begründetes Unbehagen an der Moderne Es hat seinen realen Grund in einem tiefsitzenden Strukturproblem moderner Gesellschaften. Das Problem, um das es geht, ist die Verselbständigung oder Verdinglichung des Sozialen Moderne Gesellschaften reproduzieren sich selbst ohne Rücksicht auf die Folgen, die das für die jeweils betroffenen sozialen Akteure hat. Gerade das ist das Geheimnis ihrer ungeheuren, beispiellosen Leistungsfähigkeit, und es unterscheidet sie von allen vormodernen Gesellschaftsepochen. Die Reproduktionsmechanismen und Selbsterhaltungsimperative funktional differenzierter, komplexer Gesellschaften sind blind für die von ihnen selbst erzeugten Lebensrisiken, Freiheitsverluste und Entmündigungen. Sie sind, und das ist der Preis ihres Erfolgs, blind für die strukturelle Gewalt und das soziale Unrecht, für die Verödung, die Entfremdung und die Sozialpathologien, die sie in ihrer Umwelt zurücklassen.

Wie viele Beobachtungen zeigen, können auch Recht und Politik die Auszehrung der sittlichen Substanz, von der sie selbst leben, nicht aufhalten, vielmehr tragen sie durch selbstreferentielle Schließung zum Zerfall der Sittlichkeit bei. Sie lassen die allgemeinen nur noch durch den Filter der eigenen Systemprobleme an sich herankommen. Der junge Hegel hat die Blindheit von Recht und Politik angesichts der Probleme, die diese Systeme in ihrer eigenen (sozialen oder natürlichen) Umwelt erzeugen, frühzeitig auf den Begriff einer „Tragödie im Sittlichen“ gebracht. Marx hat dieselbe Blindheit am Beispiel des ökonomischen Subsystems eindringlich analysiert und dafür die Formel von der Herrschaft der „toten“ über die „lebendige“ Arbeit gefunden. Und der im bayrischen Streit um das Kreuz immer wieder zitierte Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes, der demokratische Rechtsstaat könne die Voraussetzungen nicht garantieren, von denen er lebt, bringt genau diesen Gedanken zum Ausdruck

Die kommunitaristischen Kritiker des Universalismus scheinen nun aber zu glauben, der moralische Universalismus und das abstrakte Recht wären (im Verein mit bürokratischer Organisation und den Tauschabstraktionen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung) per se Medien der Entfremdung und der Verdinglichung aller Lebensverhältnisse. Insbesondere dem moralischen Universalismus gilt die Kritik vieler Kommunitaristen Solidarität unter Fremden, so lautet die ideologiekritische Botschaft, sei in Wahrheit versteckter, latenter Imperialismus, Gewalt gegen das Eigene und das Fremde.

Diese Kritik am moralischen Universalismus ist allerdings höchst einseitig. Der moralische Universalismus hat, verglichen mit dem (wie immer republikanischen) Ethos und der konventionellen Moral partikularer Wertgemeinschaften, nicht nur Nachteile, sondern eine Reihe von Vorteilen, auf die vermutlich niemand verzichten will und die ihn vor allem nicht als solchen zum Medium fortschreitender „Selbstentfremdung“ und Verselbständigung des Sozialen machen. Die Vorteile einer universalistischen Moral, die der Selbstentfremdung entgegenwirken, bestehen in ihrer inklusiven Tendenz, in ihrem egalitären Charakter und in ihrem ethischen Minimalismus.

Der erste Vorteil einer universalistischen Moral ist ihr inklusiver Charakter. Das unterscheidet sie vom ethos und nomos der politisch integrierten Stadtrepubliken der heidnischen Antike, deren Bürgerpatriotismus exklusiv blieb und deren Freiheitsverständnis an den Toren der Stadt endete Moralischer Universalismus schließt -im Prinzip -niemanden aus. Es ist dieselbe moralische Gleichheit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, schreibt Rawls, auf die Lincoln sich im amerikanischen Bürgerkrieg berufen hatte und an die heute die Frauenbewegung appelliert Der moralische Universalismus scheint einer evolutionären Tendenz zu folgen und hat insofern einen Zeitindex: 1776 waren „alle“ in den Vereinigten Staaten alle „selbständigen“ (im Sinne Kants) weißen Männer; 1863 weitete Lincoln den Referenzbereich aller gleichen Menschen auf die männlichen Schwarzen aus; und heute schließt „alle“ Frauen und Männer gleichermaßen ein. War in der Weimarer Verfassung die rechtliche Gleichheit noch auf alle Deutschen begrenzt, so garantiert das Grundgesetz bereits allen Menschen, die mit deutschem Recht in Konflikt geraten, gleiche Rechte.

Ein weiterer Vorteil des moralischen Universalismus ist sein egalitärer Charakter. Den Biß des Gewissens spürt jeder und jede vernimmt dessen lautlose Stimme. Dazu bedarf es keines besonderen Könnens, keines Besitzes und keiner höheren Bildung. Im Sinne eines derart anspruchslosen, voraussetzungsarmen „Vernehmens“ spricht Kant von praktischer „Vernunft“ und grenzt sie scharf von der elitären, aristotelischen Virtuosenethik ab.

Der vielleicht wichtigste Vorzug einer universalistischen Moral aber ist, daß sie die Menschen von moralischer Bevormundung und Gängelei entlastet. Moralischer Universalismus heißt weniger Moral und nicht mehr. Nur noch die wenigen Handlungen, die nicht verallgemeinerbar sind, fallen der moralischen Verdammung anheim. Gerade der vielgescholtene Formalismus des Kantischen Verallgemeinerungsprinzips eröffnet den Handelnden die Möglichkeit, eine Auswahl unter ihren inhaltlichen Antrieben und Bedürfnissen zu treffen und immer wieder neue ins Spiel zu bringen Eine Moral der Selbstgesetzgebung befreit unsere „Glückseligkeitsbestrebungen“ (Kant) von der Vorabverurteilung durch Bürgersitte, Kirchengemeinden und argwöhnische Nachbarn. So gesehen ist die von Konservativen beklagte Belastung oder gar „Überlastung“ des Menschen durch Eigenverantwortung zugleich eine Entlastung unserer Wünsche und Phantasien von der Zensur durch die Gemeinschaft und ihre innere Seite, das-„Überleb“. Der moralische Universalismus hat jedoch den Nachteil, abstrakt zu sein. Er bleibt Sache des guten Willens, der inneren Gesinnung, des reinen Gewissens, in dessen Licht auch noch die beste Tat im unabsehbaren Dunkel ihres zeitlichen Vollzugs versinkt. Das ist -seit Hegel -der starke Punkt kommunitaristischer Universalismuskritik.

Ist die soziale Integrationskraft des ethischen Partikularismus angesichts der modernitätstypischen „Tatsache des Pluralismus“ (Rawls) ebenso hoffnungslos überfordert wie angesichts der immensen und ständig wechselnden Komplexität funktional ausdifferenzierter Sozialsysteme, so kommt die gute Absicht des moralischen Universalisten in der Wirklichkeit nur höchst partikular zur Darstellung. Und durch Zwang läßt sich, wie der späte Kant schreibt, nur das Gegenteil der guten Absicht bewirken

Kant und die soziale Evolution haben das Problem jedoch durch die Trennung von Recht und Moral gelöst. Das übersehen Kants kommunitaristische Kritiker. Das Recht wurde im Fortgang der Evolution positiviert, proceduralisiert und von jeder höheren Legitimation durch Gott, die Natur, die Vernunft oder die Moral entlastet. Nur durch konsequente Entmoralisierung konnte dem Recht die entwicklungsgeschichtlich neue Funktion, Freiheit zu gewährleisten, zuwachsen. Die Freiheit, die das Recht sichert, ist gerade die Freiheit zu unvernünftigem und unmoralischem Tun. Erlaubt ist -für Hobbes nicht anders als für Rousseau -, was das Gesetz nicht ausdrücklich verbietet.

Mit den Menschenrechten und den Codifizierungen des Völkerrechts seit Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht das positive Recht das Universalisierungsniveau einer gesinnungsethischen Prinzipienmoral. Während jedoch die Moral auf Postulate universeller Sympathie, Freundschaft und Liebe („Fernsten“ -und „Feindesliebe“) angewiesen bleibt, ist die definitive Umstellung von Solidarität unter Freunden auf Solidarität unter Fremden, die füreinander nichts Gutes empfinden müssen, der große Vorzug des Rechts Sofern es unmoralische Freiheit und kalte Solidarität gewährleistet, ist das Recht das „Dasein der Freiheit“ (Hegel). Ohne ein erhebliches Maß staatlicher Zentralisierung und Intervention (auch jenseits der Grenzen des im Zeitalter der Globalisierung hoffnungslos überforderten Nationalstaats) lassen sich auch nur halbwegs egalitäre, distributiv gerechte Lebensverhältnisse nicht gewährleisten. Die vergleichsweise dezentrale Basisdemokratie US-amerikanischen Zuschnitts ist in diesem Punkt ein eher abschrekkendes Beispiel. Materiell halbwegs egalitäre Lebensverhältnisse sind nach wie vor die wichtigste soziale Voraussetzung des freiheitlichen, säkularisierten Staats. Die an sich begrüßenswerte Einrichtung möglichst vieler differenter „Sphären der Gerechtigkeit“, lose vernetzter Gruppensolidaritäten, nachbarschaftlicher Selbstorganisation und multikultureller Autonomie kann die tragende Rolle nationaler und übernationaler Parlamente, also zentraler Institutionen, die der rechtlichen Einrichtungen, differenter „Sphären der Gerechtigkeit“ dienen, ebensowenig ersetzen wie die Rolle zentraler, bürokratischer „Erzwingungsstäbe“ (Max Weber) und einer zentralisierten Gerichtsbarkeit.

Die moderne Demokratie besteht in der Selbstorganisation einer Bürgerschaft im Medium positiven Rechts. Sie hat gerade als Gesetzgebungskompetenz des Volkes eine notwendig hierarchische Struktur. Demokratie ist in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ohne eine von unten nach oben durchlaufende, hierarchische Legitimationskette kaum zu haben. Volkssouveränität ist Hierarchie von unten. Nun sind hierarchische Steuerungsmodelle, wie die Soziologie längst erkannt hat, in differenzierten, komplexen Gesellschaften mit ihren heterarchischen und undurchschaubaren Netzwerkstrukturen, von höchst begrenzter Effektivität. Von sich aus aber bilden die viel beschworenen deliberativen Netzwerke und korporatistischen Verhandlungssysteme einer zivilen Gesellschaft keine demokratischen Strukturen aus, die mit der gleichen Freiheit aller Gesetzesunterworfenen, selbst Autoren des Rechts zu sein, verträglich wären. Eher das Gegenteil ist zu erwarten. Wenn die Spannung zwischen (hierarchisch gesteuerter) Demokratie und (heterarchischen) Netzwerken zugunsten der letzteren verschwindet, verschwindet auch die Demokratie. Beide Vereinseitigungen, die zugunsten von Hierarchie wie diejenige zugunsten von Heterarchie, bergen freilich komplementäre Gefahren: die der Bürokratisierung durch erstere und die des Gleichheits-und Demokratieverlusts durch letztere.

V. Demokratie

Die Schattenseite der Entwicklung systemisch, nämlich netzwerkartig sich selbst programmierenden Rechts und bürokratischer Zentralisierung haben die Kommunitaristen scharf beleuchtet.

Das positive, von höherer Wahrheit und universalistischer Moral abgelöste Recht weist seit seinen neuzeitlichen Anfängen ein Legitimationsdefizit auf. Recht sichert die negative, „subjektive Freiheit“ (Hegel), aber es kann durch dieselbe Freiheit nicht legitimiert und begründet werden. Hobbes und eine auf bloße Machtsteigerung spezialisierte Politik können das damit gestellte Legitimationsproblem nicht lösen. Willkür allein, sei es des einzelnen oder des kollektiven Willens, vermag Rechtsgehorsam zu erzwingen, aber sie verschafft dem Recht keine ausreichende Zustimmungswürdigkeit. Das ist der Nachteil des modernen, entmoralisierten Rechts.

Kommunitaristen stellen angesichts dieses Legitimationsproblems die „demokratische Frage“ Das ist die richtige Frage, und es ist nicht das geringste Verdienst der neu entfachten Kommunitarismus/Liberalismus-Kontroverse, sie auf die öffentliche Agenda gebracht zu haben. Der Liberalismus (so wie man das Wort hierzulande versteht) hat ein Demokratiedefizit. Für ihn ist die Demokratie wie der Markt nur ein Mittel zur Verwirklichung privater Freiheit. Demgegenüber insistieren Kommunitaristen wie Walzer oder Taylor, Universalisten wie Habermas, Aristotelikerinnen wie Hannah Arendt oder Martha Nußbaum oder Pragmatisten wie John Dewey oder Hilary Putnam darauf, daß die Demokratie einen „intrinsischen Wert“ (Taylor) hat und das Verhältnis von Mitteln und Zwecken kein absolutes, sondern ein höchst relatives ist. Mittel und Zwecke, so könnte man mit Dewey argumentieren, bilden ein Kontinuum (und keinen starren Dualismus). Mittel können selbst Zwecke und Zwecke Mittel sein. Die Demokratie wäre demzufolge gleichermaßen Mittel und Zweck im Kontext des modernen Lebens. Diese -dem Pragmatismus entstammende Idee -hätte zugleich den Vorteil, die allzu simple Trennung von Praxis und Technik, die die meisten Kommunitaristen von Aristoteles unkritisch übernommen haben, aufzuheben, um den Weg frei zu machen für komplexere und abstraktere Differenzierungen, wie beispielsweise Luhmann mit der Unterscheidung von System und Umwelt oder Habermas mit derjenigen von System und Lebenswelt es vorgeschlagen haben.

Der Liberalismus, sofern er am dualistischen Schema von Zwecken und Mitteln festhält, um das öffentliche Leben für private Zwecke zu mediatisieren, vermag das Legitimationsproblem moderner Gesellschaften, das nach der funktionalen Differenzierung von positivem Recht und macht-orientierter Politik entstanden ist, jedenfalls nicht zu lösen. Der Kommunitarismus setzt statt dessen auf Demokratie und die öffentliche Selbstorganisation der Bürgerschaft. Der klassische Republikanismus Alteuropas, dem die nostalgische Sehnsucht vieler Kommunitaristen gilt, ist jedoch genausowenig eine Lösung. Die soziale Schranke der klassischen Begriffe des Politischen und der Republik ist aus diesen Begriffen nicht zu eliminieren. Sie setzen mit dem tugendhaften Aktivbürger die Herrschaft der Wenigen auf Kosten der Vielen ebenso notwendig voraus wie die Zensur und Repression der privaten Freiheit durch die öffentliche Macht des politischen Organismus. Es ist nicht ganz zufällig, daß ein Teil der heutigen Kommunitaristen versucht, mit Vorschlägen zur Einschränkung der Redefreiheit (Pornographieverböte etc.) öffentliche Resonanz zu erzeugen.

Eine konsequente Wiederaufnahme der demokratischen Frage sollte statt dessen zunächst ins 18. Jahrhundert und zur Demokratietheorie der Aufklärung zurückblicken. Deren zentraler Begriff war nicht die tugendhafte Selbstherrschaft der wenigen Gleichen (Aristoteles), sondern die Selbstgesetzgebung aller Machtunterworfenen (Rousseau). Vielleicht ist von der Demokratie-theorie der Aufklärung immer noch, wie Ingeborg Maus vermutet, eine Aufklärung der Demokratie-theorie zu erwarten Sie würde mit einem scharfen Schnitt den modernen vom klassischen Republikanismus trennen und sich von diesem ebenso weit entfernen wie vom Liberalismus.

Der moderne unterscheidet sich vom klassischen Republikanismus zunächst dadurch, daß er den abstrakten Gegensatz von tugendhaftem Citoyen und selbstinteressiertem Bourgeois zugunsten einer Vermittlung beider Positionen im Prozeß der gesetzgebenden Willensbildung aufhebt. Öffentliche Selbstorganisation wird jetzt als gesetzliche Einwirkung auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verstanden und nicht länger als Ausgrenzung privater Interessen. Die Gesetze, die das Volk über sich in einem egalitären Verfahren beschließt, sollen die allgemeinen Interessen aus der Vielzahl der besonderen herausfiltern. Und die Gesetze regeln nur die äußeren Beziehungen der Bürger. Auf die „Gesetze des Herzens“ hat die souveräne Legislative keinen Zugriff. Der demokratische Souverän, so beginnt der Contrat Social, kann nur die Gesetze, nicht die Menschen ändern. Bei Aristoteles ist es umgekehrt. Wenn Rousseau für „sehr wenig Gesetze“ plädiert, dann hat das den Sinn, den Spielraum der Handlungsfreiheit jedes einzelnen möglichst weit zu fassen und „die Autonomie des Besonderen unangetastet“ zu lassen Allein durch ein gerechtes Verfahren sollen die wenigen Privatinteressen, die dem allgemeinen Interesse widersprechen, isoliert werden. Das äußerlich wirksame, positiv-rechtlich institutionalisierte Verfahren tritt an die Stelle der Tugend, die nicht länger notwendig ist, um zu vernünftigen Regelungen zu gelangen. Durch die Rechtsform und die Einschränkung des positiv gerichteten „Willens zur Freiheit“ auf die Gesetzgebung wird Solidarität unter Freunden auf Solidarität unter Fremden umgepolt. Die Freistellung der Bürger von der Tugendpflicht macht den Zensor arbeitslos und die ontologische Spaltung in Citoyen und Bourgeois überflüssig. Ingeborg Maus hat diesen entscheidenden Punkt scharf herausgearbeitet:

„Die Sphäre des Politischen als Ort des Citoyen unterscheidet sich von der des Bourgeois nicht durch ein eigenes , Sachgebiet 1.“ Das Politische bildet gerade in den Rechtstheorien Kants und Rousseaus kein „Jenseits der Gesellschaft“. Es kennt deshalb keine eigenen, sondern nur gesellschaftliche Themen. „Auch über deren Auswahl“, so Ingeborg Maus, „wird nicht aus der Perspektive des Politischen, sondern aus der der Gesellschaft entschieden.“

Das ist der Grund, warum -anders als im antiken Rom oder gar in Athen -die Sklaverei, die Klassengesellschaft und die Unterdrückung der Frauen in Beruf und Familie zum Thema der politischen Selbstorganisation einer Bürgerschaft werden konnten. Gerade die Frage, wo die Grenze zwischen öffentlicher und privater Autonomie jeweils verläuft, ist eine eminent politische Frage. Öffentliche Willensbildung ist der Streit um diese Grenze. Und in diesem Streit ist, wie die Frauen-bewegung gezeigt hat, die Wohnungstür so wenig ein Apriori wie seinerzeit das Fabriktor eines war. Indem der privatautonome Konsum der Ware Arbeitskraft zum Thema eines politischen Rechts-streits um „Ausbeutung“ und „soziale Gerechtigkeit“ wird, lernen wir, daß etwas, das wir für privat gehalten hatten, in Wahrheit eine öffentliche Angelegenheit ist. Erst die öffentliche Skandalisierung des erzwungenen privaten Konsums weiblicher Sexualität als „Vergewaltigung in der Ehe“ läßt uns erkennen, daß die bisherige Grenzziehung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit nicht im allgemeinen Interesse gewesen sein kann. Durch die Expansion öffentlicher Freiheit kann der demokratische Rechtsstaat die „geistigen“ Voraussetzungen, von denen er lebt, zwar nicht „garantieren“, wohl aber selbst erzeugen -so wie er auch durch rechtliche Einwirkung auf das Wirtschaftswachstum die eigenen „materiellen“ Voraussetzungen sichern kann und muß. Auf metaphysische Garantien kann er dabei ohne Not verzichten.

Indem der moderne Republikanismus die öffentliche Autonomie zur gesetzlichen Ausgestaltung privatautonomer Freiheitsräume nutzt, kommt aber in ihm das Motiv einer radikalen Herrschaftskritik, die vor keinem gesellschaftlichen Thema Halt macht, zum Zuge. Und dieses Motiv ist nicht das Erbe des römischen Republikanismus, sondern geht auf den biblischen Bundesgedanken zurück. Im Buch der Richter (8, 22) weist Gideon die ihm angetragene Königskrone mit den Worten zurück: „Ich will nicht über euch herrschen, auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen; der Herr soll über euch herrschen.“ Damit ist ein prinzipieller Vorbehalt gegen jede Herrschaft von Menschen über Menschen formuliert. Man kann diesen negativen Vorbehalt festhalten, auch wenn man sich den (biblischen) Gottesgesichtspunkt nicht mehr zutraut. Während für Griechen und Römer die Isonomie (Gleichheit vor dem Gesetz) oder die Republik einen prinzipiellen Vorbehalt gegen alle Herrschaft von Bürgern über Bürger impliziert, sprengt der Gedanke, jede Herrschaft von Menschen über Menschen unter einen prinzipiellen Legitimitätsvorbehalt zu stellen, den Horizont des paganen politischen Denkens. Die radikale, moderne Uminterpretation des klassischen Republikanismus verdankt sich der Integration dieses Legitimitätsvorbehalts. Statt Herrschaft auszugrenzen wird Herrschaftskritik ins Modell demokratischer Selbstgesetzgebung internalisiert und zur wichtigsten republikanischen Institution.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993.

  2. Vgl. Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, Bonn 1992.

  3. Vgl. Helmut Willke, Die Ironie des Staates, Frankfurt/M. 1992.

  4. Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt/M. 1976, S. 417-506, mit dem einleuchtenden Argument: „Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen.“ (S. 468).

  5. Einige Beispiele werden diskutiert in Hauke Brunkhorst, Solidarität unter Fremden, Frankfurt/M. (i. E.).

  6. Für eine differenzierte Analyse vgl. Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/M. 1995.

  7. Vgl. Bernhard Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 225 ff.

  8. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht. Freiheit, Staat, Frankfurt/M. 1991, S. 112.

  9. Vgl. etwa Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M. 1986; Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge/Mass. 1982.

  10. Vgl. Hauke Brunkhorst, Demokratie und Differenz. Vom klassischen zum modernen Begriff des Politischen, Frankfurt/M. 1994.

  11. Vgl. John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. XXIX.

  12. Vgl. Ingeborg Maus, Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant, in: Gerhard Göhler u. a. (Hrsg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1990, S. 366 f„ 368 f. und 370 f.

  13. Vgl. Immanuel Kant, Werke, Bd. VIII (WeischedelAusgabe), Frankfurt/M. 1977, S. 754.

  14. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 374, S. 442.

  15. Vgl. Ulrich Rödel/Günther Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt/M. 1989.

  16. Vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratie-theorie, Frankfurt/M. 1992.

  17. Vgl. dies., “ „Nation“ im Denken der Aufklärung, und in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1994) 5, S. 611.

  18. Ebd., S. 610.

Weitere Inhalte

Hauke Brunkhorst, Dr. phil., geb. 1945; derzeit Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen. Veröffentlichungen u. a.: Der Intellektuelle im Land der Mandarine, Frankfurt/M. 1987; Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München 1990; Der entzauberte Intellektuelle, Hamburg 1990; Demokratie und Differenz. Vom klassischen zum modernen Begriff des Politischen, Frankfurt/M. 1994.