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Die internationale Regelung der Wiedervereinigung Von einer „No-win" -Situation zum raschen Erfolg | APuZ 40/1996 | bpb.de

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APuZ 40/1996 Die internationale Regelung der Wiedervereinigung Von einer „No-win" -Situation zum raschen Erfolg Die deutsche Einigung oder das Ausbleiben des Wunders. Sechs Jahre danach: eine Zwischenbilanz Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Zwischen Transformation und Standortdebatte Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Ostmitteleuropas

Die internationale Regelung der Wiedervereinigung Von einer „No-win" -Situation zum raschen Erfolg

Ulrich Albrecht

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zur Jahreswende 1989/90 stand dem Bestreben der Bundesregierung, zu einer raschen Klärung der Ablösung der Siegerrechte und anderer „äußerer“ Aspekte der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu gelangen, eine Veto-Koalition von drei der vier Mächte gegenüber: Die UdSSR, Großbritannien und Frankreich setzten der Wiedervereinigung entschiedenen Widerstand entgegen. Lediglich die USA unterstützten rasch und entschlossen die Politik der Bundesregierung, aufgrund eigener Interessen. Die enge Zusammenarbeit mit der amerikanischen Regierung, die in der Auseinandersetzung mit Polen wegen der Regelung der Anerkennung der Grenzfrage gar die Rolle eines Vermittlers übernahm, ließ die Bundesregierung überraschend schnell zum Erfolg gelangen. Die Gründe für den Wandel der Haltung der Regierungen der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs werden anhand der Ergebnisse neuer Forschungsliteratur skizziert. Nicht die diplomatische Kunstfertigkeit einiger weniger politischer Persönlichkeiten, sondern die seltene Parallelität von Machtinteressen mit einem grundlegenden politischen Prinzip, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, war es, die so rasch zur allgemeinen Zustimmung zur Wiedervereinigung der Deutschen geführt hat.

I. Vorbemerkungen

Das Bemerkenswerte an der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 bleibt, daß sie überhaupt, und dann so rasch nach der Wende in der DDR im Herbst 1989 zustande kam. Eine Mehrheit der politischen Akteure war nämlich dagegen. Damit sind nicht jene Dissidenten gemeint, die das alte SED-Regime in der DDR stürzten und die seinerzeit eine andere, bessere DDR anstrebten. Gemeint sind vor allem die vier Siegermächte, die die Verantwortung für „Deutschland als Oktober 1990 bleibt, daß sie überhaupt, und dann so rasch nach der Wende in der DDR im Herbst 1989 zustande kam. Eine Mehrheit der politischen Akteure war nämlich dagegen. Damit sind nicht jene Dissidenten gemeint, die das alte SED-Regime in der DDR stürzten und die seinerzeit eine andere, bessere DDR anstrebten. Gemeint sind vor allem die vier Siegermächte, die die Verantwortung für „Deutschland als Ganzes“ trugen. Drei der vier Hauptsiegermächte gingen, wie heute nachgewiesen werden kann, in das Jahr 1990 mit dem festen Willen, die deutsche Vereinigung zu verhindern oder sie zumindest erheblich zu verzögern -und ahnten schon bei Beginn, daß sie dies nicht schaffen würden. Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand äußerte am 18. Oktober 1989 im Ministerrat: „Wir können Deutschland schließlich nicht den Krieg erklären, um seine Wiedervereinigung zu verhindern.“ 1 Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte kurz zuvor Michail S. Gorbatschow in Moskau besucht und berichtet in der ihr eigenen Offenheit: „Ich erklärte ihm, daß zwar die NATO traditionell Erklärungen zur Unterstützung des deutschen Wunsches auf Wiedervereinigung abgegeben habe, daß wir aber tatsächlich sehr besorgt seien ... Herr Gorbatschow bestätigte, daß die Sowjetunion ihrerseits die deutsche Wiedervereinigung nicht wünsche.“ 2 Im Februar 1990 äußerte ähnlich der sowjetische Außenminister Schewardnadse in Ottawa, daß neunzig Prozent des russischen Volkes gegen die Wiedervereinigung Deutschlands stim-men würden, wenn sie gefragt würden 3. Neben den Hauptsiegermächten wären weitere Gegner des Vereinigungsprojektes anzuführen, etwa Polen.

Am Gegenpol steht die damalige Bundesregierung, personifiziert in Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Letzterer wollte, wie er 1990 wiederholt äußerte, den Vereinigungsprozeß „nicht sauer werden lassen“. Hervorzuheben ist, daß die beiden Spitzenpolitiker Zuarbeit durch ein Team von in der Frage der Vereinigung ungewöhnlich engagierten Mitarbeitern erhielten, die das Projekt Vereinigung zu ihrer Herzenssache erklärten (Die Wiedervereinigungspolitik der abtretenden DDR unter Ministerpräsident Lothar de Maiziere soll hier nicht weiter gewürdigt werden.) Aber all das nur zu verständliche Engagement auf deutscher Seite, das Projekt Wiedervereinigung energisch voranzubringen, wird nicht hinreichen, um zu verstehen, warum gegen entschiedenen Widerstand gewichtiger Akteure es unverhofft zu raschem Erfolg kam.

Allein die amerikanische Regierung entschloß sich früh, der Kohlschen Politik einer raschen Vereinigung zu folgen. Robert D. Blackwill, seinerzeit im amerikanischen 2 + 4-Team tätig, hebt das frühe Engagement seines Präsidenten George Bush hervor: „Bush (sprach) häufig seine starke Unterstützung für die deutsche Einheit aus. Er war der einzige führende westliche Politiker außerhalb der Bundesrepublik, der sich schon damals so äußerte.“ Blackwill spricht weiter von einer in der Vereinigungsfrage „außergewöhnlich aktiven amerikanischen Diplomatie“

Zu Beginn des Wiedervereinigungsprozesses, dies sei hervorgehoben, stand somit eine eindrucksvolle Veto-Koalition von drei der vier Siegermächte gegen Bestrebungen zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Das schien im Auftakt für Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher (und Präsident Bush) eine „No-win“ -Situation zu sein. Um so bemerkenswerter bleibt es, daß die Wiedervereinigung dann doch innerhalb eines dreiviertel Jahres mit Zustimmung auch der drei „dissenten“ Hauptsiegermächte erfolgte. Der Wechsel der Haltung der drei, der UdSSR, Frankreichs und Großbritanniens, und die Rolle der anderen drei, der USA und der beiden deutschen Staaten, in diesem Prozeß ist das Thema der folgenden Reflexion.

Das einstweilige Nein der drei hatte Gründe. „Helfen Sie mir, die deutsche Wiedervereinigung zu vermeiden, sonst werde ich durch einen Militär abgelöst. Wenn Sie das nicht tun, dann tragen Sie die Verantwortung für den Krieg“, so Michail S. Gorbatschow zu Frangois Mitterrand Anfang Dezember 1989 in Kiew Umgekehrt hatte Mitterrand gemeint, sich auf den russischen Widerstand gegen die deutsche Vereinigung verlassen zu können. Auf der Fahrt zum Golfplatz äußerte der französische Staatspräsident zu seinem Vertrauten Jacques Attali einen Monat vor dem Fall der Mauer, am 2. Oktober 1989: „Diejenigen, die von deutscher Wiedervereinigung sprechen, begreifen nichts. Die Sowjetunion wird das nie hinnehmen. Das wäre der Tod des Warschauer Pakts.“ Ähnlich die britische Premierministerin Thatcher: „Es schien anfänglich wahrscheinlich, daß die Sowjets dem Wiedererstehen eines starken Deutschland mit Macht widerstreben würden, zumal einem zu westlichen Bedingungen vereinten, verbunden mit der Diskreditierung des Kommunismus.“

In der Tat ist die deutsche Vereinigung im Ergebnis verbunden mit dem Niedergang der Sowjetunion, dem Abtritt einer Supermacht, und dem Zerfall des Kommunismus. -Margaret Thatcher porträtiert die französischen Vorbehalte gegen die deutsche Vereinigung, personalisiert an Mitterrand: „Präsident Mitterrand ist ein kultivierter und kosmopolitischer Mensch, der aber in der französisehen Innenpolitik etwas über den Wolken schwebt. Wie viele Franzosen seiner Generation ist er umgetrieben von der Furcht vor den Konsequenzen einer deutschen Vorherrschaft.“ Für Großbritannien stellt die britische Premierministerin fest: „Ich sah sogleich, daß es tiefgehende Folgen für das Mächtegleichgewicht in Europa geben würde, in welchem ein wiedervereinigtes Deutschland dominieren würde. Es gab nunmehr eine neue und andersartige .deutsche Frage, die offen und förmlich angesprochen werden mußte, was ich getan habe.“

Weiter Frau Thatcher: „Deutschland schwankt unberechenbar zwischen Aggression und Selbst-zweifeln hin und her ... Der wahre Ursprung deutscher Angst (das deutsche Wort steht so im englischen Original, U A.) ist die Agonie deutscher Selbsterkenntnis . . . Aufgrund seiner Eigenart ist Deutschland in Europa eher eine Kraft der Destabilisierung als eine der Stabilität.“

Zusammengefaßt: Michail Gorbatschow befürchtete -wie wir heute wissen, zu Recht -das Ende des Sowjetsystems und des Warschauer Paktes, Frangois Mitterrand war bewegt von den Schatten der Geschichte und Margaret Thatcher sah das europäische Gleichgewicht abgelöst von teutonischer Vorherrschaft -was konnte es mehr an Gründen geben, sich der Vereinigung der Deutschen zu widersetzen?

Nachdem die Frage nach der Möglichkeit der Zustimmung der vier Mächte zur Wiedervereinigung dermaßen aufgeladen worden ist, soll der tatsächliche Ablauf der Verhandlungen verfolgt und gefragt werden, wie es dann doch zu einer zügigen Wiedervereinigung -einschließlich der Regelung der „äußeren Aspekte“, der Aufgabe der Sieger-rechte -gekommen ist.

II. Die Eröffnung: Die Konferenz „Offener Himmel“ in Ottawa

Im kanadischen Ottawa tagte im Februar 1990 die sogenannte „Open-Skies“ -Konferenz. Es ging um einen alten amerikanischen Plan: die Inspektion fremder Territorien durch Flugzeuge anderer Mächte. Die Umsetzung dieser auf den amerikanischen Präsidenten Eisenhower zurückgehenden Idee war mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes politisch möglich geworden. Die eigentliche, die nicht-genannte Tagesordnung war von ganz anderen Themen bestimmt. In der Sicht der Zeitgenossen war wichtigstes Ergebnis das sowjetisch-amerikanische Übereinkommen, die Truppenstärken in Europa künftig auf jeweils 195 000 Mann zu beschränken.

Ansonsten war das Ottawa-Meeting von heftigster Ad-hoc-Diplomatie geprägt. Besonders US-Außenminister James Baker gab den Libero: Einerseits hatte er der Scharade der förmlichen Verhandlungen zwischen NATO und dem War-schauer Pakt zu folgen; andererseits, so ein Mitarbeiter, „nutzte Baker jeden freien Augenblick zwischen den pflichtgemäßen Sitzungen des Open-Skies-Plenums zur intensiven Diplomatie mit anderen Außenministern, einschließlich Schewardnadse, über das Deutschlandproblem . . . Am Februar beispielsweise traf sich Baker mit Schewardnadse zu mindestens fünf verschiedenen Zeitpunkten, hatte eine gleiche Anzahl von Treffen mit Genscher, traf privat mit Hurd und Dumas zusammen, nahm an zwei Ministerbesprechungen der Vierergruppe (mit Vertretern Großbritanniens, Westdeutschlands und Frankreichs) teil und saß zudem einem Treffen der westlichen Außenminister vor.“ 13

Ergebnis dieses hektischen Februartages vor sechseinhalb Jahren war ein unscheinbares Kommunique der sechs Außenminister von 13 Zeilen, „abgegeben“, wie es tiefstapelnd heißt, „am Rande der , Open-Skies‘-Konferenz in Ottawa“. Der damalige DDR-Außenminister Oskar Fischer wurde bei dieser Gelegenheit zum letzten Male amtlich wahrgenommen, beim eigentlichen Vorgang spielte er eine eher marginale Rolle. Kern-satz des Kommuniques, welches immerhin die Verhandlungen über die Aufgabe der Siegerrechte einleitete, ist die Mitteilung, „daß sich die Außenminister ... treffen werden, um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen“

Diese Formulierung muß man sehr genau lesen: Es werden keine Verhandlungen, lediglich Besprechungen angekündigt. Besonders in den drei „dissidenten“ Hauptstädten verstand man im Februar 1990 darunter Vorgespräche über irgendwann später stattfindende Verhandlungen.

Auf der „Open-Skies“ -Konferenz löste das Kommunique unter den anderen Außenministern eine Sensation aus. Eine Anzahl von Staatsvertretern beschloß sogleich, auf diesen Zug zu springen und ihre Länder an den Verhandlungen zu beteiligen, etwa der italienische Außenminister De Michelis und der niederländische Außenminister van den Broek. Bundesminister Genscher wies diese, nimmt man die folgende Zitierung (die er selber in seinen „Erinnerungen“ wiedergibt), reichlich rüde auf die Plätze: „You are not part of the game.“ Der Bundesaußenminister schreibt dazu: „Es fiel mir nicht leicht, so zu reden, und doch gab es keine andere Wahl . . . Die Diskussion war schnell beendet.“

III. „ 2 + 4" oder „ 4 + 2"?

Für die zu Beginn der Gespräche auseinander-klaffenden Positionen, wer die entscheidenden Vorgaben zu machen hätte, bleibt der Streit um ein Stück Semantik charakteristisch. In Deutschland heißen die nachfolgenden Verhandlungen „ 2 + 4-Verhandlungen“, wie Hans-Dietrich Genscher in seinen „Erinnerungen“ mit Nachdruck hervorhebt: „Ich legte Wert darauf, daß die beiden deutschen Staaten, deren Sache die staatliche Vereinigung war, über die außenpolitischen Aspekte mit den Vier sprachen und nicht umgekehrt. Jeder Anschein, die Vier würden über Deutschland verhandeln, mußte vermieden werden. Daraus ergab sich die im Titel der Konferenz genannte Reihenfolge: Zwei plus Vier, nicht Vier plus Zwei.“ Bei den anderen Beteiligten ist es genau umgekehrt. Die Vier sprechen lange von „ 4 + 2-Verhandlungen" Margaret Thatcher betont ihrerseits die Formel 4 + 2 („ich zog es vor, dies die „vier-plus-zwei’ zu nennen -das sind die Berliner Vier Mächte und die beiden Deutschland“ ebenso verfuhren insbesondere russische Betei-ligte. Die Russen zeigten sich, liest man Zeitzeugen nach, erbost über die deutsche Formel und wiesen diese zurück. Anatoli Tschernajew, engster Berater Gorbatschows, schreibt in seinem Bericht im Zwischentitel „Vier plus Zwei“ die sowjetische Position fort (und geht freilich im Text dann auf die Alternativformel über) Besonders enerviert zeigt sich Valentin Falin, lange Jahre als Leiter der Internationalen Abteilung im Sekretariat des ZK der KPdSU so etwas wie der Partei-Außenminister: „Der sowjetische Außenminister bekam die , strikte 4 Anweisung, auf der Version , 4 + 2 zu bestehen. Nicht nur, weil die Verantwortung für . Deutschland als Ganzes 4 den vier Mächten obliegt und die Bundesrepublik bis in die jüngste Zeit ständig die Bestätigung dieser Verantwortung verlangte. Es galt auch, die Stellungnahme Englands und Frankreichs zu berücksichtigen. Aber das wichtigste und Grundsätzliche war: Die Formel , 4 plus 2‘ gab die richtigen Prioritäten wieder.“

Falin wertet die russische Niederlage in diesem Streit um Semantik sehr grundsätzlich: „Die Formel , 2 plus 44 trat in Kraft. Nach meinem Dafürhalten geriet die Sowjetunion in eine ausweglose Lage.“

An diesem unscheinbaren Detail, daß die Deutschen nicht nur ihre Beteiligung an den Gesprächen von Anfang an erreichten, sondern daß sich auch die deutsche Bezeichnung der Verhandlungen durchsetzte, kann man etwas über Machtprozesse in internationalen Beziehungen lernen. Die Bonner Akteure entnahmen dem Vorgang, daß ihre Positionen in der folgenden Auseinandersetzung Aussicht auf Bestätigung haben könnten und daß Briten, Franzosen und Sowjets möglicherweise bereit sein würden, weiter zurückzustecken.

IV. Die Frage der deutschen Ostgrenze

Die Frage der endgültigen Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze überschattete den 2 + 4-Prozeß zur Einigung Deutschlands von seinen ersten Anfängen bis zu seinem Ende. Es bedurfte erheblicher politischer Anstrengungen, besonders der Mediation durch den amerikanischen Präsidenten, um die Positionen der deutschen und der polnischen Regierung einander näherzubringen.

Im Gegensatz zu manchen raschen regierungsnahen Darstellungen aus Deutschland stellt sich im Lichte der neueren Forschung der erfolgreiche Vollzug der Vereinigung nicht als geschmeidig ausgeführtes diplomatisches Meisterstück, sondern eher als von massiven Konflikten geprägter Vorgang dar. Das verwundert nicht, ging es doch für die Deutschen um den endgültigen Verzicht auf die vormaligen Ostgebiete. Die britische Premierministerin schloß nicht aus, daß besonders die Russen Anlaß zur Sorge hätten, wenn es in Deutschland zu „möglicherweise neuerlichen Ambitionen an seiner Ostflanke“ käme So überrascht nicht, daß es in dieser Frage erhebliche Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesregierung, zwischen der Bundesregierung und den (meisten) Westmächten, zwischen der Bundesrepublik und der Regierung der UdSSR sowie auch der DDR gab.

Im Ausland erzeugte die Haltung des deutschen Bundeskanzlers Irritationen. Margaret Thatcher berichtet unverblümt über ein Treffen des Europa-rates im Dezember 1989, wo Helmut Kohl geäußert habe, „daß Deutschland für den letzten Krieg damit bezahlt habe, daß es ein Drittel seines Territoriums verloren habe“. Frau Thatcher fährt fort: „Er blieb vage -für meinen Geschmack: zu vage -in bezug auf die Grenzfrage und argumentierte, daß die Oder-Neiße-Linie nicht ein rechtliches Problem werden sollte. Augenscheinlich verstand er damals sowie später nicht die polnischen Ängste und Empfindlichkeiten in dieser Frage. (Im Rückblick auf ihre Amtszeit als Premierministerin führt Margaret Thatcher als „incidental benefit“, als positive und nicht vorhergesehene Zugabe ihrer Politik an, daß diese „die deutsche Regierung gezwungen habe, die Grenzfrage mit den östlichen Nachbarn zu klären“ Ähnlich sieht der französische Präsident Mitterrand die Haltung Kohls. Am 21. Dezember 1989 äußert er unumwunden gegenüber seinem Vertrauten Attali: „Er verweigert die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.“

Innenpolitisch entwickelte sich die Frage, wie mit der Grenzfrage gegenüber dem neuen Polen umgegangen werden sollte, in der Bundesrepublik zu einer Zerreißprobe. Anzeichen für diesbezügliche Spannungen zwischen Außenminister Genscher (FDP) und Bundeskanzler Kohl (CDU) hat es verschiedentlich gegeben. Zu der für die Frage der Teilnahme Polens an den 2 + 4-Gesprächen entscheidenden Sitzung mit dem amerikanischen Präsidenten Ende Februar 1990 nahm Helmut Kohl beispielsweise keinen Angehörigen des Auswärtigen Amtes mit. Auch der deutsche Botschafter in Washington war nicht dabei. -In einer Sitzung des Bundeskabinetts am Februar 1990 äußerte Außenminister Genscher, daß er den Vorschlag von Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki zu Verhandlungen über einen neuen polnisch-deutschen Grenzvertrag unterstützen könne (Horst Teltschik berichtet, wie am gleichen Abend die „Kanzlerrunde“ über Genschers Motive für diese Kampfansage spekulierte) 28. Hans-Dietrich Genscher hatte sich früh in bezug auf die Grenzfrage festgelegt, etwa mit Sätzen in Reden vor der UN-Vollversammlung, die später in eine Entschließung des Deutschen Bundestages eingingen (die Polen hätten, so der Kernsatz des deutschen Außenministers, das „Recht, in sicheren Grenzen zu leben, das von uns als Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird“

Die Spannungen innerhalb der Bundesregierung wurden auch im Ausland wahrgenommen. So wird berichtet, daß US-Außenminister Baker gelegentlich auf die Teilnahme an einer Beratung zwischen dem amerikanischen Präsidenten und Kanzler Kohl verzichtete, um einer möglichen Teilnahme Hans-Dietrich Genschers vorzubeugen. Der gab seine Haltung nicht auf, als es im Zuge des deutschen Einigungsprozesses um Konkretionen ging. Am 6. März 1990 griff Genscher den Bundeskanzler in einem Koalitionsgespräch erneut in dieser Angelegenheit direkt an. Hernach wurde gar über ein Ende der Regierungskoalition wegen der Polenfrage spekuliert

Die Grenzfrage bildete (wie andere 2 + 4-Themen auch, etwa die Berlinfrage) ein rechtliches und ein politisches Problem. Die Vier Mächte hatten sich das Recht vorbehalten, die Grenzen von „Deutschland als Ganzem“ festzulegen. So war, in der Sicht des Kanzlers, weder die Bundesrepublik noch die DDR berechtigt, die Grenzfrage definitiv zu lösen. Rein rechtlich ließ sich diese Position verteidigen. Politisch allerdings war der Rechtsvorbehalt der Siegermächte besonders mit der weltpolitischen Wende 1989 entleert -es war klar, daß die Deutschen bei der Bestätigung der Staatsgrenzen das entscheidende Wort zu sagen haben würden.

Helmut Kohl wurden denn auch weniger rechtliche, sondern eher politische Gründe dafür unterstellt, daß er so mühsam, in einem langwierigen Prozeß, zu Zugeständnissen in der Grenzfrage zu bewegen war. „Uns war bewußt,“ schreibt Robert D. Blackwill mit Blick auf den deutschen Kanzler, „daß es für ihn aus innenpolitischen Gründen problematisch war, dem Wunsch der Polen wie auch der Franzosen und Briten nachzukommen, vor der Vereinigung einen deutsch-polnischen Grenzvertrag auszuhandeln und in Kraft zu setzen. Der Bundeskanzler war überzeugt, daß ihn ein solches Vorgehen im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl innenpolitisch in große Schwierigkeiten bringen konnte, vor allem in Süddeutschland, wo die Republikaner stark waren.“ Philipp Zelowik und Condoleezza Rice sind skrupulöser, eine so direkte Verbindung zwischen Innen-und Grenzpolitik herzustellen: „Viele Westdeutsche glaubten, Kohls Auffassung stelle einen geschickten Schachzug dar, dazu angelegt, einige Wähler zu verführen, die die Preisgabe von soviel einst deutschem Gebiet im Jahre 1945 nicht hinnahmen und die sich von der CDU zu rechtsextremen Oppositionsparteien hinziehen lassen könnten. Kohl wurde somit bezichtigt, die internationale Stabilität auf dem Altar seiner innenpolitischen Ziele zu opfern.“ Das Zitat verdeutlicht, daß die amerikanischen Beteiligten am 2 + 4-Vorgang (ebenso die Autoren) die Auffassung der „vielen Westdeutschen“ durchaus teilten, denn letztere werden ihrem Kanzler kaum die Opferung „internationaler Stabilität“ angekreidet haben. Ergebnis war, laut Blackwill: „Präsident Bush war im Gegensatz zu anderen der Meinung, man solle Kohl nicht über das Verhältnis seiner Innenpolitik zu Bonns diplomatischen Optionen belehren.“

Die Haltung des Bundeskanzlers stieß im Ausland auf anhaltendes Unverständnis. Allenfalls der amerikanische Präsident war bereit, dem deutschen Kanzler zu folgen. Selbst sein Außenminister Baker, so berichtet Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble von einer Reise nach Washington am 20. Februar 1990, äußerte als erstes, er könne nicht verstehen, warum die Deutschen den Polen nicht eine bindende völkerrechtliche Erklärung anbieten würden, um den Grenzstreit aus der Welt zu schaffen (Schäuble wiederholte gegenüber Baker die völkerrechtlichen Vorbehalte des Kanzlers) Der US-Präsident ging im Februar 1990 gar so weit, den Deutschen Vorschläge für Zusicherungen an Polen zu machen

Am 24. Februar 1990 reiste der Bundeskanzler nach Camp David, um mit Präsident Bush über Wiedervereinigungsfragen zu sprechen. Dahin war noch nie ein deutscher Kanzler eingeladen worden (was anzeigt, wie wichtig Bush und seine Berater es fanden, die Deutschen zu einem Kompromiß mit Polen zu bewegen). Bush und Kohl kamen überein, daß Polen nicht förmlich an den 2 + 4-Verhandlungen beteiligt werden solle: „Kohl befürchtete, daß die Polen ihre Teilnahme dazu nützen könnten, ein Abkommen mit Forderungen nach Reparationen zu blockieren -mehr Zahlungen an Polen, um durch das Dritte Reich verursachte Kriegsschäden auszugleichen. Deutschland habe, so Kohl, insgesamt schon 150 Milliarden Mark an Polen, Israel und einzelne Antragsteller bezahlt. Fünfzig Jahre nach Kriegsende würde Deutschland nicht weiter zahlen. Konsultationen stellten einen besseren Weg dar, um polnische Befürchtungen zu entkräften,“ so der „note-taker“ des amerikanischen Präsidenten

Die Amerikaner erteilten auch der französisch-polnischen Initiative eine Absage, Polen stärker an der Regelung der deutschen Vereinigung zu beteiligen. Mitte März ging ein Brief an Ministerpräsident Mazowiecki, daß die Deutschen doch „positive und wichtige Schritte zur Regelung der Grenzfrage auf einer rechtlichen und fortdauernden Grundlage“ unternommen hätten Polen würde lediglich an solchen Entscheidungen beteiligt, die die vitalen Interessen des Landes berührten. Bundesaußenminister Genscher erreichte in Paris eine Zusicherung, daß Polen an den 2+ 4-Verhandlungen nur teilnehmen werde, wenn es um die Grenzen ginge. „Die polnisch-deutschen Probleme wurden hauptsächlich aufgrund von Bushs vertraulicher Mediation zwischen Kohl und Mazowiecki in der zweiten Märzhälfte entschärft“, heißt es etwas voreilig bei Zelikow und Rice Wichtigster Beitrag der amerikanischen Vermittlung war die Idee, daß der polnische Premier und der deutsche Kanzler sich vorab vertraulich auf eine Formel für den Kern eines Grenzvertrages verständigen sollten. So wurde dann auch verfahren.

Helmut Kohl stellte sich fortan einer gemeinsamen Erklärung von Bundestag und Volkskammer zur Grenzfrage nicht länger in den Weg, und er erhielt Zustimmung für die Bedingung, daß Polen im Gegenzug allen Reparationsforderungen abschwören müsse. Tatsächlich kam es auf dieser Basis zu der gemeinsamen Erklärung beider Parlamente vom 21. Juni 1990. Bundestag und Volkskammer beschlossen, daß die deutsch-polnische Grenze an der Oder-Neiße-Linie durch einen Vertrag zwischen dem vereinten Deutschland und Polen völkerrechtlich bekräftigt werden soll.

Augenscheinlich hatte Kanzler Kohl die internationale Bedeutung der Grenzfrage unterschätzt. Er nahm die Anmahnungen einer deutschen Entscheidung zwar wahr, sah diese aber als zweitrangiges Problem an. Seiner Überzeugung nach würde es zu einer befriedigenden Lösung des Problems im Gang der Ereignisse kommen, und die vier Siegermächte würden entscheidend an einem solchen Schritt beteiligt sein.

Für Politologen nicht überraschend entpuppt sich die Auseinandersetzung um die verbindliche Anerkennung der Grenze zwischen Deutschland und Polen im Prozeß der deutschen Vereinigung vor allem als Austrag von Machtpositionen. Zwar gab es substantiell auf deutscher Seite keinen Widerspruch gegen den polnischen Wunsch, die bestehende Grenze zwischen beiden Ländern möglichst international hochrangig abzusichern, aber die polnische Politik war mit keinem ihrer Versuche zum Ziel gelangt, diese Übereinstimmung vorab international vertraglich festzuschreiben. Auch die französische Politik, welche sich dem polnischen Begehren gegenüber am aufgeschlossensten zeigte, mußte wiederholt unter Druck zurückstecken, gar unter Preisgabe von öffentlichen Festlegungen des Staatspräsidenten.

V. Die Ursachen des Wandels der alliierten Haltung

An erster Stelle ist hier die amerikanische Politik zu nennen. Das amerikanische Team um Präsident Bush hatte sich früh entschlossen, der Politik des deutschen Bundeskanzlers, rasch zur Vereinigung zu gelangen, energisch zu folgen. Dies geschah nicht aus besonderer Liebe zu den Deutschen. Das amerikanische Konzept bestand vielmehr darin, die Russen unter Dampf zu halten, sie sollten möglichst keine Besinnungspause haben. Sonst wären diese -so Baker gegenüber Schewardnadse bei dessen Abschiedsbesuch -womöglich auf die Idee gekommen, nicht haltbare Positionen früh aufzugeben und einen „großen Deal“ anzubieten: Zustimmung zur Vereinigung, wenn das neue Deutschland aus der NATO ausscheidet. Im ersten Halbjahr 1990 waren die Russen zu einer solchen Rochade erkennbar noch nicht in der Lage, aber das hätte sich bei einer klarsichtigen Lageanalyse in Moskau ja ändern können. Robert D. Blackwill hat die mögliche sowjetische Position so umrissen: „Moskau hätte sich durchaus weigern können, seine Vier-Mächte-Rechte aufzugeben, wenn die NATO auf voller Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands bestünde. Sie hätte es auch ablehnen können, ihre 380 000 Mann starken Streitkräfte aus Ostdeutschland abzuziehen, oder die Bedingung eines gleichzeitigen Abzugs der westlichen Truppen stellen zu können. Sie hätte andeuten können, daß Gorbatschows Bemühen um ein neues sowjetisches Denken über europäische Sicherheit scheitern würden, wenn auf der NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands bestanden werde.“ Der vormalige sowjetische Botschafter in Bonn und nachherige stellvertretende Außenminister, Julij A. Kwizinskij, bestätigt in einem 1993 veröffentlichten Text die amerikanischen Spekulationen: „Ich glaube noch heute, daß Deutschland aus der NATO oder zumindest aus deren Militärorganisation ausgetreten wäre, wenn man das deutsche Volk entschieden genug vor die Wahl gestellt hätte -nationale Einheit oder NATO.“

Beide Autoren haben wahrscheinlich recht. Hätte sich die sowjetische Führung im Frühsommer 1990 mit einem dramatischen Appell an die Deutschen gewendet: „Nationale Einheit oder NATO-Mitgliedschaft eines Teildeutschland“ -so wäre das Ergebnis wenig zweifelhaft gewesen. Dem Durchschnittsdeutschen hätte die NATO-Mitgliedschaft bei weitem weniger bedeutet, als dies bei den außenpolitischen Eliten des Westens der Fall war. Ohne Deutschland wäre aber die NATO weitgehend entwertet gewesen. Philipp Zelikow und Condoleezza Rice fassen in der Einleitung ihres Buches dieses bedeutsame Motiv der amerikanischen Politik zusammen: „Die Vereinigten Staaten mußten darum besorgt sein, daß ein wiedervereinigtes Deutschland der 41 Jahre alten Allianz den Rücken zukehren könnte und so den Platz Amerikas in der Zukunft Europas gefährden könnte.“

Um mithin ihre sicherheitspolitische Führungsposition in Europa auch in der nachkommunistischen Transformationsphase zu halten, entschlossen sich die Amerikaner zu einer energischen, aktiven Wiedervereinigungspolitik. In ihrem Epilog unterstreichen Zelikow/Rice, daß somit grundsätzliche politische Motive tatkräftig umgesetzt wurden: „Die Vereinigten Staaten offerierten Führerschaft, indem sie sich früh entschlossen hatten, für die deutsche Einheit einzustehen, und indem sie dies deutlich und häufig Kohl wissen ließen. Das erlaubte dem deutschen Kanzler, der Rückenstärkung von Deutschlands mächtigstem Alliierten versichert, seinem Instinkt zu folgen. Wann immer Kohl stärker auf das Tempo drücken wollte, wandte er sich wegen Unterstützung an George Bush. Er bemerkte, daß der amerikanische Präsident an das Versprechen glaubte, welches der Westen Adenauer gegeben hatte: die Bundesrepublik Deutschland sei bis zu dem Tag ein Brutkasten der deutschen Demokratie, an dem das deutsche Volk in einem Staat vereinigt werden könnte. 1989 sagte Bush Kohl ganz unzweideutig, daß er bereit sei, zu dieser Abmachung zu stehen.“

VI. Die Haltung der Sowjets

Die Sowjets meinten lange -zu lange -den Schlüssel für die Wiedervereinigung Deutschlands in der Hand zu halten, ja gar direkt eine Veto-Position innezuhaben. Julij A. Kwizinskij beschreibt diese Selbstwahrnehmung (er spricht von einem „surrealistischen Wust von Ideen“ in der Führungselite der untergehenden Sowjetunion) wie folgt: „Die Tatsache, daß unsere Truppen immer noch in der DDR standen, wurde auf merkwürdige Weise mit der Vorstellung verbunden, wir könnten im Grunde genommen die Bedingungen der Wiedervereinigung diktieren, den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und die Bildung einer Konföderation der beiden Staaten durchsetzen.“

Auch Gorbatschow selbst meinte zunächst, in der Veto-Koalition mit Briten und Franzosen das Heft in der Hand zu halten. Wie Anatoli Tschernajew berichtet, äußerte er Ende Januar 1990 im kleinen Kreis: „Eventuell werde ich persönlich nur wegen dieser Frage für je einen Tag in die Hauptstädte fliegen.“

In der Folge mußten Michail S. Gorbatschow und die Seinen jedoch bald erkennen, daß alle Fortschritte im Verhältnis zu der anderen Supermacht an Zugeständnisse in den Deutschlandproblemen geknüpft waren. Weiterer Rüstungsabbau, substantielle amerikanische Hilfen in der schwierigen Perestroika waren nur zu erhoffen, wenn die Sowjetführung sich in der Deutschlandfrage beweglich zeigte. In angemessener Erkenntnis der wirklichen sowjetischen Prioritäten erfolgte dann im Sommer 1990 das Eingehen auf die amerikanischen Konzepte. Auf den Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Bush und Gorbatschow wurden die wesentlichen Lösungsformeln gefunden, die den Weg zur Wiedervereinigung international frei machten, und zwar, wie sich am Kalender einfach zeigen läßt, jeweils bevor Bundeskanzler Kohl oder Außenminister Genscher später, etwa auf dem hierzulande berühmten Kaukasustreffen im Juli 1990, Zusagen der russischen Seite einholen konnten. Zu solchen Formeln gehören selbst Details wie etwa die Festlegung, daß die NATO im vereinigten Deutschland nicht bis zur polnischen Grenze vorrückt.

VII. Die Haltung Englands und Frankreichs

Die britische und französische Haltung ist einfach zu fassen. Man hatte sich auf das sowjetische Veto verlassen. Zumindest setzte man auf Zeit. Der Amerikaner Robert D. Blackwill befindet, erneut amerikanische Prioritäten wiedergebend: „Hätten Großbritannien und Frankreich zu wählen gehabt zwischen der Option, die deutsche Einheit im Interesse einer deutschen Zugehörigkeit zum atlantischen Bündnis schnell herbeizuführen, und der Option, ihre Vier-Mächte-Rechte so auszuüben, daß die beiden deutschen Staaten nur in einem langwierigen evolutionären Prozeß vereinigt würden, so hätten sie sich sicher für die zweite, aufschiebende Möglichkeit entschieden.“ Frangois Mitterrand reagierte im Februar 1990 wütend auf die ersten Zugeständnisse des sowjetischen Präsidenten. „Was fällt Gorbatschow eigentlich ein? Er versichert mir, er werde festbleiben, und er gibt alles her! Was hat ihm Kohl dafür gegeben? Wie viele Milliarden Mark?“ Monate später, anläßlich einer Reise nach Moskau Ende Mai 1990 -die 2 + 4-Verhandlungen sind im vollen Gange -Mitterrand erneut: „Gorbatschow wird von mir verlangen, daß ich mich der deutschen Wiedervereinigung widersetze. Ich würde es mit Vergnügen tun, wenn ich glaubte, daß er bei der Stange bleibt. Aber warum soll ich mich mit Kohl Überwerfen, wenn Gorbatschow mich drei Tage später fallenläßt?“

Margaret Thatcher schreibt wiederum sehr offen: „Wenn es einen Fall gibt, in der ein von mir verfolgtes außenpolitisches Konzept ganz unzweideutig gescheitert ist, dann war dies meine Politik zur deutschen Wiedervereinigung.“ „Das Problem war,“ so Frau Thatcher weiter (sich auf ein Gespräch mit Mitterrand berufend), „daß in der Wirklichkeit es in Europa keine Kraft gab, die die Wiedervereinigung stoppen konnte.“ Auch Frau Thatcher meint fälschlicherweise, daß Gorbatschow von Kohl „gekauft“ worden sei: „Das quid pro quo würde bald offenkundig werden. Auf dem Krimtreffen im Juli stimmte der westdeutsche Kanzler zu, eine Summe herzugeben, die den Sowjets gewaltig erscheinen mußte, obwohl sie faktisch weit mehr hätten herausholen können.“

Die Einzelheiten des Umschwenkens der britischen und französischen Politik in der Frage der deutschen Vereinigung lassen sich nunmehr in amerikanischen Quellen nachvollziehen. Robert D. Blackwill gibt die zweite Aprilhälfte 1990, unmittelbar vor dem Beginn der 2 + 4-Verhandlungen auf Ministerebene, als Wendezeit an: „Der Präsident traf sich am 13. April auf den Bermudas mit Premierministerin Thatcher, am 19. April in Key Largo mit Präsident Mitterrand. Am 25. April hatte er ein langes Telefongespräch mit Kohl. Nach diesen intensiven Bemühungen des Präsidenten gaben die britische und französische Regierung schließlich ihre zögernde Haltung auf und erklärten erstmals ihre Bereitschaft, bei der Vereinigung ihre Vier-Mächte-Rechte zu beenden.“

Die Veto-Koalition ließ sich schließlich nicht nur aus machtpolitischen Gründen nicht halten. Sie wäre beim Test auch deswegen gescheitert, weil die drei Mächte nicht offen gegen ein großes Prinzip der internationalen Politik, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auftreten konnten, zumal die vestärkte Achtung dieses Prinzips die weltpolitische Wende von 1989/90 geprägt hatte. So war es hier die seltene Parallelität von Machtinteressen mit einem grundlegenden politischen Prinzip, nicht aber die diplomatische Kunstfertigkeit einiger weniger politischer Persönlichkeiten allein, die zügig zur allgemeinen Zustimmung zur Neuvereinigung der Deutschen geführt hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge, Mass. -London 1995, S. 192. -Zelikow und Rice waren Mitarbeiter im Team von Präsident Bush und sind heute wieder Hochschullehrer in den USA.

  2. Vgl. Barbara Munske, The Two Plus Four Negotiations From a German-German Perspective. An Analysis of Perception, Münster -Hamburg 1994.

  3. Robert D. Blackwill, Deutsche Vereinigung und amerikanische Diplomatie, in: Außenpolitik. Zeitschrift für internationale Fragen, (1994) III, S. 21. 3. -Blackwill hatte 1990 die Position eines Special Assistant to the President inne und kam vom Nationalen Sicherheitsrat. Heute ist er Professor an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University. Für seine Verdienste um die deutsche Vereinigung wurde ihm das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

  4. Ebd., S. 211.

  5. J. Attali (Anm. 1), S. 366.

  6. Ebd., S. 313.

  7. M. Thatcher (Anm. 2), S. 792.

  8. Ebd., S. 552.

  9. Ebd., S. 769.

  10. Ebd., S. 791.

  11. Ph. Zelikow/C. Rice (Anm. 3), S. 191.

  12. Kommunique der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika, abgegeben am Rande der „Open-Skies-Konferenz“ in Ottawa am 13. Februar 1990.

  13. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 729.

  14. Ebd. -Die Aussage, es hätte „keine andere Wahl“ gegeben, ist so nicht zu halten. Genscher relativiert sie in seinem Buch im weiteren Gang der Argumentation.

  15. Ebd., S. 716 f.

  16. Vgl. Ines Lehmann, Angst -Bedenken -Erwartungen. Westliche Pressereaktionen auf die deutsche Vereinigung 1989/1990, Diss. FU Berlin 1995 (i. E.).

  17. M. Thatcher (Anm. 2), S. 799.

  18. Vgl. Anatoli Tschernajew, Die letzten Jahre einer Welt-macht. Der Kreml von innen, übers, v. F. Börner/N. Juraschitz/U. Miht, Stuttgart 1993, S. 295 u. 297.

  19. Valentin Falin, Politische Erinnerungen, übers, v. H. Pross-Weerth, München 1993, S. 491 (die variierende Schreibweise russischer Eigennamen folgt der jeweils angegebenen Übersetzung).

  20. Ebd.

  21. Vgl. Richard Kiessler/Frank Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken: Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1993; Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung: Die internationalen Aspekte, Bergisch Gladbach 1991. Zum Kontrast (differenzierendere Wertungen enthaltend) aus der neueren deutschen Forschungsliteratur vgl. etwa: Elke Bruck/Peter M. Wagner (Hrsg.), Wege zum „ 2 + 4" -Vertrag. Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland 6, München 1996.

  22. M. Thatcher (Anm. 2), S. 790.

  23. Ebd., S. 797.

  24. Ebd., S. 814.

  25. J. Attali (Anm. 1), S. 381.

  26. Vgl. Horst Teltschik, 329 Tage. Inneneinsichten der Einigung, Berlin 1991, S. 164.

  27. Dazu ausführlich H. -D. Genscher, Erinnerungen (Anm. 15), leitmotivisch S. 15 (dort das Zitat), ferner S. 720. 727, 762, 766 f„ 782 f„ 844 f„ 890 f„ 971.

  28. Vgl. Ph. Zelikow/C. Rice (Anm. 3). S. 218; H. Teltschik (Anm. 28), S. 165-168; R. Kiessler/F. Elbe (Anm. 23), S. 116-117; Wolfgang Schäuble, Der Vertrag: Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, hrsg. von Dirk Koch und Klaus Wirtgen, Stuttgart 1991. S. 60-65.

  29. R. D. Blackwill (Anm. 5), S. 217.

  30. Ph. Zelikow/C. Rice (Anm. 3), S. 153, auch 213.

  31. R. Blackwill (Anm. 5), S. 217.

  32. Vgl. W. Schäuble (Anm. 30), S. 591-60.

  33. Vgl. Ph. Zelikow/C. Rice (Anm. 3), S. 222 f.

  34. Ebd., S. 213.

  35. Ebd., S. 219.

  36. Ebd. -R. Blackwill (Anm. 5, S. 217) schreibt instruktiv: „Wir beruhigten die Polen fast täglich, etwa während des Washington-Besuchs von Ministerpräsident Mazowiecki, und betonten, wir vertrauten Kohl und seien sicher, die Grenzfrage werde in einer für die Polen voll akzeptablen Weise geregelt.“

  37. Mündliche Information von Philipp Zelikow an den Verf. im September 1995.

  38. R. Blackwill (Anm. 5), S. 212. Das ungefüge Deutsch dieser Übersetzung (etwa Moskau = sie) geht zu Lasten der deutschen Zeitschrift.

  39. Julij A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 22. -Kwizinskij räumt den Zeitbedarf der Sowjets offen ein: „In Moskau lag selbst im Mai 1990 ein solcher Plan (wie die Vereinigungsfrage zu beantworten sei, U. A.) noch nicht vor. Statt dessen führte man alle möglichen Debatten“ (ebd., S. 11).

  40. Ph. Zelikow/C. Rice (Anm. 3), S. 2.

  41. Ebd., S. 367.

  42. J. A. Kwizinskij (Anm. 41), S. 12.

  43. A. Tschernajw (Anm. 20), S. 297.

  44. R. Blackwill (Anm. 5), S. 212.

  45. J. Attali (Anm. 1), S. 416.

  46. Ebd., S. 495.

  47. M. Thatcher (Anm. 2), S. 813.

  48. Ebd., S. 797.

  49. Ebd., S. 798. Frau Thatcher wiederholt in ihren Erinnerungen diese Aussage: „Die Sowjets waren bereit, die Wiedervereinigung für eine bescheidene finanzielle Unterstützung ihrer zusammenbrechenden Wirtschaft von Seiten Deutschlands zu verkaufen.“ Ebd., S. 792.

  50. R. Blackwill (Anm. 5), S. 217.

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Ulrich Albrecht, Dr. phil., geb. 1941; Professor für Friedens-und Konfliktforschung am Institut für Internationale Politik und Regionalstudien des Fachbereichs Politische Wissenschaft der FU Berlin; 1990 Leiter des Planungsstabes im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und als solcher an den 2 + 4-Verhandlungen beteiligt. Veröffentlichung zum Thema u. a.: Die Abwicklung der DDR. Die „ 2 + 4-Verhandlungen“. Ein Insiderbericht, Opladen 1992.