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Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Zwischen Transformation und Standortdebatte | APuZ 40/1996 | bpb.de

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APuZ 40/1996 Die internationale Regelung der Wiedervereinigung Von einer „No-win" -Situation zum raschen Erfolg Die deutsche Einigung oder das Ausbleiben des Wunders. Sechs Jahre danach: eine Zwischenbilanz Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Zwischen Transformation und Standortdebatte Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Ostmitteleuropas

Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Zwischen Transformation und Standortdebatte

Wolfgang Schroeder

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der 1990 erfolgten Übertragung der westdeutschen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände au! Ostdeutschland ist der Einigungsprozeß nachdrücklich flankiert worden. Die vergleichende Analyse von Aufbaustrategien und Differenzierungsprozessen bei den Tarifparteien zeigt, daß beide Organisationen zwar anfangs mit unterschiedlichen Voraussetzungen konfrontiert waren, daß sich aber im Verlauf des Einigungsprozesses die Integrationsprobleme annähern, während die Problemdeutungen sukzessive divergieren. In dem Maße, wie ökonomische Krisenprozesse und die Ausdifferenzierung der ostdeutschen Industrie-und Unternehmerlandschaft voranschritten, wirkten die politischen Kompromisse der ersten Tiansformationsphase als Hindernis für kollektives ökonomisches Interessenhandeln und damit auch tür die Verbandslegitimation. Ursächlich dafür war jedoch weniger eine personelle Vertretungslücke in der ersten Stunde, sondern die sich im Zeitverlauf verändernden ökonomischen und politischen Problemlagen sowie deren Wahrnehmung (Standortdebatte).

Es gibt einen Sündenbock für die wirtschaftliche Misere in der ostdeutschen Metall-und Elektroindustrie: die Tarifpolitik. Den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wird vorgeworfen, daß sie durch ihre Politik die Schaffung einer leistungsfähigen wirtschaftlichen Basis behindern. Im Brennpunkt der Kritik steht die über den Stufentarifvertrag eingesetzte flächendeckende Lohnstruktur, die vom Produktivitätsniveau abgekoppelt sei und damit der prekären ökonomischen Situation einer großen Zahl von Betrieben nicht gerecht werde. Zurückzuführen sei das Zustandekommen dieser strukturellen Fehlentscheidungen darauf, daß die Arbeitgeberverbände in den ersten Tarifabschlüssen keine Kapitalinteressen („Repräsentationslücke“) vertreten hätten, sondern politische Stabilitätsinteressen. Mit dieser Erklärung für die Legitimationsprobleme der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland, die primär auf die in den neuen Bundesländern gegebenen. Voraussetzungen der Tarifpolitik abhebt, wird weder der komplexen Entscheidungssituation der Jahre 1990/91 noch den im Zeitverlauf auftretenden politischen, ökonomischen und kulturellen Anfechtungen Rechnung getragen Zu den äußeren Einflußfaktoren zählen vor allem die Startprogrammierung einer politischen Tarifpolitik, die als sozialer Flanken-schutz für den Einigungsprozeß implementiert wurde, sodann aber auch die ökonomische Krise in Westdeutschland sowie die erosionsfördernden Wirkungen einer Standortdebatte, die sich primär auf Lohn-und Lohnnebenkosten kapriziert. Die Krise der industriellen Beziehungen ist primär exogen induziert; sie besteht nicht zuletzt darin, daß die Tarifpolitik derart mit Erwartungen und Anforderungen überfrachtet wird, daß sie sich als idealer „Sündenbock“ für bestimmte Fehlentwicklungen geradezu aufdrängt. Daß dieses Politikfeld, als dem politisch-staatlichen Einigungsprozeß nachgeordneter Bereich, die real existierenden Krisenprobleme der Unternehmen möglicherweise gar nicht zu verantworten hat, wird dabei ausgeblendet, da die Tarifpolitik nur scheinbar über Handlungsspielräume und Lösungskompetenzen verfügt. Tarifpolitik ist insofern sowohl Arena materieller Gestaltungspolitik als auch Feld für symbolische Ersatzhandlungen und neue Mythen-produktion.

I. Entwicklungstendenzen der ostdeutschen Metall-und Elektroindustrie seit 1989

Als Anfang 1991 die Bundesanstalt für Arbeit erstmals eine Arbeitsmarktstatistik für die neuen Bundesländer erstellte, war die Gesamtzahl der Beschäftigten in der ostdeutschen Metall-und Elektroindustrie von etwa 1, 5 Millionen Beschäftigten im Jahre 1988 auf 985 400 gefallen. Nach dieser Statistik kamen etwa 17 Prozent der in der gesamten deutschen Metallindustrie Beschäftigten 1991 aus Ostdeutschland. Während der ostdeutsche Beschäftigtenanteil an der gesamten deutschen Metallindustrie zwischen 1991 und 1993 von 17 auf 9 Prozent (1995 etwa 285 000 Beschäftigte) fiel, sank der Umsatzanteil der ostdeutschen Metall-und Elektroindustrie sogar auf 4, 4 Prozent. Besonders problematisch für die Tarifpolitik wirkt sich die Entwicklung der Lohnstückkosten aus: Infolge des Produktionseinbruchs und der Lohnsteigerungen stiegen sie 1991 auf rund 150 Prozent des westdeutschen Niveaus. Seit 1993 haben sich die Lohnnebenkosten, vor allem als Ergebnis von Beschäftigungsabbau und weniger aufgrund von Produktivitätssteigerungen, auf etwa 117 Prozent des Westniveaus eingependelt.

Im Hinblick auf ihre internationale Konkurrenzfähigkeit bestanden die entscheidenden Nachteile der Metall-und Elektroindustrie der DDR vor allem in einer geringen Zahl marktfähiger Produkte, einer geringen Wettbewerbsorientierung, einer niedrigen Produktivität, in großen, zentrali25 sierten und inflexiblen Einheiten, in veralteten Produktionsanlagen und -verfahren, einer hohen Fertigungstiefe, der auch politisch gewollten Über-beschäftigung und einer starken Abhängigkeit von dem im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammengeschlossenen osteuropäischen Markt. Der Umbau der Gesamtbranche mit dem Ziel, eine weltmarktorientierte Handlungsfähigkeit zu erreichen, setzte bei den produktiven und innovativen Betriebsteilen der Kombinate an, die sich selbständig machten; es folgte die von der Treuhandanstalt (THA) betriebene horizontale und vertikale Entflechtung und Privatisierung.

Dieser Prozeß beförderte einen durchgängigen Trend zur Verkleinerung der Betriebsgröße, wodurch sich der Anteil von Betrieben mit über 500 Beschäftigten deutlich reduzierte und selbst der Anteil mittelgroßer Unternehmen von über 100 Beschäftigten nahezu halbiert wurde. Neben der Zunahme der Zahl kleinerer Unternehmen, vor allem solcher mit bis zu 20 Beschäftigten, kam es zu einer Interessendifferenzierung von Betriebs-und Firmentypen mit ganz unterschiedlichen Erwartungen an Arbeitgeberverband und Flächentarifvertrag. Die beiden Hauptursachen für die Wettbewerbsprobleme der meisten ostdeutschen Betriebe -Absatzmarkt-und Qualitätsdefizite -sind dabei für Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften nur begrenzt oder gar nicht operationalisierbar.

Um nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes kein Vakuum entstehen zu lassen und ostdeutsche Sonderwege zu verhindern, sorgten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nach anfänglichen Irritationen für eine schnelle Präsenz ihrer Organisationen in Ostdeutschland. Dabei votierten sie dafür, die wichtigsten Eckpunkte ihrer westdeutschen Austauschmodalitäten beizubehalten, also das Instrument des Flächentarifvertrages anzuerkennen und keine Aufwertung der betrieblichen Regelungsebene zuzulassen. Die Kehrseite dieser schnellen Transformation war, daß die in den Jahren vor der Einigung in beiden Verbänden bereits formulierten Reformbedarfe (beispielsweise gemeinsame Tarifverträge für Arbeiter und Angestellte, Optionslösungen in den Flächentarifverträgen) keinen Einfluß auf den Prozeß der Übertragung hatten. Man verzichtete auf eine zeitraubende und mühsame Reformstrategie zugunsten einer einfachen Übertragung von institutionellen Arrangements, die schon in Westdeutschland problematisch geworden waren. Damit konnte zugleich an das Einigungsversprechen der Regierung Kohl sowie an die Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung angeknüpft werden. Mit diesem Rückgriff auf Routinen und standardisierte Strukturen sollten Unsicherheiten und Entscheidungskosten reduziert, Institutionen gesichert und eingespielte Machtverhältnisse stabilisiert werden.

II. Übertragung der westdeutschen Gewerkschaftsverbände: Die IG Metall

Vertreter der westdeutschen IG Metall hielten sich seit Dezember 1989 in der DDR auf, um sich über die dortigen Akteure zu informieren sowie deren Gestaltungsfähigkeiten auszuloten. Bis ins Frühjahr 1990 sah es so aus, als würde eine Reform der Ost-IG-Metall möglich sein, auf deren Grundlage zu einem späteren Zeitpunkt eine Fusion gleichberechtigter Partner stattfinden könne Nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gewannen die Stimmen in der westdeutschen IG Metall an Gewicht, die in einem Kurs der Zusammenarbeit keine Zukunft sahen. Dabei stützte sich deren Einschätzung nicht nur auf den rapide beschleunigten Wandel der politischen Rahmenbedingungen, sondern ebenso auf demokratische Vorstellungen von einer freien Gewerkschaftsbewegung, auf Erfahrungen mit dem negativen Image der Ost-IG-Metall bei den Beschäftigten, der Reformunfähigkeit des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), dessen desolater finanzieller Situation und auf mögliche negative Rückwirkungen auf die eigene Organisation.

Am 25. Mai 1990 wurde in einer gemeinsamen Vereinbarung die Übertragung der organisatorischen Strukturen der westdeutschen IG Metall auf das Gebiet der ehemaligen DDR zum 1. Januar 1991 festgelegt; dies implizierte zugleich die Auflösung der IG Metall der DDR (am 5. /6. Oktober 1990 vollzogen). Der eigentlich politikwirksame Strategiewechsel im Umgang mit der ostdeutschen IG Metall erfolgte aber erst nach der Hamburger Erklärung vom 25. Mai 1990 Danach setzten sich in der westdeutschen IG Metall die Befürworter einer relativ strikten Abgrenzung vom ostdeut-sehen Funktionärsapparat durch. Zu diesem Abgrenzungskurs gehörte auch, daß die ostdeutschen Funktionäre nicht automatisch übernommen wurden und jeder an einer Mitgliedschaft Interessierte ein eigenes Antragsverfahren durchlaufen mußte

Eine häufig diskutierte Frage lautet: Warum entschied sich die IG Metall für einen nahezu vollständigen organisatorischen und personellen Neuanfang in Ostdeutschland, während andere DGB-Gewerkschaften, wie die IG Chemie die IG Bergbau oder die IG Bau, die ostdeutschen Gewerkschaftsfunktionäre stärker integrierten? Diese vergleichsweise puristische Aufbauvariante ist nicht nur mit unmittelbaren Effizienzkriterien zu begründen, vielmehr spielen dabei möglicherweise auch unterschiedliche Erfahrungen sowie ein stärker ausgeprägtes Bedürfnis nach ideologischer Abgrenzung eine Rolle. Daß die IG Chemie, mit ihrem dezidierten Image als antikommunistische Organisation, weniger Skrupel hatte, ehemalige Kommunisten zu kooptieren, als die IG Metall, der nachgesagt wird, sie sei eine „linke“ Gewerkschaft, mag damit Zusammenhängen. Da der Strategiewechsel der IG Metall in eine komplexe Entscheidungskonstellation eingebettet war, lassen sich einzelne Motive und Ziele jedoch nicht einfach auseinanderhalten.

Am 11. Dezember 1990 beschloß der IG-Metall-Vorstand, 35 ostdeutsche Verwaltungsstellen aufzubauen. Während in Dresden die einzige neue Bezirksleitung in Ostdeutschland eingerichtet wurde, dehnten die westdeutschen Bezirke lediglich ihre Verantwortungsbereiche auf Ostdeutschland aus: Hamburg auf Mecklenburg-Vorpommern, Hannover auf Sachsen-Anhalt, Berlin auf Ost-Berlin und Brandenburg, Frankfurt am Main auf Thüringen. Bis zum l. März 1991 konnte die IG Metall in Ostdeutschland 1 005 061 Mitglieder gewinnen. Auf den bald eintretenden Mitglieder-rückgang reagierte sie, indem sie Verwaltungsstellen und Bezirke (1. 4. 1995 Fusion der Bezirke Dresden und Berlin) zusammenlegte.

Daß sich schließlich über eine Million Beschäftigte in die Mitgliederlisten der IG Metall eintrugen, war zwar nicht unbedingt erwartet worden, erscheint aber nachträglich als plausibel und dies nicht nur als Ergebnis von Gewohnheitsmitgliedschaft oder wegen drohender Arbeitslosigkeit und Existenzunsicherheit, sondern auch angesichts des positiven Images der IG Metall. Die Ostdeutschen konnten bereits anhand der seit Mitte 1990 verhandelten Tarifverträge und Schutzregelungen erfahren, daß die IG Metall eine mit Kompetenz und Durchsetzungsstärke agierende Organisation ist, die als Anwalt der „sozialen Einheit“ handelt

Ein wichtiges Stabilitätsmoment für die Etablierung der IG Metall in Ostdeutschland lag in der Auswahl des hauptamtlichen Personals. Unter enormem Handlungsdruck und angesichts unübersichtlicher ökonomischer sowie politischer Entwicklungsperspektiven mußten solche Entscheidungen relativ schnell getroffen werden. Da der Erfolg des Institutionentransfers in eine fremde Umwelt davon abhängt, ob ihre Repräsentanten von den Beschäftigten akzeptiert werden, war es naheliegend, daß ostdeutsche Kandidaten, die mit den spezifischen Regeln des deutschen Sozial-und Rechtsstaates nicht vertraut waren, für bestimmte Führungspositionen zunächst unberücksichtigt blieben. Eckpunkte der Personalauswahl waren einerseits inhaltliche Kompetenz und andererseits politische Berechenbarkeit. Dieses Vorgehen führte im Ergebnis zur Dominanz westdeutscher Funktionäre und zu einer ostdeutschen „Vertretungslücke“ vor allem bei den sogenannten 1. Bevollmächtigten also den Geschäftsführern der örtlichen 16 Büros.

Die Mehrheit der ostdeutschen Beschäftigten sah in der Vertretung durch westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre eine entscheidende Voraussetzung, um dem Management in Treuhandanstalt und Betrieben Paroli zu bieten und einen Anpas-sungsprozeß an das westdeutsche Wohlstands-niveau zu gewährleisten. Die westdeutschen Funktionäre wurden also weniger als feindliche „Landnehmer“ wahrgenommen, wie dies manche westdeutsche Kritiker des Einigungsprozesses behaupteten, statt dessen bedachte man sie zunächst mit einem hohen Vertrauensvorschuß. Nachdem die erste Euphorie einer gewissen Enttäuschung Platz machte, konvertierten allerdings manche West-Funktionäre in der östlichen Wahrnehmung zu Mittätern der De-Industrialisierung oder wurden schlicht als inkompetent verurteilt. In einigen Fällen suchten vor allem ostdeutsche Betriebsräte eine skeptische Distanz zu ihren westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären. Aus dieser Unzufriedenheit versuchte die Betriebsrätebewegung im Sommer 1992 eine Vertretungslegitimation für die ostdeutschen Beschäftigten abzuleiten. Es zeigte sich jedoch, daß die mancherorts vorhandene Enttäuschung nicht ausreichte, um als Resonanzboden für eine eigenständige ostdeutsche Bewegung zu wirken.

Die enger gewordenen Handlungsspielräume im Einigungsprozeß hatten auch deutlich sichtbare Auswirkungen auf Rolle und Strategie der IG Metall als Anwalt des sozialen Einigungsprozesses. Während die IG Metall in den Jahren 1990 bis 1992 noch mit grundsätzlicheren arbeitsmarkt(Beschäftigungsgesellschaften) und wirtschaftspolitischen Alternativen (Beteiligung der Bevölkerung durch Aktien am ehemaligen DDR-Staats-vermögen, Industriepolitik etc.) aufwarten konnte, schmolz das Interventionsrepertoire innerhalb kurzer Zeit auf ein von Fall zu Fall neu zu justierendes Krisenmanagement. Zwar beharrte man weiterhin auf ambitionierten industriepolitischen Konzepten, doch diese konnten angesichts des voranschreitenden Prozesses der De-Industrialisierung kaum mehr als die Erinnerung an verpaßte Chancen wachhalten. Ausnahmen bildeten beispielsweise die Industrie-und regionalpolitischen Initiativen im Chemnitzer Maschinenbau sowie in der Leipziger und Bautzener Region.

Mit dem sukzessiven Wegfall alternativer Entwicklungspfade konzentrierte sich die Politik der sozialen Einheit auf den Stufentarifvertrag. Vor dem Hintergrund verengter Handlungsspielräume, bei gleichzeitiger Reduzierung auf die Lohnfrage, sah sich die IG Metall vor die Situation gestellt, in ein Mobilisierungsdilemma hinein-zugeraten. Dämpfte sie die Erwartungen zu sehr, dann schwächte sich möglicherweise der Druck auf eine rasche tarifpolitische Angleichung zu schnell ab; forcierte sie die Erwartungshaltung zu stark, so lief sie selbst Gefahr, zum Ziel der Kritik zu werden. Dieses Dilemma ist zwar keine neue Herausforderung für gewerkschaftliche Politik. Die neue Brisanz dieser Gratwanderung bestand aber darin, daß die ostdeutschen Mitglieder erst noch dafür gewonnen werden mußten, die formellen und informellen Regeln zu akzeptieren, mit denen Gewerkschaften im Spannungsfeld von grundsätzlicher Zielbestimmung und pragmatischer Realpolitik agieren

Die Mitgliederzahl der IG Metall hat sich in Ostdeutschland zwischen 1991 und 1995 von etwa einer Million auf 477 553 reduziert, sie liegt aber immer noch deutlich höher als die Beschäftigten-zahl (1995: etwa 285 000 Arbeitsplätze in Betrieben mit über 20 Beschäftigten). Dies ist nicht zuletzt auf den hohen Arbeitslosen-und Rentner-anteil zurückzuführen. Mit 133 812 arbeitslos gemeldeten Mitgliedern -dies ist ein Anteil von 28 Prozent -ist die IG-Metall die größte Arbeitslosenorganisation in Ostdeutschland. Berücksichtigt man weiter, daß zum gleichen Zeitpunkt 96 288 Rentner IG-Metall-Mitglieder waren, so ergibt dies zusammen eine Zahl von 230 100 Mitgliedern (48, 1 Prozent der Gesamtmitgliedschaft), die in keinem Arbeitsverhältnis stehen. Während der Anteil der IG-Metall-Mitglieder, die arbeitslos oder Rentner sind, ständig steigt, nimmt der Anteil der Vollbeitragszahler, der Jugendlichen (am 31. 12. 1995 waren es nur noch 28 631 Jugendliche, also 6 Prozent der Gesamtmitgliedschaft), Angestellten und Frauen ständig ab.

Die IG Metall ist stark vertreten in Beschäftigungsgesellschaften und in einigen privatisierten Traditionsbetrieben der ehemaligen DDR. Dagegen sind nur noch rund 30 Prozent der Mitglieder in den industriellen Kernen beschäftigt, die auch als zentrale Träger des Flächentarifvertrages fungieren könnten. Ein wachsendes Mitgliederdefizit besteht in den neu angesiedelten Betrieben sowie in mittleren und kleinen Unternehmen. Da Zahl und Bedeutung dieser in der Regel eher innovativen Betriebe während des Transformationsprozesses stark zugenommen haben, ist dies eine „Achillesferse“, die sich äußerst negativ auf die Mobilisierungs-und Durchsetzungsbedingungen der IG Metall auswirken kann.

Für die Handlungsfähigkeit der IG Metall in den Betrieben sind die Betriebsräte entscheidend. Bundesweit waren 1994 etwa 81 Prozent der Betriebsräte IG-Metall-Mitglieder. In den beiden ostdeutschen IG-Metall-Bezirken Dresden und Berlin/Brandenburg lag dieser Prozentsatz mit 84 Prozent und 79 Prozent auf einem ähnlich hohen Niveau Diese Zahlen vermitteln zwar das Bild konsolidierter Verhältnisse, aber im Vergleich zu Westdeutschland ist häufiger eine von der politisch-gewerkschaftlichen Umwelt abgekapselte Betriebsratsarbeit festzustellen Die Betriebszentrierung ostdeutscher Betriebsräte ist ein Faktor der Kontinuität, der durch die häufig prekäre ökonomische Situation der Betriebe und unzureichende gewerkschaftliche Reaktionsmöglichkeiten zementiert wird. Zu berücksichtigen sind aber auch die konkreten Erfahrungen der oft von Angestellten aufgebauten und dominierten Betriebsräte, die sich vor allem in den ersten Jahren als die zentralen Anwälte einer schnellen Modernisierung des Betriebes engagierten. Sie konnten in dieser Zeit einen weitreichenden Einfluß auf die Geschäftspolitik ausüben. Während die Betriebsräte in den Gewerkschaften einen wichtigen Kooperationspartner im Kampf gegen Arbeitsplatzabbau und für eine soziale Absicherung bei Ruhestand, Kurzarbeit und im Falle von Interessenausgleich, Sozialplan und Einigungsstellen haben, sehen sie in der Geschäftsführung und in staatlichen Stellen ihre primären Ansprechpartner, um Arbeitsplätze zu sichern und die Modernisierung des Betriebes voranzutreiben. Die Akzeptanz für eine regelmäßige, auch betriebs-übergreifende Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften hat nicht nur eine ökonomische und soziale Seite, sondern auch eine zeitliche und damit erfahrungsbezogene. Diese Kooperation kann sich also nicht nur auf normativen Konsens gründen, sie muß sich vor allem in der praktischen Vernunft situationsadäquater Problemlösungsfähigkeit bewähren.

Für die IG Metall hat die Bildung einer gesamtdeutschen Organisation zur Folge, daß sie mit gegenläufigen Anforderungen aus der ost-und westdeutschen Mitgliedschaft konfrontiert ist: Es sind dies nicht nur unterschiedliche inhaltliche Erwartungshaltungen und Anforderungen, die mit der hohen Zahl der Arbeitslosen und Rentner in der ostdeutschen Mitgliedschaft Zusammenhängen. Auch die Anfang der neunziger Jahre ausgemachte Kultur-und Wertedifferenz -hier die „Ossis“, die nur an einem schnellen Anstieg ihrer Löhne und Gehälter interessiert sind, und dort die „Wessis“, die stärker an qualitativen Zielen, wie Ökologie, Freizeit, Qualifikation interessiert sind -ist nur unzureichend, um die Problemlagen zwischen Ost-und Westdeutschland abzubilden. Durch die Massenarbeitslosigkeit und die Angst, davon betroffen zu werden, konzentrieren sich die Konflikte stärker auf die Frage, ob Unternehmen in West-oder in Ostdeutschland oder im Ausland investieren und wie gewerkschaftliche Gremien und Funktionäre im Rahmen ihrer Möglichkeiten sich in diesem Feld verhalten.

III. Aufbau und Legitimationsprobleme ostdeutscher Arbeitgeberverbände

In der DDR gab es mit Ausnahme weniger Klein-unternehmer, die als „exklusive“ Restgröße neben der verstaatlichten Industrie existierten, weder eine eigenverantwortlich agierende Unternehmer-schicht noch einen Arbeitgeberverband. Statt dessen war die ökonomische Funktionselite, deren bedeutendster Teil die Gruppe der Kombinatsgeneraldirektoren war, von politischen Planvorgaben abhängig. Auf den Zusammenbruch des SED-Regimes reagierten Teile der ökonomischen Funktionselite, die jetzt ihre Chance gekommen sahen, selbständige Unternehmer, Manager oder Verbandsfunktionäre zu werden, indem sie seit November 1989 verschiedene Gesprächskreise bildeten, um unter den Bedingungen nicht mehr funktionierender alter Strukturen und noch nicht existenter neuer Strukturen Erfahrungen auszutauschen und Interessen zu vertreten. Aus diesen Zusammenhängen sind eigene wirtschaftspolitische Interessenorganisationen entstanden -aber keine Arbeitgeberverbände. 1. Übertragung und Aufbau von Arbeitgeberverbänden Da es keinen eigenständigen ostdeutschen Arbeitgeberverband gab, brauchten sich die westdeutschen Arbeitgeberverbände -im Gegensatz zu den Gewerkschaften -nicht damit zu befassen, wie man mit bereits existierenden Strukturen, Ressourcen und Funktionären umgehen soll. Zudem stand auch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit ehemaligen ostdeutschen Managern und Funktionären zu keinem Zeitpunkt ernsthaft auf der Tagesordnung. Ein Problem war eher die von Anfang an vorhandene „marktradikale“ Infrage-stellung des Einigungsprozesses, die zwar keinen relevanten Einfluß auf die Strukturentscheidungen des Einigungsprozesses ausübte; gleichwohl wirkten die Optionen für ein ostdeutsches „Niedriglohngebiet“ und der Verzicht auf die Bildung von Arbeitgeberverbänden als permanente subkutane Infragestellung des realen Einigungsprozesses, seiner Träger und Instrumente.

Gesamtmetall, der westdeutsche Dachverband der Arbeitgeberverbände der Metall-und Elektrobranche, baute sich in Berlin ein Büro auf, um eigene Schritte vor Ort unternehmen zu können. Gesteuert wurden diese Aktivitäten vor allem durch den Hauptgeschäftsführer von Gesamt-metall und einem aus fünf regionalen Hauptgeschäftsführern bestehenden Gremium. Deren Entscheidung für rechtlich eigenständige Regionalverbände entlang der neuen Ländergrenzen implizierte, daß der Aufbau der fünf regionalen Arbeitgeberverbände in allen entscheidenden Schritten mit Gesamtmetall abgestimmt und finanziell sowie personell von den regionalen Arbeitgeberverbänden Westdeutschlands nach dem Patenschaftsprinzip organisiert werden sollte. Die westdeutschen Verbände reagierten damit einerseits auf weitreichende Forderungen der Gewerkschaften (Gewerkschaftsgesetz, Rationalisierungsschutz, Mitbestimmung etc.) und andererseits auf die Naherwartung einer integrierten Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion.

Eine wichtige Hilfestellung für den konkreten Aufbau ostdeutscher Arbeitgeberverbände in der Metall-und Elektroindustrie ging von Vertretern des Ministeriums für Maschinenbau der DDR aus. Durch deren Mitarbeit konnte ein leichter Zugang zu den Betrieben gefunden und die Basis für einen schnellen Verbändeaufbau mit hohen Mitglieder-zahlen gelegt werden. Zu den Gründungsmitgliedern zählten vornehmlich Kombinatsdirektoren und einige wenige Kleinunternehmer, die die DDR-Zeiten überstanden hatten. Die gewählten Vorsitzenden kamen in der Regel aus den Reihen dieser ostdeutschen Wirtschaftskader oder der Eigentümer bzw. Unternehmer.

Neben den Funktionären ostdeutscher Herkunft leisteten westdeutsche Verbandsvertreter, die vom „Patenschaftsverband“ für einen gewissen Zeitraum nach Ostdeutschland abgeordnet wurden, den wesentlichen Beitrag zum Verbandsaufbau. Außer Zweifel steht, daß durch die von westdeutscher Seite vorgenommene Personalauswahl sichergestellt wurde, daß westdeutsche und nicht ostdeutsche Problemdefinitionen und Deutungen handlungsbestimmend wurden. Dies war aus der Sicht der westdeutschen Arbeitgeberverbände auch deshalb von großer Bedeutung, weil die ostdeutschen Arbeitgeberfunktionäre anfangs noch keineswegs über die „richtigen“ funktionsgemäßen Auffassungen verfügten.

In der ersten Phase des Verbändeaufbaus wirkte die Dominanz ehemaliger Kombinats-und Betriebsdirektoren in den verbandlichen Führungsgremien positiv, um die Arbeitgeberverbände schnell und effizient zu organisieren. Die westdeutschen Aufbaustrategen ignorierten deshalb auch die politische Vergangenheit der neuen Verbandsvertreter. Es wirkte sich allerdings späterhin belastend aus, daß einige der ehemaligen SED-Wirtschaftskader als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurden und infolgedessen auch ihre Verbandsfunktionen aufgeben mußten. Die in den Arbeitgeberverbänden tätigen ostdeutschen Funktionäre sind meist Ingenieure oder Betriebswirte, die zuvor in den volkseigenen Kombinaten, Betrieben oder an einer Universität der DDR gearbeitet hatten Um sie schnell an das westdeutsche Wissens-und Handlungsniveau heranzuführen, wurden entsprechende Schulungsprogramme organisiert. Für den schnellen Verbändeaufbau waren nicht nur personelle, sondern auch strukturelle Fragen zu klären, wie etwa das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-und Wirtschaftsverband: Präferiert wurde seitens der Steuerungsgremien, daß die Arbeitgeberverbände der Metall-und Elektroindustrie, als die ressourcenstärksten Arbeitgeber-verbände, zugleich die Leitung der regionalen Ländervertretungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) in Personalunion wahrnehmen sollten Damit sollte einerseits die Führungsrolle der Metall-und Elektroverbände unterstrichen werden, andererseits hoffte man so eine bessere Integration von Arbeitsmarkt-und Gütermarktinteressenvertretung zu erreichen als in Westdeutschland. In Ostdeutschland konnte diese Integration in allen Ländern mit Ausnahme Sachsens verwirklicht werden, wo die Landesvertretung des Verbandes der Deutschen Maschinen-und Anlagenbauer (VDMA), dies aus organisationspolitischen Gründen verhinderte und selbst die BDI-Landesvertretung stellt. Der VDMA kritisierte bereits 1990/91 die von den Metallarbeitgeberverbänden mitgetragene Stufentarifvertragspolitik. 2. Binnendifferenzierung Im Zeitraum vom Frühjahr 1990 bis Anfang 1992 konnten die meisten ostdeutschen Verbände einen stetigen Mitgliederzuwachs verzeichnen. Zurückzuführen ist dies nicht nur auf die Kontakte zur SED-Wirtschaftselite und auf die Unterstützung der westdeutschen Patenverbände, sondern auch darauf, daß vor allem die Treuhandanstalt und die Gewerkschaften auf den Eintritt der Unternehmen in den Arbeitgeberverband drängten. Der Unternehmensorganisationsgrad der ostdeutschen Metallarbeitgeberverbände sank dann jedoch in den drei Jahren von 1992 bis 1994 von 60, 1 auf 35, 7 Prozent. Dagegen blieb der Beschäftigtenorganisationsgrad relativ stabil: In den fünf ostdeutschen Tarifregionen wurde 1991 ein Beschäftigtenorganisationsgrad von 53, 8 Prozent erreicht, der in den beiden folgenden Jahren sogar anstieg (61 Prozent) und 1994 wieder auf 56, 8 Prozent sank. Wie auch in anderen Untersuchungen bestätigt wird, sind die wenigen Großbetriebe mehrheitlich verbandlich organisiert, und der schwache Unternehmensorganisationsgrad geht primär auf das Konto der vielen kleinen nichtorganisierten Betriebe

In der öffentlichen Debatte über die Entwicklung der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland wird immer wieder der Eindruck erweckt, daß die Erosion des Flächentarifvertrages vor allem durch die Zunahme von Verbandsaustritten forciert werde. In einer eigenen Studie die sich mit den Bedingungen und Wirkungen von 73 Betrieben befaßt, die in Sachsen zwischen 1991 und 1995 dem VSME den Rücken gekehrt haben, konnte diese These nicht verifiziert werden: Zwischen 1992 und 1994 reduzierte sich die Zahl der Mitgliedschaftsbeschäftigten beim VSME um 102 445 oder 66 Prozent; davon entfällt lediglich ein Anteil von 9 Prozent (9 612 Beschäftigte) auf die Austrittsbetriebe. Schaut man sich nun an, welche Betriebe unter welchen Bedingungen ihre Verbandsmitgliedschaft aufgegeben haben, so fällt zudem auf, daß es nur wenige „echte Austritte“ gibt: 74 Prozent der in Ostdeutschland erfaßten Austrittsbetriebe haben den Privatisierungsprozeß genutzt, um anschließend nicht wieder in den Arbeitgeberverband einzutreten. Bei den nicht wiedereingetretenen Betrieben handelt es sich vor allem um Kleinbetriebe mit bis zu 100 Beschäftigten. Die seit 1992 zurückgehende Bereitschaft, sich verbandlich zu organisieren, und die großen Schwierigkeiten, eine engere Mitgliederbindung herzustellen, können vor allem auf zwei Ursachen zurückgeführt werden: 7. Auf den Stabilitätskompromiß der ersten Transformationsphase: Der schnelle Organisationserfolg drückte kaum mehr aus als den temporären Kompromiß zwischen Teilen der SED-Wirtschaftselite, westdeutschen Arbeitgeberfunktionären, staatlichen Steuerungsinstanzen, insbesondere der Treuhandanstalt, und einigen wenigen westdeutschen und noch weniger ostdeutschen Unternehmen. Diese Rekrutierung „von oben“, zu der auch die Gewerkschaften ihren Beitrag geleistet haben, gelangte schnell an ihre Grenzen. Zwar nahm die Zahl der potentiellen Mitglieder zwischen 1990 und 1995 im Zuge von Neugründungen, Ausgründungen und Unternehmensaufspaltungen enorm zu, doch wirkte sich dies nicht positiv auf die Mitgliederstatistik aus. Statt dessen eröffnete der Rückzug der Treuhandanstalt und die Gelegenheit des Privatisierungsprozesses Raum für verbands-ungebundenes Handeln. 2. Auf den Wahrnehmungs-und Interessenwandel im Kontext der Standortdebatte: Aus der Interessenperspektive der Mitglieder war der Arbeitgeberverband zunächst ein Instrument, um die Unsicherheit beim Übergang von der Plan-zur Marktwirtschaft zu reduzieren. Vom Arbeitgeber-verband erwartete man sich konkrete Hilfestellungen im Transformationsprozeß. In dem Maße, wie der Privatisierungsprozeß unter der Obhut der Treuhandanstalt voranschritt, veränderte sich aber auch die Interessenlage der nun mehrheitlich privatisierten Betriebe. Die wichtigsten ordnungspolitischen Strukturfragen waren geklärt, so daß sich die Wahrnehmung sukzessive auf die Lohnfrage kaprizierte. Vor diesem Hintergrund waren es vor allem neu-bzw. ausgegründete Unternehmen, die nicht in den Arbeitgeberverband eintraten. Darunter befanden sich auch solche, die einem Konzern angehören, der Mitglied im westdeutschen Arbeitgeberverband ist. Für den Arbeitgeberverband bedeutete der im Rahmen der Privatisierung stattfindende Perspektiven-und Personenwechsel einerseits einen Verlust an Mitgliedern, andererseits eine forcierte Differenzierung der Rest-Mitgliedschaft.

IV. Aufbau-und Verpflichtungsstrategien: Lernprozesse von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften

1. Aufbaustrategie Prägend für die exogene Transformation war, daß es nicht nur einen politisch wirksamen Konsens der westdeutschen Verbandsspitzen von IG Metall und Gesamtmetall über den normativ-institutionellen Bereich (Flächentarifvertrag, Hochlohnstrategie, Tarifautonomie und Korporatismus) gab, sondern auch über die Einschätzung aktueller Problemlagen. Zu letzterem gehörte vor allem, daß die Tarifpolitik einen Beitrag leisten soll, um die Arbeitskräfteabwanderung von Ost-nach Westdeutschland zu bremsen und um den Unternehmen Planungssicherheit zu geben.

Mit der Existenz einer quasi Konkurrenzorganisation war die Integrationspolitik auf Seiten der Gewerkschaften ungleich schwieriger als auf Arbeitgeberseite, welche die Starthilfe eines Teiles der DDR-Wirtschaftselite in offensiver Weise nutzte. Diese Starthilfe war ambivalent: Einerseits bildete sie die Voraussetzung für schnellen Organisationsaufbau und großen Mitgliederzulauf. Andererseits versprach die damit gelegte Basis nur für eine kurze Phase Effizienz und Legitimation. Darüber hinaus war ihre Wirkung gegenläufig. In dem Maße, wie ökonomische Krisenprozesse und die Ausdifferenzierung der ostdeutschen Industrie-und Unternehmerlandschaft voranschritten, wirkten die politischen Kompromisse der ersten Transformationsphase als Hindernis für kollektives ökonomisches Interessehandeln und damit auch für die Verbandslegitimation. Ursächlich dafür war jedoch weniger eine personelle Vertretungslücke in der ersten Stunde, sondern die sich im Zeitverlauf verändernden ökonomischen und politischen Problemlagen sowie deren Wahrnehmung. Ging es in der ersten Phase um eine soziale Flankierung für den staatlich organisierten Einigungsprozeß, so stand spätestens seit dem Sommer 1991 die im Kontext der Tristesse der DDR-Ökonomie favorisierte Infragestellung des deutschen Modells industrieller Beziehungen auf der politischen Agenda der deutschen Unternehmer. 2. Verpflichtungsfähigkeit Die Rekrutierungserfolge der Tarifparteien in der ersten Transformationsphase basierten primär auf bestimmten Erwartungshaltungen im Kontext unklarer Rollendefinitionen und unsicherer Entwicklungsperspektiven. In dem Maße, wie diese Erwartungen durch eine sich schnell wandelnde politisch-ökonomische Konstellation enttäuscht wurden, begrenzten sich nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der verbandlichen Akteure, damit waren auch neue Handlungsoptionen notwendig, die allerdings durch die vorhandene „Startprogrammierung“ strukturell begrenzt wurden.

Die Arbeitgeberverbände suchten ihre Mitglieder-bindung dadurch zu verbessern, daß sie am 18. Februar 1993 den Stufentarifvertrag aufkündigten. Mit diesem Schritt distanzierten sie sich von dem politischen Angleichungsversprechen der Tarifpolitik, forderten eine Neujustierung des Angleichungsfahrplanes und hofften damit zumindest eine Kostensenkung zu erzielen. Zudem sollte über Ostdeutschland der Druck auf die Veränderung der westdeutschen Tarifpolitik verstärkt werden, vor allem um das Verhältnis zwischen betrieblicher Ebene und Flächentarifvertrag neu zu justieren. Dadurch, daß Gesamtmetall den Aufbaukonsens und Einigungskompromiß in Frage stellte, die IG Metall in die Rolle des Verteidigers von Stufen-und Flächentarifvertrag drängte, polarisierten sich die Beziehungen zwischen beiden Verbänden. Kulminationspunkt dieser Spannungen wurde der in Sachsen ausgetragene Streik (3. bis 14. Mai 1993), mit dem die IG Metall zeigte, daß sie die Beschäftigten zu einem geschlossenen Vorgehen gegen die Angriffe der Arbeitgeber mobilisieren kann. Einerseits trug dies dazu bei, Rollendifferenzierung und Funktionsweise des deutschen Modells industrieller Beziehungen nachhaltig ins Bewußtsein der betroffenen Mitgliedergruppen zu rücken. Andererseits wurde in diesem Konflikt auch sichtbar, daß die Deutungen, Instrumente und Interessenlagen der westdeutschen Akteure dominierten

Tarifflucht, Nichteintritt und Verbandsflucht werden nach den vorliegenden Untersuchungen in Ostdeutschland häufiger praktiziert als in Westdeutschland. Dabei sind die Kräfte, die zur Legitimationskrise des Flächentarifvertrages und zur Verpflichtungskrise der ostdeutschen Arbeitgeberverbände beitragen, keineswegs nur auf Kostenaspekte zu reduzieren. Auch wenn es zutreffend sein sollte, daß die ostdeutschen Tariflöhne, anders als die westdeutschen, den Charakter von „Obergrenzen dafür haben, was die Arbeitgeber zu zahlen bereit oder in der Lage sind“ ist dies noch keine hinreichende Erklärung der Krise. Vielmehr deutet die geringe Zahl von Härtefallregelungen darauf hin daß Kostenprobleme erst in Kombination mit anderen Faktoren zur Grundlage für tarif-und verbandsabstinentes Verhalten werden.

Zwar sind auch in Ostdeutschland die Großbetriebe mehrheitlich verbandlich organisiert und halten sich an Tarifverträge oder zahlen in einzelnen Fällen sogar deutlich mehr. Doch anders als in Westdeutschland geht von ihnen keine verbands-politische Sogwirkung aus. Statt dessen wirken einzelne bedeutende Großunternehmen, wie etwa Jenoptik, durch öffentlichkeitswirksam arrangierten Verbandsaustritt als Katalysator für verbands-feindliches Verhalten. Sie tragen somit dazu bei, daß der Eindruck erweckt wird, als müßten nur die Verbände geschwächt werden, um die Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern. Diese Debatte, die publizistisch vor allem vom Kieler Weltwirtschaftsinstitut und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung forciert wird, erinnert in manchen Facetten an die Verbändestaatsdebatte der fünfziger Jahre Sicher ist, daß in einer Situation, in der Verbände und Mindestnormen nicht als Förderer, sondern als Verhinderer wirtschaftlichen Erfolges betrachtet werden, besondere Aktivitäten notwendig sind, um eine soziale Regulierungsperspektive überhaupt sichtbar zu machen. 3. Perspektive Die Arbeitgeberverbände sind von West nach Ost übertragen worden, ohne daß dort die entsprechenden Voraussetzungen existierten: Einerseits gab es in Ostdeutschland keine eigenständige Unternehmerschicht mit entsprechender Einstellung zur verbandlichen Arbeit. Eine gewisse Fremdheit der Verbände resultiert vermutlich auch daher, daß es aus der Sicht der ostdeutschen Unternehmer fremde, vom Westen geschickte Funktionäre waren, die am „grünen Tische“ abseits der Basis -die Interessen der ostdeutschen Arbeitgeber vertreten. Andererseits versuchten einige westdeutsche Unternehmen den Osten als „Experimentierfeld“ für nichtverbandsgebundenes Handeln zu nutzen.

Die Implementierung funktionsfähiger industrieller Beziehungen in der ostdeutschen Metall-und Elektroindustrie wird jedoch nicht nur dadurch belastet, daß es sich um einen Prozeß der exogenen Transformation handelt. Noch problematischer sind die strukturkonservativen Reaktionen auf die weltmarktinduzierte Strukturkrise des deutschen Modells. Die am westdeutschen „Lohnniveau“ orientierte ostdeutsche Tarifpolitik wird bisher vor allem als Hemmnis für die ökonomische Entwicklung der ostdeutschen Industrie thematisiert. Dagegen wird ihre innovative Funktion als , Produktivitätspeitsche ignoriert und damit auch der von ihr ausgehende Zwang zu Rationalisierung und Innovation. Bisher hat sich bei den ostdeutschen Firmen noch kein Verständnis für die positive Wirkung der Tarifpolitik entwickelt; gleichzeitig nimmt in Westdeutschland die Bereitschaft ab, sich an den vorhandenen tarifpolitischen Strukturen zu orientieren. Die industriellen Beziehungen in Ostdeutschland haben sich in einigen Feldern bereits jetzt so entwickelt, wie es zukünftig auch für Westdeutschland denkbar ist: einerseits das Fehlen von Großbetrieben, die eine positive Sogwirkung zugunsten des Flächentarifvertrages entfalten; andererseits eine große Zahl von kleinen und mittelgroßen Betrieben, die in ihrer Interessenlage sehr heterogen sind. Die Mehrzahl dieser Firmen ist sowohl für Gewerkschaften als auch für Arbeitgeberverbände schwer zu gewinnen. Zur Zeit leidet das Austauschsystem an Legitimationsschwäche und Verpflichtungskraft; es wird stärker unterlaufen und ignoriert als je zuvor in Westdeutschland.

Der im Sommer 1996 zwischen dem VSME und dem Christlichen Gewerkschaftsbund abgeschlossene Flächentarifvertrag weist zudem darauf hin, daß sogar längst überwunden geglaubte konkurrenzgewerkschaftliche Entwicklungsperspektiven wieder eine größere Bedeutung gewinnen können.

Für die Revitalisierung der Gestaltungskraft des Flächentarifvertrages wird es möglicherweise von entscheidender Bedeutung sein, ob der Fläc rifvertrag zukünftig besser in der Lage ist, de zifischen Sonderbedingungen einzelner Bra Rechnung zu tragen, ohne seine Funktion ir zen von Mindestnormen zu gefährden. Nac am 1. Juli 1996 die formale 100-Prozent-A chung des Stufentarifvertrages erreicht word muß nun auch ein konzeptionell neuer A unternommen werden, um die Legitimatio Flächentarifvertrages zu verbessern. Andei wird die Tarifpolitik nur noch die konsolid Stammbelegschaften in den prosperier, Großbetrieben sowie in einer zunehmend ge werdenden Zahl von Klein-und Mittelbeti erreichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. ausführlicher zu diesem Thema Joachim Bergmann/Rudi Schmidt (Hrsg.), Industrielle Beziehungen. Institutionalisierung und Praxis unter Krisenbedingungen, Opladen 1996.

  2. In diesem Sinne unterschrieben die Vorsitzenden beider Organisationen am 6. Dezember 1989 ein Sofortprogramm, in dem Hilfen (bspw. Schulungen, Trainerprogramme für ostdeutsche Funktionäre) für den Aufbau einer freien und unabhängigen Metallgewerkschaft in der DDR angeboten wurden. Hinter diesem Vorgehen stand die auch in der Politik vorherrschende mittelfristige Perspektive einer Konföderation.

  3. Vgl. Jutta Roitsch, Schwierige Annäherung -feindliche Übernahme, in: Frankfurter Rundschau vom 25. 5. 1990, S. 3.

  4. Auf dem außerordentlichen IG-Metall-Kongreß (November 1990) wurde vereinbart, den Vorstand um sechs ostdeutsche Mitglieder zu erweitern und in anderen Gremien ebenfalls den neu hinzugekommenen ostdeutschen Mitgliedern Rechnung zu tragen.

  5. Die IG Chemie hat rund 130 FDGB-Funktionäre Übernommen.

  6. Vgl. Klaus Lang, Tarifpolitik im Spannungsfeld zwischen Angleichung der Lebensverhältnisse und ökonomischen Möglichkeiten, in: Rudolf Hickel/Ernst-Ulrich Huster/Heribert Kohl (Hrsg.), Umverteilen. Schritte zur sozialen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, Köln 1993, S. 156 — 173.

  7. Heidrun Abromeit, Die „Vertretungslücke". Probleme im neuen deutschen Bundesstaat, in: Gegenwartskunde. Gesellschaft, Staat, Erziehung, 42 (1993) 3, S. 281-292.

  8. Mit Ausnahme einer Verwaltungsstelle standen an der Spitze aller neu geschaffenen Verwaltungsstellen zunächst ausschließlich westdeutsche Funktionäre. Anders sah die Zusammensetzung des Personals auf der Ebene der 2. Bevollmächtigten und bei den übrigen politischen administrativen Kräften aus. Dort dominierten Personen ostdeutscher Herkunft; allerdings war auch unter ihnen nur ein kleiner Teil, der bereits für den FDGB gearbeitet hatte. Für die weitere Konsolidierung des Organisationsaufbaus ist cs wichtig, daß an die Stelle westdeutscher Funktionäre sukzessive ostdeutsche Vertreter rücken, um die Organisation besser in der neuen Umgebung zu verankern.

  9. Wilfried Ettl/Helmut Wiesenthal, Tarifautonomie in deindustrialisiertem Gelände. Analyse eines Institutionstransfers im Prozeß der deutschen Einheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46 (1994) 3, S. 425-452.

  10. Vgl. IG-Metall-Mitgliederstatistik vom 31. Dezember 1995.

  11. Vgl. Helmut Martens, Organisatorisch konsolidiert -institutionell nicht gefestigt. Gewerkschaftlicher Organisationsaufbau und Mitbestimmung in Ostdeutschland -eine Zwischenbilanz nach fünf Jahren, Sozialforschungsstelle Dortmund Landesinstitut, Dortmund 1995, S. 19.

  12. Vgl. Burkard Ruppert, Transformation betrieblicher Interessenvertretung im Übergang von der DDR zur Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1996.

  13. Dagegen handelt es sich bei den hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären in den Verwaltungsstellen meist um ehemalige Facharbeiter.

  14. Nahezu synchron erfolgten in den Monaten März/April 1990 Gründungsversammlungen der Regionalverbände Brandenburg, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen,

  15. Wenn sic parteipolitisch gebunden waren, dann entweder als LDPD-oder SED-Mitglied.

  16. Vgl. Fred Henneberger, Transferstart: Organisationsdynamik und Strukturkonservatismus westdeutscher Unternehmerverbände -aktuelle Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung des Aufbauprozesses in Sachsen und Thüringen, in: Politische Vierteljahresschrift, 34 (1993), S. 640-673.

  17. Mit dieser Kennziffer wird festgehalten, wie viele Beschäftigte durch die Verbandsmitgliedschaft der Unternehmen vom FJächentarifvertrag erfaßt werden.

  18. Vgl. Wilfried Ettl/Andre Heikenroth, Strukturwandel, Verbandsabstinenz, Tarifflucht: Zur Lage der Unternehmen und Arbeitgeberverbände im ostdeutschen verarbeitenden Gewerbe, in: Industrielle Beziehungen, 3 (1996) 2.

  19. Vgl. Wolfgang Schroeder/Burkard Ruppert, Austritte aus Arbeitgeberverbänden, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 40 (1993) 6, S. 485-488.

  20. Etwa 32 Prozent der in den ostdeutschen M + E (Metall-und Elektroindustrie) -Arbeitgeberverbänden organisierten Beschäftigten arbeiten in sächsischen Betrieben (1995).

  21. Verband der sächsischen Metall-und Elektroindustrie.

  22. Diese These wird an den Konflikten zwischen führenden Vertretern des VSME und Gesamtmetall exemplarisch nachvollziehbar. Aber auch für die IG Metall ergaben sich aus der Streikmobilisierung vom Frühjahr 1993 und mit dem erreichten Abwehrerfolg nicht die erhofften Bindeeffekte gegenüber den Beschäftigten.

  23. Wolfgang Scheremt, Tarifflucht in Ostdeutschland: Ausstieg aus dem Lohnverhandlungsmodell der Bundesrepublik Deutschland, in: Beihefte der Konjunkturpolitik. Zeitschrift für angewandte Wirtschaftspolitik, Heft 43, Wege aus der Arbeitslosigkeit, Berlin 1995, S. 135-169.

  24. Im Zeitraum Mai 1993 bis 31. Dezember 1996 sind 167 Härtefallanträge gestellt worden; in 81 Fällen (48 Prozent) haben die Tarifparteien dem Anliegen der Antragsteller entsprochen und einer Unterschreitung des Tarifniveaus zugestimmt.

  25. Vgl. Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände, Stuttgart 1955.

Weitere Inhalte

Wolfgang Schroeder, Dr. rer. soc., geb. 1960; 1987-1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main; seit 1991 Referent für Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall. Veröffentlichungen u. a.: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft. Der Streit um den DGB und der Niedergang des Sozialkatholizismus in der Bundesrepublik bis 1960, Bonn 1992; (zus. mit Wolfgang Kowalsky) Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1994.