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Zwischen Integration und Dissoziation: Türkische Medienkultur in Deutschland | APuZ 44-45/1996 | bpb.de

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APuZ 44-45/1996 Flucht, Vertreibung, Migration 1945-1995. Zur Problematik von Zuwanderung und Integration Internationale Migration Herausforderung für eine Antidiskriminierungspolitik Probleme der Zuwanderung am Beispiel Bremens Zwischen Integration und Dissoziation: Türkische Medienkultur in Deutschland Artikel 1

Zwischen Integration und Dissoziation: Türkische Medienkultur in Deutschland

Jörg Becker

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit und quasi hinter dem Rücken der deutschen Medienpolitik gibt es seit langem eine türkische Medienkultur in Deutschland. Nach dem Aufbau eines türkischen Kinomarktes in den sechziger und siebziger Jahren und eines eigenen türkischen Videomarktes in den siebziger und achtziger Jahren gibt es seit Anfang der neunziger Jahre einen eigenen türkischen Fernsehmarkt. Die in Deutschland lebende türkische Bevölkerung sieht kaum noch deutsche TV-Programme. Statt dessen überwiegen in der Zuschauergunst -ermöglicht durch Satelliten-und Kabelfernsehen -Programme aus der Türkei. Auch in der Musik für jugendliche Türken in Deutschland zeigt sich ein neues Selbstbewußtsein. Hier gibt es im Rap Ausdrucksformen, die jenseits eines Kulturbruchs zwischen Deutschland auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite liegen. Der Verfasser plädiert dafür, solche eigenständigen Wege einer türkischen Medienkultur nicht als mediale Selbstisolation und als Ausdruck einer türkischen Parallelgesellschaft zu begreifen. Vielmehr gehe es hier um kulturelle Dissoziationselemente, die identitätsbildend seien. Insofern seien sie eine der Voraussetzungen für Integrationsfähigkeit und -Willigkeit.

I. Einleitung

Phasenmodell für das Verhältnis von Massenmedien zu türkischen Migranten

1946 formulierte Antoine de Saint-Exupery in seinem Buch „Der Kleine Prinz“ folgende Passage: „Ich habe ernsthafte Gründe zu glauben, daß der Planet, von dem der kleine Prinz kam, der Asteroid B 612 ist. Dieser Planet ist nur ein einziges Mal im Jahre 1909 von einem türkischen Astronomen im Fernrohr gesehen worden. Er hatte damals beim internationalen Astronomenkongreß einen großen Vortrag über seine Entdeckung gehalten. Aber niemand hatte ihm geglaubt, und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen. Die großen Eeute sind so. Zum Glückfür den Rufdes Planeten B 612 befahl ein türkischer Diktator seinem Volk bei Todesstrafe, nur noch europäische Kleider zu tragen. Der Astronom wiederholte seinen Vortrag im Jahr 1920 in einem sehr eleganten Anzug. Und diesmal gaben sie ihm alle recht."

In einem Essay über türkische Medienkultur in Deutschland sind diese Sätze Saint-Exuperys in mehrfacher Hinsicht ein nahezu idealer Ausgangspunkt, um die Vielfältigkeit verschiedener analytischer Dimensionen zu klären. Mit dem „türkischen Diktator“ meinte der Schriftsteller den türkischen Staatspräsidenten Kemal Atatürk, der seinem Land in den zwanziger Jahren eine Modernisierungspolitik nach westeuropäischem Muster verordnet hatte.

Die erste Dimension, die sich an diesem Zitat verdeutlichen läßt, ist die rigorose Medienzensur in der gegenwärtigen Türkei. Denn wegen Staatsbeleidigung ist „Der Kleine Prinz“ in der Türkei ein nach wie vor verbotenes Buch.

Auf eine zweite Dimension dieses Zitates macht der deutsch-türkische Autor Kemal Kurt aufmerksam. In seiner historisch angelegten Analyse von deutschen Vorurteilen gegenüber Türken argumentiert er anhand des Zitates von Saint-Exupery, daß den Türken ihre neue Kleidung nichts genutzt habe. Vorurteile seien hart wie Zement: „Der Westen sieht sie (die Türken) weiterhin aus tausendjährigen Augen.“ 2

Eine dritte Dimension läßt sich an Saint-Exuperys Bild vom Kleiderwechsel v

Eine dritte Dimension läßt sich an Saint-Exuperys Bild vom Kleiderwechsel verdeutlichen: Seine , naive 1 Vorstellung von einem diktatorischen Wechsel von alt nach neu war und ist in der wissenschaftlichen Fachdiskussion mit dem Konzept von Modernisierung verbunden. In der jüngeren Kommunikationswissenschaft gilt als Standardwerk solcher Modernisierungstheorien eine Studie von Daniel Lerner 1. Gestützt auf empirische Umfragedaten in den Jahren 1950/51 in Ländern des Nahen Ostens und insbesondere der Türkei war Lerner zu dem Ergebnis gekommen, daß intensiver Medienkontakt das beste Mittel sei, um traditionale in moderne Gesellschaften zu verwandeln. Die Türkei sei bereits in einem Stadium des Transits in die Moderne, und man müsse gerade dieses Land stützen, damit noch traditionalere Länder wie der Irak, der Libanon, Syrien usw.dem Vorbild der Türkei folgen würden.

Eine vierte Dimension muß darauf verweisen, daß Daniel Lerner in zweifacher Hinsicht von falschen Annahmen ausgegangen war: 1. Eine Sekundär-Analyse von Lerners empirischen Daten kann als gesichert nachweisen, daß diese schludrig und nicht-valide sind. Seine Arbeiten entstanden im übrigen als Auftragsarbeit für US-Geheimdienste und waren alles andere als interessensfrei Mit diesen Ergebnissen kann die gemeinhin als Säule der kommunikationswissenschaftlichen Modernisierungstheorie betrachtete Studie von Lerner als tot angesehen werden. 2. Falsch waren vor allem aber Lerners theoretische Annahmen über den Wechsel von der Tradition zur Moderne. Daß die traditionale Gesellschaft der Türkei sich eben nicht überlebt hat, sondern sich vielmehr vitalisiert, ahnt mancher wache Zeitgenosse. Islamismus, völkischer Nationalismus, Ethnisierung, kulturelles Revival, Fundamentalismus: Wie immer auch solche und andere Kürzel heißen, falsch ist die Vermutung, daß es bei solchen Phänomenenum eine Art plötzlichen Rückfall hinter die Modernisierungsreformen von Atatürk in den zwanziger Jahren gehe. Immer klarer wird statt dessen, daß der in der Türkei seit langem vorhandene Dualismus zwischen modernem (städtischem, westlichem, kapitalistischem) und traditionalem Sektor (agrarisch, islamisch, feudal) nicht nur uralt ist, sondern sich gerade durch die Reformen von Atatürk verschärft hat. Nur durch die Reformen von Atatürk und die dann nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Einbindung der Türkei in die Logik der Weltökonomie konnte sich diese gegenwärtig sich so scharf artikulierende Dualität zwischen westlichem Zivilisationsprojekt und islamischer Gesellschaftsstruktur herauskristallisieren. Innerhalb dieser sich zuspitzenden sogenannten strukturellen Heterogenität sind Verwestlichung und Islamismus verschiedene Ausdrucksformen einer gemeinsamen Moderne

Diese türkische Moderne wird kulturpolitisch, wie überall sonst auch, durch eine anglo-amerikanisehe Internationalisierung von Informations-und Kommunikationsstrukturen überlagert. Spezifisch sind solche Prozesse von medialer Kultur(politik) für die Türkei da, wo sie von vielfältigen und z. T.sehr komplexen Feedback-Prozessen zwischen dem Mutterland und den zwei Millionen türkischen Migranten in Deutschland geprägt werden.

II. Türkisches Fernsehen in Deutschland

Seinem gesetzlichen Integrationsauftrag entsprechend hat sich die ARD in speziellen Hörfunksendungen seit Anfang der sechziger Jahre an die ausländischen Arbeitsmigranten gewandt. Inhaltlich waren und sind diese Hörfunksendungen verschiedenartigen Wandlungen ausgesetzt: Informationen über Deutschland für die Ausländer, Ratgeber-Hinweise, Unterhaltung und Brückenschlag zwischen den Kulturen. Eine gemeinsame Kommission von ARD und ZDF kam 1985 u. a. zu folgendem Ergebnis: „Es zeigt sich, daß die speziellen Ausländersendungen von den Ausländern hoch eingeschätzt werden, in der Nutzung Spitzenwerte aufweisen und vom Bedarf her noch ausgeweitet werden können. Es zeigt sich außerdem, daß man der Medienfunktion . Brücke zur Heimat 1 bei den Ausländersendungen höhere Aufmerksamkeit widmen sollte als der Funktion der Hilfe und

Information bei der Orientierung im Alltagsleben in der Bundesrepublik.“

In der Sprache modernisierungstheoretischer Diskussionen zeigt dieses doppelte Ergebnis der ARD/ZDF-Kommission sowohl in Richtung Integration als auch in Richtung Dissoziation. Einerseits gibt es seitens der Arbeitsmigranten ein Bedürfnis nach Informationen über das Gastland und den dazugehörigen Wunsch nach Teilhabe (Integration), andererseits sehnt man sich in eigener Sprache und eigenem kulturell-symbolischen Umfeld nach Heimat, ohne daß deutsche Zuhörer dieses gleiche Bedürfnis auch haben könnten (Dissoziation). Soziologisch gesprochen reagieren die Medienrezipienten damit so, wie es ihnen alle Medien vorgeben: mit Teilhabe oder mit Exklusion. Medien sind insofern auch jenseits aller kognitiven Funktionen stets identitätsvermittelnd: Wenn du und deine soziale Gruppe mitmachen (rezipieren), dann gehört ihr dazu und seid integriert, wenn nicht, dann seid ihr draußen.

Als die Ausländerkommission von ARD und ZDF zu diesem Ergebnis kam, hatte sich -quasi unter der Hand und hinter dem Rücken deutscher Medienpolitiker -die Medienversorgung gerade der türkischen Migranten schon drastisch verändert. Nach dem in der deutschen Öffentlichkeit nahezu unbemerkt gebliebenen Aufbau eines türkischen Kinomarktes mit türkischen Verleihfirmen in den sechziger und siebziger Jahren boomte dann in den siebziger und achtziger Jahren ein eigener türkischer Videomarkt; ein in sich geschlossener kleiner Nischenmarkt mit türkischer Produktion, türkischem Vertrieb und türkischer Rezeption. Die drei über diesen türkischen Video-markt vorhandenen Studien kommen einheitlich zum selben Ergebnis: „Das Hauptmotiv der massiven Videonutzung durch die türkische Bevölkerung, die den Videokonsum der deutschen Bevölkerung weit übertrifft, stellt der allgemeine Mangel an heimatsprachlichen Angeboten im bisherigen Mediensystem dar.“ 1990 war dann das Jahr, das die Dissoziation der türkischen Medienrezeption von den deutschen Massenmedien um einen weiteren Schritt verstärkte. In diesem Jahr gründete die türkische Rumeli-Holding die TV-Gesellschaft Magic Box mit dem TV-Unterhaltungskanal Star 1. Dieser TV-Kanal ging aus den Kabelpilotprojekt-Studios der im Besitz des Landes Rheinland-Pfalz befindlichen Anstalt für Kabelkommunikation (AKK) in Ludwigshafen über einen EUTELSAT-Satelliten auf Sendung. Zielpublikum waren allerdings nicht die rd. zwei Millionen in Deutschland lebenden Türken, sondern die damals zirka vier Millionen Türken in der Türkei, die über eine TV-Satellitenantenne verfügten.

Mit diesem von Deutschland aus operierenden TV-Satelliten wurde innerhalb der Türkei das Anfang der neunziger Jahre dort noch existierende staatliche Fernsehmonopol aufgebrochen. Was freilich als sehr bewußte Beeinflussung der inneren türkischen Medienpolitik von deutschem Boden aus geplant war, funktioniert inzwischen auch von der Türkei in Richtung Deutschland.

Wie aus verschiedenen Studien des Zentrums für Türkeistudien der Universität Essen hervorgeht kommt dem deutschen Fernsehen bei der türkischen Bevölkerung in Deutschland inzwischen nur noch eine marginale Funktion zu. Da die Verkabelungsdichte der türkischen Haushalte mit 57 Prozent über dem Bundesdurchschnitt von 34 Prozent liegt, ist die hohe TV-Nutzung von türkischen Fernsehprogrammen nicht verwunderlich. An erster Stelle in der Zuschauefgunst liegt der staatliche TV-Auslandssender TRT-International, der bundesweit in Kabelnetze eingespeist wird. TRT-International bietet Nachrichten, Musik-und Unterhaltungsshows, Filme und Serien aus der türkischen Heimat. Darüber hinaus werden große Programmteile in Deutschland produziert; sie machen bis zu 30 Prozent der Sendezeit aus. Der staatliche Charakter von TRT-International wurde im April 1995 mehr als deutlich, als in einer mehr als 56stündigen Sondersendung zu Spenden für den Militäreinsatz in der Türkei gegen Kurden im Nordirak und im Südosten der Türkei aufgerufen wurde Die Direktorenkonferenz der Landesme-dienanstalten mißbilligte besonders starke propagandistische Programmelemente dieser Sonder-sendung, verwies aber auf geltende europäische Übereinkommen bei grenzüberschreitendem Fernsehen, die rechtliche Schritte gegen die Sendung ausschlössen. Über Satellit können die in Deutschland lebenden Türken inzwischen auch gut die folgenden türkischen privaten TV-Programme empfangen: Inter Star (früher: Star 1), atv, Show TV, Kanal D und TGRT. Mit motorisierten TV-Satellitenantennen sind außerdem auch die privaten Sender Kanal 6 und HBB zu erhalten. Über Kabel oder Satellit kann türkisches Fernsehen inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, Belgien, den Niederlanden, Dänemark und London empfangen werden. In Frankreich wird die Einspeisung arabischer oder türkischer TV-Programme von dem dafür zuständigen Aufsichtsrat für audiovisuelle Medien (CSA) bislang nicht zugelassen, da fremdsprachige TV-Sendungen nach dem Gesetz zum Schutz der französischen Sprache verboten sind. Dafür boomen in Frankreich TV-Programme aus Ägypten, Marokko, Tunesien, Algerien oder das streng muslimische Fernsehen aus Pakistan, die man mit einer TV-Parabolantenne empfangen kann Mit dem Hinweis auf serbisches Fernsehen in Schweizer Kabel-anlagen oder auf einen saudiarabischen TV-Sender, der sogar von London aus produziert und sendet, soll hier nur angedeutet werden, daß es sich bei der Ethnisierung von Fernsehen nicht um ein isoliert deutsches, sondern um ein europaweites neues Phänomen handelt.

Für die Medienrezeption durch die türkische Bevölkerung in Deutschland läßt sich insbesondere anhand der Studien des Zentrums für Türkei-studien von folgenden Fakten und Daten ausgehen: 1. Für die türkische Bevölkerung gehört Fernsehen zur beliebtesten aller Freizeitbeschäftigungen. Türken sehen mehr fern als Deutsche. Gerade türkische Kinder (aber auch griechische Kinder gucken mehr Fernsehen als ihre deutschen Altersgenossen. 2. Auch die in Deutschland geborenen jungen Türken zwischen 14 und 19 Jahren bevorzugen TV-Programme in ihrer Muttersprache.3. Bei den deutschen TV-Sendern liegen die privaten Sender RTL und Pro Sieben in der türkischen Zuschauergunst weit vor der ARD oder dem ZDF. 4. Die Radionutzung ist bei der türkischen ungefähr halb so groß wie bei der deutschen Bevölkerung. 5. Zeitungen und erst recht Zeitschriften werden von den in Deutschland lebenden Türken weit weniger gelesen als bei den Deutschen. Bei den türkischen Tageszeitungen liegt die konservative „Hürriyet“ mit einer Auflagenhöhe von rd. HO 000 weit vor allen anderen Zeitungen. 6. In der Lokalkommunikation rangieren kostenlose (deutsche) Anzeigenblätter in der Beliebtheit vor lokalem Hörfunk und anderen Medien. 7. Zwei der privaten türkischen TV-Sender, die gut in Deutschland zu empfangen sind, haben eine deutlich konservative Ausrichtung. Der zur Ihlas-Holding gehörende Sender TRGT verfolgt eine gemäßigte religiöse Programmpolitik und ist nationalistisch ausgerichtet. Der Sender Kanal 7, erst seit kurzem über den Türksat-Satelliten empfang-bar, steht der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah-Partisi) nahe und ist stark religiös geprägt. Die addierte Auflagenhöhe aller konservativen türkischen Zeitungen in Deutschland ist bei weitem höher als die aller sozialdemokratisch oder politisch links orientierten Zeitungen. Diese redaktionellen Einordnungen müssen jedoch vor dem Hintergrund gesehen werden, daß die Rechtslinks-Polarisierungen unter der türkischen Bevölkerung in Deutschland im Vergleich zu den siebziger Jahren erheblich an Bedeutung verloren haben.

Jenseits einer Ethnisierung von Fernsehen durch die türkische Bevölkerung in Deutschland scheint es ein für das Fernsehen entscheidendes Moment zu geben, das sich diesem Trend entzieht. Bereits Bach konnte in ihrer Analyse der Mediennutzung von türkischen Jugendlichen für Anfang der achtziger Jahre feststellen, daß das (deutsche) Werbefernsehen mit seinen einfachen Botschaften über die Warenwelt auch türkischen Zuschauern über-kulturell und unmittelbar verständlich und einleuchtend ist

Die beiden von der Agentur Turkmedia vorgelegten Analysen über das Werbefernsehen und Konsumverhalten von Türken in Deutschland vermitteln ähnliche Erkenntnisse Vor dem Hintergrund von Maggi-und Miika-Spots (in Türkisch) in den TV-Sendungen von TRT-International räumten diese zwei Studien mit so manchem intellektuellen Vorurteil gegenüber den Türken auf. Während die türkische Bevölkerung der TV-Werbung wesentlich positiver gegenübersteht als die deutsche Bevölkerung, ist diese relativ homogene Zielgruppe von Werbespots den deutschen Konsumenten ähnlicher als vorher gedacht. Es handelt sich bei den Türken um eine konsumfreudige und vor allem kaufkräftige Bevölkerungsgruppe mit einem Marktvolumen von rd. 550 Mio. DM pro Monat im Jahre 1991 und bereits rd. 650 Mio. DM vier Jahre später.

Die Gleichheit zwischen Türken und Deutschen auf dem TV-Werbemarkt findet freilich dort immer noch ihre Grenze, wo es um genaue und mit den deutschen Sehgewohnheiten kompatible TV-Nutzungsdaten geht: Nach wie vor berücksichtigt das sogenannte tägliche Fernsehpanel der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) durch das damit von allen öffentlichen wie privaten TV-Sendern beauftragte Marktforschungsunternehmen GfK keine Ausländer. Zu teuer, meinen die einen, von ausschließlichem Vorteil für RTL, sagen die anderen. Würde nämlich die GfK auch das Fernsehverhalten der türkischen Bevölkerung täglich berücksichtigen, so würde das nach Insider-Schätzungen die Werbereichweiten und die danach berechneten Werbeeinnahmen bei RTL, dem deutschen TV-Günstling der türkischen Bevölkerung, um rd. zehn Prozent nach oben treiben.

Sowohl in der Realität als auch in der Aufmerksamkeit der Forschung haben sich in den letzten dreißig Jahren die Berührungspunkte zwischen den Massenmedien und türkischen Migranten verschoben. Das in der folgenden Tabelle wiedergegebene Phasenmodell zeigt die zeitliche Abfolge der verschiedenen Phasen, die daraus folgenden Konflikte und die in diesem Zusammenhang angebotenen Konfliktlösungsmodelle. Politisch und theoretisch steht hinter diesem Phasenmodell eine Entwicklung vom Gast über den Nachbarn zum Anderen. Dieses Modell spiegelt aber eher internationale als deutsche Tendenzen wider. Schon vor der bereits erwähnten ARD/ZDF-Studie über Massenmedien und Ausländer von 1985, in deren Mittelpunkt noch die sogenannten Gastarbeitersendungen standen, empfahl eine UNESCO-Konferenz den gleichberechtigten Zugang von Migranten zu den Massenmedien als Teil der Menschenrechte

III. Deutsch-türkische Rap-Musik

„Seit 10 Jahren sind wir da und machen Rap, auf türkisch, englisch, spanisch, deutsch, egal, o. k., jetzt wirst du es sehen“: So heißt es in einem der Songs der deutsch-türkischen Rap-Gruppe „Cartel“ von 1995 Rap ist ein Rezitationsgesang, dessen rhythmische Bässe und Schlagzeuglinien am Computer manipuliert werden; Live-Musik mit Dialogen zwischen Rappern und Tänzern in einer Disco; Musik der Ausgegrenzten, Diskriminierten und Underdogs. Das Geschichten-Erzählen in dieser Musik verbindet sie mit der Tradition der oralen Literatur in Westafrika, über die sie zu den schwarzen Amerikanern gelangte. Und von dort kam der Rap zu den deutschen Türken. „Klar, Bruder, daß die Bewegung überschwappte über den großen Teich und uns ergriff wie ’ne heiße Offenbarung.“ So sieht es ein Rapper der Kieler Gruppe „da crime posse“, die zusammen mit den Gruppen „Erci E.“ aus Berlin und „Karakan“ aus Nürnberg das Rap-Projekt „Cartel“ anfingen.

Die heute Mitte Zwanzigjährigen von „Cartel“ rappen seit zehn Jahren. Ihre Themen und Motive, ihre Wahrnehmungen und Werte sind also nicht eine spontane und schnelle Reaktion auf ausländerfeindliche Anschläge insbesondere im Jahr 1993 (wie manchmal geschrieben wird). Vielmehr geht es bei „Cartel“ um ein Lebensgefühl, wie es seit Anfang der achtziger Jahre bei den rd. 800 000 in Deutschland lebenden jungen Türken herangewachsen ist. Wenig interessiert hierbei die Frage, ob „Cartels“ Wahrnehmung denn realitätsgerecht sei; wichtiger ist es, zunächst einmal diese Wahrnehmungen genau kennenzulernen, zu hören, welche Geschichten diese Rapper zu erzählen haben.

Wenn der Verkauf einer CD von „Cartel“ inzwischen zum großen kommerziellen Erfolg geworden ist, wenn große deutsche Verlagshäuser inzwischen ein Geschäft mit türkischem Pop und türkischer Kultur-Power wittern, dann dürfte nach aller Erfahrung auch die folgende Überlegung nicht falsch sein: Wo sich die offizielle deutsche Kulturszene mit zeitlicher Verzögerung des deutsch-türkischen Undergrounds mit seinem neuen Lebensgefühl angenommen hat, da dürfte sich dieses in seiner Realität bereits weiter entwikkelt, wahrscheinlich weiter radikalisiert haben. Die heute zehnjährigen Deutsch-Türken, die mit „Cartel“ aufwachsen, werden in 15 Jahren über „Cartel“ hinausgehen wollen. „Cartel“ rapt über ein neues türkisches Selbstbewußtsein in Deutschland, singt über Diskriminierung, Angst und Widerstand, erzählt seinen jugendlichen Zuhörern Geschichten über das große Geld, die Straße und das Rauschgift, spricht über Verzweiflung, Gewalt und Visionen eines solidarischen Miteinander. „Turkish Power Boys“ heißt parallel dazu der Bericht über eine Gruppe türkischer Jugendlicher aus Frankfurt, und von türkischer Power singt „Cartel“: „An mir kommst du nicht vorbei, dann wirst du meine Power kennenlernen.“ Wie kamendie Frankfurter Jugendlichen auf diesen Namen für ihre Gruppe? „Bevor die Bande überhaupt gegründet wurde, stand der Name schon überall. Und das war halt ein cooler Name. Jeder konnte verstehen, was das heißt. Das war gut! Und , Power 4 heißt ja auch Stärke, Macht -die Macht heißt das. Damit die anderen auch den Namen verstehen. Wenn wir , Türk gücü‘ genommen hätten, das würden nur wir verstehen und kein anderer. Aber , 'Turkish Power' -das weiß jeder. Und jeder überlegt sich bei dem Namen , Power 4: Was steckt hinter den Jungs?"

Die Anklänge und Assoziationen an die Black-Power-Bewegung in den USA sind nicht zufällig; sie werden bewußt gesucht. Prägte der Schwarze Stokely Carmichael 1966 zum erstenmal den Begriff „Black Power“ und sekundierte ihm wenig später eine deutsche Literaturwissenschaftlerin mit dem Buchtitel „Onkel Tom verbrennt seine Hütte“ so rappen die „Turkish Power Boys“ aus dem deutschen Frankfurt der neunziger Jahre: „I’m not the black man I’m not the white man I’m just the type between them I’m a Turkish man in a foreign land.“

Anklänge an den Kampf der Afro-Amerikaner gibt es auch dort, wo „Cartel“ (in Englisch) rapt: „Here we have to fight against the KKK“ (also: Ku-Klux-Klan), wo die Gruppe davon spricht, in Deutschland zu „leben wie ein Sklave“, wo ihr politischer Gegner zum „devil“ wird (bei den jamaikanischen Rastas verkörpert „devil“ den Weißen schlechthin), wo sich das schwarze Wir-Gefühl sprachlich in einem steten Rekurs auf „brothers and sisters“, auf „Brüder und Schwestern“, ausdrückt. Sprachen Sozialwissenschaftler bereits in den siebziger Jahren von einer „Verniggerung der Gastarbeiterfrage“ und solidarisierte sich damals der schwarze Boxer Cassius Clay und zum Islam übergetretene Muhammed Ali in einer Rede auf der Frankfurter Buchmesse mit den türkischen „Gastarbeitern“ (im übrigen zum Entsetzen der deutschen Öffentlichkeit), so könnten damalige Vorahnungen heute real werden. Hatten Rassisten in den USA den verächtlich machenden Begriff vom „Nigger“ erfunden, so hatte die schwarze Bewegung den Spieß umgedreht. Stolz und bewußt nannten sich Schwarze nun selber so: „Black is beautiful!“ Und aus den deutschen Diskriminierungen der sechziger und siebziger Jahre („Spaghettifresser“, „Katzlmacher“) taucht der „Kanake“ der neunziger Jahre auf: Einst ein Etikett für die „blöden Kümmeltürken“ nennen sich Türken der dritten Generation nun stolz „Kanaken".

Dazu Feridun Zaimoglu im Vorwort zu seinem Buch „Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“: „Aber schon um einen Namen für seine Klientel ist man verlegen: , Gastarbeiterkind 4, ausländischer Mitbürger 4 oder eben doch Türke'? Der Volksmund weiß es besser: Er spricht vom , Kümmel 4 und , Kanaken 4. Den Kanaken schiebt man Sitten und Riten zu wie einen schwarzen Peter . .. Längst haben sie einen Untergrund-Kodex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die , Kanak-Sprak‘, eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen. Ihr Reden ist dem Free-Style-Sermon im Rap verwandt, dort wie hier spricht man aus einer Pose heraus. Diese Sprache entscheidet über die Existenz: Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten.“

Hatte einst der karibisch-algerische Psychiater und Freiheitskämpfer Frantz Fanon über die „Verdammten dieser Erde“ (1961) geschrieben, daß der Kolonialismus seine Opfer psychisch verstümmele, daß koloniale Kulturkonflikte seine entmenschlichten Objekte in schizoide Neurosen treibe und diese die Frage nach ihrer Identität nicht mehr beantworten könnten, so sind die überdurchschnittlich häufigen psychosomatischen Krankheiten bei farbigen Minderheiten oder bei ausländischen Arbeitern in Deutschland von medizinischer Seite inzwischen gut belegt. Besonders Hautkrankheiten sind der wörtliche zunehmende Ausdruck von Berührungsängsten mit dem anderen Genau an solchen Konflikten setzt „Cartel“an: „Angst erfüllt dich voll Schmerz und Pein“, „Depressionen -deinen Geist hast du zerstört“, „Langsam verliert er den Verstand“ -„Laß dir das von dem aus der Hölle kommenden wahnsinnigen Türken sagen“. Um solche psychosomatischen Zusammenhänge wissend, hatte Rainer Werner Fassbinder seinen Film über das Leben eines marrokanischen Migranten in Deutschland „Angst essen Seele auf“ genannt (1973/74). „Cartel" rapt über die Themen Drogen, Sex, Geld und Autos, über die Straße, die Skins, die Gewalt. „Mit einem 190er Mercedes fahre ich durch die Gegend“, so heißt es im Rap von „Cartel“ -„My Mercedes Is Bigger Than Yours“ variiert der nigerianische Schriftsteller Nkem Nwankwo das Thema einer Haß-Liebe gegenüber diesem PKW in seinem gleichnamigen Roman von 1975. Wo es einen diffusen politischen Affekt gegen „die da oben“ gibt, da nennt der Volksmund, wie im afrikanischen Suaheli, die schwarzen Neureichen nach ihrem Auto verächtlich „wa-benzi“, also Benzmänner. Und in Indien begegnet man dem besserwisserischen Ökologen aus Europa gerne mit folgendem Sprichwort: „Wer im Mercedes fährt, tut sich leicht, anderen Leuten zu sagen, Fahrrad fahren sei gesünder.“ So ist es nicht zufällig, daß der Mercedes das Statussymbol der in Deutschland lebenden Türken ist: Jeder fünfte der in Deutschland lebenden Türken fährt einen Mercedes. „Cartel“ rapt also neidvoll über den Mercedes -und der Daimler-Benz-Konzern zeigt in einem Fernsehspot des größten türkischen privaten TV-Anbieters in Berlin (TD 1) eine Dorfhochzeit in Anatolien mit Mercedes. „Geld, Geld, Geld“ heißt es bei „Cartel“ genauso aggressiv, neidisch und besitzergreifend -wie man sich auch darin einig ist, daß man sich selbst nicht gegen Geld verkaufen solle. Ganz das Gegenteil ist der Fall. „Cartel“ geht es um den „Arm der Gerechtigkeit“, um „Respekt“, um „Wahrheit“ und um den Kampf gegen „Lügen“. (Max Weber hätte seine Freude an dieser so reinen Gesinnungsethik.) „Cartels“ Gegner sind einerseits „Skins“, „Glatzköpfe“ und „Nazis“, andererseits einfach „die anderen, für die ihr dann wieder arbeiten müßt“, wenn man nicht aufhöre, sich gegenseitig zu bekämpfen. „Cartel“ beschreibt viel Gewalt, weil die eigene Lebenssituation so empfunden wird („Bomben explodieren“, „Worte sind so scharf wie ein Schwert“, „Blut fließt“, „Du besitzt jetzt ein Messer, und schon geht es dir besser“). „Cartel“ bietet eine lyrische Version von Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt an: „Das Ghetto machte aus dir ein brutales Schwein.“ Nie aber ist es eine moralische Billigung persönlicher Gewaltanwendung: „Hör auf, Gewalt anzuwenden, und laß kein Blut fließen, denkt nach, dann kommt ihr vielleicht selber drauf.“

Vielleicht das Bemerkenswerteste an diesen türkischen Rap-Songs ist der andauernde, nahezu anrührende moralische Appell an gemeinsames Handeln: „Zusammen werden wir die Ketten sprengen“, „Blutsbrüder -zusammen sind wir nicht zu schlagen“, „Wir alle halten sicher zusammen“, „Nur zusammen können wir nicht zerdrückt, isoliert oder geschlagen werden“, „brüderlich und in Freundschaft“, „going for my sisters, my brothers, my community“ und „Türken und Kurden sind Brüder und Schwestern“. Einerseits erscheinen diese Vorstellungen als seltsame Mischung aus Solidaritätskonzepten der Arbeiterbewegung mit christlicher Gemeinde und völkischnationalem Gemeinschaftsgefühl, andererseits könnten das vorschnelle Etiketten in einem auch dem Verfasser nicht näher bekannten kulturellen Code sein.

Nachdenklich muß in diesem Zusammenhang stimmen, was Hermann Tertilt in seiner ethnographischen Studie über die kriminelle türkische Jugendbande in Frankfurt gerade den türkischen Jungen attestiert: „Das Verhältnis der türkischen Jungen zueinander war außergewöhnlich innig. Die Jungen umarmten und küßten sich bei der Begrüßung. Wenn sie sich auf das Sofa des Jugend-treffs hinfläzten und Musik hörten, war es für sie selbstverständlich, einander in den Armen zu liegen, den Kopf des Freundes zu streicheln oder einfach nur seine Hand zu halten. Schon diese Beobachtungen zeigen, daß das Verständnis von Männlichkeit bei türkischen Jugendlichen keineswegs an deutschen Maßstäben zu messen ist.“

Zum Verständnis von „Cartel“ oder der Frankfurter Jugendclique „Turkish Power Boys“ tragen deutsche Maßstäbe kaum etwas bei; aber auch türkische Maßstäbe können falsch sein, z. B. dann, wenn man „Cartel“ vorwirft, kein einziger ihrer Sätze sei -gemessen an den Regeln der türkischen Grammatik -korrekt. Klagt der deutsch-türkische Autor Kemal Kurt noch über die „Crux mit der Sprache“, wenn er sagt: „Mit jedem Zungenbrecher bricht mir ein Wirbel, wie lange muß ich noch mit der Stimme eines anderen reden?“ so ist das nicht mehr das Problem der diesem Autor nachfolgenden Generation türkischer Migranten. „Cartel" ist unbekümmert-stolz auf sein „falsches“ Türkisch. Es ist eine neue Sprachform, dazugehörig zur Migrantensubkultur und nicht in Abweichung von der Hochsprache als Defizit im Verhältnis zu ihr zu sehen, sondern als etwas Eigenständiges. So wie der Brasilianer Ze do Rock verspielt-ironisch seine „ultradoitshen" Lebens-und Reiseerinnerungen unter dem Titel „fom winde ferfeelt" veröffentlichte so spricht der „Kanake“ seine eigene Sprache.

Einer der Jungen aus der „Turkish Power Boy" -Gruppe in Frankfurt zeichnet ein eindrucksvolles Bild seines Vaters in einem Gedicht. In diesen Zeilen scheitert der Vater am Gastland: „Eingestuft in deine Klasse, zerbröckelt dein Bild von dieser Welt, eingeschlossen in dir selbst, weinst du, Fremdlandheld.“

Die nun nachgewachsene neue Generation von deutschen Türken weint nicht mehr. „Ich bin, der ich bin“, sagt ein Berliner „Kanake“, und weiter: „Diese scheiße mit den zwei kulturen steht mir bis hier, was soll das, was bringt mir’n kluger schnack mit zwei feilen, auf denen mein arsch kein platz hat, ’n feil streck ich mir über’n leib, damit mir nich bange wird, aber unter’n arsch brauch ich verdammich bloß festen boden, wo ich kauer und ende.“ „Das Ende der Geduld“ Untertiteln Claus Leggewie und Zafer Senocak ihren Sammelband über deutsche Türken und „Cartel“ rapt: „Das Warten hat ein Ende, hier kommt die Message.“ Und jenseits der alten These von den zwei Kulturen und dem dazugehörigen Kulturschock verkündet „Cartel“: „DU BIST TÜRKE ... in Deutschland . . . Wir . . . zeigen, daß dieses Land auch unseres ist.“

Türkische Migrantenkinder aus Deutschland hatten Anfang/Mitte der siebziger Jahre erhebliche Identitätskonflikte, waren sie in Deutschland aufgewachsen und gingen sie dann in die Türkei zurück Auch diese Identitätskonflikte haben sich gewandelt. Einerseits nennen Türken die in Deutschland lebenden türkischen Migranten leicht verächtlich „Alemanci", d. h. „Deutschländer“, also die, die zu den Deutschen halten -andererseits war die Konzerttour von „Cartel“ in der Türkei 1995 ein derartig großer Erfolg, daß deren Song den von Michael Jackson als Nummer 1 der türkischen Hitliste verdrängte, ihre Lieder auf mehr als 350 000 Tonträgern verkauft wurden und daß gerade das Lied von den Türken in Deutschland in der ganzen Türkei bekannt wurde.

IV. Politische Gleichheit und kulturelle Differenz

In der Begegnung mit dem Fremden -und das ist insbesondere der von außerhalb Europas -haben die USA und die verschiedenen europäischen Länder sehr unterschiedliche Wege beschritten. In einer Länder vergleichenden Studie haben Bistolfi und Zabbal für Westeuropa drei verschiedene Modelle herausgearbeitet: 1. In Frankreich galt lange Zeit das Modell der Assimilation. Bei diesem Modell erwartet die dominante Kultur, daß der andere seine Besonderheiten aufgibt. 2. Im britischen und niederländischen Modell gibt es ein Beharren auf dem Respekt vor den Besonderheiten des anderen. In den Niederlanden ruht eine solche Vorstellung in der sowieso vorhandenen Theorie der Versäulung von Gesellschaft: Die gesamte Gesellschaft wird von nicht miteinander verbundenen Pfeilern gestützt. In Großbritannien sind solche Ideen Ausdruck eines historisch gewachsenen Toleranzbegriffs auch und gerade gegenüber den außereuropäischen Kulturen im früheren Commonwealth. 3. In Frankreich und anderen Ländern gilt inzwischen das Modell der Integration. Bei Anerkennung der Grundwerte der europäischen Gastgesellschaft soll sich der andere langsam und in einem Prozeß in die Gast-gesellschaft integrieren; es wird in diesem Modell eine kulturelle Vermischung angestrebt

Den niederländischen und englischen Vorstellungen am ehesten vergleichbar hat der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor einen anderen Weg vorgeschlagen. Er nennt ihn eine Strategie und Politik der Anerkennung: „Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von derVerkennung durch die anderen geprägt, so daß ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklich Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung'oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen ... So gesehen, zeugt Nicht-Anerkennung oder Verkennung des anderen nicht bloß von einem Mangel an gebührendem Respekt. Sie kann auch schmerzhafte Wunden hinterlassen, sie kann ihren Opfern einen lähmenden Selbsthaß aufbürden. Anerkennung ist nicht bloß Ausdruck von Höflichkeit, den wir den Menschen schuldig sind. Das Verlangen nach Anerkennung ist vielmehr ein menschliches Grundbedürfnis.“ Dieses menschliche Grundbedürfnis läßt sich freilich weder in unserer eigenen Rechtstradition ausschließlich individuell realisieren (man denke z. B. an den speziellen Schutz der Familie in Art. 6 GG als essentieller Bestandteil von Menschenrechten), noch erst recht in außereuropäischen Traditionen und Kulturen. Ein Menschenrecht auf muttersprachlichen Unterricht für jedes Kind auf dieser Erde läßt sich nicht individuell garantieren, sondern eben nur als Teil von Selbstbestimmungsrechten von Kollektiven, von Gruppen. Demgegenüber bleibt ein ausschließlich am Individuum orientierter „Rechte-Liberalismus“ differenzblind, da er kulturelle Eigenarten nur nach individualrechtlichen Maßstäben bemißt.

Mit solchen Überlegungen tauchen erhebliche politische Konflikte auf: Da gibt es gewachsene und vertraute demokratietheoretische Traditionen und Praktiken. Nach öffentlichen Diskursen und Konflikten entscheiden schließlich formale Abstimmungen nach Mehrheitsverhältnissen. Auf einem Rechts-Links-Kontinuum sind in diesem politischen Prozeß besonders die Vorstellungen von Ordnungspolitik verschiedenartig. Wie das Verhältnis von Individuum zu Gesellschaft und Staat zu sehen ist -darin vor allem unterscheiden sich normative Zugänge zur Politik sowie das jeweilige Gesellschafts-und Staatsverständnis. Formale Gleichheit aber ergibt sich bei allem normativ Trennenden aufgrund allgemein akzeptierter formaler Spielregeln.

Was aber passiert mit diesem Gleichheitsverständnis, wenn der Andere auftaucht? Wenn dieser Andere nicht nur individuell, sondern auch über seine kulturelle und ethnische Zugehörigkeit definiert werden will? Eine solche Situation fragt nicht mehr nach Rechts-Links, sondern nach Eigen-Anders. Genau an diesem Punkt gerät gewachsene Demokratietradition in Schwierigkeiten, denn das Verhältnis Eigen-Anders bestimmt sich entlang einer Linie von Identität und Anerkennung. Ein solches Verhältnis aber kann nicht in formalen Mehrheitsentscheidungen beeinflußt oder verändert werden. Wo die Zugehörigkeit eines Menschen zu den drei sozialen Identitäten zur Debatte steht, die am allerwenigsten als soziale Konstruktion zu begreifen sind, nämlich Alter, Geschlecht und Ethnizität, da funktionieren die Spielregeln mit Mehrheitsbeschlüssen nicht mehr.

Man kann, die Anerkennung anderer Kulturen nicht erzwingen. Noch weniger kann und muß man sie mögen. Die einzig verbleibende Möglichkeit besteht in der. prinzipiellen Annahme von der humanen Gleichwertigkeit des Fremden und Anderen.

Geht man nicht von dieser Annahme einer Gleichwertigkeit des Anderen im Humanen aus, dann ist die normative Bewertung von türkischem Fernsehen aus der Türkei für die türkische Bevölkerung in Deutschland und die von deutsch-türkischem Rap von vorneherein klar. Negativ wertend, kann es sich dann bloß um die Gefahr medialer Isolation, von retardierendem Rückzug handeln, und man beschwört dann die Angst vor einer türkischen Parallel-bzw. Konkurrenzgesellschaft herauf. Freilich lassen sich die gleichen Phänomene auch anders werten: Eigenes türkisches Fernsehen und eigene deutsch-türkische Rap-Musik sind Dissoziationsmomente (freiwillig, selbstbestimmt, zeitweise und räumlich-partiell), die der Identität des Anderen helfen, integrationswillig und -fähig zu werden und zu bleiben.

Vielleicht ist es für das Verstehen des Anderen am besten, wenn man einem islamischen Philosophen aus dem Mittelalter folgt: „Um zu Wissen zu kommen, mußt Du erstens schweigen. Zweitens mußt Du zuhören, drittens erinnern, viertens nachdenken und fünftens reden.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kemal Kurt, Was ist die Mehrzahl von Heimat?, Reinbek 1995, S. 59.

  2. Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, New York 1958.

  3. Vgl. Rohan Samarajiva, The murky beginnings of the communication and development field. Voice of America and „The Passing of Traditional Society“, in: Neville Jayaweera/Sarath Amunugama (Hrsg.), Rethinking Development Communication, Singapore 1987, S. 3-19.

  4. Vgl. z. B. Ahmet Fahir Köker, Herausbildung der strukturellen Heterogenität in einer unterentwickelten Gesellschaftsformation am Beispiel der Türkei, Frankfurt a. M. 1980.

  5. Michael Darkow/Josef Eckhardt/Gerhard Maletzke, Massenmedien und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 124.

  6. Vgl. als eine der wenigen Studien über das sog. Gastarbeiterkino den Essay von Winfried Günther, Kino für ausländische Arbeiter. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Medium, (1975) 12, S. 16-19.

  7. Gunnar Roters, Publikum ohne Programm? Eine repräsentative Studie zur Mediennutzung und -beurteilung der türkischen Bevölkerung von Berlin, Berlin 1990, S. 90. Vgl. auch die anderen beiden Studien zu diesem Thema: Dietrich Klitzke, Das 4. Programm. Studie zum türkischen Video-markt, Berlin 1982; Zentrum für Türkeistudien (Hrsg.), Konsum von Videofilmen innerhalb der türkischen Bevölkerung Nordrhein-Westfalens. Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Essen 1993.

  8. Vgl. Zentrum für Türkeistudien (ZfT) der Universität Essen (Hrsg.), Die türkischen Programme im Berliner Kabelfemsehen zwischen Integration und medialer Isolation, Essen 1992 (= Working Paper 8); dass. (Hrsg.), Ergebnisse einer Untersuchung zum Fernsehverhalten in türkischen Haushalten in der Bundesrepublik Deutschland, Essen 1992 (= ZfT aktuell Nr. 2); dass. (Hrsg.), Medienkonsum und Medienverhalten der türkischen Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, Essen 1995 (= ZfTaktuell Nr. 31).

  9. Vgl. ausführlich dazu die Dokumentation von Nannette Greiff, Türkische Medien in Deutschland, Media Watch, Köln 1995.

  10. Vgl. Laurent Neumann, Haro sur les parabolises, in: L’Evenement du Jeudi, 17. -23. 8. 1995, S. 8-11

  11. Vgl. Monika Bach, Mediennutzung und türkische Jugendliche. Die Auswirkung des Fernsehkonsums auf die Sozialisation, Berlin 1984.

  12. Vgl. Dimitrios Tsardakis, Die Rolle des Fernsehens im Sozialisationsprozeß unter besonderer Berücksichtigung griechischer Kinder, Frankfurt a. M. 1981.

  13. Vgl. M. Bach (Anm. 12).

  14. Vgl. IPA-plus: Türken in Deutschland 1994. Markt-Media-Studie, Frankfurt a. M. 1994; dies., Türken in Deutschland 1995, Frankfurt a. M. 1995.

  15. Vgl. Taisto Hujanen (Hrsg.), The role of information in the realization of the Human Rights of migrant workers. Report of an International Conference, University of Tampere, Dept. of Journalism and Mass Communication,, Tampere 1984.

  16. Alle im Folgenden nicht näher aufgeführten Zitate sind aus den Songs der Gruppe „Cartel“ auf der gleichnamigen CD von 1995 der Mercury Records GmbH in Hamburg. Den Hinweis auf diese CD und die deutschen Übersetzungen der fast ausschließlich türkischen Songs verdanke ich Susanne Lang vom Arbeitsbereich für Interkulturelle Pädagogik am Seminar für Pädagogik der Universität Köln. Für diese Hilfe bedanke ich mich sehr.

  17. Hermann Tertilt, Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande, Frankfurt 1996, S. 19 f.

  18. Vgl. Monika Plessner, Onkel Tom verbrennt seine Hütte. Die literarische Revolution der schwarzen Amerikaner, Frankfurt 1973.

  19. H. Tertilt (Anm. 18), S. 5.

  20. Vgl. Ernst Klee, Die Nigger Europas. Zur Lage der Gastarbeiter, Düsseldorf 1971; Marios Nikolinakos, Die Verniggerung der Gastarbeiterfrage, in: ders., Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage. Migration und Kapitalismus, Reinbek 1973, S. 142 ff. Nach der Ermordung von fünf türkischen Frauen Pfingsten 1993 in Solingen taucht auf türkischer Seite der Vergleich mit den Afro-Amerikanern auch in anspruchsvollen Essays auf. Vgl. z. B. Taner Aday: Wir sind die Schwarzen Deutschlands, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, Nr. 4/1993, S. 602-607.

  21. Feridun Zaimoglu, Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg 1995, S. 12 f.

  22. Stellvertretend für viele Arbeiten die folgenden aus unterschiedlichen Zeiträumen und für unterschiedliche Patientengruppen: Rudolf Sieg, Häufung von Hautaffekten bei Mischlingen in Kinderheimen, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, (1961) 5, S. 179-180; Curare. Zeitschrift für Ethnomedizin und transkulturelle Psychiatrie, Schwerpunktheft „Krankheit und Migration in Europa“, (1986) 9; Hanne Straube, Migration und Gesundheit. Über den Umgang mit Krankheit türkischer Arbeitsmigranten in Deutschland und in der Türkei, in: Hessische Blätter für Volks-und Kulturforschung, (1992) 29, S. 125-144; Kayan Aratow, Interkultureller Vergleich der Schmerzwahrnehmung und Krankheitsverarbeitung bei türkischen und deutschen Patienten mit chronischer Polyarthritis, Frankfurt a. M. 1996.

  23. Eine sprachliche Ideologiekritik des Begriffs „Blutsbrüder“ wäre dann notwendig (und methodisch einfach zu leisten), würde es sich hierbei um einen Kontext aus der deutschen Kultur handeln. Das trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Die Ideologiekritik als vielleicht stringenteste Methode der Kritischen Theorie muß gerade dort versagen, wo sie sich im interkulturellen Bereich aufhält. Die Kritische Theorie hat keinen außereuropäischen und kontrastiven Begriff von Kultur erarbeitet; insofern bleibt ihr eine Analyse nicht-deutscher Kultursymbole verschlossen. Genau deswegen muß an dieser Stelle eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Blutsbrüder“ unterbleiben.

  24. H. Tertilt (Anm. 18), S. 194.

  25. K. Kurt (Anm. 2), S. 100.

  26. Vgl. Ze do Rock, fom winde 28 H. Tertilt (Anm. 18), S. 110.

  27. H. Tertilit (Anm. 18) S. 110.

  28. F. Zaimoglu (Anm. 22), S. 96.

  29. Claus Leggewie/Zafer Senocak Türk Almanlar, Reinbek 1993.

  30. Vgl. z. B. Michael Holzach/Timm Rautert, Ahmets Heimkehr, in: Zeitmagazin, Nr. 41/1976, S. 26-45.

  31. Vgl. Roger Bistolfi/Franois Zabbal (Hrsg.), Islams d’Europe. Integration ou insertion communautaire?, La Tour d'Aigues 1995.

  32. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung S. 258.

  33. Zit. nach Franz Rosenthal, Knowledge Triumphant. The Concept of Knowledge in Medieval Islam, Leiden 1970, , Frankfurt 1993, S. 13 f.

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