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Kommunale Demokratie in den neuen Bundesländern. Eine Bilanz | APuZ 50/1996 | bpb.de

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APuZ 50/1996 Warum neue Beteiligungsmodelle auf kommunaler Ebene? Kommunalpolitik zwischen Globalisierung und Demokratisierung Kommunale Sozialpolitik und Grundrisiken der Gesellschaft Krise und Perspektiven der sozialen Stadt Umweltschutz in den Kommunen Kommunale Demokratie in den neuen Bundesländern. Eine Bilanz

Kommunale Demokratie in den neuen Bundesländern. Eine Bilanz

Martin Osterland

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Wiederherstellung der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern verlief nicht reibungslos. Neben anfänglichen strukturellen und technisch-organisatorischen Problemen sah sich vor allem das neue Personal, das die alten SED-Kader abgelöst hatte, erheblichen Schwierigkeiten gegenüber: Unter den neuen, ihnen fremden rechtlichen Rahmenbedingungen die neuen Ämter und Verwaltungsstrukturen aufbauen und rechtsstaatliches Verwaltungshandeln erst erlernen, gleichzeitig aber vom ersten Tag an verwalten sowie Entscheidungen treffen und verantworten zu müssen erwies sich als ein außerordentlich mühevoller Prozeß. Hinzu kam ein in sich widersprüchliches und durch 40jährige DDR-Erfahrung gebrochenes Demokratieverständnis, das sowohl das Verhältnis der Kommunalverwaltungen zu den Bürgern als auch das interne Zusammenspiel zwischen der Leitung der Verwaltung und den einzelnen Ämtern sowie zwischen der Verwaltung und den kommunalen Vertretungskörperschaften und ihren Ausschüssen nicht unerheblich belastete. War ursprünglich die Einstellung verbreitet, die Kommunen könnten nun alles selbst entscheiden, so schlug dies mit der ersten Erfahrung rechtsstaatlicher Kompetenzgrenzen und Verfahrensvorschriften schnell in das Vorurteil um, alles sei jetzt noch bürokratischer als zu DDR-Zeiten. Nach nunmehr sechs Jahren kommunaler Selbstverwaltung sind die Mitarbeiter in den Gemeindeverwaltungen der neuen Bundesländer inzwischen routinierter im Umgang mit den rechtlichen Grundlagen des Verwaltungshandelns geworden, die Vielzahl der Verwaltungsvorgänge ist ihnen nicht mehr fremd, und auch das Verständnis für demokratische Prozeduren und die Vorzüge des Rechtsstaats ist gewachsen. Dennoch haben die Klagen über die Bürokratie und mangelnde Bürgernähe der neuen Verwaltung eher zu-als abgenommen. Eine Reform der mittlerweile vorherrschenden Verwaltungspraxis läge deshalb nahe, dürfte aber an den Widerständen in der Verwaltung selbst scheitern.

I. Vorbemerkungen

Noch ehe die Vereinigung beider deutscher Staaten im Laufe des Jahres 1990 greifbare Formen annahm, wurde unter der Regierung Lothar de Maiziere die Verfassung der DDR geändert und die „kommunale Selbstverwaltung“ wieder eingeführt. Mit diesem Schritt, auf den im Mai 1990 das von der Volkskammer beschlossene „Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung)“ sowie die ersten freien Kommunalwahlen folgten, begann der Prozeß des Wiederaufbaus der kommunalen Selbstverwaltung in Ostdeutschland.

In der vom Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ geprägten politisch-gesellschaftlichen Ordnung der DDR hatten die Kreise, kreisfreien Städte und Gemeinden zeitgleich mit der Auflösung der Länder zu Beginn der fünfziger Jahre ihre Selbständigkeit weitgehend eingebüßt. Sie waren kaum mehr als nachgeordnete Behörden der Zentralverwaltung in (Ost-) Berlin bzw.der neugeschaffenen 19 Bezirke als der mittleren Verwaltungsebene gewesen. Viele der ehemals bei den Städten und Gemeinden liegenden Aufgaben, die im klassischen Verständnis einer vom Prinzip der Selbstverwaltung geprägten Kommunalverfassung zu ihren originären Aufgaben gehören, wurden seinerzeit entweder auf die nächsthöhere Ebene des Kreises oder auf die Bezirksebene bzw. nach Berlin verlagert. Bei den Kommunen waren nur noch wenige Aufgabenbereiche verblieben, die in relativer Entscheidungs-und Verhandlungsfreiheit eigenständig wahrzunehmen ihnen gestattet war.

Unter dem Einfluß der Befehls-und Anweisungsstränge von Berlin (Ost) über die Bezirke und Kreise und unter der Dominanz der von der SED-Parteispitze zentral ausgegebenen politischen Direktiven bzw. unter den enormen ökonomischen Zwängen des maroden Wirtschaftssystems war die Kommunalverwaltung immer mehr zu einer auf Mängelverwaltung reduzierten Restgröße verkümmert.

Außerdem stand, wie aller Verwaltungsvollzug in der DDR, auch die Kommunalverwaltung bis in ihre Organisationsstrukturen und Entscheidungsprozesse hinein unter dem Primat der „führenden Rolle der Partei“. Öffentliche Verwaltung vollzog sich auf allen Ebenen und in allen Ämtern unter der unmittelbaren Kontrolle der SED; Personalpolitik war stets auch Kaderpolitik.

Dies sollte nun anders werden. Bei ihren ersten Schritten auf dem Weg zur Reetablierung der kommunalen Selbstverwaltung orientierten sich die ostdeutschen Städte und Gemeinden im wesentlichen am Modell der Kommunalverwaltung in den alten Bundesländern. Vor allem Kontakte zu westlichen Partnerstädten und die zeitweilige Anwesenheit von Beratern aus diesen Städten in den Kommunal-verwaltungen des Ostens führten dazu, daß die Verwaltungsorganisation und die konkrete Gestaltung der Verwaltungsabläufe weitgehend denen westlicher Kommunen nachgebildet wurden. Es war eine tiefgreifende Änderung, denn die Struktur der Ämter und deren Aufgabenbereiche mußten erneuert, das Leitungspersonal ersetzt bzw. qualifiziert werden. Dieser Erneuerungsprozeß erwies sich im Verlaufe der folgenden Jahre als problematisch, und er verlief keineswegs reibungslos.

II. Reorganisation der Verwaltung

Die Anfangsschwierigkeiten waren enorm, wobei technisch-organisatorische Mängel wie etwa die räumliche Enge und mitunter kaum zumutbare Unterbringung von Ämtern in Behelfsunterkünften, der Mangel an Büroausstattung und das Fehlen von Arbeitsunterlagen wie Gesetzestexte und Kommentare sich noch am ehesten beheben ließen. In der Verwaltung selbst mußte die neue Binnen-struktur durchgesetzt werden, was um so schwerer war, als der mit der Wende eingeleitete politisch-gesellschaftliche Wandel die neuen Kommunalverwaltungen vor eine Fülle von gleichzeitig und möglichst umgehend zu lösenden Aufgaben stellte. Im einzelnen hatte die Umstellung auf das neue Kommunalverfassungs-Verwaltungssystem erhebliche Konsequenzen für die von den Kommunen wahrzunehmenden Aufgaben. Einige fielen sofort weg, wie beispielsweise die Kontrolle über die Warenpreise und die Versorgung der Bevölkerung mit Verbrauchs-und Bedarfsgütern.

Andere Aufgaben, die sich aus der Verflechtung von Staat und Wirtschaft ergeben hatten, liefen aus und waren nur noch für eine Übergangszeit wahrzunehmen. Dazu gehörten die Verteilung und Verwaltung von Wohnraum und die Zuteilung von Kohle und sonstiger Energie. Gleichzeitig ergaben sich für die Kommunen neue Aufgaben aus dem Übergang von der zentral-staatlich geplanten Verwaltungswirtschaft zur Marktwirtschaft, so z. B. die Wirtschaftsförderung und die Verwaltung von Beteiligungen der Gemeinde an Wirtschaftsbetrieben. In anderen Bereichen kommunaler Zuständigkeit hatten sich Aufgaben, die auch in der DDR wahrgenommen worden waren, aufgrund der neuen gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht unbedeutend verändert, so vor allem in den Bereichen Stadtplanung, Bauwesen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und anderen Sozialeinrichtungen.

An diese veränderte Aufgabensituation mußten die Verwaltungsstrukturen gewissermaßen aus dem Stand und bei laufender Verwaltungstätigkeit angepaßt werden. Die Reorganisation der Kommunalverwaltungen wurde dabei durch den Umfang und die Komplexität jener Probleme noch erschwert, denen sich die im Aufbau befindliche Verwaltung in ihrer konkreten Arbeit gegenüber-sah und die sie vom ersten Tage an -unter hohem Druck seitens der Bürger, die möglichst schnell auf möglichst allen Gebieten erkennbare Verbesserungen erwarteten -zu lösen hatte. Die meisten dieser Probleme, die sich als ungleich schwieriger und komplexer als in vergleichbaren westlichen Gemeinden erwiesen, ergaben sich aus dem maroden Zustand der öffentlichen Gebäude, der Straßen und der gesamten Verkehrsinfrastruktur, dem Zusammenbruch zahlreicher Betriebe und aus der sprunghaft ansteigenden Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit der Bevölkerung sowie der Umstellung der Wirtschaft auf marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Viele Vorhaben, vor allem in der Wohnwirtschaft und bei der Gewerbe-ansiedlung, verzögerten sich oder scheiterten gänzlich wegen ungeklärter bzw. in oft langwierigen Restitutionsverfahren zu klärenden Eigentums-fragen

III. Das neue Personal

Alle Beteiligten hatten sich erst einmal in die neuen Verwaltungsstrukturen einzuarbeiten: die Politiker in den Gemeinderäten ebenso wie die neuen Bürgermeister, Dezernenten und Amtsleiter. Kaum einer von ihnen kannte sich mit den nunmehr wahrzunehmenden Aufgaben aus und hatte eine klare Vorstellung von den dafür zu schaffenden Amtstrukturen. „Außenseiter als Politiker“ -oder politische Neulinge -waren es, die jetzt die Positionen an den Spitzen der neuen Verwaltungen einnahmen. Fast alle hatten sich an den Diskussionen, Demonstrationen und Auseinandersetzungen im Verlaufe der Wende 1989/90 beteiligt und, wenn auch zögerlich, bereit erklärt, politische Verantwortung im Rahmen der neuen Selbstverwaltung zu übernehmen. Nicht wenige fürchteten damals, den neuen Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Auffallend viele hatten eine natur-bzw. ingenieurwissenschaftliche Ausbildung und kamen aus den lokalen volkseigenen Wirtschaftsbetrieben. Zwar verfügten die meisten über Erfahrungen in der Planung, Leitung, EDV usw., die sie in der Verwaltung von volkseigenen Betrieben und Kombinaten sammeln konnten, oder waren in ihren früheren Positionen gewohnt gewesen, mit Menschen umzugehen. Aber spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie eine moderne Kommunalverwaltung erfordert, hatte niemand Ihr grundlegendes Dilemma bestand darin, unter den, bis dahin allen Bürgern der DDR bzw.der neuen Bundesländer fremden rechtlichen Rahmenbedingungen die neuen Ämter und Verwaltungsstrukturen aufbauen und rechtsstaatliches Verwaltungshandeln einschließlich der dafür erforderlichen allgemeinen und besonderen Rechtskenntnisse erst erlernen, gleichzeitig aber vom ersten Tag an verwalten und sowohl nach innen als nach außen im Verhältnis zu den Bürgern Entscheidungen treffen und verantworten zu müssen.

Im Hinblick auf das frühere Personal war unter dem Aspekt des Verwaltungsaufwandes die Entlassung von alten SED-und Stasikadern noch das kleinste Problem. Sieht man einmal von den Personen an den Verwaltungsspitzen ab, so hielten sich die Entlassungen in Grenzen. Weitaus größere Dimensionen hatten die erforderlichen personellen Umschichtungen und Entlassungen infolge von Personalüberhängen in einigen Bereichen. Ein anderes Problem waren gravierende Qualifikationsdefizite des Personals in den Ämtern, vor allen in den Kernbereichen der Verwaltung und den nun besonders bedeutsamen Bereichen der Bau-und Wirtschaftsämter und des Rechtsamtes. Infolge der notwendigen Qualifizierung ergaben sich so in allen Ämtern Personalengpässe. Etwa zehn Prozent aller Beschäftigten quer durch alle Ämter mußten durchgängig für die Teilnahme an Schulungen von ihrer Tätigkeit freigestellt werden.

IV. Qualifikationsmängel und neues Recht

Als das für die Qualität der Verwaltungstätigkeit bei weitem bedeutsamste Problem erwies sich die oben genannte mangelnde Qualifikation des Personals im Umgang mit Verwaltungsaufgaben im allgemeinen und in der Auslegung und Anwendung von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften im besonderen. Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem relativ einfach strukturierten Recht der DDR, das zudem in seiner Verbindlichkeit durch Einzelweisungen von oben und von der Partei überspielt werden konnte, fiel es sowohl den aus der alten Verwaltung übernommenen als auch den neuen ostdeutschen Mitarbeitern der Verwaltungen schwer, die strikte Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht zu akzeptieren. Nicht selten hatten sie große Schwierigkeiten, die komplizierten Normen des übernommenen Rechts der Bundesrepublik überhaupt zu verstehen. Außerdem war die Rechtslage in den neuen Bundesländern vor allem zu Beginn des Vereinigungsprozesses in vielen Fragen komplizierter als im Westen. Denn einerseits galt DDR-Recht aus der Zeit nach der Wende für eine Übergangsphase fort, andererseits sah der Einigungsvertrag Übergangsregelungen vor, durch die übernommenes Recht zunächst für nicht anwendbar erklärt wurde. Die daraus resultierende Rechtslage war teilweise so kompliziert, daß sie selbst Juristen erhebliche Probleme bereitete. Solange daher die Rechtsämter in den Kom-mune noch nicht mit qualifizierten Personal besetzt waren -und daran fehlte es in einigen Gemeinden teilweise bis in d*ie Jahre 1992/93 -, blieb vielen Ämtern unter dem Entscheidungsdruck oft nichts anderes übrig, als Rechtsmängel bei den fälligen Entscheidungen in Kauf zu nehmen.

Neben der immensen Vielfalt und Menge der alltäglichen Probleme, welche die Verwaltungen vor allem in den ersten Jahren nach der Wende zu bewältigen hatten, mußte das alte wie das neue Personal jedoch auch lernen, mit einem politischen System umzugehen, das -zumindest der Idee nach -auf rechtsstaatlich demokratische Entscheidungsfindung angelegt ist.

Daß dies ein strikt geregelter Prozeß ist, der mitunter langwierig und auf jeden Fall mühsam ist, erwies sich als eine Erfahrung, die für die meisten derer, die sich mit persönlichem Eifer und aus politischer Überzeugung in den Dienst der kommunalen Selbstverwaltung gestellt hatten, ebenso verunsichernd wie ernüchternd wirkte. Sie kontrastierte nicht selten mit den Erfahrungen der unmittelbaren Wendezeit, als freie Formen der politischen Selbstorganisation (Runder Tisch) dominierten, die dann von den geregelten Zuständigkeiten des demokratischen Rechtsstaats verdrängt wurden. Verband sich anfangs die Vorstellung von der Unabhängigkeit der kommunalen Selbstverwaltung mit der Annahme, nun könne die Gemeindeverwaltung quasi alles selbst entscheiden, so mußte man bald lernen, daß dabei gleichwohl Regeln zu beachten waren bzw.der Kreis oder das Land in Ausübung der Rechtsund/oder Fachaufsicht Kontrollbefugnis über das besaß, was entschieden wurde. Auch unter den neuen Bedingungen waren der Selbständigkeit der Kommunen offensichtlich Grenzen gesetzt und der Entscheidungsspielraum eingeschränkt, was den Eindruck hervorrief, es kämen wieder die Anweisungen „von oben“, wobei „oben“ eine Landesverwaltung war, die ihrerseits noch aufgebaut werden mußte und selbst noch entsprechende Mängel aufwies.

An der Notwendigkeit der rechtlichen Regelungen gab es zwar ebensowenig Zweifel wie an der zumeist uneigennützigen Hilfsbereitschaft der meisten westlichen Berater, die diese Regelungen aus der alten Bundesrepublik eingeführt und die zumeist in der ersten Zeit das Interpretationsmonopol innehatten. Zwar wird heute durchaus eingeräumt, daß man ohne die Hilfe der Verwaltungsbeamten aus den alten Bundesländern die schwierige Anfangsphase kaum durchgestanden hätte, aber die Abhängigkeit von ihrer Hilfe wurde auch als Beschränkung empfunden. Denndaß man bei vielen Entscheidungen stets den einschlägigen Gesetzestext, mindestens aber den Berater aus dem Westen befragen mußte, ob sie denn auch rechtens seien, gab zwar die gewünschte Sicherheit des Rechtsstaats, aber auch das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Statt souveräner Ausübung des Amtes empfand man die Einschränkungen, welche rechtliche Normen und mangelnde Kenntnis einem auferlegten, als eine neue Form der bürokratischen Behinderung.

V. Die neue Bürokratie

Das Eingabewesen, welches es im zentralistisch organisierten SED-Staat erlaubt hatte, an den etablierten Strukturen des Staatsapparates die Revision von Entscheidungen durch jene zu erreichen, die eine Ausnahme anordnen konnten, hatte anscheinend ein Maß an Flexibilität geboten, das nunmehr nicht mehr vorhanden war. Der Rechtsstaat, der gleichsam alles regelt, gestattete solche Ausnahmen kaum oder nur unter großem Aufwand. Wurden zu DDR-Zeiten im Umgang mit den einzelnen Bürgern auf der kommunalen Ebene „unbürokratische“, persönlich zugeschnittene Lösungen angestrebt, die auf Interessenausgleich und Konfliktvermeidung statt auf Vertragsförmigkeit und bürokratische Korrektheit abzielten so wurde jetzt die Funktionstüchtigkeit der Verwaltung eher durch die Einhaltung formaler Prämissen sichergestellt.

Doch obgleich die Notwendigkeit geregelter Verfahren durchaus eingesehen wurde, bewertete man sie zugleich als Hindernis, das den Umgang mit den Bürgern eher erschwerte. Die -zumindestens anfänglich -beträchtlichen Schwierigkeiten mit erst noch zu erlernenden Verwaltungsprozeduren kontrastierten jedenfalls deutlich mit der in der Retrospektive beinahe verklärten Kunst des Improvisierens, die sich im nachhinein als DDR-typisches Merkmal einer bürgernahen und flexiblen Verwaltung präsentiert, während die aus dem Westen übernommenen Vorschriften es scheinbar nicht erlaubten, individuell auf die Wünsche der Bürger einzugehen.

Nicht ungebrochen entwickelte sich auch das Verhältnis der neu etablierten Verwaltung zu jenen Institutionen, welche die demokratische Kontrolle auszuüben haben, das heißt zu den Stadtverordnetenversammlungen, Ausschüssen, Deputationen etc. bzw. zur lokalen Presse. Kritik wurde vorwiegend als unberechtigt, weil nicht auf ausreichenden Kenntnissen des neuen Rechts beruhend, abgewertet. War man sich unmittelbar nach der Wende noch einig gewesen, die Gemeindeverwaltungen soweit wie möglich frei von Parteipolitik zu halten, machten sich mit dem bald beginnenden Ressortegoismus auch allmählich Parteiinteressen bemerkbar. Kritik von außen oder von innen wurde zunehmend als Symptom politischer Profilierungsabsichten gedeutet, die eigentlich nichts zur Lösung von Kommunalproblemen beizutragen hätten; Parteiräson und Fraktionszwang nahmen aus der Sicht der Verwaltung eine fatale Ähnlichkeit mit der Parteidisziplin der SED an.

VI. „Normalisierung“ und Differenz

Nach nunmehr reichlich sechs Jahren kommunaler Selbstverwaltung und einer neuerlichen Kommunalwahl (1994), nach der sich die Mehrheitsverhältnisse der ersten Wahl nicht selten änderten und sich die Zahl der oft obskuren politischen Gruppierungen in den Gemeindevertretungen erheblich reduzierten, sind die Mitarbeiter in den Verwaltungen der neuen Bundesländer mittlerweile sicherer im Umgang mit den rechtlichen Grundlagen des Verwaltungshandelns geworden, und die Vielzahl der Verwaltungsvorgänge ist ihnen nicht mehr fremd. Auch das Verständnis für demokratische Prozeduren und die Vorzüge des Rechtsstaats ist gewachsen. Herrschten anfänglich noch Irritationen und Unsicherheit vor, so sind diese inzwischen einem neuen Selbstbewußtsein gewichen, das sich nicht zuletzt auf die Erfahrung gründet, daß auch die als nachahmenswerte Vorbilder betrachteten westlichen Verwaltungen nicht fehlerlos arbeiten. Das ursprünglich oft gespannte Verhältnis zur Kreis-bzw. Landesverwaltung hat, nachdem diese sich ihrerseits mit ähnlichen Anlaufschwierigkeiten unter den neuen Verhältnissen eingerichtet hatten, einer gewissen selbstverständlichen Routine Platz gemacht.

Mit wachsender Vertrautheit mit dem Recht und den bürokratischen Abläufen sind mittlerweile auch die positiven Seiten der Rechtssicherheit erkannt worden. Im Schutz dieses Rechts kann die Verwaltung sich gegen die Zumutungen der gewöhnlich rechtsunkundigen Bürger zur Wehr setzen, die wiederum darüber klagen, nunmehr herrsche eine auswuchernde und undurchschaubare Bürokratie.

Der Prozeß der „Normalisierung“ im Sinne einer Angleichung an westliche Verhältnisse scheint sichauf den ersten Blick insoweit vollzogen zu haben, als die Klagen über die mangelnde Bürgernähe und das Übermaß an Bürokratie denen in den alten Bundesländern nicht nachstehen. Insofern kann der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern weitgehend als abgeschlossen betrachtet werden.

Die Reaktion der Bürger in den neuen Bundesländern, aber auch der Mitarbeiter in den Verwaltungen selbst, auf den vollzogenen Transfer rechtsstaatlicher Institutionen ist freilich einigermaßen paradox: Nachdem die zentralistischen, allgemein im Ruf der Willkür und der Bürokratisierung stehenden Organisationsstrukturen der SED-Ära überwunden waren, haben die Klagen über Bürokratie als Ausdruck mangelnder Bürgernähe der Kommunalverwaltungen in den neuen Bundesländern eher zu-als abgenommen. Im Vergleich zum bürokratischen Zentralismus der DDR wird die neue kommunale Selbstverwaltung offensichtlich als noch stärker bürokratisiert empfunden; zumindest wiegen für viele Bürger die Vorzüge von Rechtstaatlichkeit und Rechtssicherheit nicht den angeblichen oder vermeintlichen Mangel an Bürgernähe auf.

Auch beim Verwaltungspersonal ist die Skepsis gegenüber dem aus dem Westen importierten Verwaltungsrecht gewachsen. In einer Auswertung mehrerer Gemeindestudien haben Helmut Wollmann und Franz Berg festgestellt, daß anfangs vor allem das aus den alten Strukturen übernommene Personal sich mit den Bürgern in der Kritik der Bürokratie einig war, die neuen Bürgermeister, Amtsleiter und Dezernenten dagegen sich relativ unkritisch mit dem neuen System identifizierten und dessen administrative Umsetzung mit einer gewissen Ungeduld vorantrieben. Während die Bevölkerung und die übernommenen Mitarbeiter aus den DDR-Verwaltungen offenbar ein eher fortdauerndes Bedürfnis nach Distanz zum westdeutschen Institutionensystem empfanden, setzte das neue Personal auf die neuen gesetzlichen Vorschriften. Mit der „Normalisierung“ scheinen sich diese Einstellungen gewandelt zu haben: Das ursprünglich eher distanzierte Altpersonal, so Wollmann/Berg, stehe allmählich den neuen Bedingungen des Verwaltungshandelns pragmatischer gegenüber, das zunächst unkritische neue Personal habe dagegen „nach einer Phase allzu buchstabengetreuer Rechtshandhabung inzwischen stärkere Zweifel an der Handhabbarkeit und Leistungsfähigkeit des neuen Rechts entwickelt“

In der Gesamtbilanz ist also von sich auseinander-entwickelnden Unterschieden im Rechtsempfinden zwischen Ost-und Westdeutschland auszugehen. Und zu den Zweifeln am Rechtssystem gesellt sich inzwischen ein negatives Bild des aus den alten Bundesländern übernommenen Verwaltungssystems, das juristische Formalisierung, Verlust der gewohnten Kollegialität, aufkommendes Konkurrenzdenken und die Konkurrenz um den eigenen Arbeitsplatz mit sich gebracht hat. Kurz: nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei den Verwaltungsmitarbeitern wächst die Kritik an einer Verwaltung, die sich in ihren Augen vornehmlich als herzlose Bürokratie darbietet.

Wenn mithin von „Normalisierung“ die Rede ist, dann von einer, die allenfalls die routiniertere Beherrschung der Verwaltungsabläufe meint, bei der aber die Unterschiede zwischen West und Ost erhalten bleiben. Da „die Ost-West-Paritäten . . . in Deutschland Tradition“ haben, handelt es sich nach Wolfgang Seibel auch in verwaltungspolitischer und verwaltungsorganisatorischer Hinsicht lediglich um die Rückkehr zu einem deutschen Normalzustand.

VII. Reformnotwendigkeit und Reformunwillen

Es liegt nahe, daß angesichts dieser Situation die in den alten Bundesländern seit einiger Zeit geführte Diskussion um die Notwendigkeit einer Verwaltungsreform auch in den neuen Bundesländern das Bedürfnis nach einer Reform der Verwaltungspraxis hat aufkommen lassen, zumal die Finanznot der Kommunen -fraglos der wichtigste Auslöser für die Reformdiskussion -auch im Osten mehr Effizienz erforderlich macht. Entsprechende Reformüberlegungen hatte es dort zwar gelegentlich bereits unmittelbar nach der Wende gegeben. Mit innovativen Vorschlägen hatten seinerzeit vereinzelt westliche Berater und Aushilfsbeamte im Zuge des Neuanfangs im Osten einführen wollen, was sie im Westen damals nicht hatten durchsetzen können. Aber in den sich neu etablierenden östlichen Kommunalverwaltungen wollte man nach dem gescheiterten Sozialismusexperiment von neuerlichen Reformexperimenten und unerprobten Änderungen der Verwaltungsstrukturen und -abläufe nichts hören.

Und auch die in den neuen Bundesländern sich ausbreitende Reformrhetorik der jüngeren Zeit kann nicht verdecken, daß grundsätzliche, strukturelle Reformen kaum angestrebt werden. Offenbar ist die Furcht groß, eine womöglich tiefgreifende erneute Reorganisation der Verwaltung könnte die erreichte Konsolidierung gefährden und eine neuerliche Verunsicherung mit sich bringen. Einschlägige Untersuchungen zeigen deshalb, daß verwaltungspolitische Innovationen vergleichsweise selten sind. Es dominiert nach wie vor die Imitation westdeutscher Verwaltungsverhältnisse, mit deren Übernahme man anscheinend auch die Rede von den Reformerfordernissen übernommen hat -ohne freilich praktische Konsequenzen daraus zu ziehen.

In seiner jüngsten Erhebung 1996 findet der Deutsche Städtetag dies bestätigt Danach ist die Zurückhaltung gegenüber Maßnahmen der Verwaltungsmodernisierung im Osten deutlich größer als im Westen und nimmt tendenziell sogar zu. Politiker und Bedienstete haben sich im Vergleich zu westdeutschen Kommunen weniger mit Verwaltungsreformen beschäftigt, äußern deutlich häufiger Vorbehalte und setzen Reformvorhaben mit zunehmender Tendenz Widerstände entgegen. Die Skepsis gegenüber den angeblichen’Vorzügen des westlichen Verwaltungssystems, die sich mit zunehmender Vertrautheit mit diesem eingestellt hat, hat sich anscheinend auf die Überlegungen zu seiner reformerischen Weiterentwicklung übertragen. Verwaltungsmodernisierung und -reform werden offensichtlich im wesentlichen als Rationalisierung im Sinne von Personalabbau begriffen -und den fürchtet man in den neuen Bundesländern begreiflicherweise ganz besonders.

Die nicht gerade innige Identifikation mit einem Verwaltungssystem, das importiert wurde und dessen praktische Umsetzung allen Beteiligten, den Mitarbeitern der Verwaltungen wie den Bürgern, erhebliche Anstrengungen abverlangte, und die gleichzeitige geringe Bereitschaft, sich auf eine neuerliche Revision einer gerade angeeigneten Verwaltungsroutine einzulassen, dürften grundlegendere Reformen verhindern. Schon vorab prognostizierte geringe Erfolgschancen und Befürchtungen, die mangelnde Akzeptanz der Verwaltung bei den Bürgern könne noch zunehmen, lassen eine positive Erwartungshaltung gar nicht erst aufkommen.

Nimmt man die bei den letzten Kommunalwahlen drastisch zurückgegangene Wahlbeteiligung als Indiz für eine Zunahme der Legitimationsprobleme der Gemeindeverwaltungen und die allgemein beklagte Parteienverdrossenheit sowie die überall zu vernehmende Klage über die mangelnde Transparenz der Kommunalpolitik im allgemeinen und die Bürokratie der Stadtverwaltungen im besonderen, so wird deutlich, daß „die ostdeutschen Verwaltungsverhältnisse noch (weit) von einer soliden Verankerung in einer Gesellschaft selbstbewußter Wirtschafts-und Staatsbürger entfernt sind“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daneben wurden alle Gemeinden der neuen Länder im Verlaufe des Einigungsprozesses von verschiedenen Anforderungswellen geradezu überrollt, die den Konjunkturen der Anpassung an westliche Standards der Lebenshaltung folgten und an die sich die Kernverwaltungen jeweils anzupassen hatten. So mußten alle Bürger der untergegangenen DDR gleichzeitig mit neuen Personalausweisen ausgestattet werden. Kaum war diese Aufgabe durch vermehrten Personaleinsatz der Meldeämter abgeschlossen, setzte der Boom der Motorisierung ein mit der Folge eines erhöhten Personalbedarfs bei Kfz-Zulassungen. Die Bauämter und die Gewerbeämter sowie die Ämter für Wirtschaftsförderung wurden anfangs von einer wahren Welle von Existenzgründungen in Handel und Kleingewerbe erfaßt, darunter nicht wenige auf nicht tragfähiger Grundlage, so daß auf den Boom der Anmeldungen schon bald eine erste Konjunktur der Abmeldungen und Insolvenzen folgte. Kaum anders erging es den Jugend-und Sozialämtern mit der Übernahme von Kindergärten und Jugendeinrichtungen und der wegen rasch sinkender Kinderzahlen und der die Kommunen überfordernden folgenden Welle der Schließungen bzw.der Übertragung von Einrichtungen auf private Träger.

  2. Vgl. Helmuth Berking/Sighard Neckel, Außenseiter als Politiker: Neue lokale Eliten in einer ostdeutschen Gemeinde, in: Soziale Welt, (1991) 3.

  3. Vgl. Bernd Feldhaus (Hrsg.), .. . und auf einmal im Rathaus, Münster -New York 1995.

  4. Vgl. Frank Berg/Martin Nagelschmidt/Helmut Wollmann, Kommunaler Institutionenwandel. Regionale Fallstudien zum ostdeutschen Transformationsprozeß, Opladen 1996.

  5. Vgl. Helmut Wollmann/Frank Berg, Die ostdeutschen Kommunen: Organisation, Personal, Orientierungs-und Einstellungsmuster im Wandel, in: Hiltrud Naßmacher/Oskar Niedermayer/Helmut Wollmann (Hrsg.), Politische Strukturen im Umbruch, Berlin 1994.

  6. Ebd., S. 84.

  7. Vgl. Wolfgang Seibel (unter Mitarbeit von Stephanie Reulen), Verwaltungsaufbau in den neuen Bundesländern, Berlin 1996, S. 115.

  8. Vgl. ebd.

  9. Vgl. Deutsche Städtetag, Umfrage zur Verwaltungsmodernisierung in den Mitgliedsstädten, Köln 1996.

  10. W. Seibel (Anm. 7), S. 115.

Weitere Inhalte

Martin Osterland. Dr. phil., geb. 1937; Professor für Soziologie an der Universität Bremen, Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung „Arbeit und Region“. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Roland Bogun und Günter Warsewa) Was ist überhaupt noch sicher auf der Welt, Berlin 1990; (zus. mit Roderich Wahsner) Kommunalverwaltung in den neuen Bundesländern: Strukturelle und personelle Probleme ihrer Reorganisation nach der Wende, Düsseldorf 1992; (zus. mit Günter Warsewa und Roderich Wahsner) Zwischen Sparzwang und sozialer Verantwortung, Weinheim 1996.