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Die Wirksamkeit europäischen und nationalen Rechts | APuZ 15-16/1997 | bpb.de

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APuZ 15-16/1997 Verfassungsverständnis und Verfassungsdiskussionen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Wer bewacht die Wächter? Zur Diskussion um die Rolle des Bundesverfassungsgerichts Soziale Staatsziele und Verfassungsverständnis Ein Rückblick auf die Verfassungsdebatte der deutschen Einheit Die Wirksamkeit europäischen und nationalen Rechts

Die Wirksamkeit europäischen und nationalen Rechts

Norbert Paul Engel

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Staaten der Europäischen Union (EU) zu kanalisieren und zu lösen ist Aufgabe der Verträge und ihrer Institutionen. Politisch führt der Entscheidungsweg über Kommission und Rat unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments. Rechtlich sind es die innerstaatlichen Gerichte und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), die zusammen über Vorlage und Vorabentscheidung die Rechtseinheit innerhalb der Gemeinschaft wahren und somit der Rechtssicherheit dienen. Die unmittelbare Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zwingt die Mitgliedstaaten zur Rechtstreue. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist der Kern einer gesamteuropäischen Verfassung, der auch in die EU hineinwirkt. Die (relative) Stabilität der EG bzw.der Europäischen Union ergibt sich vor allem aus der Tatsache, daß sie eine Rechtsgemeinschaft ist. Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber die 1974 beanspruchte und 1986 abgemilderte nationale Sonderrolle im Maastricht-Urteil von 1993 stärker in den Vordergrund geschoben. Auch wenn die Rechtsgemeinschaft innerhalb der EU fest gefügt erscheint, ist der darauf basierende Rechtsfriede keineswegs selbstverständlich und automatisch. Er muß immer gegen Enttäuschungen und gegen die Versuchung verteidigt werden, in die Illusion einer allumfassend rettenden nationalen Souveränität zurückzufallen.

I. Rechtsschutz durch Rechtseinheit und Rechtssicherheit

Als wäre die Europäische Gemeinschaft (EG) eine fremde Macht, die es im Namen einzelstaatlicher Identität abzuwehren gilt, und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) eine Instanz, die Teile nationalen Terrains einer richterlichen Fremdherrschaft zu unterwerfen sich anmaßt, so lesen sich manche Begründungen im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)

Natürlich gibt es z. T massive Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Staaten der Europäischen Union (EU). Um diese zu kanalisieren und zu lösen, sind die Verträge und ihre Institutionen ja gerade da. Politisch führt der Entscheidungsweg über Kommission und Rat unter Mitwirkung des Parlaments. Rechtlich sind es die innerstaatlichen Gerichte und der EuGH, die zusammen über Vorlage und Vorabentscheidung die Rechtseinheit innerhalb der Gemeinschaft wahren und somit der Rechtssicherheit dienen.

Dieser kombinierte -europäische und innerstaatliche -Rechtsschutz macht es dem Unionsbürger überhaupt erst möglich, von den Freiheiten und Vorteilen der Gemeinschaft Gebrauch zu machen. Wenn der EuGH darüber hinaus auch gegenüber den Organen der Gemeinschaft (Kommission, Rat und Parlament) die Aufgaben eines Verfassungsgerichts wahrnimmt beugt er institutioneller Willkür vor; wenn er dem Europäischen Parlament die Klagebefugnis gegenüber Kompetenzüberschreitungen von Rat und Kommission zuerkennt stärkt er das demokratische Element.

Wenn der EuGH schließlich dem EG-Recht die volle und gegebenenfalls unmittelbare Wirksamkeit verschafft, dann verdrängt er nicht nationales Recht, sondern verhindert, daß einzelne Regierungen ihre eigenen europäischen Beschlüsse, ohne von der Opposition im nationalen Parlament daran gehindert werden zu können, aus welchen Gründen auch immer unbeachtet lassen. Er zwingt zur Rechtstreue. So verhindert er, daß der europäisch beschlossene und legitimierte Interessenausgleich einzelstaatlich unterlaufen wird.

II. Wechselnde Dynamik der europäischen Einigung

Als der Abgeordnete Victor Hugo 1851 zum ersten Mal im französischen Parlament von den „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach, hoffte er, daß die französische Republik ein Grundstein hierfür sein werde Bereits 1849 hatte er als Präsident des Friedenskongresses in Paris als Leitmotiv formuliert: „Der Tag wird kommen, an dem Geschosse und Bomben durch Abstimmungen ersetzt werden, durch das allgemeine Wahlrecht der Völker, durch die echte Entscheidung eines souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England ist, die Nationalversammlung (Paulskirche) für Deutschland, die Legislativversammlung für Frankreich. Der Tag wird kommen, an dem . . . die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa sich gegenüberstehen und die Hand reichen werden.“

1. Europarat

Als rund 100 Jahre später der britische Kriegspremier Winston Churchill in seiner berühmten Zürcher Rede 1946 das Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ beschrieb, jubelten ihm die Menschen zu, weil sie sich nach dem gerade beendeten Weltkrieg nun vor Stalins Armeen fürchteten. Als erster Schritt wurde am 5. Mai 1949 in London der Europarat mit Sitz in Straßburg gegründet. Dessen von den nationalen Parlamenten beschickte Parlamentarische (damals noch „Beratende“) Versammlung arbeitete in weniger als zwei Jahren die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aus, die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet wurde und am 3. September 1953 in Kraft trat. Sie ist der Grundstein für eine Europäische Verfassung.

Doch täuschen wir uns nicht. Das Ganze geschah nicht in souveräner Freiwilligkeit. Der Europarat wurde gegründet aus Angst vor dem kommunistischen Machthunger in Ost-und Mitteleuropa und im Schrecken vor den Greueltaten der Nazis. Seine Dynamik für eine politische Einigung erlahmte schnell. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft scheiterte im französischen Parlament, die NATO unter Beteiligung der USA und Kanadas boten den Schutz gegenüber der Sowjetunion und die gewünschte Einbindung Deutschlands.

2. EGKS, EWG, Euratom, Europäische Union

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1952, die Europäische Wirtschafts(EWG) 1957 und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) 1958 bildeten den Versuch, die Europäische Einigung, die sich politisch über den Europarat nicht hat verwirklichen lassen, über den Weg der wirtschaftlichen Integration zu erreichen. Die Europäische Union des Vertrages von Maastricht 1992 konnte auf einer stabilen Rechtsordnung aufbauen. Sie ist jedoch bereits der dritte Versuch nach dem Zweiten Weltkrieg, den Quantensprung der politischen Einigung zu vollziehen. Ob dieser Weg am Ende richtig ist, wissen wir noch nicht. Daß er bislang nicht falsch war, zeigt das Fiasko der von Großbritannien als Konkurrenzunternehmen zur EWG forcierten Europäischen Freihandelszone (EFTA). Freihandel allein bindet eben nicht.

3. Ksze/osze

Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) war von Breschnjew für die Sowjetunion eigentlich dazu initiiert worden, sich von den USA, Kanada und Westeuropa die Territorialgewinne und die Vorherrschaft in Ost-und Mitteleuropa garantieren zu lassen. Daß die Menschenrechte aus der Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975 sich als eine freiheitliche Referenz gegenüber den langsam ihrem Bankrott entgegengehenden kommunistischen Regimen erwiesen, hatte er nicht geahnt. An den Formulierungen zu den Menschenrechten in den jeweiligen KSZE/OSZE-Folgetexten läßt sich der politische Wandel in Mittel-und Osteuropa ablesen

Wenn es auch inzwischen einen Schiedshof der OSZE mit Sitz in Genf gibt, der u. a. von Robert Badinter und Hans-Dietrich Genscher präsidiert wird kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier eben nicht um eine verbindliche Rechtsgemeinschaft handelt. Der gute Wille innerhalb der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) war und ist durchaus dem souveränen Nationalismus zwischen Sarajevo und Nagorni Karabach ausgeliefert. Auch die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen ändern daran nichts.

III. Die Europäische Menschenrechtskonvention

1. Rang in der Normenhierarchie

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) steht nur den Mitgliedstaaten des Europarates offen. Das sind derzeit mit Rußland und Kroatien 40 Staaten. Davon haben 34 die Konvention ratifiziert und auch das Individualbeschwerderecht zur Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. die obligatorische Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt. Hier soll keine ausführliche Bilanz der bisherigen Rechtsprechung gezogen und auch nicht die Notwendigkeit der im Gang befindlichen Reform zur Errichtung eines ständigen Gerichtshofs dargelegt werden. Kommission und Gerichtshof sind gegenwärtig nur Teilzeit-Organe für Menschenrechte Die verfassungspolitische und -rechtliche Wirkung der EMRK ist unterschiedlich. Österreich ist der einzige Staat, in dem die EMRK Verfassungsrang hat. Das geschah nicht gleich bei der Ratifikation 1958, sondern 1964 durch ausdrücklichen Beschluß des Parlaments. Seither wendet der österreichische Verfassungsgerichtshof die EMRK unmittelbar an und bestimmt so den Standard der Konvention mit Das Schweizerische Bundesgericht hat nach dem Beitritt der Schweiz zur EMRK 1974 entschieden, daß die in der Konvention verbürgten Rechte „ihrer Natur nach einen verfassungsrechtlichen Inhalt“ haben. Deshalb legt das Schweizerische Bundesgericht von sich aus immer dann, wenn ein Grundrecht der nationalen Verfassung anzuwenden ist, zugleich auch die entsprechende Vorschrift der EMRK mit aus Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich dazu nicht entschlossen, weil die EMRK als einfaches Bundesrecht keinen Verfassungsrang hat. Dennoch bleibt die EMRK nicht unbeachtet. Es ist vorgekommen, daß ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in seinen wesentlichen Gründen vom BVerfG übernommen wurde, ohne daß dieses zu erkennen gab, woher es seine Weisheit bezog. Es ging konkret um Sexualkundeunterricht an öffentlichen Schulen und um das Prinzip: Informieren -ja, indoktrinieren -nein Doch das war eine Ausnahme. Das BVerfG zieht bei der Anwendung des Grundgesetzes (GG) die EMRK eher als Auslegungshilfe heran Ähnlich wie das BVerfG geht auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor. Die EMRK ist nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts, dennoch zieht er sie als Auslegungshilfe heran, da alle Mitgliedstaaten sie ratifiziert haben.

2. Wirksamkeit

Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die einschlägigen Entscheidungen des Ministerkomitees des Europarates haben völkerrechtliche Wirkung, d. h., sie ver­ pflichten den belangten Staat, bei festgestellten Konventionsverletzungen Abhilfe zu schaffen. Das kann durch Zahlung einer vom Gerichtshof festzusetzenden Entschädigung erfolgen, durch Wiederaufnahme des Verfahrens oder auch durch gesetzgeberische Maßnahmen.

In den ersten Jahrzehnten nach Inkrafttreten der EMRK war es bis auf wenige Ausnahmen eine Selbstverständlichkeit, daß die Staaten sich peinlich genau bemühten, ihren Verpflichtungen nachzukommen. In den letzten Jahren ist das nicht mehr so selbstverständlich. Italien, das jedes Jahr mit mehreren Dutzend Fällen überlanger Verfahrensdauer die Straßburger Instanzen beschäftigt, ist generell ein säumiger, zuweilen gar ein widerspenstiger Zahler. Deshalb . ist der EGMR dazu übergegangen, genaue Zahlungsfristen in seinen Urteilen festzusetzen, was früher nicht notwendig war. Italien ist kein Einzelfall.

Auf die Spitze getrieben hat es jüngst die griechische Regierung. Der Fall „Stran Greek Refineries“ sei deshalb hier erwähnt, weil die Wirksamkeit einer rechtlichen Verpflichtung sich an der Effektivität der Sanktionen mißt. Die griechische Regierung hatte den Fall nach einer geradezu abenteuerlichen Prozeßführung vor den innerstaatlichen Gerichten und dann vor den Europäischen Instanzen verloren. Trotzdem weigerte sie sich etwa zwei Jahre lang, dem Urteil des EGMR vom 9. Dezember 1994 Folge zu leisten und die Summe von etwas mehr als 16 Millionen US-Dollar an den Beschwerdeführer als Entschädigung zu zahlen. Als sich jedoch Anfang 1997 in Straßburg abzeichnete, daß das Ministerkomitee des Europa-rates die griechische Obstruktion unter dem Aspekt von Art. 8 des Europaratsstatuts (Ausschluß) auf die Tagesordnung setzen würde, hatte sich die griechische Regierung durch ihren Anwalt mit dem Beschwerdeführer in London innerhalb von nur zwei Tagen auf einen Zahlungsmodus geeinigt.

Das war kein Tag zu früh, wenn man bedenkt, daß die jetzt anstehenden zahlreichen türkischen Folter-Fälle vor Kommission und Gerichtshof für Menschenrechte aller Wahrscheinlichkeit nach zu hohen Schadenersatzzahlungen führen und deshalb ähnliche Probleme aufwerfen werden. Für eine kooperationsunwillige türkische Regierung hätte es ja wohl kaum einen besseren Präzedenzfall gegeben als die Weigerung einer griechischen Regierung, ihre Vertragspflichten unter der EMRK zu erfüllen. Die Vollstreckung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte darf keine Verhandlungssache werden. In der Öffentlichkeit hat man von dem griechischen Fall deshalb nicht viel gehört, weil die Sitzungen des Ministerkomitees des Europarates, das die Vollstreckung der Urteile des EGMR überwacht, vertraulich sind.

Das Beispiel Griechenland hat zumindest zwei bedenkliche Aspekte: Zum einem fordert Griechenland im Rahmen der Europäischen Union -im Prinzip zu Recht -die Loyalität seiner Partner gegenüber den Kriegsdrohungen der ehemaligen Besatzungsmacht Türkei ein. Wer eine Rechtsgemeinschaft an ihre Pflichten erinnert, erweist sich jedoch keinen guten Dienst, wenn er sich der Erfüllung seiner eigenen Pflichten in extremer Weise zu entziehen sucht. Zum anderen ist Griechenland der einzige Staat, der bisher wegen systematischer Folter und anderer Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Europarat ausgeschlossen wurde. Das Athener Obristen-Regime glaubte 1969 dieser Sanktion durch einen spektakulären Austritt aus dem Europarat zuvorkommen zu können. Der von den Athener Obristen angezettelte Putsch auf Zypern, der die türkische Invasion 1974 provozierte, um Zyperns Anschluß an Griechenland zu verhindern, führte am Ende zum Zusammenbruch des Athener Regimes. Nach Wiederherstellung der Demokratie kehrte Griechenland in den Europarat und in die Europäische Menschenrechtskonvention 1974 zurück.

Unter den Opfern der Diktatur, die von der Europäischen Menschenrechtskommission in den sechziger Jahren als Zeugen gehört wurden, war derselbe Andreas Papandreou, der als Ministerpräsident sich nicht scheute, jenen Europarat in seinen Fundamenten zu untergraben, der ihn damals zu schützen suchte und der ihm im Exil geholfen hatte. Ministerpräsident Kostas Simitis, der während seines Exils u. a. Rechtsprofessor in Deutschland war, sah nach seinem Amtsantritt offenbar keinen Grund, hier einzugreifen, obwohl das Ministerkomitee des Europarates nachdrücklich -mündlich und schriftlich -insistierte. Das ist nicht gerade ermutigend.

IV. Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft

Die drei Säulen der Europäischen Union besitzen einen unterschiedlichen Rechtscharakter: Einzig die EG ist eine Rechtsgemeinschaft, nicht zuletzt wegen ihrer verfassungsrichterlichen Kontrolle durch den EuGH. Die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (2. Säule der EU) sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (3. Säule der EU) bilden lediglich den Rahmen für die intergouvernementale Zusammenarbeit. Sie unterliegen nicht der Rechtskontrolle durch den EuGH. Wieweit nationale Gerichte Rechtsschutz bieten können, ist noch ungeklärt.

Die unterschiedliche Rechtskonsistenz der Europäischen Union wiegt schwer. Ihre Handlungsfähigkeit dürfte häufig vom guten Willen des Tages abhängen. Wenn da eine Regierung langfristige Ziele verfolgt und Loyalität in diesen Teil der Europäischen Union investiert, hat sie meist nur den nationalen, also den kurzen Hebel in der Hand und selten den längeren, europäischen, mit dem Gegenleistung und Zusammenwirken eingefordert oder eingeklagt werden können.

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) ist mehr als ein völkerrechtliches Übereinkommen, dessen Rechtssubjekte nur die Staaten wären. Der EuGH führt hierzu in seinem Urteil vom 5. Februar 1963 aus: „Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“ Deshalb ist der Vertrag auch als die Verfassung der Gemeinschaft anzusehen.

Die (relative) Stabilität der Gemeinschaft ergibt sich aus mehreren Tatsachen: Erstens wacht über die Einhaltung des Vertrages zunächst die EG-Kommission. Sie kann aus eigener Initiative ermitteln und Vertragsverletzungsverfahren beim EuGH einleiten. Zweitens entscheidet der Gerichtshof sämtliche Zweifels-oder Streitfragen bei der Auslegung und Anwendung des EGV (Art. 164). Das Recht ist nicht mehr Verhandlungssache des Stärkeren. Drittens ist im Rat ein nichtöffentliches und in dem seit 1979 direkt gewählten Europäischen Parlament ein öffentliches Ventil vorhanden, sollten sich extreme Konflikte anbahnen. Und viertens sind die Interessen der Mitgliedstaaten derart verflochten und gegeneinander austariert, daß abrupte Wendungen um eines einseitigen Vorteils willen zumeist mit deutlichen Verlusten auf anderen Feldern verbunden wären. Das Prinzip der Gegenseitigkeit und des Interessenausgleichs ist in der Gemeinschaft zur Selbstverständlichkeit geworden. Zu den essentiellen Leistungen des EuGH gehören die kontinuierliche Festigung des Grundrechts-schutzes sowie die Rechtsprechung zur Haftung des Staates für den Schaden, den der einzelne durch die unterbliebene Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht erlitten hat Hier tritt erneut die besondere Qualität des EGV zutage: Der Mitgliedstaat der Gemeinschaft soll sich in klaren Fällen von selbst verschuldeter Säumnis nicht hinter seiner Souveränität zum offensichtlichen Nachteil der Bürger verstecken können.

Eine Rechtsgemeinschaft kann sich nur auf Gegenseitigkeit und -in der Summe -auf gemeinschaftlichen guten Willen gründen. Wenn nur ein Staat sich permanent für besser hält als die anderen -oder auserwählter gibt es Schwierigkeiten. Im Rahmen der von Frankreich immer wieder politisch beanspruchten Sonderrolle (Vexception frangaise) führte der Boykott des EuGH durch das oberste französische Verwaltungsgericht (Conseil d’Etat) 1978 in der Sache Cohn-Bendit zu einem allgemeinen Unmut in der EG, gerade weil damit auch der Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt wurde. Christian Tomuschat charakterisierte die Haltung des Staatsrates mit dem abgewandelten Wort des absolutistischen Monarchen: „La Justice -c’est moi.“

Der Idealfall eines Weges zur besseren Einsicht ist immer der, wenn der Betroffene merkt, daß er sich durch seine Sturheit selbst schadet, weil er sich mit dieser Haltung isoliert. So auch hier. 1989 führte der Commissaire du gouvernement (ein nicht an Weisungen gebundener Generalanwalt) Patrick Frydman den Richtern des Conseil d’Etat im Fall Nicolo (es ging um das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in den französischen Überseegebieten) vor Augen, daß es weise ist, die Realitäten zu erkennen. Der Conseil d’Etat lenkte im Prinzip ein und erkannte den Vorrang völkerrechtlicher Verträge (incl. EMRK und Gemeinschaftsrecht) vor späterem nationalem Gesetz durch Änderung der Rechtsprechung an

Deutlich vor dem „Solange“ -Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (s. Kap. V) hat der italienische Verfassungsgerichtshof dem EuGH ein nationales Notwehrrecht signalisiert -auf eine elegante Art, die niemanden verletzt. Zwei Gerichte in Turin und Genua hatten der Corte Costituzionale die Frage vorgelegt, ob es mit der Verfassung vereinbar sei, der Europäischen Gemeinschaft die Kompetenz zu verleihen, auf dem Staatsgebiet unmittelbar anwendbare Verordnungen zu erlassen, ohne daß dem Bürger gegenüber diesen Verordnungen die Garantien zustehen, über die er verfügt, wenn es sich um Gesetze des italienischen Staates handelt. Der Verfassungsgerichtshof in Rom wies zunächst auf die Entscheidung von 1965 hin, in der er die Weite des Rechtsschutzes innerhalb der Gemeinschaft gegenüber ihren Organen gewürdigt hatte. Nur für den Fall, daß „jemals dem Art. 189 EWGV eine so abwegige Auslegung gegeben werden sollte“, daß die Grundprinzipien der italienischen verfassungsmäßigen Ordnung oder der unveräußerlichen Menschenrechte verletzt würden, behielt sich die Corte Costituzionale ein Letzt-entscheidungsrecht vor. Es wurde gesagt, was gesagt werden sollte Roma locuta -doch das stört den Frieden der Institutionen nicht.

V. Die deutsche Sonderrolle

1. „Solange I“ (1974) und „Solange II“ (1986)

„Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ...“ so apodiktisch beginnt der Leitsatz zu dem Beschluß vom 29. Mai 1974 mit dem das BVerfG sich dem EuGH gegenüber das letzte Wort vorbehält. Getragen wurde das Hohelied vom Grundgesetz von den fünf Richtern Vizepräsident Seuffert, Geiger, Rinck, Rottmann und v. Schlabrendorff. Warum das Grundgesetz nicht über alles geht, sagen in ihrer abweichenden Meinung die drei überstimmten Richter Rupp, Hirsch und Wand ausgesprochen deutlich: „Diese Möglichkeit (der Rechtszersplitterung, d. Verf.) eröffnen, heißt ein Stück europäischer Rechtseinheit preisgeben, den Bestand der Gemeinschaft gefährden und den Grundgedanken der europäischen Einigung verleugnen ... Dieser Eingriff schafft für die Bundesrepublik Deutschland einen Sonderstatus und setzt sie dem berechtigten Vorwurf einer Verletzung des EWG-Vertrags und der Gefährdung der Gemeinschaftsrechtsordnung aus.“

Zwölf Jahre später, die Richter des Zweiten Senats hatten inzwischen gewechselt, fand das BVerfG Gelegenheit und Mut, vom hohen Sockel ein paar Stufen herabzusteigen. Es ordnet sich dem EuGH nicht mehr permanent über und erkennt im „Solange-II“ -Beschluß vom Oktober 198622 an, daß der EuGH gesetzlicher Richter i. S.des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und „in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet“. Weiter stellt es fest, daß der EuGH in seiner Rechtsprechung einen wirksamen Grundrechtsschutz gewährleistet. „Solange“ der EuGH darin fortfährt, lautet die Konsequenz: .. wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht. . . nicht mehr ausüben“.

2. Maastricht-Urteil (1993)

Das Urteil zum Vertrag über die Europäische Union läßt den Maastricht-Vertrag zwar als verfassungskonform passieren, weil die Schwelle zum Bundesstaat noch nicht überschritten ist, es wühlt jedoch den Kompetenzstreit heftig auf, weil in der Begründung Zukunftsfragen restriktiv beantwortet werden, die sich gegenwärtig noch gar nicht stellen. Das BVerfG stört damit den Frieden der Institutionen. Die richterliche Kunst der Selbstbeschränkung setzt offenbar einen Grad an kollektiver Weisheit voraus, mit dem der Zweite Senat im Oktober 1993 nicht gesegnet war. So entsteht der bedauerliche Eindruck, das BVerfG wolle in geradezu rechthaberischer Weise dem EuGH unterstellen, er überschreite systematisch seine Kompetenzen. Bei allem Respekt -einem anderen Gericht von bestimmt ebenbürtiger Rechtsprechungsleistung den guten Willen zu genauer Pflichterfüllung abzusprechen steht auch dem Bundesverfassungsgericht nicht zu. Wenn-schon Demokratie-Begriffe und -Kriterien für die Zukunft eingezirkelt werden, sollten Würde und Respekt nicht zu kurz kommen. Christian Tomuschat vermißt in dem Urteil jede „differenzierende Höflichkeit“ während Michel Fromont (Sorbonne) kritisch anmerkt, daß das BVerfG mit seiner Urteilsbegründung sich selbst zum „Herren der Verträge“ macht

Hier ist nicht der Ort, europarechtliche Dogmatik auszubreiten. Indes bleibt zu hoffen, das BVerfG werde insgesamt dem Eindruck einer gewissen Eigenwilligkeit bei der Beurteilung anderer Institutionen entgegenwirken, es werde in seinen Entscheidungen nur auf Fragen antworten, die ihm tatsächlich und zulässig gestellt sind, und es werde im Rahmen eines Mindeststandards innergerichtlicher Demokratie und gegenseitigen Respekts von -allen -seinen Mitgliedern die übliche Zurückhaltung in der Diskussion außerhalb des Gerichts verlangen, um auch im Hinblick auf künftige Entscheidungen den Anschein von Befangenheit zu vermeiden.

VI. Perspektiven

Die volle Wirksamkeit europäischen und nationalen Rechts ist dann gewährleistet, wenn Gerichte, Verwaltung und Gesetzgeber an den Schnittstellen beider Ebenen Zusammenarbeit und Zusammenwirken suchen, ohne für sich und damit für ihren Staat eine Sonderrolle zu beanspruchen.

Auch wenn die Rechtsgemeinschaft innerhalb der EG bzw.der EU fest gefügt erscheint, ist der darauf basierende Rechtsfriede keineswegs selbstverständlich und automatisch. Er muß immer gegen Enttäuschungen und gegen die Versuchung verteidigt werden, in die Illusion einer allumfassend rettenden nationalen Souveränität zurückzufallen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Urteil vom 12. 10. 1993, in: Europäische Grundrechte-zeitschrift (EuGRZ), 20 (1993) 17, S. 429 ff., s. auch die rechtsvergleichenden Nachweise ebd., S. 446

  2. Vgl. Hans Kutscher, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Bericht auf der IV. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte (Wien), in: EuGRZ, 5 (1978) 19-20, S. 503 f.; Gil Carlos Rodrfguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft, in: EuGRZ, 23 (1996) 5-6, S. 125 ff.

  3. Vgl. Johann Schoo, Das Europäische Parlament und sein Verfassungsgericht. Von der Vormundschaft zur Volljährigkeit, in: EuGRZ, 17 (1990) 23-24, S. 525 ff.

  4. Vgl. Sitzungsprotokoll vom 17. Juli 1851, in: Moniteur universel, (1851), S. 2048

  5. Wiedergegeben in: Denis de Rougemont, 28 Siecles d’Europe, Etrepilly (France) 1990, S. 255 (Übersetzung des Verf.).

  6. Vgl. Hannes Tretter, Von der KSZE zur OSZE. Einführung in die für den Schutz der Menschenrechte relevanten Teile des Budapester KSZE-Dokuments 1994, in: EuGRZ, 22 (1995) 13-14, S. 296 ff.

  7. Vgl. Stockholmer KSZE-Beschluß über die „Friedliche Beilegung von Streitigkeiten“, Anhang 2: Vergleichs-und Schiedsverfahren, in: ebd. (Anm. 6), S. 346, und Mitglieder des Vergleichs-und Schiedsgerichtshofs, S. 352 f.

  8. Vgl. Jochen A. Frowein/Wolfgang Peukert, EMRK-Kommentar, Kehl -Straßburg -Arlington 1996; Andrew Drzemczewski/Jens Meyer-Ladewig, Grundzüge des neuen EMRK-Kontrollmechanismus nach dem am 11. Mai 1994 Unterzeichneten Reform-Protokoll. Ein ständiger europäischer Gerichtshof für Menschenrechte als einziges EMRK-Kontrollorgan, in: EuGRZ, 21 (1994) 13-14, S. 317ff.

  9. Vgl. Theo Öhlinger, Das Grundrechtsverständnis in Österreich, in: Rudolf Machacek u. a. (Hrsg.), Grund-und Menschenrechte in Österreich, Bd. 1, Kehl -Straßburg -Arlington 1991, S. 29, 37 f.; Peter Jann, Verfassungsrechtlicher und internationaler Schutz der Menschenrechte: Konkurrenz oder Ergänzung? Landesbericht Österreich auf der IX. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte (Paris), in: EuGRZ, 21 (1994) 1-2, S. 1 (3)

  10. Vgl. Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 19. 3. 1975, in: EuGRZ, 2 (1975) 19, S. 351

  11. Vgl. Eibe Riedel, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte zur Frage des Sexualkundeunterrichts an öffentlichen Schulen, in: EuGRZ, 5 (1978) 11, S. 264 ff.

  12. Vgl. Paul Kirchhof, Verfassungsgerichtlicher Schutz und internationaler Schutz der Menschenrechte: Konkurrenz oder Ergänzung? Landesbericht Deutschland auf der IX. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte (Paris), in: EuGRZ, 21 (1994) 1-2, S. 16, 25 f., 31 ff.

  13. Vgl. Urteil vom 9. 12. 1994, in: Human Rights Law Journal. 15(1994) 11-12, S. 432

  14. Rechtssache Van Gend & Loos, Sammlung 1963, S. 3.

  15. Vgl. Carl Otto Lenz, Der europäische Grundrechtsstandard in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: EuGRZ, 20 (1993) 24, S. 585 ff.; Matthias Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, in: EuGRZ, 21 (1995) 22, S. 518 ff.

  16. Vgl. zuletzt Haftung Deutschlands wegen verspäteter Umsetzung der Richtlinie über Pauschalreisen, Urteil vom 8. 10. 1996, in: EuGRZ, 23 (1996) 18-19, S. 450ff.

  17. Christian Tomuschat, La justice -c’est moi. Zum Cohn-Bendit-Urteil des französischen Conseil d’Etat vom 22. 12. 1978, in: EuGRZ, 6 (1979) 11, S. 257 ff.

  18. Vgl. Patrick Frydman, Schlußanträge im Fall Nicolo, in: EuGRZ, 17 (1990) 5, S. 99 ff.; Urteil des Conseil d’Etat vom 20. 10. 1989, in: ebd., S. 106; Daniel Ludet/Rüdiger Stotz, Die neue Rechtsprechung des französischen Conseil d’Etat zum Vorrang völkerrechtlicher Verträge, in: ebd., S. 93 ff.

  19. Vgl. Urteil vom 27. 12. 1973, in: EuGRZ, 2 (1975) 16-17, S. 311 ff.

  20. EuGRZ, 1 (1974) 1, 8. 5 ff.

  21. Ebd., S. 10 ff.

  22. Vgl. EuGRZ, 14 (1987) 1-2, S. 10ff.; Meinhard Hilf, Solange II: wie lange noch Solange?, ebd. S. 1 ff.

  23. Vgl. Anm. 1 sowie Peter Hommelhoff/Paul Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union. Beiträge und Diskussionen des Symposions am 21. 122. Januar 1994 in Heidelberg, Heidelberg 1994; Dimitris Th. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung. Grundsatzfragen und fünf Anregungen zum Umdenken anläßlich der Regierungskonferenz 1996, in: EuGRZ, 22 (1995) 13-14, S. 287 ff.; Erich Rüper, Das Volk Europas, einig in seinen Völkern und Stämmen, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 29 (1996) 12, S. 468 ff.

  24. Vgl. Christian Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ, 20 (1993) 20-21, S. 489 ff.

  25. Vgl. Michel Formont, Europa und nationales Verfassungsrecht nach dem Maastricht-Urteil. Kritische Bemerkungen, in: Juristenzeitung, 50 (1995) 17, S. 800 ff.

Weitere Inhalte

Norbert Paul Engel, geb. 1943; Jura-Studium an der FU Berlin und der Universität Freiburg; freier Journalist, akkreditiert beim Bundesverfassungsgericht seit 1969, Arbeitsort seit 1972 in Straßburg. Herausgeber der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift, des Human Rights Law Journal und der Revue universelle des droits de l’homme.