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Herrschaft und Alltag Die Zeitgeschichtsforschung auf der Suche nach der wahren DDR | APuZ 26/1997 | bpb.de

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APuZ 26/1997 „Asymmetrie“ bei der Erforschung des Kommunismus und der DDR-Geschichte? Probleme mit Archivalien, dem Forschungsstand und bei den Wertungen Zeitgeschichte in Deutschland vor und nach 1989 Herrschaft und Alltag Die Zeitgeschichtsforschung auf der Suche nach der wahren DDR

Herrschaft und Alltag Die Zeitgeschichtsforschung auf der Suche nach der wahren DDR

Stefan Wolle

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gegenwärtig ist in der öffentlichen Debatte über die Geschichte der DDR in den neuen Bundesländern eine immer stärker werdende Abwehr gegenüber jeder (westdeutschen) Kritik zu konstatieren. Während der Sitzung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Eisenhüttenstadt im April 1997 wurde dies neuerlich deutlich. Ein offenbar nicht unerheblicher Teil der ehemaligen DDR-Bürger unterstellt, die gesamte Debatte ziele auf ihre im Osten gewachsene Identität und sei insofern Teil einer westlichen Unterwerfungsstrategie. Die Zeitgeschichtsforschung sieht sich angesichts der Tatsache, daß ihre Resultate offenbar derzeit vor allem im Osten politisch kontraproduktiv wirken, vor die Notwendigkeit einer neuen Selbstbestimmung gestellt. Notwendig wäre es, zwischen einer Verharmlosung und einer Dämonisierung der DDR den rechten Weg zu finden. Dies ist jedoch keine Frage des Ausgleichs oder der Ausgewogenheit, sondern eher der Fähigkeit, ambivalente Erscheinungen auf den Begriff zu bringen. Eine neue Form komplexer kulturgeschichtlicher Betrachtung erweist sich als notwendig, deren Methode weniger eine stärkere Objektivierung oder Historisierung der Betrachtungsweise sein sollte, sondern die auch den Mut zu einer subjektiven, persönlichen und unkonventionellen Form der Geschichtsschreibung haben müßte. Rücksicht auf die Zeitstimmung im Sinne einer Verharmlosung der SED-Diktatur wäre falsch. Eine komplexe kulturgeschichtliche Darstellung auf der Basis eines umfangreichen Aktenmaterials bietet die Möglichkeit, die dialektische Einheit von Repression und scheinbar unpolitischem Alltagsleben herzustellen.

I. Der Bundestag in Eisenhüttenstadt

„Wir waren glücklich in der DDR“, rief während der öffentlichen Sitzung der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine ältere Frau mit vor Erregung zitternder Stimme in den überfüllten Versammlungssaal des Rathauses von Eisenhüttenstadt. Hierher hatte sich im April 1997 die Kommission des Deutschen Bundestages begeben, um Fachleute anzuhören und das Gespräch mit Zeitzeugen zu suchen. Der Ort der Veranstaltung hätte kaum besser gewählt sein können. Auf der holzgetäfelten Stirnwand des Saales ist noch immer ein kreisrunder Schatten zu sehen, der nur notdürftig von dem etwas zu klein geratenen rechteckigen Stadtwappen von Eisenhüttenstadt überdeckt wird. Hier zierten bis zur Wende Hammer und Zirkel im Ährenkranz die Wand. An der Rückseite des Rathaussaales sind die Umrisse der abgehängten Porträts der führenden Persönlichkeiten der DDR zu sehen: in der Mitte Honecker, rechts Stoph, links Sindermann -so war es Brauch an offiziellen Örtlichkeiten des untergegangenen Arbeiter-und Bauernstaates.

Die Schatten der Vergangenheit sind noch allgegenwärtig in dieser „ersten sozialistischen Stadt“ der DDR, die Anfang der fünfziger Jahre am Reißbrett entstanden war. Die nach sowjetischem Vorbild errichteten pseudo-klassizistischen Bauten der Stalin-Zeit prägen das Stadtzentrum, dahinter stehen baukastenartig aufgereiht die Plattenbauten aus den siebziger und achtziger Jahren. Die Kulisse wird von den Schornsteinen des Stahlwerks gebildet, das der Stadt seit 1961 den Namen gibt. Die Auslagen der Geschäfte sind auch hier inzwischen so voll wie überall in der ehemaligen DDR; ein italienisches Restaurant hat sich angesiedelt, und vor den Wohnblocks stehen statt der Trabbis und Wartburgs ansehnliche Westkarossen, ansonsten bröckelt allenthalten der Putz. Die real-sozialistische Schäbigkeit ist notdürftig von den bunten Tupfern der schönen neuen Warenwelt überkleckert worden, im übrigen scheint die Zeil stehengeblieben zu sein. Hier also waren die Menschen glücklich. In diesen Wohnbezirken hatten sie irgendwann -meist nach jahrelangem Warten -die begehrten Vollkomfort-Wohnungen mit Fernheizung und fließendem Wasser bekommen, haben sie ihre Kinder in den „kombinierten Kindereinrichtungen“ abgeliefert, um morgens zur Schicht zu fahren, haben -um das kleine Glück vollkommen zu machen -nach zehn-oder fünfzehnjähriger Anmeldefrist ein Auto bekommen, den Urlaub in einer Einrichtung des FDGB-Feriendienstes geplant, abends vor dem Fernseher gesessen und wenn der „Blaue Bock“ oder Millowitsch kamen, heimlich den Westkanal eingestellt; und mehr an Freiheit haben sie sich eigentlich nie gewünscht. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich so ein Leben vorzustellen, und jede Ironie verbietet sich angesichts der simplen Ehrbarkeit derer, die gerne stolz auf diese Art der Existenz sein möchten.

Der Ausschußvorsitzende Rainer Eppelmann versuchte die aufgebrachten Diskussionsteilnehmer zu beruhigen: „Niemand will Ihnen den Stolz auf ihr Leben nehmen“, beschwichtigte der ehemalige Pfarrer und Bürgerrechtler die Anwesenden.

„Nicht Sie als Arbeiter oder Lehrerin waren schuld an der Misere, sondern die damalige Parteiführung.“ Doch jedes Wort, jede Geste, selbst der Tonfall bestätigte die vorgefaßte Meinung, daß die Kommission des Deutschen Bundestages angereist sei, den Menschen im Osten ihre Biographie zu rauben. Es war nicht so, daß die Damen und Herren auf dem Podium um eine Antwort verlegen gewesen wären. Das Problem lag darin, daß die Betroffenen die Antworten nicht hören mochten. Ein Mann mittleren Alters trat ans Mikrophon und sagte: „Sie können hier soviel analysieren, wie Sie wollen, aber wir lassen uns unsere Identität nicht nehmen. Sagen Sie das Ihrem Bundestag, Herr Eppelmann.“ Wer es noch nicht wußte, konnte es im April 1997 in Eisenhüttenstadt erleben: Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte steht auch noch sieben Jahre nach der Vereinigung vor großen Problemen.

II. „Erichs Rache“

Längst schon haben sich kommerzielle Interessenten des DDR-Themas bemächtigt. Denn wer sollte besser die geheimen Wünsche und Sehnsüchte der Menschen kennen als die Werbefachleute und Marktstrategen? So wird eine schon in DDR-Zeiten beliebte Zigarettensorte mit Sprüchen und Plakaten angepriesen, die dem Käufer solche angeblich DDR-typischen Werte suggeriert wie menschliche Wärme im Berufsalltag und Kollektivität. „Ostprodukte“ verspricht inzwischen fast jeder Supermarkt in seinem Angebot, und es gibt sogar spezielle Abteilungen oder Läden für aus der DDR-Zeit noch bekannte Waren wie Spreewaldgurken, Radeberger Bier oder Halberstädter Würstchen. Angesichts der Freude der Wiedererkennung wird von den alten und neuen Freunden dieser kulinarischen Köstlichkeiten allerdings oft vergessen, daß die genannten Produkte im Sortiment des volkseigenen Einzelhandels damals durchaus Seltenheitswert besaßen und eigentlich nur in den überteuerten Delikat-Geschäften zu bekommen waren.

Der Eulenspiegel-Verlag hat unter dem Titel „Kost the Ost“ ein Ostprodukte-Quartettspiel auf den Markt geworfen. Das Spiel mit dem „weltweit höchsten Geschmacksaufkommen“, wie es im Begleittext launig heißt, besteht darin, jeweils vier zusammengehörige Etiketten bekannter DDR-Produkte auszulegen. Die Palette reicht vom Bautzener Speisesenf bis zum Wodka Lunikoff. Der Wiedererkennungseffekt und die damit verbundene gute Laune sind also garantiert.

Doch auch Produzenten aus der „ehemaligen BRD“ haben die Marktlücke längst erkannt und versuchen sie zu füllen. Seit dem vergangenen Jahr wirbt beispielsweise eine bayerische Firma mit einem Faltblatt für eine „einzigartige Feinsilber-Edition zur Geschichte der DDR“; gemeint sind Münzen mit DDR-Motiven. Der Radsportler Täve Schur -das DDR-Sportidol der fünfziger und sechziger Jahre -stellt sein lachendes Konterfei und einen kleinen Werbetext zur Verfügung. Dort heißt es: „Darauf habe ich schon lange persönlich gewartet: ein Streifzug durch die Geschichte der DDR in hochwertiger Silberanfertigung. Die Edition ist . . . für jeden, der sich die Erinnerung an die DDR bewahren will. Ich selbst bin Eigentümer einer solche einmaligen Kollektion und kann Ihnen heute schon versichern, daß die verschiedenen Motive Sie hinreißen werden.“ Die Münzen zeigen eine „ostdeutsche Kinderkrippe“, das Sandmännchen, die Weltzeituhr am Alexanderplatz, den Kosmonauten Sigmund Jähn, den Palast der Republik und Junge Pioniere vor dem „Haus des Kindes“ in der Berliner Karl-Marx-Allee. Zur letzten Prägung kann man in dem Begleitheftchen lesen: „Fast alle Schüler waren Mitglied der Pionierorganisation , Ernst Thälmann, um so gemeinsam zu lernen, zu helfen und Spaß zu haben -ganz einfach nach dem Motto Seid bereit -Immer bereit'.“

Auch Erich Honecker feiert seine Wiederkehr als Geist aus der Flasche -genauer geagt: aus der Schnapsflasche. „Erich’s Rache“ steht in nicht ganz korrektem Deutsch auf den Flaschenetiketten, die ein Spirituosenhändler aus dem westfälischen Ahlen vorzugsweise in den neuen Bundesländern auf den Markt bringt. Die Beschwörung des sozialistischen Flaschengeistes scheint sich zu lohnen. Nach Presseberichten hat der Hersteller seit Mai vergangenen Jahres fünf Millionen Flaschen des „Rachenputzers“ abgesetzt. Die „sehnsuchtsvolle Erinnerung vieler Ostdeutscher an die alten DDR-Zeiten haben das Getränk zu einem Verkaufsschlager gemacht“, wird der Hersteller zitiert Vor allem in Sachsen und Thüringen sei das Produkt besonders beliebt. Da wird den Angaben der Firma zufolge „Erich’s Rache“ in einigen Läden schon gehortet und dann stilgerecht als „Bückware“ unter dem Ladentisch abgegeben. Man mag solche Erscheinungen ernst nehmen oder nicht -Symptom für den Zeitgeist, der in den fünf neuen Bundesländern herrscht, sind sie allemal.

III. Die gespaltene Erinnerung

Als die DDR starb, wurde die DDR-Identität geboren. Ohne Wehmut von den verklungenen Tagen des Realsozialismus zu reden gilt in weiten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit längst als Sakrileg. Dabei fehlte es in den Jahren seit 1989 nicht an zeitgeschichtlicher Forschung, an Aufklärung und Aufarbeitung. In den Medien nahmen und nehmen die DDR-Themen einen breiten Raum ein. Neben Sachverhalten, die zwar bekannt, aber seit Jahren auch im Westen kaum noch öffentlich zu hören waren, wurden viele neue und erschreckende Tatsachen über die DDR bekannt. Dies betraf den Repressionsapparat ebenso wie die wirtschaftliche und ökologische Situation des Landes. Doch viele ehemalige DDR-Bürger fühlen sich durch den Umgang mit der Geschichte -mit ihrer Geschichte -tief verletzt. Durch die radikale Kritik an der DDR-Realität sehen sie auch ihre eigene Biographie in Frage gestellt. Jahre oder sogar Jahrzehnte haben sie für diesen Staat gearbeitet, ohne dafür Privilegien in Anspruch zu nehmen. Manche von ihnen haben ehrlichen Herzens an eine Verbesserung des Sozialismus geglaubt. Heute fühlen sie sich betroffen und sind enttäuscht. Ihre Verbitterung richtet sich oft gegen jene, die deutlich auf die Verantwortlichkeiten hinweisen. Strukturell funktioniert immer noch der Verdrängungsmechanismus aus den Zeiten der DDR -nicht die Partei und die Regierung sind schuld an den Mißständen, sondern diejenigen, die kritisch darauf hinweisen. Manche sehen in der „Aufarbeitung der Geschichte“ und der „Vergangenheitsbewältigung“ nichts als das Bestreben der neuen Herren, die DDR pauschal zu diskreditieren, um die eigenen Machtpositionen zu festigen. Insbesondere durch die angeblich von den westlichen Medien entfachte „Stasi-Debatte“ sollen die ehemaligen DDR-Bürger diskriminiert und gedemütigt werden. „Die ideologische Strategie der politischen Klasse in der Bundesrepublik konzentrierte sich seit 1990 darauf, die DDR mit der Doktrin vom , Unrechts-staat und der These von der reinen Mißwirtschaft zu verteufeln“, schrieb einer der ehemals führenden SED-Historiker in einer der PDS nahestehenden Schriftenreihe. „Damit aber wurde die in sich widersprüchliche Gesamtheit der DDR-Gesellschaft mit ihren positiven und negativen Zügen, von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gewiß unterschiedlich, aber im ganzen eben in dieser Differenziertheit erlebt und auch verarbeitet, auf ein der gegenwärtigen Politik genehmes, rein negatives, ja verabscheuungswürdiges Klischee zurechtgestutzt . . .“ Der Sinn dieser gewundenen Sätze ist nur allzu klar. Die Ideologen und seiner-zeitigen Machthaber des SED-Staates, die ihre neue Heimat in der PDS gefunden haben, verstekken sich heute gern hinter jener großen Zahl von Menschen, die unverschuldet in das Desaster hineingezogen wurden. Doch es soll nicht bestritten werden: Gelegentlich stellt sich zwischen den früheren Stützen und Nutznießern des Regimes und den notgedrungen Angepaßten eine Eintracht her, wie es sie zu DDR-Zeiten nie gegeben hat.

Bei aller Skepsis gegenüber Meinungsumfragen zu derartig komplexen Themen sind doch die Resultate einer Befragung des „Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e. V.“ bemerkenswert. Einleitend heißt es zu den Ergebnissen der Umfrage: „Die jüngste Erhebung bestätigte erneut, daß die Ostdeutschen mehrheitlich einer differenzierten Betrachtung der DDR-Vergangenheit den Vorzug geben. Pauschale Negativ-Urteile und Negativ-Klischees, wie z. B. die Kennzeichnung als Unrechtsstaat, sind nicht mehrheitsfähig ... Für die überwiegende Mehrheit gilt die DDR nach wie vor als , Versuch, eine gerechtere Gesellschaft zu gestalten. Nachdem in der 95er Befragung die in den Vorjahren in der Antwort-vorgabe verwandte einschränkende Kennzeichnung als , gescheiterter Versuch entfiel, wuchs die Zustimmung zur zitierten Meinungsvorgabe an (1990 = 63 Prozent, 1992 = 60 Prozent, 1993 = 65 Prozent, 1995 = 75 Prozent völlige Zustimmung).“

In der Zahlenübersicht wird ausgewiesen, daß auf die Meinungsvorgabe „Die DDR war vor allem der Versuch, eine gerechtere Gesellschaft zu gestalten“ 74, 8 Prozent mit „ja“, 14, 9 Prozent mit „teilweise“ und nur 6, 6 Prozent mit „nein“ reagierten, 3, 6 Prozent gaben „keine Antwort“. Der Meinung, die „DDR war ein Unrechtsstaat“, stimmten nur 18, 2 Prozent vorbehaltlos zu; 33, 9 antworteten „teilweise“ und 42, 8 Prozent meinten „nein“; 4, 9 Prozent wollten keine Antwort geben.

Selbst wenn man die offenbar beabsichtigte Unschärfe der Fragestellung berücksichtigt und auch wenn man weiß, daß an der Spitze des Institutes ehemals führende SED-Wissenschaftler stehen, sind die Ergebnisse eindeutig und stimmen im übrigen mit der allgemeinen Wahrnehmung überein. Auch das Institut für Demoskopie in Allensbach stellte in seinen Umfragen ähnliche Befindlichkeiten fest: „In Ostdeutschland wird die DDR-Zeit schöner in der Erinnerung“, kommentierte Elisabeth Noelle-Neumann eine Umfrage aus dem Jahre 1995. „Das zeigt sich bei einer Frage, die 1992 und unverändert 1996 gestellt wurde .. . 1992 sagten 42 Prozent: , In dieser Zeit hat man oft das Gefühl gehabt, einer großen Gemeinschaft anzugehören, das war sehr schön! Ende 1996 war diese Zustimmung auf 50 Prozent gestiegen. Zugleich fiel die Aussage: , Die SED hat uns alle betrogen von 70 Prozent auf 48 Prozent. , Man fühlte sich in der DDR unfrei und gefangen erinnerten sich 1992 54 Prozent, 1996 dagegen nur noch 41 Prozent. , Man hat sich bespitzelt gefühlt, konnte kaum jemandem trauen, berichteten 43 Prozent 1992, 1996 nur noch 30 Prozent.. . Die Bevölkerung fühlte eine richtige Befreiung, als das SED-Regime gestürzt war 4, erinnerten sich 1992 60, 1996 47 Prozent.“

Die Faktizität der Mauer oder des gigantischen Spitzelsystems wird zwar nicht bestritten, aber es wird darauf verwiesen, daß diese Dinge nicht ihr persönliches Leben bestimmt hätten. „Es verwundert nicht“, heißt es in der zitierten PDS-Broschüre, „daß die totale Abqualifizierung der DDR-Vergangenheit als Mißachtung und Verleugnung jahrzehntelanger harter eigener Arbeit, als Entwürdigung der eigenen Biographie empfunden und verstanden wird, als überhebliche Demütigung von millionenfach gelebtem Leben.“ Das Dasein in der DDR wäre behüteter, menschlicher, irgendwie schöner gewesen als das Leben in der vereinigten Bundesrepublik. Diese Bewußtseinslage manifestiert sich in dem so oder ähnlich oft zu hörenden Diktum, heute hätten die Menschen vor der Arbeitslosigkeit mehr Angst als früher in der DDR vor der Stasi. Die Diskussionen verweisen auf ein elementares Defizit des bisherigen Diskurses. Es ist bisher nicht gelungen, die Lücke zwischen individueller, komplexer Lebenserfahrung und verallgemeinernder, detailorientierter Forschungsarbeit zu schließen. In diese Lücke dringen politisch oder kommerziell motivierte Legendenbildungen ein und feiern fröhliche Urständ -sozusagen eine permanente Ostalgie-Party.

IV. Die Dialektik der Unterdrückung

Die DDR läßt sich nur in Paradoxa beschreiben. Coincidentia oppositorum heißt seit Nikolaus von Kues die Formel dialektischer Welterklärung. Und genau dieses Zusammenfallen der Gegensätze beschreibt das Wesen jenes seltsamen Zwittergebildes, in dem alles irgendwie nur halb war. Dies beginnt mit der staatlichen Existenz der DDR. Das Staatswesen war ohne Zweifel ein „Homunculus sovieticus", wie es der in der deutschen Literatur bewanderte vormalige sowjetische Botschafter Pjotr Abrassimow ausgedrückt hat, und dennoch war die DDR ein Stück deutscher Geschichte und Identität. Sie wurde von vielen Beobachtern sogar als der „deutschere“ der beiden deutschen Staaten empfunden. Sie war das Land der sauber geharkten Vorgärten, der vielfältigen Verbotsschilder und Dienstvorschriften. Ununterbrochen wurden seine Bürger belehrt und erzogen. Von der Kinderkrippe bis zur Universität gab es das einheitliche sozialistische Erziehungssystem. Ein „neuer Mensch“ wurde proklamiert, geprägt durch die „zehn Gebote der sozialistischen Moral“. Und diese ethischen Normen wurden durchaus ernst genommen: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Mut zur Kritik und Selbstkritik waren nicht nur bei den Jungen Pionieren häufig gebrauchte Vokabeln. Dennoch produzierte der Alltag gewissenlose Opportunisten. Die ständige Notwendigkeit grundsätzlicher Entscheidungen führte zu einer seltsamen Präsenz der „großen Fragen“ im Alltag. Die Menschen aus dem Osten wirkten auf die mit allen Wassern gewaschenen Westler oft starrsinnig und verbohrt, wenn es um Grundsatzüberzeugungen ging. Die Ursachen für diese seltsam altmodische Lebenshaltung liegt auf der Hand: Wahrheit und Lüge, Freiheit und Unterdrückung waren in der DDR keine leeren Worte, sondern Alltagsprobleme.

Die allgemeine Lebensform des Sozialismus war ein alptraumartig changierender Dualismus zwischen Wirklichkeit und Simulation. Es gab eine doppelte Meinung, eine doppelte Sprache, eine doppelte Öffentlichkeit, eine doppelte Gesetzlichkeit in diesem gespaltenen Land mit seiner geteilten Hauptstadt. Und jede dieser Bewußtseinsspaltungen setzte sich ins Unendliche fort. Doch gerade diese überall präsente Schizophrenie vermochte es, in sich geschlossene, selbstgewisse Persönlichkeiten zu schaffen. Es gab fein unsichtbares Netz von Andersdenkenden und Andersfühlenden. Sie erkannten sich mit dem ausgeprägten Instinkt gejagter Tiere an winzigen Gesten, an der Wortwahl, an der Art zu lächeln. Es hat keine Nischen in der DDR gegeben. Die Gesellschaft war bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Aber es hat die Gemeinschaft der Einzelgänger gegeben, das Kollektiv der Individualisten, einen Schutzbund der Wehrlosen. Und doch bot dieses Netzwerk keinen wirklichen Schutz. Die Stasi hatte sie alle aufgespießt wie zappelnde kleine Insekten, fein säuberlich auf Karteikarten aufgenommen und in endlosen Schubkästen und Aktenregalen rubriziert. Das Spitzelunwesen des MfS dürfte in Ausmaß und Perfektion wohl qinmalig in der Weltgeschichte gewesen sein. Trotzdem darf man die DDR nicht auf das Stasi-System reduzieren. Seit der Wende ist bezüglich der Stasi häufig von einer Sicherheitsparanoia der SED-Führung gesprochen worden. Dies ist richtig und falsch zugleich. Paranoid waren die politischen Vorgaben und die Ideologie -das MfS als Apparat war ein vollkommen rational organisiertes und hochprofessionelles Instrument zur Aufrechterhaltung des Systems. Ohne den Sicherheitsappa33 rat wäre die SED-Diktatur zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte innerhalb weniger Tage zusammengebrochen.

Die Frage, ob die DDR eine Diktatur oder vielleicht vielmehr eine „durchherrschte Gesellschaft“ gewesen sei, wurde neuerlich vollkommen ernsthaft diskutiert Abgesehen davon, daß sich die DDR in seltener Ehrlichkeit selbst als Diktatur bezeichnet hat -nämlich als Diktatur des Proletariats -stellt sich die Frage, welchen Inhalt der Terminus , Diktatur bezüglich der modernen Geschichte überhaupt hat, wenn er auf die DDR nicht anwendbar ist. Denn angeordnet oder befohlen -und so ist die lateinische Wurzel des Begriffs ja wohl zu verstehen -wurde in der DDR alles und jedes. Wieviel freilich von den Anweisungen befolgt wurde, ist eine andere Frage. Ähnliches gilt für den von Günter Grass geprägten Begriff der kommoden Diktatur.Der Terminus ist insofern falsch gewählt, als er auch richtig ist. Die Diktatur ist auch die Gesellschaft der Bequemlichkeit, der Freiheit von Verantwortung und vor allem der Schuldlosigkeit. Bisher wurde noch nach jeder Diktatur festgestellt, daß eigentlich alle unschuldig waren. Kommod war die DDR allemal. Es war kommod, sich anzupassen, in Reih und Glied zu marschieren, die vorgegebenen Parolen rituell zu wiederholen. Die DDR war geradezufürchterlich kommod.

In Schutz nehmen muß man die DDR allerdings gegen den Vorwurf des Bürokratismus. Einige Kritiker wie Robert Havemann benutzten den Terminus des bürokratischen Sozialismus oder der Politbürokratie. Es gab ohne Zeifel eine Bürokratie von lähmender Langsamkeit. Doch das System der Doppelstruktur von Partei-und Staatsapparat bot auch die Möglichkeit schneller und unbürokratischer Entscheidungen. Es gab eine Flut von Gesetzen und Bestimmungen, deren Einhaltung den Staat binnen kurzem zum Einsturz gebracht hätte, und es gab ungeschriebene Gesetze, die in Frage zu stellen niemand auf den Gedanken gekommen wäre. Die DDR hatte durchaus orientalische Züge. Die obersten Herrscher liebten es, gelegentlich wie Harun-al-Raschid Schicksal zu spielen. Im Konfliktfall aber hatte die Berufung auf das „formale Recht“ kaum Aussicht auf Erfolg. Sich den Herrschern mit Demutsgesten „zu Füßen“ zu werfen konnte dagegen erfolgreich sei. Wenn es der Führung paßte, konnten so Zeichen und Wunder geschehen. Die DDR war der institutionalisierte Verfassungsbruch. Trotzdem wurde das geschrie-bene Wort ungeheuer ernst genommen. Das galt für die Gesetzesbücher, die Reden der Parteioberen und selbst für die Zeitungen.

Der „real existierende Sozialismus“ -wie das Gesellschaftssystem seltsam defensiv, fast entschuldigend, aber durchaus nicht selbstironisch, seit den späten sechziger Jahren oft genannt wurde -trug seltsam irreale Züge. Doch gerade der verzweifelte Verweis auf die Realität der Existenz war immer auch ein Hinweis auf das Spannungsverhältnis zwischen Realität und Anspruch. Denn ständig wurde die Realität mit ihrem eigenen utopischen Anspruch konfrontiert. Auch die Kritiker der SED-Diktatur beriefen sich nur selten auf die freiheitlich-demokratische Ordnung des Westens oder gar auf die Segnungen der freien Marktwirtschaft, immer wieder dagegen auf den wahren, menschlichen, demokratischen Sozialismus. Die Faszination der Utopie wurde nicht schwächer, sondern merkwürdigerweise stärker durch die Tatsache, daß sie täglich mit Füßen getreten wurde -wahrscheinlich gehört dies zum Wesen einer Utopie. Die Staatsideologie sah sich vor allem von den Theorien ihrer Gründerväter selbst in Frage gestellt. Hierauf reagierte sie bösartig und inaugurierte ein ewiges Dogma, das ständig geändert wurde. Und doch waren die Lehren von Marx, Engels und Lenin das Alpha und das Omega jeder politischen Entscheidung. Die Motive der Herrschenden blieben vollkommen unverständlich, wollte man ihre in letzter Konsequenz ideologische Intention übersehen. An der Spitze der SED standen vierzig Jahre lang zynische Pragmatiker der Machtausübung, deren Äußerungen an Verlogenheit kaum zu überbieten sind. Dennoch blieben sie sich auf ihre Art stets treu. Niemals vermochten diese angeblichen Hohenpriester der reinen Lehre über ihren ideologischen Schatten zu springen. Die Ideologie war frei nach Marx das Opium der Herrschenden. Die Rattenfänger berauschten sich an den eigenen Melodien und zogen an der Spitze ihrer Anhängerschaft dem Untergang entgegen.

Die Frage, ob die Menschen dies alles geglaubt haben, läßt sich wiederum nur durch Paradoxa beantworten. Der Arbeitsalltag der DDR war durch eine Art heimlichen Gesellschaftsvertrag bestimmt: „Wir tun so, als ob wir arbeiten. Und ihr tut so, als ob ihr uns bezahlt.“ Man hatte oft den Eindruck, in der DDR herrsche ein permanenter Bummelstreik. Das stimmte und stimmte auch wieder nicht. Der Alltag in der DDR war eine ständige Jagd nach Mangelwaren, knappen Dienstleistungen und Terminen. Ein Dschungel von Beziehungen, kleinen und großen Bevorzugungen prägte das Land. Dies führte zur Verlagerung der wirtschaftlichen Aktivitäten in den privaten Bereich. Am Ende dieser DDR-typischen Art der Vergesellschaftung der Produktion stand eine gewaltige Aufwertung der wirtschaftlichen Privat-initiative. Überall herrschte Mangel. Und die Folge des Mangels war keine Not, sondern Verschwendung im individuellen wie im volkswirtschaftlichen Bereich.

So wurde die DDR allmählich, aber gründlich ruiniert. Das Ende aber bot eine neue Überraschung. Vierzig Jahre lang hatten sich die beiden deutschen Staaten voneinander entfernt. In der DDR war die sozialistische Nation proklamiert worden, und im Westen waren die Bekenntnisse zur Wiedervereinigung längst zur lästigen Pflichtübung erstarrt. Als das Werk der Teilung vollendet war, kam die Einheit. Niemand hat diese Entwicklung politisch gewollt -und niemand hat sie prognostiziert, weder die Kabinette, noch die allwissenden Nachrichtendienste in Ost und West und schon gar nicht die DDR-Forschung in der Bundesrepublik. Denn auch im Osten schien niemand mehr die deutsche Einheit zu erstreben. Weder in den Oppositionszirkeln, noch an den Stammtischen in der DDR wurde die Teilung des Vaterlandes beklagt. Und doch war die Einheit der Nation immer erhalten geblieben.

Als die Deutschen wieder zusammenkamen, waren die Unterschiede im Grunde geringfügig. Die Verwandten aus dem Westen, ihre Päckchen mit abgelegten Kleidern, die Sehnsucht nach der wohlriechenden Westseife, vor allem aber die Intershops und das Werbefernsehen haben letztlich die geistige Einheit der deutschen Nation gerettet. Die größte Massenbewegung der Wende-zeit war die nach dem 9. November 1989 einsetzende Völkerwanderung zur nächsten Sparkasse im Westen und anschließend in die Discountgeschäfte. Dieser Massenandrang versetzte allen Vorstellungen von einer erneuer-und reformierbaren DDR den Todesstoß. Der Untergang des Sozialismus vollzog sich durch den Sieg der materialistischen Weltanschauung über den Idealismus -wenn auch nicht ganz in dem Sinne, wie es die Marxismus-Leninismus-Dozenten immer gepredigt hatten. Doch auch die Helden der Opposition wurden durch ihren Erfolg heimatlos. Der gloriose Sieg der Herbstrevolution war gleichzeitig eine klägliche Niederlage. So stand auch am Ende der DDR eine Coincidentia oppositorum, ein Zusammentreffen von Gegensätzen.

Insofern ist die Fröhlichkeit im Umgang mit der Vergangenheit kein Zufall. Den Außenstehenden mag das Bekenntnis verwundern -es wurde viel gelacht in der DDR. Dieses Leben war die Reaktion auf einen absurden und grotesken Alltag. Das Wesen der Dinge besteht in der Einheit der Gegensätze. Darauf aber beruht auch die Technik des Witzes gerade in Diktaturen. Am Schnittpunkt zweier Denkebenen entsteht die Pointe. Es ist also nicht verwunderlich, daß sich die DDR-Geschichte am besten in ihren Witzen erzählen läßt. Sie war selbst eine Art materialisierter Witz. Die grotesken und lächerlichen Züge des Realsozialismus waren nicht zu übersehen und wurden auch niemals übersehen. Milan Kundera läßt den Helden seines Romans „Abschiedswalzer“, kurze Zeit ehe dieser seine Heimat verläßt, sagen: „.. . das Land entwickelt sich nicht zum Besseren oder Schlechteren, sondern immer nur zum Lächerlicheren“ 7. Das traf für die Tschechoslowakei jener grauen Jahre der „Normalisierung“ nach dem Ende des Prager Frühlings ebenso zu wie für die DDR. So ist es auch kein Zufall, daß sich die literarische „Bewältigung“ der DDR häufig auch in der Form der Groteske oder Satire vollzog.

Doch nicht allein darum geht es. Es gibt eine verborgene strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Karikatur bzw.der Satire und der Geschichtsdarstellung. Genau wie der Karikaturist mit seinem Zeichenstift und der Humorist mit den Mitteln des Textes die charakteristischen Züge einer Person oder einer Situation pointiert darstellt und dadurch den gewünschten Effekt erzielt, wählt der Historiker aus der Materialfülle diejenigen Beispiele aus, die ihm typisch, bezeichnend oder relevant erscheinen. Denn dem Wesenskern der Dinge -so wie er ihn sieht -nähert er sich nicht durch den statistischen Mittelwert. Ausgewogenheit und Proporz sind nicht das Ziel der Darstellung. Erst der Brennspiegel der Groteske verzerrt die Dinge zur Kenntlichkeit. Die Anekdote, die Metapher, die Imagination, selbst die individuelle Erfahrung sind keineswegs nur das Sahnehäubchen auf der sonst allzu ungenießbaren geschichtlichen Darstellung, sondern im gelungenen Fall der Schlüssel zum Verständnis eines komplexen Zusammenhangs.

V. „Im Mittelpunkt steht der Mensch“

Verfügt die zeitgeschichtliche Forschung über das notwendige Werkzeug, in diesen Dschungel vonWidersprüchen übersichtliche Schneisen zu schlagen? Die systemimmanente Betrachtungsweise früherer Jahre ist offensichtlich ebenso gescheitert wie die einseitige Orientierung der DDR-Forschung auf Unterdrückung und Widerstand. Das Problem besteht darin, das Phänomen DDR als in sich widersprüchlich, zumindest als ambivalent zu begreifen. „Im Mittelpunkt steht der Mensch“ war eine der oft gebrauchten Floskeln in der DDR. Die Forschung sollte diese Forderung aufgreifen und den Menschen zum Gegenstand seiner Betrachtung machen. „Die Geschichtsschreibung ist mit der Geschichte der Gesellschaft, nicht mit der Geschichte des Menschen befaßt“, schrieb der tschechische Romancier Milan Kundera in seinem Essay „Die Kunst des Romans“. „Deshalb werden die historischen Ereignisse, die in meinen Romanen vorkommen, von den Geschichtsschreibern oft übersehen.“ Der Aufschwung der Wissenschaften führte nach Ansicht Kunderas seit Beginn der Neuzeit zu einer Zerstörung der Einheit des Wissens. Je mehr Wissen der Mensch sich aneignete, „desto mehr verlor er die Ganzheit der Welt und auch sich selbst aus den Augen ...“.

Ganz offensichtlich geht Kundera von einem tief-greifenden Versagen der Sozialwissenschaften aus. Nimmt man seinen Befund ernst, so ergibt sich die Frage nach den Möglichkeiten einer Synthese, zumindest aber die Frage, was Geschichtsschreibung und Literatur voneinander lernen können. „Der Weg des Romans ist eine Art parallel zur Neuzeit verlaufende Geschichte“, meint Kundera Er läßt diesen Weg mit Cervantes’ „Don Quijote“ beginnen. Der stolze Hidalgo trat in die Welt hinaus und konnte sie nicht mehr wiedererkennen. Die bisherige einzige göttliche Wahrheit war plötzlich in Hunderte von relativen Wahrheiten zerfallen. Der Aufschwung der Wissenschaften, schreibt Kundera, trieb den Menschen in die Enge spezialisierter Disziplinen. „Je mehr Wissen er sich aneignete, desto mehr verlor er die Ganzheit der Welt und auch sich selbst aus den Augen und versank auf diese Weise in dem, was Heidegger ... mit einer schönen, fast magischen Formel , Seinsvergessenheit'genannt hat.“ „Die Leidenschaft des Erkenntnisstrebens, die Husserl zufolge das eigentliche Wesen der europäischen Geistigkeit ausmacht, hat sich des Romans bemächtigt, damit er das konkrete Leben des Mensehen erforscht und vor der , Seinsvergessenheit‘ schützt; damit die , Lebenswelt immer wieder ins Licht rückt... Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans.“ Besser ließe sich auch der Sinn der Geschichtsschreibung kaum formulieren.

Doch der Blick zurück ist nicht ohne Subjektivität möglich; ein Beispiel mag dies illustrieren: Oft hört man die Meinung, die DDR wäre in den Augen vieler Menschen eine echte Alternative zur kapitalistischen und restaurativen Bundesrepublik gewesen. Allen evidenten Mängeln zum Trotz bot das Gemeineigentum an Produktionsmitteln die Chance für die Verwirklichung der sozialistischen Utopie auf deutschem Boden. Dies war eine permanente Herausforderung an die Gesellschaft der Bundesrepublik. Aber auch im Inneren gab es immer wieder Hoffnung auf eine demokratische und sogleich sozialistische Entwicklung. Ohne diese Hoffnung sei die lange Stabilität der DDR nicht erklärbar. Es war also nicht allein Anpassung und Opportunismus gewesen, wenn sich viele Bürger mit ihrem Staat identifiziert haben.

Die Gegenthese lautet: Für jeden Zeitgenossen mit nur halbwegs klarem Verstand war die DDR als Diktatur von Moskaus Gnaden erkennbar. Vom ersten bis zum letzten Tag ruhte ihre Existenz auf russischen Bajonetten. Das sozialistische Wirtschaftssystem war schon von den theoretischen Grundlagen her verfehlt. Notwendige Folgen waren der permanente Mangel an Versorgungsgütern und Dienstleistungen, ein nicht mehr aufzuholender technologischer Rückstand gegenüber dem Westen, der Raubbau an der Natur und der Verfall aller Kulturgüter. Der Mehrheit der DDR-Bürger erschien zu jedem Zeitpunkt der vierzigjährigen Geschichte das westliche Gesellschaftsmodell als erstrebenswert. Jede konsequent demokratische Reform mußte deswegen notwendigerweise zur Auflösung des Staatswesens und zur Wiedervereinigung Deutschlands führen.

Für beide Thesen lassen sich zahllose weitere Argumente anführen. Obwohl sie sich diametral widersprechen, sind sie beide auf ihre Weise wahr. Und beide Aussagen sind in dieser absoluten Formulierung gleichzeitig falsch. Mehr noch -beide Thesen eliminieren in ihrer Absolutheit die Geschichte als dialektischen Prozeß. Doch vom Historiker werden klare Aussagen erwartet. „Genossen, das müßt ihr dialektisch sehen! 44, möchte man ausrufen. Mit diesen bedeutungsschweren Worten leiteten die von der SED bestellten Dozenten und Seminarleiter oft ihre Diskussi-onsbeiträge ein. Wenn es zu erklären galt, warum gerade wegen der Entspannungspolitik die revolutionäre Wachsamkeit zu erhöhen sei oder warum es auch in der Erntezeit kein frisches Gemüse im Konsum gab, waren die Künste der dialektischen Betrachtungsweise gefragt. Der Begriff der Dialektik kam damit in jenen Jahren in Verruf. Trotzdem kann eine Darstellung der Geschichte gar nicht anders als dialektisch sein. Damit ist nicht der scholastische Hokuspokus der rühmlos untergegangenen Staatsideologie gemeint, sondern eine „dialogische“ Methode.

Milan Kundera schreibt in seinem zitierten Essay über die Kunst des Romans: „Der Mensch wünscht sich eine Welt, in der Gut und Böse klar geschieden sind ... Auf diesem Verlangen beruhen Religionen und Ideologien ... Dieses . Entweder-Oder zeugt von der Unfähigkeit, der essentiellen Relativität der menschlichen Dinge ins Auge zu sehen, zeugt von der Unfähigkeit, die Abwesenheit des höchsten Richters hinzunehmen. Auf Grund dieser Unfähigkeit ist es schwierig, die Weisheit des Romans zu akzeptieren und zu begreifen.“ Die Geschichtsschreibung -auch diejenige über die DDR -könnte aus diesen Einsichten lernen.

VI. Fazit

Die innere Auseinandersetzung mit kollektiv erlebten historischen Ereignissen oder Epochen -man mag dies Aufarbeitung oder anders nennen -besitzt offenbar eine spezifische Eigendynamik. Die akademische Fachwissenschaft hat die Erfahrung zu akzeptieren, daß sie diesen Prozeß kaum beeinflussen und schon gar nicht bestimmen kann. Es wäre reizvoll, eine Art Phasenmodell solcher Aufarbeitungsprozesse der Vergangenheit zu entwerfen. Als Beispiel ließe sich das Fronterlebnis des Ersten Weltkrieges oder der für viele Menschen schwer begreifliche militärische Zusammenbruch im Jahr 1918 denken. Naheliegend wäre bei aller Unterschiedlichkeit auch der Vergleich mit den Auseinandersetzungen um Nationalsozialismus und Krieg, die bis zum heutigen Tag Überraschungen bieten. Bei aller Skepsis gegenüber derartigen Analogien fallen doch einige Ähnlichkeiten ins Auge: Der Phase einer intensiven und stark emotionalisierten Debatte über Schuld und individuelle Verantwortung folgt ein Pendelschlag in die andere Richtung. Es gibt Versuche einer wissenschaftlichen, parlamentarischen oder juristischen Aufklärung der Hintergründe der Geschehnisse -etwa der Kriegsschuldfrage. Dies führt fast zwangsläufig zu einer politischen Instrumentalisierung der Debatte. Gleichzeitig geraten die Ereignisse selbst zunehmend aus dem Blickfeld. Die Menschen haben das Gefühl, eher zuviel als zuwenig über die Dinge gehört zu haben. Schließlich wächst eine neue Generation heran, die sich auf neue Weise mit der Geschichte der Elterngeneration auseinandersetzen muß. Gleichzeitig ist die Distanz groß genug, damit die Ereignisse durch Werke der Literatur, Filme oder wissenschaftliche Darstellungen in einen größeren Zusammenhang gestellt werden können. Neuerlich setzen Debatten ein, in denen sich die Standpunkte noch unversöhnlicher gegenüberstehen. Dasselbe Phänomen kann sich im Intervall von fünfzehn bis zwanzig Jahren wiederholen und sich mit anderen öffentlichen Debatten vermischen.

Nach der Analogie der genannten Beispiele befänden wir uns heute rein rechnerisch im Jahre 1925 bzw. 1952, also eher in der Phase der inhaltlichen Verflachung der Diskussion, die aus dem Zentrum gesellschaftlicher Debatten zum Betätigungsfeld politisch motivierter Interessen und kleiner Gruppen wird. Nach dem Ersten Weltkrieg vergingen zehn Jahre, bis nach der ersten Welle expressionistischer Literatur wieder eine Reihe wichtiger Bücher über den Weltkrieg -wie etwa Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder Ludwig Renns „Krieg“ und Ernst Glaesers „Jahrgang 1902“ -erschienen und für Unruhe sorgten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg vergingen zehn Jahre, bis mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ ein Buch über die Judenverfolgung das breite Lesepublikum erreichte.

Eine Versachlichung der Diskussion oder eine Historisierung ist also kaum zu erwarten. Eher ist es wahrscheinlich, daß die Grundsatzfragen unseres Jahrhunderts mit größerer Tiefe, aber auch mit dem hohen moralischen Anspruch der Wahrheitssuche neu gestellt werden. Eine Verharmlosung der DDR wünschen sich zwar viele Zeitgenossen -nicht zuletzt, um ihr individuelles Versagen gewissermaßen zu objektivieren. Doch wären die Forschung und auch die Politik schlecht beraten, diese aktuelle Zeitströmung bedienen zu wollen. Dagegen ist es angebracht, über methodische und konzeptionelle Fragen der Behandlung der DDR in der Forschung nachzudenken. Es mangelt nicht an Publikationen und schon gar nicht an Forschungsprojekten. Doch gibt es bisher nur wenig Bücher, in denen sich die „Menschen wiederfinden“. Die Erforschung des Alltags und der Lebenskultur der DDR sollte deswegen einen zentralen Platz innerhalb der künftigen Forschung einnehmen. Dabei dürfen die Einzelphänomene nicht isoliert von den sozialen und mentalen Bedingungsgefügen betrachtet werden. Allein über die Alltagserfahrung lassen sich die oben geschilderten Fragen nach der Funktionsweise der Diktatur, nach der Akzeptanz der Herrschaft durch die Betroffenen, nach den nach wie vor schwer erklärbaren rasanten Veränderungen seit dem Sommer 1989 allerdings nicht beantworten. Die Aktenberge der Parteien und Massenorganisationen, des Staatsapparates und des MfS bieten einen gigantischen kulturgeschichtlichen Fundus. Ein hervorragendes Beispiel hierfür hat neuerdings Jochen Staadt in der leider viel zu wenig bekannten Schriftenreihe des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin geliefert. Anhand von Eingaben entwirft er das Bild einer „institutionalisierten Meckerkultur“ und bietet dadurch Alltagsleben der DDR sozusagen „live“ Das geschilderte Abbild wirkt lächerlich und zugleich bedrückend. Die Funktionsweise der Diktatur wird konkret und präzise gezeigt, und dies eben auch in ihrer Schwäche und Unsicherheit. Ein anderes Beispiel für eine gelungene Synthese brachte der Micado-Verlag aus dem anhaltinischen Köthen auf den Markt. Ein „Kleines Lexikon Großer Ostprodukte“ mit Texten von Reinhard Ulbrich und Fotos von Andreas Kämper liefert einen reizvollen Spaziergang durch den Alltag der DDR und bietet zudem einen buchgestalterischen Genuß in Zeiten der Standardisierung. Die Zeitgeschichte verbleibt derzeit also in einer merkwürdigen Ambivalenz zwischen Politik, biographischer Erfahrung und objektiver Forschung. Dies muß der Forschung nicht abträglich sein. Ein subjektiver Standort schadet der Wissenschaftlichkeit nicht; er muß nur deutlich definiert werden. Es sollte hier keine künstliche Trennung von „objektiver Wissenschaft“ und „subjektiver Erfahrung“ stattfinden. Es geht nicht allein darum, das rechte Maß zwischen Dämonisierung und Verharmlosung der SED-Diktatur zu finden. Es geht um die Darstellung des Zusammenhangs von Repression im Alltag -also um die dämonische Dimension der Harmlosigkeit und um die harmlos-alltägliche Seite der Dämonie. Es hat beides gegeben: die biedermeierliche Gartenzwergidylle des DDR-Alltags und das Repressionssystem. Sie haben aber -auch wenn es vielen so schien oder heute so scheint -nicht unabhängig nebeneinander existiert. Das eine war die Bedingung des anderen. Zwischen dem sauber geharkten Todes-streifen an der Mauer und den gepflegten Vorgärten der Datschenkolonien bestand eine dialektischeEinheit der Gegensätze. Dieser Zusammenhang wurde von westlicher Seite oft bewußt übersehen. Da die Menschen hinter der Mauer offenbar ganz gut zurechtkamen, schienen die Teilung und die SED-Diktatur als Preis für die politische Stabilität und den „Frieden“ erträglich. Auch in der DDR selbst wurde dieser Zusammenhang gern verdrängt. So hat auch das kleine Glück der Diktatur nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Umständen existiert. Der englische Schriftsteller Aldous Huxley schrieb hierzu: „Das Problem des Glücks“ bestehe darin, „wie man die Menschen dazu bringt, ihr Sklaventum zu lieben“ 14.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Märkische Oderzeitung vom 12. März 1997.

  2. Walter Schmidt, Das Zwei-Nationen-Konzept der SED und sein Scheitern. Nationendiskussion in der DDR in den 70er und 80er Jahren (= hefte zur ddr-geschichte, 38), Berlin 1996, S. 46.

  3. Sozialreport Neue Bundesländer, 1. Quartal 1995, hrsg. vom Sozialwissenschftlichen Forschungszentrum Berlin Brandenburg e. V.. Berlin 1995, S. 9.

  4. W. Schmidt (Anm. 2), S. 47.

  5. Vgl. Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble u. a., Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553.

  6. Milan Kundera, Die Kunst des Romans, Frankfurt am Main 1990, S. 45.

  7. Ebd., S. 17.

  8. Ebd., S. 11.

  9. Ebd., S. 13.

  10. Ebd., S. 15.

  11. Vgl. Jochen Staadt, Eingaben. Die institutionalisierte Meckerkultur in der DDR. Goldbrokat, Kaffee-Mix, Büttenreden, Ausreiseanträge und andere Schwierigkeiten mit den Untertanen (Arbeitspapiere des Forschungverbundes SED-Staat, 24/1996).

Weitere Inhalte

Stefan Wolle, Dr. phil., geb. 1950; Studium der Geschichte in Berlin, bis 1990 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR; seit 1997 Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Wladimir der Heilige. Rußlands erster christlicher Herrscher, Berlin 1990; (zus. mit Armin Mitter) Ich liebe Euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS. Januar bis November 1989, Berlin 1990; (Hrsg. zus. mit Armin Mitter und Bernd Florath) Die Ohnmacht der Allmächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft, Berlin 1992; (zus. mit Armin Mitter) Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993; (Hrsg. zus. mit Armin Mitter und Ilko-Sascha Kowalcuk) Der Tag X -17. Juni 1953, Berlin 1995.