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Versuch einer Bilanz Zur Krise der politischen Bildung | APuZ 32/1997 | bpb.de

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APuZ 32/1997 Versuch einer Bilanz Zur Krise der politischen Bildung Kategorien politischer Urteilsbildung Zwischenruf zur Krisen-und Perspektiven-dämmerung des Politikunterrichts Politikverständnis im Wandel Die Abkehr der Studierenden von der Parteiendemokratie Demokratie braucht politische Bildung Zum Auftrag der Bundeszentale und der Landeszentralen für politische Bildung

Versuch einer Bilanz Zur Krise der politischen Bildung

Hermann Giesecke

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die gegenwärtige Krise der politischen Bildung beruht u. a. auf Schwierigkeiten, mit denen sie seit 1945 zu kämpfen hatte. Politisch gesehen wurde sie initiiert von den Besatzungsmächten. Sie geriet immer wieder in innenpolitische Debatten über die demokratischen Prinzipien und Zielsetzungen des Gemeinwesens und wurde so selbst zum politisch umstrittenen Thema. Hinzu kam die moralische Hypothek, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte und die die rationale demokratisch-politische Bildung immer wieder mit erzieherischen Postulaten überlagerte. Später sorgte eine hochschulorientierte didaktische Professionalisierung dafür, daß der Bezug zur pädagogischen Praxis weitgehend verlorenging. Zudem stellt die Schulreformbewegung und die an ihr orientierte Bildungspolitik die Existenz des Faches in Frage. Eine Lösung der Krise ist nur zu erwarten, wenn diese Trends kritisch überprüft werden und wenn die politische Bildung ihre fachlichen Grenzen überschreitet und den (schul-) pädagogischen Zeitgeist einer Kritik unterzieht.

Will man die gegenwärtige Krise der politischen Bildung verstehen, die offensichtlich von keinem Kundigen geleugnet, wenn auch unterschiedlich gedeutet wird muß man die wesentlichen Determinanten ihrer Entwicklung in Westdeutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blick nehmen. Dann fallen vor allem vier Trends ins Auge: ihre Politisierung, ihre Moralisierung, ihre Professionalisierung und ihre Pädagogisierung. Sie spielen auch heute noch eine -wenn auch nicht immer bewußte -Rolle, und sie müssen kritisch überprüft werden, wenn von den künftigen Aufgaben und Chancen der politischen Bildung realistisch die Rede sein soll.

I.

Die politische Bildung nach 1945 war eine Reaktion auf die NS-Verbrechen und den verlorenen Krieg; sie konnte deshalb nicht einfach an ihre Vorläufer aus der Zeit vor 1933 anknüpfen. Ihre ersten Impulse erhielt sie vom Umerziehungskonzept („re-education“) der alliierten Sieger. Sie stand also von vornherein unter einer politischen Zielvorgabe: Mit pädagogischen Mitteln -Lernen und Bildung -sollte das politische Ziel erreicht werden, Denazifizierung, Demilitarisierung und Demokratisierung in den Köpfen und Herzen der Deutschen -vor allem der jungen -zu verankern. Von diesem Ausgangspunkt her erschien sie nicht wenigen Deutschen damals als Teil des Siegerhandelns -im Zusammenhang mit anderen, zweifellos als repressiv gedachten Maßnahmen wie Entnazifizierung, Kriegsverbrecherprozesse und Demontage. Die politische Bildung begann also bei uns unter der Voraussetzung, daß es demokratische Strukturen und Normen noch gar nicht bzw. erst in Anfängen gab, deren Existenz sie eigentlich hätte voraussetzen müssen. Daraus ergab sich die pädagogische Paradoxie, daß die Erwachsenen, die traditionell für die Bildung und Erziehung der Jungen zuständig sind und dabei diesen gegenüber die normativen Prinzipien der Gesellschaft zur Geltung zu bringen haben, selbst erst einmal einer demokratischen Erziehung bedurften: Die potentiellen Erzieher waren selbst zu Erziehende; denn schließlich waren sie in das undemokratische und dazu noch hochgradig kriminelle NS-System irgendwie verwickelt gewesen, das sich seinerseits auf antidemokratische deutsche Traditionen stützen konnte.

Eine Folge dieses politischen Ausgangspunktes war, daß die politische Bildung von vornherein in die innenpolitische Diskussion über die Werte und Strukturen der neuen demokratischen Staats-und Gesellschaftsverfassung involviert wurde bzw. diese mit veranlaßte. In diesem Sinne war sie von Anfang an notwendigerweise parteilich und konnte keineswegs -wie in anderen westlichen Demokratien -von einem breiten Konsens ausgehen. In dem Bemühen, ihre pädagogischen Maximen und Praktiken zu finden, geriet sie unausweichlich in die innenpolitischen Debatten, die sich nach dem Krieg etwa über bestimmte Aspekte der Verfassung, über das ihr entsprechende Menschenbild und über die politische Kultur angesichts der unmittelbar zurückliegenden NS-Vergangenheit folgerichtig ergaben.

Eine solche Grundsatzfrage war z. B.: Ist unsere demokratische Verfassung lediglich als ein formelles Regelsystem anzusehen, das Mehrheiten und Minderheiten auf der Grundlage von Wahlen zustande bringen soll, um so Regierungen zu legitimieren? Oder müssen mit dem Begriff „Demokratie“ inhaltliche Entscheidungen verbunden werden, die dieser Staats-und Gesellschaftsverfassung erst ihren spezifischen Sinn im Unterschied zu den totalitären politischen Systemen des Nationalsozialismus und des Stalinismus geben? Theodor Litt beantwortete diese Frage in den fünfziger Jahren formal, nämlich im Sinne einer allgemeinen Staats-theorie, in der das spezifisch Demokratische nicht in einem ideellen, sondern nur in einem formalen Sinne, als Legitimierung pluraler Macht-und Ordnungskonzepte, zum Ausdruck kam Jürgen Habermas dagegen sah die politische Beteiligung der Bürger sehr viel weiter gefaßt; Demokratie müsse die Mündigkeit aller Bürger befördern und sei mehr als nur ein Set von Spielregeln für legitime Machtgewinnung und Machtveränderung: „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmungder Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr.“

Eine weitere, damit zusammenhängende Grundsatzfrage war: Sollen außer dem Staat nur die Parteien und Verbände demokratisch verfaßt sein oder auch die Kirchen, Familien, Schulen? Hat Demokratie also auch etwas mit einer bestimmten Kultur des öffentlichen Umgangs zu tun, ist sie so etwas wie eine Lebensform? Friedrich Oetinger (= Theodor Wilhelm) antwortete darauf mit seiner Partnerschaftsthese, nach der es vor allem um eine Neuordnung der unmittelbaren menschlichen Beziehungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen ging, auch im Verhältnis von Lehrern und Schülern er verband diese Forderung mit einer vehementen Kritik an der überlieferten deutschen Unfähigkeit, öffentliches Verhalten von privatem zu unterscheiden und spezifisch zu kultivieren. Litt warf ihm deswegen vor, zwischen Politischem und Sozialem nicht genau genug zu unterscheiden. In der Tat stellte Oetinger weniger die inhaltlichen Fragen der Demokratie in den Mittelpunkt seines pädagogischen Konzepts als vielmehr pragmatische Übungen wie die demokratischen Verfahren der Debatte und der Diskussionsleitung; auch diese Fähigkeiten mußten die Deutschen ja erst einmal lernen.

Der „Deutsche Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen“ suchte einen Kompromiß zwischen den Grundpositionen von Oetinger und Litt zu finden, indem er daraus eine biographische Reihenfolge machte: Zunächst, in jüngerem Alter, sollten die Schüler im Rahmen ihrer unmittelbaren Lebenswelt aufgeklärt und dort zu demokratischer Beteiligung befähigt werden, und erst in späterem Alter zu den grundlegenden politischen Einsichten geführt werden, wie es Litt verlangt hatte

Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre geriet die politische Bildung aus anderen Gründen in die öffentliche Aufmerksamkeit: Antisemitische Schmierereien und Schändungen jüdischer Gräber verunsicherten das Land, und die Politiker wurden schon deshalb zu Maßnahmen gedrängt, weil diese Taten dem Ansehen Deutschlands im Ausland erheblich schadeten. Zum anderen setzte in diesen Jahren eine massive Propagandakampagne der DDR gegenüber westdeutschen Jugendlichen ein, die z. B. zu relativ preiswerten Ferienlagern eingeladen und dort in ideologische Debatten verwikkelt wurden, denen sie nicht gewachsen und auf die sie nicht vorbereitet waren. Ähnlich erging es westdeutschen Studenten und Oberschülern bei entsprechenden Einladungen. Das Gespenst einer unkontrollierbaren kommunistischen Infiltration tauchte auf und sorgte für Aufregung bei der politischen Administration. Nun war der Boden dafür bereitet, die politische Bildung besser als vorher zu fördern, und davon profitierte nun neben der Schule auch die außerschulische Jugendbildung; in deren Einrichtungen wurde politische Bildung fortan verhältnismäßig großzügig vor allem durch den Bundesjugendplan finanziert.

Erneut geriet sie dabei aber in die Auseinandersetzung um politische Grundsatzfragen; denn die ideologischen Angriffe aus dem Osten blieben insofern nicht ohne Wirkung, als sie die scheinbar schon erledigte Frage nach den Grundlagen der eigenen Staats-und Gesellschaftsverfassung wieder aufwarfen. Nun wurde auch zum Problem, daß die bundesrepublikanische Verfassung von Anfang an nur als eine provisorische gedacht und insofern gleichsam nur mit halber Verbindlichkeit ausgestattet war. Sie enthielt ja den Auftrag der Wiedervereinigung, und so war es fast folgerichtig, daß in der politischen Bildung in den sechziger Jahren zum ersten Mal wieder die Kategorie des Nationalen, die Forderung nach Nationalgefühl als leitende pädagogische Idee auftauchte. Aber dieses Thema blieb Episode, weil es Ende der sechziger Jahre durch die Studentenbewegung überrollt wurde, die ganz andere Fragen in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rückte.

Die inneren Widersprüche der westdeutschen Gesellschaft waren jedoch offenkundiger geworden, so daß diejenigen, die in der Schule wie in der Jugendarbeit politische Bildung betrieben, mit ihrer bisherigen Arbeit unzufrieden wurden. Es gab nämlich keine didaktischen Konzepte dafür, auch die inneren Widersprüche zum Thema zu machen, anstatt weiterhin „demokratische Märchenerzählungen“ (Felix Messerschmid) zu verbreiten. In diesem Zusammenhang entstanden die konfliktorientierten didaktischen Konzepte Sie waren schulpädagogisch insofern revolutionär, als sie die „Exterritorialität“ des Jugendalters und der Schule erheblich relativierten, die rein propädeutische Funktion des politischen Unterrichts, wie sie noch der Deutsche Ausschuß vertreten hatte, aufgaben und die Schularbeit und damit auch die Lehrer in die unmittelbare politische Aktualität stellten. In der Überlieferung der deutschen Bildungstradition dagegen hatte die Schule als poli- tisch abstinent zu gelten, was durch ihren Mißbrauch in der NS-Zeit erneut gerechtfertigt schien, und auch die Jugendlichen galten nicht als Subjekte eigener politischer Interessen. Mit dieser Tradition brachen die konfliktorientierten didaktischen Konzepte.

Aber nicht die Schulen wurden für die nächste Zeit zum Zentrum didaktischer Innovationen, sondern Einrichtungen der außerschulischen Jugend-bildung, die didaktisch-methodisch besonders experimentierfreudig waren. Es war die Stunde der Jugendhöfe (Vlotho, Steinkimmen, später Dörnberg) und einiger Evangelischer Akademien. Zugute kam diesen Einrichtungen, daß sie im Unterschied zur Schule wenig bürokratisiert und nicht an vorgegebene Lehrpläne gebunden waren, auch daß die Teilnahme an ihren Veranstaltungen auf Freiwilligkeit beruhte. Was heute als „offener Unterricht“ und „Projektunterricht“ propagiert wird, entwickelte sich damals in diesen Einrichtungen in vielfältiger Form; deren Veranstaltungen wurden von den Jugendlichen oft als eine geradezu befreiende Alternative zur Schule erlebt

Mit den konfliktorientierten didaktischen Ansätzen provozierte die politische Bildung aber erneut innenpolitische Auseinandersetzungen, denn jene thematisierten die unterschiedlichen Interessen der Bevölkerung und deren unterschiedliche Realisierungschancen im politischen Leben. Daher lag es auch nahe, Jugendliche bzw. Schüler zu ermutigen, ihre eigenen Interessen in ganz anderer Weise als bisher zu erkennen und zu vertreten. Dies brachte wiederum konservative Positionen auf den Plan, die etwa mit dem Begriff des „Gemeinwohls“ diese Tendenz in Grenzen zu halten versuchten und im übrigen auf die überlieferte lediglich propädeutische Aufgabe aller Bildung -auch der politischen -verwiesen.

Obwohl also die politische Bildung stets in die innenpolitischen Konflikte über Sinn und Inhalt der westdeutschen Demokratie verwickelt blieb, behielt die didaktische Argumentation bei aller Widersprüchlichkeit dennoch einen inneren Zusammenhang, blieb sie einer gemeinsamen Problemlösung verpflichtet. Die Didaktiker lernten voneinander und versuchten, die unterschiedlichen Positionen in die eigene mit der Absicht zu integrieren, politisches Lernen optimal didaktisch zu strukturieren. Das änderte sich Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Studentenbewegung. Nun spaltete sich die politische Bildung ebenso, wie sich die Gesellschaft polarisierte. Keine didaktisch-methodische Konstruktion des politischen Unterrichts konnte bald mehr präsentiert werden, ohne daß sie sofort in einen komplizierten politisch-ideologischen Rechtfertigungszusammenhang geriet. Aufgabe didaktisch-methodischer Konstruktionen ist ja eigentlich, Lernen zu ermöglichen, und nicht, den Gegenstand selbst -also Politik -zu definieren und zu bearbeiten; dafür sind andere Kompetenzen zuständig -die Akteure selbst, die Politikwissenschaftler oder die Philosophen.

Diese Auseinandersetzungen waren, rückblickend gesehen, möglicherweise nützlich für das Selbstverständnis unserer demokratischen Ordnung, weil sie öffentliche Kontroversen darüber auslösten, auch wenn sie der pädagogischen Sache eher geschadet haben. Vor allem in den siebziger Jahren war es kaum möglich, das pädagogische Erfolgskriterium -Lernen ermöglichen -in didaktischen Szenarien zur Geltung zu bringen, ohne mehr oder weniger tiefsinnigen politisch-ideologischen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein. Höhepunkte dieser fast totalen Identifizierung von Politik und Didaktik waren die erbitterten Auseinandersetzungen über neue Richtlinien für den politischen Unterricht in Hessen und Nordrhein-Westfalen Anfang der siebziger Jahre. Die alten Richtlinien enthielten neben einer im wesentlichen erzieherisch-moralisch formulierten Präambel lediglich allgemein gehaltene Stoffkataloge; die neuen verschmolzen nun den im engeren Sinne politischen Text -die Richtlinien -mit didaktischen Konzeptionen. Begründet wurde dies mit den damals in Mode gekommenen curricularen Lernzielstrategien. Das Unterrichten sollte sich präziser als vorher rechtfertigen, es sollte klarstellen, welche Ziele es eigentlich verfolge, diese öffentlich diskutierbar und vor allem auch kontrollierbar machen, inwieweit sie auch tatsächlich erreicht wurden. Dieses curriculare Verfahren führte u. a. dazu, daß z. B. die Hessischen Richtlinien für „Gesellschaftslehre“ den Umfang eines Romans erhielten, während frühere Richtlinien lediglich allgemeine Zielvorstellungen mit ebenso allgemeinen Stoffhinweisen auf ein paar Druckseiten verbunden hatten. Darüber brach nun auch innerhalb der Reformer eine Debatte aus, inwieweit nämlich didaktische Entscheidungen, die eigentlich nur der Lehrer jeweils treffen kann, mit der Ebene des politischen Textes vermischt werden dürften und damit eine politische Offizialität bekämen, die ihnen von der Sache her nicht zustünde. Was am politischen Unterricht gehört in die ministerielle Kanzlei, was in die jeweilige Schulstube?

Eine neue politisch-ideologische Qualität erreichte die Auseinandersetzung durch jetzt zum Zuge kommende, an der „kritischen Theorie“ bzw. neomarxistisch orientierte Autoren, die die politisch-5 didaktischen Konzepte nun ideologiekritisch sortierten. Was sich nicht „antikapitalistisch“ verstand, wurde ausgegrenzt. Die so Etikettierten machten nun ihrerseits mobil, und ihren Höhepunkt erreichte diese innenpolitische Polarisierung in den schon erwähnten Richtliniendiskussionen. Die Energie dieses Streites verbrauchte sich jedoch in wenigen Jahren, und zurück blieb ein didaktisch-methodischer Trümmerhaufen; die didaktischen „Positionen“ existierten nun nebeneinander, waren nicht mehr wie vorher an einen gemeinsamen Problemlösungszusammenhang gebunden, nämlich politisches Lernen zu ermöglichen. Es gab nur noch „Lager-Didaktiken“, die von den jeweiligen Anhängern abgerufen wurden. Die radikalen „Anti-Kapitalisten“ hatten die Fragen, die sie den Schülern stellten, ohnehin für sich längst beantwortet, so daß die didaktische Problematik ein für allemal erledigt schien und es nur darauf ankam, Methoden zu finden, mit denen das „richtige“ Bewußtsein in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen transportiert werden konnte. Auch der sogenannte „Beutelsbacher Konsens“ von 1977 konnte daran nur wenig ändern 8 .

Aus dem voraussehbaren Scheitern dieses didaktischen Objektivismus entwickelte sich dann schon Ende der siebziger und verstärkt in den achtziger Jahren eine subjektive Wende; der Blick richtete sich nun auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, Politik wurde verstanden als Rohmaterial für das Drama der jeweiligen Subjektivität. Hatten die Neomarxisten die politischen Institutionen immerhin noch anerkannt -wenn auch mit dem Ziel, sie abzuschaffen oder umzukrempeln -, so wurden diese nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche Beziehungen reduziert. Hatten die Neomarxisten mit dem Klassenbegriff das gesellschaftlich Böse immerhin dingfest zu machen versucht, so verschwand es nun ins ungreifbar Allgemeine. „Irgendwie“ liege es immer auch an der Gesellschaft, wenn Kinder und Jugendliche Probleme hätten oder machten.

Der politischen Bildung ist im Verlaufe dieser Entwicklung das Politische als etwas Objektives, in das durch Lernen einzudringen sei, weitgehend abhanden gekommen. Walter Gagel spricht in diesem Zusammenhang vom „Syndrom des Subjektiven“ Die Kultivierung des Ich frage nur danach, was die jeweilige politische Sache mit einem selbst zu tun habe; die menschlichen Beziehungen, gerade auch zwischen Lehrern und Schülern, würden wichtiger als die Inhalte; die menschliche Nähe werde zum Kult und Selbstzweck; die objektiven, nämlich außersubjektiven Strukturen von Gesellschaft und Politik verflüchtigten sich und alles Kognitive werde entwertet oder zumindest als nachrangig angesehen. In dieser Form ist die politische Bildung durch fast beliebige andere Fächer substituierbar geworden.

II.

Die eben skizzierte innenpolitische Polarisierung vermischte sich mit einer moralischen. Wegen der NS-Verbrechen war eine bloß sachlich-nüchterne Fundierung der politischen Bildung in der Bundesrepublik von Anfang an nicht möglich; dafür war die moralische Hypothek zu groß. Mit dieser Belastung sind die verschiedenen Pädagogengenerationen unterschiedlich umgegangen. Diejenigen Lehrer, die, wie beschädigt auch immer, die NS-Zeit überstanden hatten und nun nach einem geistigen Neuanfang suchten, flüchteten sich meist in eine bildungsbürgerliche Innerlichkeit und versuchten das moralische Desaster durch mehr oder weniger allgemeine normative Reflexionen darüber zu überwinden, wie man generell den Menschen vor dem Bösen bewahren und zum Guten führen könne.

Aber schon in den fünfziger Jahren wurde der moralische Impetus, der von den NS-Verbrechen ausging, auf dem Vehikel des „Kalten Krieges“ unter dem Stichwort des „Totalitarismus“ gegen den östlichen Kommunismus gewendet, der mit eben diesem Begriff dem Nationalsozialismus moralisch-politisch gleichgestellt wurde. Die moralistische Energie, die dieser Definition nun anhaftete, machte zeitweilig in der politischen Bildung eine sachliche Beschäftigung mit den damit gemeinten aktuellen wie auch historischen Phänomenen -z. B. Geschichte der Arbeiterbewegung -ausgesprochen schwer. Sie wurde leicht der Verbreitung kommunistischer Lehren bezichtigt. Pikanterweise erfolgte diese moralische Umdefinition weitgehend von solchen Personen in Politik und Verwaltung, die zum großen Teil selbst Grund genug hatten, ihre NS-Vergangenheit unter die Lupe zu nehmen, was ihnen weitgehend erspart blieb durch die Blickwendung gen Osten. Diese Projektion führte nun zu der Erwartung und vielfach auch zu der Praxis, in der politischen Bildung nicht die Realität der westdeutschen politischen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, sondern unter den Stichworten von „Freiheit“ und „Demokratie“ auf einer abstrakten moralischen Ebene gegenüber den andersartigen Verhält- nissen vor allem in der DDR ein Idealbild der Bundesrepublik zu propagieren.

Eine Moralisierung des Politischen kann ja zwei entgegengesetzte Folgen haben: Entweder wird die Norm bereits für die Realität gehalten, oder die Realität wird an den Ansprüchen der Norm gemessen und dann verurteilt. Diese Kehrtwende vollzog die Bewegung der Achtundsechziger; sie nahm die hehre demokratische Selbsteinschätzung der jungen deutschen Demokratie ernst und fand dann in der Realität eine Vielzahl von Widersprüchen. Sie machte auf diesem Hintergrund Front gegen die Verdrängung der NS-Vergangenheit, aber damit zugleich auch gegen die gerade in den Anfängen steckenden aufklärerisch-rationalen Elemente der politischen Bildung. Sie gab der Moralisierung des Politischen neue, nun offensive Impulse. Ausgangspunkt war unter anderem die Abrechnung mit der Elterngeneration, deren aktive oder passive Verstrickung in die Kriminalität des Nationalsozialismus nicht nur als historische Tatsache „entlarvt“ werden sollte -wie ein damaliges Modewort hieß; vielmehr wurde auch deren gesamte persönliche Lebensführung unter grundsätzlichen Verdacht gestellt: Ihre strikte Trennung von privater Sphäre und Öffentlichkeit habe vorher dazu gedient, die Augen vor den NS-Verbrechen zu schließen, also verschleiere sie auch jetzt die politischen Übel; ihr Leistungswille zum Wiederaufbau und die dafür benötigten verinnerlichten sogenannten „Sekundärtugenden“ wie Fleiß und Disziplin hätten vorher zu Auschwitz geführt, also seien diese für immer von Grund auf moralisch diskreditiert.

Die schon erwähnte politische Polarisierung im Zeichen neomarxistischer Ideologiekritik verband sich nun mit einer moralisierenden Polarisierung der politischen Gegenwart. Der westdeutsche „Antifaschismus“ war geboren, der zu einem identitätsstiftenden Merkmal für einen wichtigen Teil der rebellierenden Generation wurde und die öffentliche Meinung und vor allem die pädagogische Diskussion nicht unwesentlich bis heute bestimmt. Mit ihm verband sich ein ebenfalls bis heute zumindest in der damals geprägten Pädagogengeneration anzutreffendes tiefes Mißtrauen gegen die demokratische Qualität des „politischen Systems“ im eigenen Land, das es wiederum schwermachte, etwa das unbedingte Festhalten an rechtsstaatlichen Regelungen gegenüber jedermann -auch den „eigenen Leuten“! -als eine wichtige Lektion gerade aus der NS-Zeit zu begreifen. Das moralische Potential, das aus der Schuld der NS-Verbrechen gewachsen war, wurde als politisch frei flottierend verwendet -allerdings auf unterschiedlichen Ebenen: einerseits gegen den Kommunismus, andererseits gegen die eigene demokratische Staats-und Gesellschaftsverfassung und deren Repräsentanten.

Der moralistische Tenor hat nicht nur die öffentliche politische Diskussion in Westdeutschland nachhaltig bestimmt, sondern auch die politische Bildung. Sie hat dieser eine „erzieherische“ Attitüde angeheftet, die der rationalen Aufklärung, die Bildung eigentlich erstreben soll, von Anfang an immer wieder im Wege stand. Die Schüler sollen demnach z. B. nicht nur etwas erkennen und Einsichten gewinnen, sondern darüber hinaus auch ein erwünschtes Verhalten erwerben, z. B. bestimmte politische Gruppen oder Ziele für moralisch verwerflich halten und andere für gut befinden. Sie sollen nicht nur begreifen, warum die Nazis an die Macht gekommen sind, sondern diese Erkenntnis auch mit dem gebührenden Widerwillen verbinden, so daß sie zeitlebens einen großen Bogen um Neonazis machen oder wen sie dafür halten (sollen). Einer Aufklärung ohne erzieherische Direktion wird immer noch zutiefst mißtraut, weil ihr keine eigenständige pädagogische Wirkung zugestanden wird, so daß nicht wenige Schüler die politische Bildung in den Schulen als ein „Laberfach“ erleben.

III.

Zunächst fehlten nach dem Kriege die von den Nazis weitgehend verdrängten Politik-und Sozial-wissenschaften, die der politischen Bildung einen realistischen wissenschaftsorientierten Bezug und damit eine eigene Professionalität hätten verschaffen können; deren emigrierte Vertreter kamen erst zögernd im Laufe der fünfziger Jahre zurück. Sie vor allem schufen dann die wissenschaftlichen Grundlagen für einen an den politisch-gesellschaftlichen Realitäten orientierten politischen Unterricht in den Schulen, der sich zumal an den Gymnasien im Laufe der sechziger Jahre langsam durchzusetzen begann. Publizistischer Mittelpunkt dieser Debatte war die Zeitschrift „GesellschaftStaat-Erziehung“, deren grundlegende Beiträge zur politischen Bildung in den Schulen in der Regel ebenso praxisnah wie theoretisch durchdacht waren; es lohnt sich auch heute noch, sie zu studieren.

Die sachbezogenen Bezugswissenschaften Soziologie und Politikwissenschaft konnten aber das Terrain der politischen Bildung keineswegs kampflos übernehmen, weil im überlieferten deutschen Bildungsdenken ein hinreichendes Verständnis für soziale und politische Strukturen gar nicht vorgesehen war. Mit dem Perspektivenwechsel auf die soziopolitischen Realitäten verband sich also zwangsläufig eine kritische Distanz zum Bildungsverständnis der bisherigen politischen Bildung, wie sich überhaupt die Erziehungswissenschaft hinsichtlich ihres Weltverständnisses wie ihrer anthropologischen Grundannahmen einer grundsätzlichen Kritik durch diese Wissenschaften ausgesetzt sah; ich erinnere nur an die einschlägigen Auseinandersetzungen mit Helmut Schelsky.

Die weitere Entwicklung läßt sich vereinfachend auf den Nenner bringen, daß die Erziehungswissenschaft -vor allem in Gestalt der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktik -sich gegen die beiden Realwissenschaften wieder durchsetzte und zum wichtigsten Legitimator und Transporteur der moralisierenden und subjektorientierten Wende geworden ist. Sie expandierte zudem Anfang der siebziger Jahre -im Gefolge der Bildungsreform-bewegung -an den Hochschulen und Universitäten, wovon nicht zuletzt auch die Fachdidaktiken profitierten. Nun gab es an den Universitäten neben der Professur für Politikwissenschaft eine solche für Didaktik der Politik, an den Pädagogischen Hochschulen in der Regel kombiniert und in Personalunion als „Politik und ihre Didaktik“ oder in ähnlichen Formulierungen.

Man weiß heute kaum noch, daß die Fachdidaktiken in dieser Form ein Novum waren. An den Volksschulen gab es keine Fächer im heutigen Sinne, und die Lehrerausbildung bestand aus einem theoretischen Teil an den Hochschulen und einem praktischen in den schulformbezogenen Vorbereitungsdiensten. Nun wurden recht zügig und großzügig Professuren für die Fachdidaktiken -auch für Politik -an den Hochschulen eingerichtet, aber deren Fachgebiete konnten nicht auf eine entsprechende akademische Tradition zurückblicken. Die Folge davon war, daß in vielen Fällen die Didaktik, vor allem wenn sie sich gegenüber der Bezugswissenschaft verselbständigte, ihre Profilierung dadurch betrieb, daß sie die Pädagogisierung der Fächer forcierte und somit auch zum bedeutsamen Träger der von Walter Gagel beklagten Entpolitisierung der politischen Bildung wurde.

Hinzu kam ein weiteres Problem: Die ersten didaktisch-methodischen Entwürfe Anfang der sechziger Jahre, die sich auf die politischen und sozialen Wissenschaften stützten, wurden von Praktikern aus der Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung vorgelegt, mithin von Personen, die selbst politischen Unterricht erteilten und die die Probleme, auf die sie dabei stießen, den anderen Kollegen in gleicher Lage mit dem Ziel präsentieren wollten, von ihnen Rückmeldungen zur Verbesserung ihrer eigenen Praxis zu erhalten. Hatten also zunächst die Didaktiker als Praktiker ihre Texte für andere Praktiker geschrieben, so mußten sie nun als Hochschulangehörige Rücksicht nehmen auf die wissenschaftlichen Erwartungen, die dem neuen Fach entgegengebracht wurden. Immer weniger für die pädagogische Praxis und immer mehr für die Akzeptanz an den Hochschulen wurden nun didaktische Konzepte entworfen. Diese Tendenz vermischte sich mit dem erwähnten Legitimationsdruck, der aus der vorgängigen Politisierung resultierte; beides führte so nicht nur zu einer Überproduktion didaktischer Entwürfe und Gegenentwürfe, sondern auch zu immer praxisferneren Konstruktionen. Hochschullehrer präsentieren ja ihr Fach -und damit auch sich selbst -nicht zuletzt dadurch, daß sie für andere Professoren darüber schreiben. Hinzu kommt die Notwendigkeit für den wissenschaftlichen Nachwuchs, sich durch einschlägige Veröffentlichungen zu profilieren.

Wenn nun aber der Gegenstand -Didaktik -dafür nur einen begrenzten Stoff hergibt, muß er eben immer weiter ausgedehnt werden, z. B. in historische, empirische, soziologische, psychologische bzw. psychoanalytische Dimensionen, oder sich gar auf modische gesellschaftliche Trends berufen. Die Aufklärung der pädagogischen Praxis wird nebensächlich. So werden auch die erwähnten ideologischen Polarisierungen von einem anderen Gesichtspunkt her verständlich; sie gaben Gruppen von didaktischen Autoren die Möglichkeit eigener Profilierung, ohne daß sie dabei einem gemeinsamen Problemlösungszusammenhang unterworfen bleiben mußten. Der akademische Profilierungszwang führte so zu einer weitgehend additiven Reihung von Aspekten und Positionen, die teilweise von bestimmten Publikums-„Lagern“ in Anspruch genommen wurden. Die „Linken“ hatten „ihre“

Didaktiker, die „Konservativen“ eben andere. So gesehen drückte sich in der publizistischen Über-produktion auch einfach nur ein Marktverhalten aus. Es galt, Marktnischen zu suchen, aber dies gelang nur teilweise auf der akademischen Ebene, während die Praxis in den Schulen und in den außerschulischen Bildungseinrichtungen sich allmählich davon abkoppelte und sich ihre eigenen Verse machte. Außerdem wandelte sich das Selbstverständnis der Bezugswissenschaften Soziologie und Politologie, so daß sie nicht mehr ohne weiteres -wie noch in den fünfziger Jahren -die politische Bildung zu fundieren vermögen. Einen der wesentlichen Gründe dafür sehe ich in dem Bestreben, die universitären Studiengänge möglichst unmittelbar berufsorientiert zu gestalten. Vor einem solchen Hintergrund treten andere Überlegungen in den Vordergrund, als sie z. B. für die junge Politikwissenschaft in den fünfziger Jahren gültig waren, die sich damals eher als allgemeinbildende Demokratiewissenschaft verstand. Noch mehr jedoch als die bisher beschriebenen Trends hat die von Walter Gagel erwähnte subjekt-orientierte neue Reformpädagogik in den Schulen der politischen Bildung geschadet. Gemeinsam mit der innenpolitischen Polarisierung, der Moralisierung und der einseitig Subjekt-und methoden-orientierten Professionalisierung hat diese Pädagogisierung deren Substanz weitgehend zerrieben. In den tonangebenden schulpädagogischen Konzepten, die die Schulfächer am liebsten abschaffen wollen, findet das Fach nicht nur keine Unterstützung, in ihrem Rahmen ist auch keine vernünftige Rekonstruktion dessen mehr möglich, was politische Bildung eigentlich zu leisten hat. Im „Haus des Lernens“ der „Rau-Kommission“ ebenso wie im neuen Allgemeinbildungskonzept. von Wolfgang Klafki verschwindet das Politische in allgemeinen, von möglichst allen Fächern zu bearbeitenden „Lerndimensionen“ und „Schlüsselproblemen“ ’.

IV.

Vor dem Hintergrund dieser knappen historischen Skizze schätze ich die Chancen der politischen Bildung in absehbarer Zukunft eher skeptisch ein. Sollen sie wieder erhöht werden, scheinen mir zumindest folgende Einsichten nötig:

1. Die ursprüngliche Ausgangssituation, daß nämlich die politische Bildung erst die demokratische Verfaßtheit mit konstituieren mußte, anstatt sich auf sie berufen zu können, hat sich inzwischen normalisiert. Wir können nun so verfahren wie andere westliche Demokratien auch. Wie diese hat nun auch die Bundesrepublik eine -wenn auch noch kurze -demokratische Geschichte; auf diese Vorgabe kann sich die politische Bildung jetzt beziehen, sie kann in diesem Sinne „normal“ werden, zumal durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik der neue deutsche Staat nicht mehr als ein Provisorium verstanden werden muß. Mit dieser innenpolitischen Normalisierung hat die politische Bildung aber auch ihre frühere Bedeutung in der öffentlichen Meinung verloren; sie ist nun ein Schulfach wie andere auch und muß sich entsprechend rechtfertigen bzw. bewerten lassen. 2. Im schulpädagogischen Klima einer unermüdlichen Kampagne gegen den fachorientierten Unterricht wird sie nur überleben, wenn sie zur

Attacke bläst gegen deren antiaufklärerische und subjektivistische Tendenzen sowie deren politisch-gesellschaftliche Implikationen aufdeckt. Politische Bildung muß wieder zur politischen Kritik der realexistierenden Bildung und ihrer Protagonisten werden. Je mehr sie ihnen auf den Leim geht und sich ihrer pädagogisierten Prämissen bedient, indem sie sich etwa auf deren methodischen Aktivismus einläßt, um so mehr betreibt sie ihre eigene Auflösung. Didaktisch-methodische Arrangements sind nicht schon deshalb fortschrittlich, weil sie dem medial vermittelten Erlebnischarakter der Freizeitgesellschaft entnommen werden und wegen ihrer angeblichen emotionalen Vertiefungen besonders ergiebig scheinen. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Aufklärung sowohl im historischen wie auch im didaktisch-systematischen Sinne in erster Linie eine Sache des Kopfes, des Verstandes ist und daß von Emotionalität und bloß vordergründigem Engagement ohne Leitung durch den Verstand nach aller Erfahrung nichts Gutes zu erwarten ist. Insofern steht die politische Bildung heute vor der Aufgabe, nicht nur die Auseinandersetzung mit diesem Zeitgeist zu suchen sondern überhaupt die politischen Voraussetzungen und Dimensionen aller öffentlichen Pädagogik wieder ins Bewußtsein zu bringen. 3. Dazu gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit der erwähnten moralischen Ausgangslage. Die NS-Verbrechen sind zwar immer noch gegenwärtig und bestimmen die aktuelle politische Diskussion nach wie vor mit; solange dies so ist, kann die politische Bildung davon nicht absehen. Andererseits muß sie jedoch die Interessen aufdekken, die sich in der Vergangenheit damit verbunden haben bzw. inzwischen damit verbunden sind; sie muß Front machen gegen die vorgängige Moralisierung des Politischen, die sich längst weitgehend vom Ausgangspunkt der NS-Verbrechen gelöst hat, wenn sie nicht an den jungen Generationen vorbei operieren will. Ihre Aufgabe in einer nun entfalteten Demokratie ist nicht, politische Phänomene vorweg durch die Brille einer bestimmten „erzieherisch wertvollen“ Moral zu sehen, sondern umgekehrt moralische Begründungen in der Politik zum Thema der Reflexion zu machen. 4. In den vergangenen Jahrzehnten wurden alle nur denkbaren politischen, ideologischen und einzel-wissenschaftlichen Begründungszusammenhänge sowie alle nur denkbaren didaktisch-methodischen Variationen der politischen Bildung durchgespielt, so daß wir uns heute von deren Plausibilität wie von ihrer Leistungsfähigkeit ein auf Erfahrung beruhendes Bild machen können -wenn wir denn überhaupt 11 daraus etwas lernen wollen. Diese Fülle an didaktisch-methodischer Erfahrung sollte systematisch aufgearbeitet und kritisch gesichtet werden. Wir können den politischen Unterricht z. B. von den aktuellen Konflikten her konstruieren oder als Institutionenkunde oder als lebensweltliche Aufklärung Aber jedesmal verfälschen wir damit auch die Realität im ganzen, und zu rechtfertigen ist dies nur unter der Voraussetzung, daß wir die jeweilige Lehr-und Lernsequenz nicht als dogmatisch endgültig, sondern als über sich hinausweisend anlegen, als Voraussetzung für weiteres Dazulernen. Es gibt keine allgemeingültige didaktische oder methodische Konstruktion der politischen Bildung, vertretbar sind vielmehr nur jeweils optimale Kombinationen von möglichen Varianten. Gleichwohl muß wieder versucht werden, den schulischen politischen Unterricht an grundlegenden Kenntnissen und didaktischen Strukturen zu orientieren. 5. Die politische Didaktik ist nicht dazu da, profilierte philosophische oder fachwissenschaftliche Theorien desPolitischen zu erfinden; sie ist eher so etwas wie ein Zwischenhandel. Sie schafft die politische Wirklichkeit nicht, sie soll nur darüber aufklären. Zu diesem Zweck muß sie vereinfachen, aber nach Maßstäben, die an den zuständigen Wissenschaften orientiert bleiben und deren grundlegende Kategorien zum Zwecke des Lernens verdichten. Derartige didaktische Grundstrukturen können nur von Personen gefunden bzw. unterrichtlich praktiziert werden, die eine entsprechende fachwissenschaftliche Ausbildung absolviert haben. 6. Ein pädagogisches Grundphänomen ist auch in unserem Zusammenhang der Generationenwechsel. Was die nachwachsenden Generationen an der Politik für bedeutsam halten, ob und in welchem Maße sie sich dafür überhaupt interessieren, hängt sehr wesentlich von ihrer Sozialisation im ganzen ab. Die heutigen Schüler haben keinen eigenen Bezug mehr zu Krieg und Nachkriegszeit und somit z. B. auch nicht zu den moralischen Implikationen, die daraus für die älteren Generationen hervorgegangen sind. Aus dieser unausweichlichen Generationendifferenz ergeben sich eine Reihe von Problemen. Ich glaube z. B. nicht, daß die inzwischen geradezu ritualisierte Beschwörung der NS-Vergangenheit die Jungen auf Dauer beeindrucken wird, so daß sie dadurch gegen einen entsprechenden Extremismus zu immunisieren wären. Die emotionale Distanz ist dafür zu groß geworden. Primär muß wohl die Aufklärung über politischen Extremismus und seine Folgen für die demokratischen Essentials aus den gegenwärtigen Erfahrungen aufgebaut werden; vielleicht, wie Adorno schon betont hat, durch den Rekurs auf die unmittelbaren Interessen. Aber auch das wird wenig fruchten, wenn die Einsicht nicht mehr zu vermitteln ist, daß die unmittelbaren individuellen Bedürfnisse und Interessennur dann zu verteidigen sind, wenn sie in eine nicht nur intellektuell, sondern auch vital erlebbare kollektive Solidarität eingebunden werden, die den Nachwachsenden weder geschenkt noch als Anspruch selbstverständlich erfüllt wird -aber auch nicht durch fortwährende Verdächtigungen verhindert werden darf -, sondern die immer wieder neu durch Denken und Handeln hergestellt werden muß.

Deshalb darf die politische Bildung den Jungen aber auch nicht nach dem Munde reden. Sie haben das Recht, sich für Politik nicht zu interessieren, wie sie sich auch für andere Schulfächer oft nicht interessieren; aber daraus erwächst noch lange keine pädagogische Pflicht, dieses Desinteresse zu einer neuen Sicht des Politischen hochzustilisieren. Politik ist eine objektive Tatsache unseres Lebens und kann als solche auch nur mit der entsprechenden geistigen bzw. pädagogischen Anstrengung verstanden werden; dafür gibt es keinen adäquaten Ersatz.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. beispielhaft Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/96.

  2. Vgl. Theodor Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, Bonn 1954.

  3. Jürgen Habermas, Student und Politik, Neuwied 1961, S. 15.

  4. Vgl. Friedrich Oetinger, Wendepunkt der politischen Erziehung -Partnerschaft als pädagogische Aufgabe, Stuttgart 1951.

  5. Vgl. Deutscher Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen, Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung, in: Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses, Folge 1, Stuttgart 1955.

  6. Vgl. u. a. Rudolf Engelhardt, Politisch bilden -aber wie?, Essen 1964; Hermann Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München 1965.

  7. Vgl. beispielhaft: Helmut Kentler, Jugendarbeit in der Industriewelt, München 19622; Hermann Giesecke, Politische Bildung in der Jugendarbeit, München 1966; Ulf Lüers u. a., Selbsterfahrung und Klassenlage, München 1971.

  8. Walter Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989, Opladen 1994, S. 290.

  9. Vgl. Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 19965, vor allem die 2. Studie; Bildungskommission Nordrhein-Westfalen, Zukunft der Bildung -Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission „Zukunft der Bildung -Schule der Zukunft“ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Neuwied 1995.

  10. Vgl. dazu ausführlicher Hermann Giesecke, Wozu ist die Schule da?, Stuttgart 1996.

  11. Vgl.ders., Kleine Didaktik des politischen Unterrichts, Bad Schwalbach 1997.

Weitere Inhalte

Hermann Giesecke, Dr. phil., geb. 1932; Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Didaktik der politischen Bildung, München 1965; Einführung in die Pädagogik, München 1969; Das Ende der Erziehung, Stuttgart 1985; Die Zweitfamilie, Stuttgart 1987; Pädagogik als Beruf, Weinheim 1987; Politische Bildung, Weinheim 1993; Hitlers Pädagogen, Weinheim 1993; Studium Pädagogik, Weinheim 1994; Wozu ist die Schule da?, Stuttgart 1996; Die pädagogische Beziehung, Wein-heim 1997; Kleine Didaktik des politischen Unterrichts, Bad Schwalbach 1997.