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Kategorien politischer Urteilsbildung | APuZ 32/1997 | bpb.de

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APuZ 32/1997 Versuch einer Bilanz Zur Krise der politischen Bildung Kategorien politischer Urteilsbildung Zwischenruf zur Krisen-und Perspektiven-dämmerung des Politikunterrichts Politikverständnis im Wandel Die Abkehr der Studierenden von der Parteiendemokratie Demokratie braucht politische Bildung Zum Auftrag der Bundeszentale und der Landeszentralen für politische Bildung

Kategorien politischer Urteilsbildung

Bernhard Sutor

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Politische Bildung zielt auf die Entwicklung bzw. Verbesserung politischer Urteilsfähigkeit. Welche Urteilskategorien dazu nötig, wie sie begründbar und anwendbar sind, das beschäftigt die didaktische Diskussion seit langem. Der Beitrag antwortet auf diese Fragen in zwei Schritten: Im ersten Teil wird politische Rationalität in Orientierung an „Praktischer Philosophie“ beschrieben. Im zweiten Teil werden entsprechend dem idealtypischen Modell politischer Entscheidungsfindung Kategorien der Situationsanalyse, der Möglichkeitserörterung und der Urteilsbildung entwickelt. Diese sollen vor allem dem Ineinander von objektiven und subjektiven Faktoren in politischen Konstellationen gerecht werden. Politische Bildung muß ein dogmatisches Deduzieren der angeblich richtigen Antworten ebenso vermeiden wie unpolitisches Moralisieren. Aber gerade dazu braucht sie auch angemessene ethische Kategorien.

Dieser Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung eines Textes, der vollständig publiziert wird in dem in Kürze erscheinenden Band: „Politische Urteilsbildung“, hrsg. von Peter Massing und Georg Weißeno, Wochenschau Verlag, Schwalbach 1997. Diese Publikation erscheint zugleich als Band 344 der Schriftenreihe der Bundeszentralefürpolitische Bildung, Bonn.

Von diesem Beitrag werden Antworten auf zwei Fragen erwartet: Welche Kategorien sind für die politische Urteilsbildung nötig? Wie sind sie zu begründen? Ich stelle einleitend diese Fragen in den Kontext der bisherigen politikdidaktischen Diskussion und meiner Beiträge dazu. Die zentrale These meiner 1971 zuerst vorgelegten Didaktik des politischen Unterrichts lautete: „Die rationale und die moralische Dimension der politischen Bildung gehören zusammen; die Brücke zwischen beiden bilden die Kategorien des Politischen, die in philosophisch-politikwissenschaftlicher Analyse konkreter Politik zu gewinnen sind; die wesentliche Aufgabe des politischen Unterrichts besteht in der Vermittlung dieser Kategorien als Einsichten, d. h. als Verstehensinstrumente und als Kriterien des Wertens und Entscheidens zugleich.“

Diese These steht dort an der Nahtstelle zwischen dem politiktheoretischen und dem fachdidaktischen Teil des Buches. In ersterem werden die Kategorien aus der Analyse des Politischen entwickelt; in letzterem werden sie im Sinne kategorialer Bildung als Ziele des Unterrichts interpretiert und auf dessen Themenfelder angewandt.

Die intensive Theoriediskussion der siebziger Jahre machte allen Beteiligten deutlicher als zuvor bewußt, daß Theorien Versuche sind, tragfähige Antworten auf Fragen der uns umgreifenden gesellschaftlichen Praxis zu finden.

Deshalb habe ich in meiner „Neuen Grundlegung politischer Bildung“ (1984) einerseits das theoretisch-philosophische Verständnis von Praxis deutlicher herausgearbeitet, andererseits in die Ziel-diskussion Ansätze und Ergebnisse politischer Sozialisationsforschung mit einbezogen Ich sehe keinen Anlaß, auf die beiden eingangs formulierten Fragen heute prinzipiell anders zu antworten als vor zwölf oder vor 25 Jahren.

Die fachdidaktische Diskussion muß Fortschritte machen in empirischer Unterrichtsforschung und in der Berücksichtigung von Ergebnissen ihrer Bezugswissenschaften. Sie muß ferner ihre Konzepte und Modelle auf neue politische Konstellationen und Probleme beziehen. Aber wir sollten nicht so tun, als müßten wir alle paar Jahre das Rad neu erfinden. Gewiß führen wir heute nicht mehr die Diskussion der sechziger Jahre über Erstarrung oder Wandlungsfähigkeit der pluralistischen Gesellschaft; auch nicht mehr die der siebziger Jahre über Klassenstruktur/Klassenkampf oder Konsensfähigkeit der „spätkapitalistischen Gesellschaft“. Aber auch die neueren Schlagworte des öffentlichen Diskurses wie „Informationsgesellschaft“, „Wertewandel“, „Risiko-“ oder „Erlebnisgesellschaft“ unterstreichen eigentlich nur die Einsicht in die alte Aufgabe politischer Bildung, ihren Adressaten Orientierungshilfen und Instrumente zur Urteilsbildung in der „neuen Unübersichtlichkeit“ zu vermitteln. Allenfalls kann man sagen, der Versuch sei noch dringlicher, die Aufgabe noch schwieriger geworden.

Es ist eine sich immer wiederholende Erfahrung: Wer in Zeiten aufgeregter Diskussion nur beharrlich genug an einigen grundlegenden Einsichten festhält und dafür als „konservativ“ etikettiert wird, findet sich möglicherweise einige Jahre später an der Seite von „Progressiven“. So wird mein seinerzeit vehement befehdetes Insistieren auf den normativen Aspekten politischer Bildung, meine Verbindung ihrer rationalen mit ihrer moralischen Dimension (einschließlich des Redens von Tugenden) heute von jüngeren Autoren geradezu neu entdeckt Diese Reminiszenzen wollen nicht alten Streit erneuern. Sie sollen nur verständlich machen, warum ich im folgenden die Fragen zur Begründung und zum Verständnis politischer Rationalität sowie zu kategorialer politischer Urteilsbildung mit einer rekonstruierenden Skizze beantworte.

I. Politische Rationalität

In der leidenschaftlich geführten Diskussion der siebziger Jahre über die Ziele politischer Bildung vertrat eine Autorengruppe um Manfred Hättich die Position, die Steigerung politischer Rationalität sei im Unterschied zu ehrgeizigeren, gesellschaftskritisch formulierten Zielen das bescheidenere, dennoch anspruchsvolle und konsensfähig begründbare Ziel Wir begründeten dieses Ziel sowohl empirisch wie normativ: empirisch aus dem unbestreitbaren Tatbestand, daß die meisten Menschen ständig mehr oder weniger ausdrücklich über Politik urteilen; normativ aus einer phänomenologischen Beschreibung des individuellen Bedürfnisses nach Orientierung, sodann des gesellschaftlichen Lebens als Neben-, Mit-, Für-und Gegeneinander, das in jeder dieser Dimensionen erträglicher und humaner gestaltet werden kann durch Steigerung seiner rationalen Elemente. Diese Gedankenführung mündete in die Entfaltung und Beschreibung von Kriterien allgemeiner und spezifisch politischer Rationalität Das alles kann und soll hier nicht wiederholt werden. Ich beschränke mich darauf, unser gewöhnliches politisches Urteilen zunächst mit Hilfe zweier Grundbegriffe beschreibend zu charakterisieren, um daran anschließend politische Rationalität als eine Form praktischer Vernunft begreifbar zu machen. 1. Politisches Urteilen als Meinen und als Ausdruck von Mentalität In alltäglicher Beobachtung ist leicht erkennbar, daß unsere politischen Urteile in der Regel die Form des Meinens haben. Meinung bezeichnet ein unsicheres Wissen, das mit Wertungen und mit Willenselementen eng verbunden ist. Meinungen werden gerade deshalb oft kämpferisch und mit Leidenschaft vorgetragen, weil sie mit ihren Wertungen zugleich ein erhebliches Maß an Ungewißheit und Unsicherheit enthalten. Gründe für unsere politischen Meinungen liegen einerseits in den Sachverhalten, über die wir uns äußern, andererseits aber auch in unserer sozialen Umwelt wie in uns selbst. Diese drei Urteilsquellen sind untrennbar miteinander verbunden, und diese Verbindung ist für die politische Auseinandersetzung konstitutiv. Denn die Sachverhalte sind sozial und geschichtlich vermittelt, sie werden aus unterschiedlichen Interessen und Wertüberzeugungen interpretiert und eben dadurch zu Faktoren politischer Situationen.

Die Verbindung des meist stark emotional grundierten Meinens, des interessebedingten Wollens, des intentionalen Denkens und Wertens in unseren politischen Urteilen bringt der Begriff der Mentalität gut zum Ausdruck. Mentalität bezeichnet nicht den reinen, intellektuellen Denkakt, aber auch nicht die blinde Emotion und Irrationalität. Mit Mentalität bezeichnen wir eine biographisch und sozial-kulturell gewordene seelisch-geistige Struktur, aus der heraus wir uns in unserer sozialen Welt bewegen, behaupten und anderen begegnen. Mentalität ist Ergebnis sozialer, gruppenspezifisch vermittelter Orientierung, auf die wir in unserer Lebenspraxis ständig zurückgreifen, ohne sie ausdrücklich zu reflektieren. In politischen Konflikten stoßen in aller Regel unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Politische Rationalität zum Ziel politischer Bildung machen heißt nicht, solche Mentalitäten auflösen zu wollen; gemeint ist vielmehr der Versuch, sie zur Sprache zu bringen im doppelten Sinn des Wortes: nämlich sie für uns selbst und für andere verstehbar, artikulierbar zu machen und darüber ins Gespräch zu kommen. Der Zielbegriff „politische Rationalität“ enthält also nicht die Anmaßung, den lebenspraktischen Zusammenhang bestimmter, vielleicht auch einseitiger, in jedem Fall wirksamer Prägung aufzulösen; er bezeichnet vielmehr den Versuch vernünftiger Begründung gemeinsamer Praxis gerade in unseren unterschiedlichen Meinungen und Mentalitäten. 2. Politische Rationalität als Form praktischer Vernunft Die lebenspraktische und sozial-kulturelle Herkunft und Bedingtheit unseres politischen Urteilens bedeutet nicht Blindheit. Wir können uns durchaus um mehr Rationalität, um bessere Begründung unserer Urteile bemühen. Wir werden darin jedoch nicht die Schlüssigkeit wissenschaftlich exakter Urteile erreichen, wie sie z. B. die Naturwissenschaften anstreben; denn der „Gegenstand“, um den es hier geht, ist von anderer Art. Wir können uns selbst, unsere Mitmenschen und die uns umgebende sozial-geschichtliche Welt nicht völlig zum Objekt machen; wir bleiben, auch wenn wir uns um theoretisch klare Erkenntnis über sie bemühen, immer ein Teil von ihr. und unsere Frageweisen Erkenntniskriterien bleiben ihr verhaftet.

Die Philosophie hat diesem Tatbestand von Aristoteles bis Kant Rechnung getragen durch die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie bzw. Vernunft. Die Vorherrschaft naturwissenschaftlicher Theoriebildung und ihrer technischen Anwendung in der Neuzeit hat diese Unterscheidung zeitweise verdeckt. Durch neues Nachdenken über die Bedingungen von Sozialwissenschaften und durch die Entwicklung kommunikationswissenschaftlicher Theorien ist sie in unserer Zeit wiederentdeckt worden

In Orientierung an dieser Denktradition können wir drei Weisen intentionalen menschlichen Verhaltens zur Welt unterscheiden: Theorie, Praxis und Poiesis (Technik). Theorie bedeutet in der alten Philosophie die Anschauung des Seins mit dem Ziel, die Wahrheit zu finden. Die Neuzeit versteht darunter eher die reine Wissenschaft, die das Ziel hat, Gesetzmäßigkeiten des Seienden festzustellen. Poiesis/Technik heißt das Herstellen von Gegenständen, von Werkzeugen und Kunstwerken. In der Neuzeit gründet sie sich nicht mehr nur auf handwerkliches Können, sondern auf naturwissenschaftliche Erkenntnis, also auf Theorie, und weitet sich zu industrieller Großtechnik, zu Planung und Organisation aus. Praxis dagegen heißt die tätige Lebensführung der Menschen im Umgang miteinander und die Bewältigung der dabei auftretenden Probleme. Sie ist weder in reine Erkenntnis aufzulösen, noch ist sie Herstellen von Dingen, sondern kommunikatives Handeln.

Kommunikative Wahrheitsfindung ist nicht ohne Methoden. Zwei ihrer methodischen Grundformen, die uns wiederum von der Antike bis zur praktischen Philosophie bei Kant begegnen, heißen Dialektik und Topik. Dialektik ist die Kunst des Argumentierens im Für und Wider in der Erörterung von Handlungsproblemen. Politisches Streiten bedient sich, soweit es sich vernünftigen Argumenten zu öffnen bereit ist, immer dieser Methode. Topik bedeutet, daß man sich dabei -in der Frage nach Wahrheitsmomenten -allgemeingefaßter Gesichtspunkte bedient, von denen man aus Erfahrung weiß, daß sie in den unterschiedlichen Fällen immer wieder vorkommen und angewendet werden können. Nach Wilhelm Hennis ist Topik eine Technik des Problemdenkens; die Topoi, die Gesichtspunkte, deren es sich bedient, nennen wir in der fachdidaktischen Diskussion seit langem Kategorien. Wir meinen damit die Schlüsselfragen, mit deren Hilfe wir politische Konflikte und Probleme analysieren und verstehbar machen können.

Die dialektische Erörterung von Handlungsproblemen unter Zuhilfenahme von Topoi/Kategorien führt nicht zur Erkenntnis absoluter, übergeschichtlicher Wahrheiten. In der Regel begnügen wir uns -und können wir uns begnügen -, wenn es um die Bewältigung individueller wie sozialer Handlungsprobleme geht, mit Gründen „mittlerer Reichweite“, mit geschichtlich bedingten und gewonnenen Erfahrungen und Einsichten. Rationalität als Begriff der Praxis meint die Fähigkeit menschlicher Vernunft, sich in einem situativen und geschichtlich-sozialen Kontext begründet zu verhalten, das heißt, rational zu handeln. Das schließt die Forderung ein, sich möglichst vielseitig zu orientieren über Faktoren von Situationen und Konstellationen, Handlungsalternativen abzuwägen, sich ein begründetes Urteil zu bilden und nach begründeten, auch im Gespräch mitteilbaren sowie sozial verantwortbaren Maßstäben zu entscheiden. So hat praktische Rationalität in allen Ausformungen praktischer Philosophie, die uns in unserer Denktradition begegnen, ein doppeltes Gesicht: Sie unterscheidet, fügt abr auch wieder zusammen einerseits die Fähigkeit zur analytischen Verstandeserkenntnis, andererseits die vernünftige Einsicht in Begründung und Begründbarkeit ethischer Postulate und Wertungen. Im Sinne der Unterscheidung und Zuordnung von Verstand und Vernunft bei Kant kann man die hier gemeinte politische Rationalität so beschreiben: Sie bedient sich der mit den Methoden einzelner Wissenschaften gesicherten Verstandeserkenntnisse, ihrer perspektivischen Erklärungsmodelle und Theorien; sie überschreitet diese jedoch zugleich, indem sie sie auf die Leitideen politischen Handelns bezieht, z. B. im Sinne des freiheitlichen Verfassungsstaates auf Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie stellt also die Frage nach Sein, nach Sollen und Sinn, und zwar in konkreten politischen Situationen. Praktische Philosophie im Sinne politischer Rationalität verbindet wissenschaftliche Erkenntnis mit begründbarem politisch-ethischem Engagement.

Freilich stellt sich damit auch die Frage nach der Letztbegründung ethischer Prinzipien oder Postulate bzw. nach ihrer universalen Geltung. Diese Frage kann auch in der politischen Bildung auftreten, wie sich unten in der Entfaltung unserer Kategorien noch zeigen wird, auch wenn man nicht wird sagen können, daß solche „letzten Fragen“ in der politischen Bildung die Regel sind. Das Politische an diesem Problem liegt gerade in dem Tatbestand, daß in einer pluralistischen Gesellschaft eine allgemein anerkannte Antwort auf diese Fragen nicht zu erwarten ist und es in dieser Gesellschaft keine Instanz gibt, die die Befugnis hätte, diese Fragen verbindlich zu beantworten. Insofern geht es politisch-ethisch hier um die Fähigkeit der Gesellschaft zum Konsens in gleichsam vorletzten Wertorientierungen angesichts der Divergenz in letzten Überzeugungen. Wir sollten die Möglichkeiten politischer Bildung nicht überschätzen; aber daß die Steigerung politischer Rationalität im beschriebenen Sinn auch ein Beitrag sein kann zu diesem Konsens, liegt wohl auf der Hand

II. Kategorien im Prozeß politischer Urteilsbildung

Begriffe sind immer auch Eingriffe; Theorien des Politischen werden entwickelt im Kontext bestimmter geschichtlich-politischer Zeitlagen, sie stehen diesen nicht völlig unabhängig gegenüber. Deshalb können wir auch die Kategorien politischer Urteilsbildung nicht aus einer Theorie schlüssig und vollständig ableiten. Alle in der didaktischen Literatur vorgestellten Kategorien-Sammlungen haben bis zu einem gewissen Grad geschichtlich-topischen Charakter. Unterschiedliche theoretische Orientierungen führen allerdings zu unterschiedlichen Akzentsetzungen, im Einzelfall auch zu Einseitigkeiten.

Wer sich vom empirisch-analytischen Theoriekonzept in betonter Vernachlässigung normativer Fragen leiten läßt, wird die Fragen nach Interessen, Macht und Konfliktkonstellationen in den Vordergrund rücken. Der Systemtheoretiker ist an den strukturellen und funktionalen Bedingungen der Erhaltung des Gesamtsystems interessiert und fragt deshalb nach dem Funktionieren seiner , Input‘- und , Output“ -Strukturen (Verbände, Parteien, Verwaltung) und seiner Institutionen im Regierungssystem. Den Anhänger kritischer Gesellschaftstheorie interessiert vor allem die geschichtlich-soziale Herkunft der Konflikte aus der Herrschaftsstruktur der Gesellschaft sowie die Möglichkeit ihrer Lösung in Richtung auf Herrschaftsabbau, Umverteilung von Chancen und Mitteln, Emanzipation benachteiligter Gruppen.

In meinen eigenen Veröffentlichungen habe ich mich orientiert am oben noch einmal skizzierten praktisch-normativen Verständnis von Politik, weil es mir am ehesten geeignet schien, gewisse Einseitigkeiten der anderen Theorieansätze zu vermeiden, zugleich jedoch ihre für politisches Urteilen wichtigen Fragen aufzunehmen. Das hier vorzustellende Ensemble von Kategorien erhebt nicht den Anspruch auf theoretisch-systematische Vollständigkeit, weil gerade diese dem praktisch-geschichtlichen Charakter des Politischen nicht gemäß wäre. Es ist vielmehr Ausdruck des theoretisch aufgeklärten common sense einer freiheitlich verfaßten pluralistischen Gesellschaft, in welchem die gesellschaftlich-politischen Krisen-und Konflikterfahrungen des 20. Jahrhunderts verarbeitet sind. Insofern hat es geschichtlichen Charakter. Es versucht, die Erkenntnisse und Einsichten der eben genannten Theoriekonzepte in sich aufzunehmen, indem es die Interdependenz von objektiven, geschichtlich und sozialstrukturell vorgegebenen, und subjektiven, intentionalen und interessebedingten Faktoren beachtet -eine Interdependenz, die für politische Konstellationen typisch ist.

Gewiß geht es in der Politik um „Sachfragen“, aber jede Sache ist politisch jemandes Sache; Sachen und Interessen/Intentionen sind ineinander verwoben. Auch die Ausgangslage politischer Bildungsprozesse, nämlich die sozialpsychologisch beschreibbare Meinungsstruktur bzw. Bewußtseinslage ihrer Adressaten, ist von diesem Ineinander der Faktoren bestimmt. Wir sind in der Regel nicht distanzierte Beobachter, sondern sind einbezogen in Auseinandersetzungen. Schließlich werden die kategorialen Fragen nach den Faktoren politischer Situationen und Möglichkeiten zum Zweck der Urteilsbildung verbunden mit den Hauptfragen einer politischen Ethik, die sich auf der Grundlage einer personalen philosophischen Anthropologie den Prinzipien und Zielwerten des freiheitlichen Verfassungsstaates verpflichtet weiß

In der Anordnung der Kategorien wählen wir den Dreischritt Situationsanalyse, Möglichkeitserörterung, Urteilsbildung und folgen damit einem empirisch begründbaren, aber idealtypisch gefaßten Modell politischer Problemlösung und Entscheidung. Die einzelnen Kategorien werden also den Grundkategorien Situation, Möglichkeit und Urteil bzw. Entscheidung zugeordnet. In der Erläuterung der drei Grundkategorien soll zugleich weiter verdeutlicht werden, was es heißt, Politik als eine spezifische Weise von Praxis aufzufassen und politische Rationalität als Ziel politischer Bildung anzustreben. (Im folgenden sind die Begriffe, die die einzelnen Kategorien bezeichnen, kursiv gesetzt.) 1. Situationsanalyse Politik ist nicht Vollzug objektiver Gesetzmäßigkeiten -etwa des angeblich erkennbaren Ganges der Geschichte, wie der Kommunismus behauptete, oder des angeblichen Willens einer biologischen Natur, wie die Nationalsozialisten meinten. Politik hat vielmehr ständig Situationen in ihrem geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext zu bewältigen. Deshalb bilden den Gegenstand politischen Denkens nicht in erster Linie Sachverhalte, sondern Situationen Auch der politische Streit entzündet sich keineswegs an abstrakten, theoretisch gefaßten Problemfragen, sondern an konkreten Konflikten im Mit-und Gegeneinander von Menschengruppen. Die Situationsanalyse bemüht sich daher um eine möglichst genaue Erkenntnis der Faktorenkonstellation, die die Situation ausmacht. Es muß gefragt werden, worin das Problem oder der Konflikt besteht, welche Sachverhalte und sozialen Kräfte hier einander entgegenstehen. Dabei spielen -zumal in unserer komplexen, wissenschaftlich-technisch bestimmten Industriegesellschaft -gewiß objektive Faktoren (z. B. Produktionstechniken, Organisationsstrukturen in ihrer Verflechtung, Finanzen, Ressourcen) eine unübersehbare Rolle. Aber zum politischen Problem werden daraus herrührende Fragen erst, wenn in der Gesellschaft eine Diskrepanz empfunden wird zwischen den gegebenen Verhältnissen und dem Wünschbaren, zwischen Sein und Sollen. So kann man zwar, wenn es etwa um eine Reform der Alters-oder der Krankenversicherung geht, den objektivierbaren Sachverhalt als Frage der Finanzierung definieren; aber ein politisches Problem wird aus der Frage erst dadurch, daß beteiligte Gruppen Defizite anmahnen oder über eine zumutbare Verteilung der Leistungen und Lasten streiten.

Deshalb gehört zur genaueren Bestimmung eines politischen Konflikts die Frage nach den Beteiligten, nach ihren Interessen, nach ihrer Interpretation des Problems, nach Ideologie als interessegeleitetem Denken. Man kann Antworten auf solche Fragen ein Stück weit objektivieren, indem man eine Problem-oder Konfliktlage zurückführt über die aktuell streitenden Gruppen bzw. ihre Akteure hinaus auf dauerhaftere soziale Strukturen (soziale Schichten, Klassen-, Berufs-, Produktionsstrukturen, Bevölkerungs-und Siedlungsstrukturen, Parteistrukturen, Konfessionsstrukturen usw.). Aber nicht die Strukturen als solche bewirken kausal unmittelbar den politischen Konflikt; dieser entsteht vielmehr aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interpretationen, Interessen und Intentionen der Akteure. Unter der Kategorie der Geschichtlichkeit wird das noch deutlicher. Viele aktuelle Konflikte sind nur verstehbar, wenn man ihre geschichtliche Herkunft in die Analyse einbezieht (etwa die Konflikte im Nahen Osten oder auf dem Balkan). Aber die Vergangenheit wirkt politisch nicht einfach als solche, sondern weil Menschengruppen aus ihrem Selbstverständnis und in ihrer Erinnerung Vergangenheit interpretieren, sie dadurch zu ihrer Geschichte machen und die Gegenwart aus ihr deuten.

In allen Kategorien der Situationsanalyse tritt uns also das Ineinander von objektiven Faktoren und ihrer subjektiv-sozialen, intentionalen Interpretation durch die Beteiligten entgegen. Nur so sind sie politische Kategorien. Das gilt auch in pädagogisch besonders wichtiger Weise für die Kategorien zur Motivation und zur Selbstreflexion der Lerngruppe, die den „Einstieg“ in eine solche Analyse strukturieren können; für die Frage nämlich nach der eigenen subjektiven Betroffenheit von einem Konflikt oder einem Problem und nach dessen objektiver Bedeutsamkeit für die eigene gegenwärtige oder künftige Lebenslage. Solche Fragen sind nicht schon am Beginn eines Vorhabens beantwortbar. Sie führen zunächst nur zu einer ersten Artikulation von Meinungen und möglicherweise zu einer Eingangsdiskussion, aus der Leitfragen für das weitere Vorgehen gewonnen werden können. Dazu gehört unabdingbar die Frage nach den Quellen der eigenen Information, ihres gegenwärtigen Standes, ihrer Defizite sowie nach weiteren Informationsmöglichkeiten. Politische Bildung beginnt mit Fragen und bewährt sich in der Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. 2. Erörterung politischer Möglichkeiten Politik sei die Kunst des Möglichen, wird häufig gesagt. Richtig daran ist, daß sich politische Absichten immer nur unter Berücksichtigung der gegebenen Konstellation und im Rahmen der vorhandenen Mittel, also nach „Lage der Dinge“ durchsetzen lassen. Wer Unmögliches anstrebt, wird scheitern. Allerdings kann die Formel von der Kunst des Möglichen auch in falscher Weise einschränkend verstanden werden. Man kann auch zu früh vor widrigen Umständen resignieren. Politik muß aber die Umstände, die Faktoren einer Situation so zu beeinflussen versuchen, daß das, was wünschbar oder gar notwendig scheint, möglichst realisierbar wird. Deshalb ist die erweiterte Formel wohl richtiger, Politik sei die Kunst, das als notwendig Erkannte möglich zu machen; und zwar möglich zu machen im zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Sinn. Damit erweist sich also Möglichkeit als Grundkategorie politischen Denkens. Die Kategorien der Möglichkeitserkenntnis bilden mit denen der Situationsanalyse ein Kontinuum. Der Übergang ist fließend; denn die zuvor genannten Fragen nach den Beteiligten, nach deren Interessen und Interpretationen, nach Geschichtlichkeit und Strukturen bestimmen den Rahmen des Möglichen mit. Nur erhält die Analyse der Umstände als Möglichkeitserkenntnis eine neue Qualität: Sie wird zum politisch-strategischen Denken, das auf Durchsetzung und Entscheidung zielt. Die Frage, was in einer gegebenen Konstellation durchsetzbar ist, muß differenziert werden in Teilfragen nach den Machtverhältnissen und deren organisatorischer Struktur (öffentliche Meinung, Verbände, Parteien, Fraktionen, Mehrheit und Opposition), nach dem geltenden Recht, nach Verfahrensregeln und den am Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß beteiligten Institutionen; schließlich nach Koalitions-und Kompromißmöglichkeiten. Auch diese Faktoren erweisen sich als typisch politisch darin, daß sie einerseits in gewisser Weise den Akteuren vorgegeben, andererseits aber mehr oder weniger stark beeinflußbar sind. Politischer Gestaltungs-und Durchsetzungswille zielt auf ihre ständige Beeinflussung zum Zweck der Sicherung von Macht als Bedingung der Möglichkeit, Gewolltes durchzusetzen und so die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gestalten.

Der „Normalbürger“ und Adressat politischer Bildung sollte -auch wenn er sich in der Regel mit der Rolle des teilnehmenden Beobachters begnügt -einen gewissen Einblick in diese Struktur des politischen Prozesses haben, den man mit Hilfe der angelsächsischen Unterscheidung auch als ein Ineinander von policy (politische Interessen und Inhalte, Programme und Ziele), polity (Regeln und Institutionenordnung) und politics (strategisch-taktisches Handeln) charakterisieren kann. Diese drei Grundbegriffe der englischen Sprache fassen in ihrer Weise unsere Kategorie der Situationsanalyse und der Möglichkeitserörterung zusammen.

Für den Bürger als teilnehmenden Beobachter von Politik -vor allem in seiner Rolle als Wähler und als möglicher aktiver Teilnehmer an politischen Prozessen -sind darüber hinaus Fragen wichtig wie die nach Möglichkeiten der Beteiligungund der Mitbestimmung in den verschiedensten Formen der öffentlichen Meinungsbildung und der politischen Willensbildung. Die Kategorien politischer Möglichkeit sind handlungsorientiert, und ihre Anwendung im Nachdenken über Politik ist bereits ein inneres Handeln. 3. Urteilsbildung und Entscheidung Situationsanalyse und Erörterung von Handlungsmöglichkeiten münden beim beobachtenden Bürger in ein Urteil über Lösungsmöglichkeiten, bei den politischen Akteuren in eine Entscheidung.

Entscheidung sollte man nicht in einem dezisionistisch zugespitzten Sinn verstehen, so als sei politisches Handeln ein ständiges, fast heroisch anmutendes Entscheidungshandeln. Entscheiden besteht häufig in einer Summierung kleiner Schritte, von denen der „entscheidende“ nicht immer leicht erkennbar ist. In der Regel setzt der formelle Akt des Entscheidens im zuständigen Organ nur den Schlußpunkt in einem längeren und lange Zeit informell verlaufenden Prozeß, in welchem Lösungs-und Kompromißmöglichkeiten zwischen Repräsentanten von Machtgruppen und Institutionen, begleitet von öffentlicher Diskussion, ausgelotet werden. Politisch ist ferner eine Nicht-Entscheidung, ein Entschluß, eine Sache zu vertagen, etwa um eine günstigere Konstellation abzuwarten, auch eine Entscheidung im hier gemeinten Sinn.

Für die beobachtende Teilnahme des Bürgers ist die dritte Grundkategorie eher die des Urteils, wobei sein Urteilen als inneres Handeln eine Entscheidung vorwegnehmen, mit-oder nachvollziehen kann, sei es in Zustimmung oder in Kritik. In jedem Fall brauchen Akteure und Beobachter Kategorien der Urteilsbildung über die bisher genannten, im engeren Sinn politischen Kategorien hinaus, nämlich Maßstäbe politischer Ethik. Im gängigen politischen Meinen und Kritisieren werden sie meist unbewußt verwendet. Politische Bildung muß sie bewußt machen, benennen und begründen; sie erreicht damit erst ihr Ziel politischer Urteilsbildung.

Problemstruktur und Konfliktcharakter des Politischen gebieten als zentrale Aufgabe politischer Urteilsbildung die Wahrnehmung und Erörterung von Zielkonflikten. Immanent ist diese Kategorie in der Analyse der Situationen und Möglichkeiten immer schon anwesend, wenn Meinungen und Interessen streitig aufeinandertreffen oder wenn nach Kompromißmöglichkeiten gefragt wird. In der Phase der Urteilsbildung muß aber das Phänomen des Zielkonflikts ausdrücklich bewußt gemacht werden, gerade weil es jetzt um politische Ethik und Moral geht. Nichts verdirbt politische Urteilsbildung so leicht wie unpolitisches Moralisieren und wie die gesinnungsethische Verabsolutierung eines Zielwertes unter Vernachlässigung der anderen. Die Kategorien politischer Urteilsbildung müssen deshalb der Begründbarkeit einander widerstreitender Interessen ebenso Rechnung tragen wie dem unausweichlichen Tatbestand, daß die allgemein akzeptierten politischen Zielwerte (Friede, Freiheit, Gerechtigkeit) in der konkreten Situation in Spannung zueinander geraten können. Von Extremlösungen abgesehen, geht es im politischen Entscheiden in der Regel nicht um Gut oder Böse, sondern um das Bessere oder Schlechtere, um die besseren Wege zu den nicht strittigen Zielen, oft nur um die Wahl des geringeren Übels. Politische Bildung muß ihre Adressaten in der Phase der Urteilsbildung mit dieser Grundstruktur politischer Ethik vertraut machen.

Dies vorausgesetzt, sind die Einzelkategorien von sekundärer Bedeutung. Es ist deshalb besonders wichtig, ihren oben begründeten geschichtlichtopischen Charakter zu betonen, damit sich politische Bildung nicht unnötig in die Aporien der Letztbegründung von Ethik verstrickt. Selbstverständlich ist das weiterbohrende Hinterfragen immer möglich und in manchen Gesprächssituationen unvermeidlich: Warum sollen denn Friede oder Freiheit oder Menschenwürde Höchstwerte sein? Warum sollen wir einen freiheitlichen Rechtsstaat wollen? Politische Bildung darf diesen Fragen nicht ausweichen, der Lehrende muß auf sie gefaßt sein. Aber die Regel im Prozeß politischer Urteilsbildung sind sie nicht. In der Regel begnügen und behelfen wir uns mit Wertkategorien, die allgemein anerkannt sind, weil sie dem Verfassungskonsens einer freiheitlich verfaßten pluralistischen Gesellschaft entsprechen.

Völlig unumstritten ist darin der Fundamental-wert Menschenwürde, wie unterschiedlich auch immer er begründet sein mag. Die Frage, ob eine Problemlösung der Menschenwürde widerstreitet, ist unumgänglich. Nur ist sie zu weit gefaßt, zu grob, als daß sie -von eklatanten Fällen abgesehen -„greifen“ würde. Sie muß deshalb differenzierter gefaßt werden als Frage nach einzelnen Menschen-bzw. Grundrechten, die je nach der Problemfrage ins Spiel kommen, sowie nach den politischen Zielwerten der individuellen und politischen Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, des inner-und zwischenstaatlichen Friedens. Auch diese bleiben sehr allgemeine Maßstäbe; sie sind aber unabdingbar, und sie sind geeignet, die schon angesprochenen Zielkonflikte ans Licht zu bringen und so das Grunddilemma von Politik deutlich zu machen, Politik ist verpflichtet, Erfolg im Sinne dieser Werte zu haben oder jedenfalls anzustreben, und sie muß dafür unter Umständen auch gefährliche Mittel einsetzen, die ihrerseits mißbraucht werden können (Rechtszwang, Polizei, Militär). In diesem Sinn ist politische Ethik Verantwortungsethik; sie darf sich nicht mit der guten Gesinnung, nicht mit dem guten Gewissen der Akteure begnügen, sondern sie muß fragen nach der Wirksamkeit und den Folgen, gerade auch nach den möglichen unbeabsichtigten Nebenfolgen von Entscheidungen, und nach deren Verantwortbarkeit. Wenn heute mit Recht im Blick auf globale Gefahren die Verantwortung der Politik auch für künftige Generationen betont wird, dann ist das keine neue politische Ethik; vielmehr wird die Dringlichkeit der alten Forderung nach providentia, nach kluger und verantwortlicher Voraussicht, neu unterstrichen. Die Frage, ob Politik dieser Forderung genügend gerecht werden kann, ist damit freilich nicht beantwortet.

In den inneren Konflikten einer interessenpluralistischen Gesellschaft ist die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung. Sie enthält jedoch in sich selbst wiederum Konfliktpotential, weil sie mehrdimensional ausgelegt werden kann, ja muß. Leistungsgerechtigkeit ist eine Forderung, die sich aus Freiheitsrechten ebenso begründen läßt wie aus Funktionserfordernissen der wirtschaftlich-sozialen Ordnung. Aber diese ist um der Menschenwürde und um des inneren Friedens willen zugleich der Bedürfnisgerechtigkeit für alle und der Chancengerechtigkeit für benachteiligte Gruppen verpflichtet. So bedeutet Gerechtigkeit das ständige Bemühen um den schonenden Ausgleich zwischen divergierenden Interessen sowie das Streben nach optimaler Balance zwischen Freiheit und Gleichheit.

Weil aber niemand -und auch keine Instanz -sagen kann, was im jeweiligen Fall Gerechtigkeit materialiter exakt bedeutet, muß es die politische oder Verfahrensgerechtigkeit geben, das heißt Regeln und Institutionen, die allen Bürgern und allen Gruppen die Beteiligung am Streit um gerechtere Lösungen ermöglichen. Deshalb kommen in der politischen Urteilsbildung auch Kategorien wie Legitimität und Grundkonsens ins Spiel, das heißt die Frage nach der Vereinbarkeit von Lösungen mit den grundlegenden Regeln und Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaates sowie die Frage, ob der Verfassungskonsens tangiert, gestärkt oder gefährdet wird.

$Diese Fragen münden in die umfassendere Kategorie des Gemeinwohls. Man darf in ihm jedoch nicht ein inhaltlich vorgegebenes Konzept eines gemeinschaftlich guten Lebens verstehen, welches niemand schlüssig vorgeben kann. Gemeinwohl ist vielmehr eine regulative Idee, die in der Austragung von Konflikten die Beteiligten daran erinnert, daß es über die divergierenden Gruppeninteressen hinaus ein Allgemeininteresse gibt an einer funktionsfähigen freiheitlichen Rahmenordnung; denn diese ist Voraussetzung für die friedliche Interessenwahrnehmung und Konfliktregelung überhaupt. In formalisierter Fassung begegnet uns dieser Gedanke in der Geschichte der politischen Ethik in Vertragstheorien, die eine gerechte politische Ordnung auf die formalen Regeln der Gegenseitigkeit und der Verallgemeinerbarkeit gegründet sehen. Er begegnet uns auch in der aus unterschiedlichen Kulturkreisen überlieferten Goldenen Regel, die in ihrer negativen Fassung als Prinzip der Zumutbarkeit eine Akzeptanzgrenze markiert. In der politischen Ethik und in der Didaktik wird immer wieder gestritten, ob nicht solche formal-allgemeinen Regeln als Urteilskategorien ausreichen; denn sie scheinen jenseits des Streites um Begründbarkeit und inhaltliche Bedeutung ethischer Prinzipien konsensfähig. Tatsächlich scheint das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit in der Fassung der Goldenen Regel allen Menschen einsichtig. Auch Kinder verstehen diese Regel, sobald sie im Rahmen konventioneller Moral zu urteilen vermögen; zumal wenn man die Regel als argumentum ad hominem faßt: „Stell’ Dir vor, Du wärest in jener Lage ...!“ Nur gerät eine solche Argumentation leicht auf die Ebene der Individualmoral, wo die institutionell-rechtlichen und politischen Probleme einer gerechten Gesamtordnung einschließlich ihrer Funktionsfähigkeit nicht erfaßt werden. Zudem aber kann jede formale Regel hinterfragt werden nach einem inhaltlichen Grund ihrer Geltung, ohne den sie leer bleibt und Menschen kaum motiviert.

Deshalb wird hier die Position vertreten, die formalen Prinzipien politischer Ethik seien zwar hilfreich für die Urteilsbildung, sie entfalteten aber ihre Überzeugungskraft nur in Verbindung mit der geschichtlichen Konkretion, die sie in den materialen Grundwerten der freiheitlichen Demokratie gefunden haben. Auf Menschenwürde, auf Menschenrechte, auf Strukturprinzipien und Zielwerte dieser Ordnung können wir in politischer Urteilsbildung nicht gut verzichten

Hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen solcher Urteilsbildung ist aber auch die Feststellung wichtig, daß unsere hier explizierten Kategorien keine schlüssige Deduktion des„richtigen“ Urteils in konkreten Streitfragen erlauben. Sie beschreiben vielmehr ein Feld, in dem das Pro und Contra sein Recht und seine Notwendigkeit behält. Deshalb ist zu warnen vor der Neigung, politische Probleme auf ethische zu reduzieren, was nichts anderes bedeuten würde, als die Schritte der Situationsanalyse und der Möglichkeitserörterung zu überspringen. Das Ergebnis wäre kurzschlüssiges, schlechtes politisches Moralisieren -leider nicht selten anzutreffen. 4. Schlußbemerkungen zur praktischen Verwendung des Kategorienschemas Was hier skizziert und begründet wurde, soll nicht als ein abgeschlossenes Schema verstanden werden, dem die Phasenstruktur jeden Unterrichts zu folgen hätte. Der hier gewählte Dreischritt von Situationsanalyse, Möglichkeitserörterung und Urteilsbildung mit vorgeschaltetem „Einstieg“ eignet sich am ehesten für Thementypen wie Fall-analyse, Problem-oder Konfliktanalyse. Auch dabei jedoch ist es keineswegs erforderlich oder wünschenswert, alle hier genannten Kategorien, und alle in gleicher Intensität, ins Spiel zu bringen. Vielmehr sind durchaus unterschiedliche kategoriale Akzentsetzungen bei der Behandlung einzelner Themen unumgänglich. So mag in einem Fall in der Analyse eines Konfliktes die gründliche Erarbeitung von dessen geschichtlicher Herkunft im Vordergrund stehen, in einem anderen Falle die ideologiekritische Auseinandersetzung mit Interessenpositionen, in wieder einem anderen die Untersuchung von informellen und formellen Teilschritten einer politischen Entscheidung usw.

Das Ganze unseres Kategorien-Ensembles ist jedoch insofern von didaktischer Bedeutung, als es darauf aufmerksam macht, daß Politik von mehrdimensionaler Struktur ist und daß deshalb im Gesamt eines Lehrplanes oder eines Unterrichts wichtige Grundfragen nicht gänzlich übersehen werden dürfen. Die Zusammenstellung der Kategorien soll also verstanden werden als ein heuristisches Instrumentarium zur Begründung, Planung und Führung von Unterricht -und darüber hinaus. Als solches gilt es für die unterschiedlichen Methodenkonzepte. Auch ein systematisch angelegter Lehrgang, auch eine auf aktuelle Ereignisse bezogene Diskussion, auch ein Plan-spiel hat eine kategoriale Struktur, deren sich der Lehrende vergewissern, die er planen und begründen soll

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bernhard Sutor, Didaktik des politischen Unterrichts. Eine Theorie der politischen Bildung, Paderborn 1971, S. 145.

  2. Vgl.ders., Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984.

  3. Vgl. Peter Henkenborg, Die Unvermeidlichkeit der Moral. Ethische Herausforderungen für die politische Bildung in der Risikogesellschaft, Schwalbach/Ts. 1992; ders., Wie kann die politische Bildung neu denken?, in: Gegenwartskunde, (1995) 2, S. 167 ff.

  4. Vgl. Dieter Grosser u. a., Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen, Stuttgart 1975; Manfred Hättich, Rationalität als Ziel politischer Bildung, München 1977.

  5. Vgl. D. Grosser u. a., ebd., S. 25 ff. und S. 38 ff.; M. Hättich, ebd., S. 37 ff. und S. 51 ff.

  6. Vgl. Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. Sozial-philosophische Studien, Neuwied-Berlin 1963; Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied-Berlin 1963.

  7. Vgl. dazu besonders die aus Tagungen der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg hervorgegangenen Sammelbände von Siegfried Schiele und Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977; Konsens und Dissens in der politischen Bildung, Stuttgart 1987; Reicht der Beutelsbacher Konsenz?, Schwalbach 1996; darin vom Verf.: Der Beutelsbacher Konsens -ein formales Minimum ohne Inhalt?

  8. Dazu ausführlicher meine in Anm. 2 genannte Publikation, Bd. I, S. 41 ff.; Bd. II, S. 68ff.

  9. Dies wird ausführlich begründet und entfaltet bei Hans Buchheim, Theorie der Politik, München 1981.

  10. Dazu ausführlicher Bernhard Sutor, Kleine politische Ethik, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 341, Bonn 1997.

  11. In diesem Sinne sind in dem von mir herausgegebenen Lehr-und Arbeitsbuch „Politik“, Paderborn 1987, folgende Beispiele in ihrer politisch-kategorialen Struktur dargestellt: Wehr-und Zivildienst; der politische Entscheidungsprozeß am Beispiel des Mitbestimmungsgesetzes; der Streit um § 218 als rechtspolitisches Problem; der Nahost-Konflikt; die deutsche Frage; in meinem Studienbuch „Politik“, Paderborn 1994, ferner die Asyl-und Flüchtlingproblematik; der Streit um eine neue deutsche Verfassung; Ökonomie und Ökologie; der Krieg im zerfallenden Jugoslawien und der zweite Golfkrieg. Unterrichtsmodelle im Sinne der hier skizzierten kategorialen politischen Bildung habe ich vorgelegt zum Thema Jugendarbeitslosigkeit (bei Kurt Gerhard Fischer, Unterrichtsskizzen zum Thema Jugendarbeitslosigkeit, Stuttgart 1977, S. 86 ff.); zum Thema Grundwerte im Politikunterricht (in: Politische Bildung, [1979] 12, S. 64 ff.); zur Familienpolitik (bei Siegfried Schiele/Herbert Schneider, Die Familie in der politischen Bildung, Stuttgart 1980, S. 107 ff.); zu Jugend und politischer Identifikation (zusammen mit Kurt Gerhard Fischer im Bd. 205 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1983, S. 27 ff.); zu totalitärer Diktatur (in: Politische Bildung, [1985] 2, S. 96 ff.).

Weitere Inhalte

Berndhard Sutor, Dr. phil., geb. 1930; Professor em. für Politikwissenschaft (Didaktik der Sozial-kunde und Christliche Soziallehre) an der Katholischen Universität Eichstätt. Veröffentlichungen u. a.: Politik und Philosophie, Mainz 1966; Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 19732; Grundgesetz und Politische Bildung, Hannover -Mainz 1976; Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984; Politik. Lehr-und Arbeitsbuch, Paderborn 19872; Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn 19922; Politik. Ein Studienbuch zur Politischen Bildung, Paderborn 1994; Kleine politische Ethik, Bonn-Opladen 1997; Aufsätze und Beiträge zur Didaktik der politischen Bildung sowie zür politischen Philosophie und Ethik.