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Verbände und Demokratie: Funktionen bundesdeutscher Interessengruppen in Theorie und Praxis | APuZ 36-37/1997 | bpb.de

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APuZ 36-37/1997 Die politische Krise als Kommunikations-Krise. Eine kommunikationswissenschaftliche Makroanalyse Manager des Parlaments zwischen Effizienz und Offenheit. Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag Bundesgesetzgebung als Prozeß Verbände und Demokratie: Funktionen bundesdeutscher Interessengruppen in Theorie und Praxis

Verbände und Demokratie: Funktionen bundesdeutscher Interessengruppen in Theorie und Praxis

Martin Sebaldt

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Interessengruppen haben in einem demokratischen politischen System vier Funktionen zu erfüllen: Sie sollen Interessen artikulieren und dadurch auch wirkungsvoll zu einer politischen Integration der vielfältigen politischen Anliegen beitragen. Gleichzeitig obliegt es ihnen, verbandsintern zu einer funktionalen Aggregation dieser Gemengelage zu gelangen und auf dem Wege der Selektion verbandsbezogen allgemein verbindliche Positionsbestimmungen vorzunehmen. Am bundesdeutschen Beispiel wird gezeigt, daß diese Funktionen auch in der Praxis gut wahrgenommen werden, zugleich aber auch Probleme dabei auftauchen. So haben sich die politisch aktiven Verbände am Regierungssitz in Bonn durchweg ein sehr leistungsfähiges Kontaktnetzwerk geschaffen, welches ihnen die Aufgabe der Interessenartikulation deutlich erleichtert. Dabei stoßen sie keineswegs auf Ablehnung seitens politischer Entscheidungsträger; das Gegenteil ist der Fall, da Parlamentarier, Ministerialbeamte etc. auf die Expertise der Verbände nicht verzichten können. Gleichwohl gilt es, im Gewerbe politischer Interessenvertretung bestimmte Spielregeln einzuhalten (Offenheit, Fairneß, kein Übertaktieren etc.), wenn diese Kontakte dauerhaft und effektiv sein sollen. Am Beispiel des landläufig als „mächtig“ apostrophierten Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) wird sodann gezeigt, wie eine Spitzenorganisation unter ihrer eigenen Heterogenität leidet und insoweit bei der Aufgabe, Interessen intern adäquat zu aggregieren und zu selektieren, in große Schwierigkeiten geraten kann. An diesem prominenten Beispiel läßt sich auch zeigen, daß dies regelmäßig zur Unzufriedenheit der Mitgliedsorganisationen führt und letztlich in Austritten aus dem Spitzenverband münden kann.

I. Einleitung

Tabelle 1: Zahl der in den Lobbylisten 1974-1996 registrierten Interessengruppen Quelle: Lobbylisten; Auswertung unter Hinzunahme des Bonner Stadtplans.

„Ja, nun Gott, mit dem Lobbyismus ist das immer so eine Sache, nicht? Wertneutral ist es so: Lobbyismus wird sein, und ich vermute, er wird sogar sein müssen. Nur die Schlagzeilen werden dann halt immer von dem Lobbyismus gemacht, der weniger gut ist, nicht?“ Der Vertreter eines großen deutschen Verbraucherverbandes bringt den gesamten Sachverhalt mit dieser Äußerung plastisch auf den Punkt: Zum einen ist wohl letztlich unbestritten, daß Interessengruppen für die Funktionsfähigkeit eines politischen Systems unverzichtbare Leistungen zu erbringen haben; zum anderen ist es aber geradezu zeitlos, in den Chor der Verbandskritiker einzustimmen und über die „Herrschaft der Verbände“ zu klagen. Selten genug wird also rational und ohne emotionale Aufwallung über die Funktionen von Interessengruppen theoretisch wie empirisch Rechenschaft abgelegt.

Übersicht 2: Die Mitgliedsverbände des Bundes-verbandes der Deutschen Industrie (BDI) 1996

Die vorliegende Abhandlung soll genau diesem Zwecke dienen. Ausgehend von einer systematischen Beschreibung der Funktionen, welche Interessengruppen in einem politischen System zu erbringen haben, soll deren praktische Erfüllung am Beispiel des bundesdeutschen Verbände-wesens kritisch unter die Lupe genommen werden.

II. Verbände und Politik: Funktionen von Interessengruppen in einem demokratischen Staatswesen

Tabelle 2: Bonner Verbandsgeschäftsstellen und ihre Entfernung zum Regierungsviertel (Bundestag und Bundeskanzleramt) im Jahre 1994 Quelle: Vgl. Tab. 1.

Mit Jürgen Weber lassen sich vier zentrale Aufgaben unterscheiden, welche organisierte Interessen zu erfüllen haben: Artikulation, Aggregation, Selektion und politische Integration unterschiedlichster Interessen Prominenteste und öffentlich auch am besten wahrnehmbare Aufgabe ist dabei sicherlich das Artikulieren von Interessen. Begriffe wie „Lobbyismus“ oder „pressure group“ deuten unzweifelhaft darauf hin, daß der politische Alltagssachverstand vor allen Dingen hierauf rekurriert, wenn es das Tätigkeitsspektrum von Interessengruppen zu beschreiben gilt. Weniger sichtbar -und weniger bewußt -sind dagegen die Selektionsund Aggregationsleistungen, welche sie ebenfalls zu erbringen haben: Verbände dienen zum einen dem Zweck, aus den gesamten Einzelmeinungen eines bestimmten Interessenspektrums durch Bündelung und Komprimierung eine klare Gesamtposition herauszudestillieren, welche in dieser Form gegenüber politischen Akteuren artikuliert werden kann. Daß hierbei darüber hinaus im Wege verbandsinterner Willensbildung auch Selektionsleistungen zu erbringen sind, weil konträre Positionen nur im Wege des Kompromisses oder der Abstimmung, mithin des Ausscheidens von Minderheits- und Extremmeinungen, zum Ausgleich zu bringen sind, liegt dabei auf der Hand. Mit Aggregations-wie Selektionsleistungen tragen Interessengruppen letztlich ganz entscheidend zur Entlastung des zentralen politischen Entscheidungssystems bei: Ihm wird die gebündelte und mehrheitsfähige Position eines Interessenspektrums fertig „serviert“; müßten politische Ent-scheider diese Aufgabe selbst erbringen, wäre die Arbeitsüberlastung und letztlich die Steuerungsunfähigkeit des zentralen politischen Entscheidungssystems vorprogrammiert.

Quelle: BDI-Bericht 1996, S. 76 f.

Wird dies alles professionell geleistet, ist in der Regel auch eine adäquate politische Integration der Vielzahl von Interessen gewährleistet. Denn Verbände schaffen vielfältige Podien für Partizipation und vermitteln dem einzelnen letztlich das Gefühl, im politischen Konzert auch eine Heim-statt zu haben. Politischer Ausgrenzung wirkt dies effektiv entgegen.

III. Interessenartikulation und politische Integration: Zur bundespolitischen Arbeit deutscher Interessengruppen

Tabelle 3: Politische Kontaktpartner deutscher Interessengruppen und ihre Bedeutung Quelle: M. Sebaldt (Anm. 1), S. 255.

1. Das Kräftefeld deutscher Interessengruppen Das Kräftefeld bundesdeutscher Interessengruppen hat in den letzten zwanzig Jahren insgesamt eine deutliche Ausdehnung erfahren. Gleichwohl ist es schwierig, diesen Sachverhalt präzise zu quantifizieren. Thomas Ellwein formulierte in den siebziger Jahren eine Faustregel, wonach „auf jeweils tausend Einwohner mindestens drei bis vier Vereinigungen kommen“ Unter „Vereinigung“ versteht Ellwein dabei nicht nur die politisch aktiven Verbände, sondern auch jene Gruppierungen, welche in erster Linie der gruppeninternen Interessenbefriedigung dienen (Vereine, Selbsthilfegruppen etc.). Bei Anwendung dieser Formel (hier: vier Organisationen) käme man bei einer Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands von 81 759 407 (Stand: 30. September 1995) auf rund 327 000 Interessengruppen

Unabhängig von der Frage, ob diese Faustregel der Realität voll gerecht wird, dürfte sie doch näherungsweise einen Eindruck von der Masse an organisierten Interessen geben, welche in Deutschland derzeit existiert. Schränkt man die Schätzungen auf die politisch aktiven Verbände ein, so reduzieren sich die Zahlen jedoch bereits erheblich. Jürgen Weber schätzt Ende der siebziger Jahre deren Zahl auf etwa 5 000, wobei sich seinen Angaben zufolge die Zahl auf 20 000 erhöhe, wenn man die Landesverbände der jeweiligen Organisationen hinzuzähle Wirklich präzise Daten liegen jedoch nur für diejenigen Verbände vor, welche sich in der „Lobbyliste“ offiziell beim Deutschen Bundestag registrieren lassen In Tabelle 1 sind die entsprechenden Zahlen aufgelistet.

Hier läßt sich die postulierte Ausdehnung des deutschen Verbändefeldes recht präzise ablesen. Waren 1974 -im ersten Jahr der offiziellen Registrierung -lediglich 635 Organisationen in Bonn „akkreditiert“, so sind es im Jahre 1996 bereits 1 614. Die Zahl der Verbände, welche am deutschen Regierungssitz offiziell ihrem Lobbyisten-geschäft nachgehen, hat sich in den letzten zwanzig Jahren also auf mehr als das Zweieinhalbfache erhöht. Insoweit hat sich auch die Intensität der Einflußnahme deutscher Verbände auf das zentrale politische Entscheidungssystem deutlich verstärkt. Die lobbyistischen Kontaktnetzwerke, welche heute in Bonn existieren, sind heute noch wesentlich dichter gewebt, als sie dies zu Beginn der siebziger Jahre waren. Die Verarbeitungskapazität der politischen Institutionen für derlei Verbandsinitiativen und -aktivitäten mußte im gleichen Zeitraum entsprechend wachsen.

Allerdings zeigt sich dabei, daß das gesamte Spektrum der Interessengruppen nicht gleichförmig anwächst, sondern bestimmte Verbandssektoren geradezu einen Boom erleben, während andere kaum Wachstumspotential bergen oder sogar stagnieren. Weiterführende Untersuchungen haben gezeigt, daß Sozial-und Kulturverbände überproportional häufig entstehen und ebenso Gruppen, welche der Neutralisierung gesellschaftsbedrohender Risiken (Umweltverschmutzung, Kriegsgefahr, soziale Vereinsamung) dienen Die Zahl der traditionellen Wirtschaftsverbände wächst dabei absolut gesehen zwar ebenfalls an, jedoch nicht in gleichem Maße. Folglich hat sich die Zusammensetzung des deutschen Verbändespektrums in den letzten zwanzig Jahren auch deutlich gewandelt. 2. Die bundespolitische Präsenz deutscher Interessengruppen Der politischen Einflußnahme durch Verbände ist es dienlich, wenn deren Geschäftsstellen in nächster Nähe des Regierungssitzes lokalisiert sind: Das gesamte Kontaktnetzwerk, welches man zu politischen Institutionen aufrechtzuerhalten hat, ist auf diese Weise viel leichter zu pflegen. Folglich verwundert es nicht, daß das Gros der deutschen Verbandsgeschäftsstellen in der Tat im näheren und weiteren Umfeld des Regierungssitzes anzutreffen ist. Von den 1 572 im Jahre 1994 registrierten Organisationen hatten nicht weniger als 822 (52, 3 Prozent) ihre Hauptgeschäftsstellen im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Mit deutlichem Abstand folgen Hessen mit 241 (15, 3 Prozent), Bayern mit 131 (8, 3 Prozent), Baden-Württemberg mit 99 (6, 3 Prozent) und Hamburg mit 95 (6, 0 Prozent). Die Zahlen der restlichen Bundesländer sind zu vernachlässigen

Eine zentripetale Orientierung deutscher Verbände ist also unverkennbar, und sie wird noch deutlicher, wenn man zusätzlich die Zahl der unmittelbar in Bonn residierenden Organisationen betrachtet: 1994 besitzen allein 530 der in der Lobbyliste erfaßten Gruppen eine Geschäftsstelle am Regierungssitz, und die überwiegende Zahl dieser Büros (412) sind gleichzeitig auch die Verbands-zentralen. Nur eine Minderheit von 118 Gruppen hat die Hauptgeschäftsstelle anderswo und begnügt sich in Bonn mit einem Verbindungsbüro Die überschaubare Größe der rheinischen Mittelstadt bringt es dabei mit sich, daß Verbandsbüros und Regierungsinstitutionen gleichsam Tür an Tür zu finden sind. Tabelle 2 verschafft dazu einen Überblick:

Allein zwei Drittel aller in Bonn lokalisierten Interessengruppen sind in einem Umkreis von weniger als 3 000 m Luftlinie um den Deutschen Bundestag und das Bundeskanzleramt zu finden. Interpretiert man diese Daten behutsam, so läßt sich daraus einiges über den am deutschen Regierungssitz existierenden Lobbyistenalltag ablesen: Die Wege sind kurz, informelle Treffen mit Abgeordneten, Ministerialbeamten oder Kollegen anderer Organisationen jederzeit zu organisieren. Zudem erleichtert die in Bonn existierende politische und gesellschaftliche Infrastruktur (Behörden, Vertretungen der Bundesländer, Botschaften, Medienbüros, Gaststätten, Kneipen etc.) Kontaktaufnahme und -pflege ganz erheblich. Dies dient auch dem Wunsche beider Seiten (Verbandsvertreter und politische Akteure), derlei Beziehungen auf Dauer zu stellen bzw. gar zu routinisieren, um es auf lange Sicht mit berechenbaren und kompetenten Gesprächspartnern zu tun zu haben. Denn empirische Untersuchungen zeigen ganz klar, daß Abgeordnete, Ministerialbeamte etc. die Kontakt-versuche von Verbandsfunktionären in der Regel nicht als lästiges Lobbying abzuwehren versuchen, sondern hierfür durchweg recht empfänglich sind, weil sie von Seiten der Interessengruppen die für Entscheidungen nötigen Fachinformationen erhalten Infolgedessen ist das Verhältnis zwischen politischen Akteuren und Verbänden durchaus als Tauschgeschäft zu charakterisieren, in welchem Interessengruppen Informationen und politische Unterstützung gegen die Chance zur Beeinflussung politischer Entscheidungen liefern, während die politischen Entscheider spiegelbildlich dazu derlei Einflußnahmen tolerieren, um an die gewünschten Informationen zu kommen bzw. sich der politischen Unterstützung der Verbände zu versichern. 3. Das Kontaktnetzwerk Dabei sind die potentiellen Kontaktpartner für die deutschen Verbände von ganz unterschiedlicher Bedeutung In Tabelle 3 sind die wesentlichen, geordnet nach ihrer Relevanz, aufgelistet. Ihr ist deutlich zu entnehmen, daß als Kontaktpartner die Bundesministerien die weitaus größte Rolle spielen. Den faktischen politischen Entscheidungsprozeß reflektiert dieser Sachverhalt präzise: Politische Einflußnahme ist dann besonders effektiv, wenn sie im Frühstadium der politischen Planung ansetzt. Im Bonner Regierungsalltag ist dies regelmäßig dann der Fall, wenn in den zuständigen Referaten der Bundesministerien an Gesetzesvorlagen etc. gearbeitet wird.

Zudem finden sich für die Verbandsfunktionäre gerade dort die kompetentesten Ansprechpartner, da die Ministerialbeamten qua Zuständigkeit regelmäßig mit demselben eng begrenzten Themenfeld befaßt sind. Mit deutlichen Abstufungen gilt dies auch für Landesministerien. Infolgedessen spielen die parlamentarischen Gremien (Ausschüsse, Fraktionen, Bundestagsverwaltung) nur eine sekundäre Rolle im lobbyistischen Alltag: Sobald Beschlußvorlagen die Bühne des Deutschen Bundestages erreichen, sind sie in der Regel nur noch marginal veränderbar. Verbandlichen Einfluß dort in größerem Maße ansetzen zu wollen hieße deshalb mit anderen Worten politische Kräfte sinnlos zu verschleißen. Demgegenüber spielen aber die Kontakte zu Interessengruppen mit gleichen oder ähnlichen Interessen eine ganz zentrale Rolle. Dies ist klarer Beleg dafür, daß Lobbyismus heute meist als konzertierte Aktion verschiedener Gruppen praktiziert wird, um den Einfluß auf die politischen Institutionen zu potenzieren. Gemäß der Moltkeschen Devise, zwar getrennt zu marschieren, aber vereint zu schlagen, stimmen sich Interessengruppen sehr häufig untereinander ab, bevor sie politisch aktiv werden. Politischen Akteuren können sie so wesentlich einfacher als geschlossene Gruppe gegenübertreten und den Versuchen, einen Verband gegen den anderen auszuspielen, besser Paroli bieten.

Die guten Kontakte zu den Medien beweisen überdies, daß erfolgreiches Lobbying heute ohne eine professionelle Öffentlichkeits-und Medienarbeit nicht mehr denkbar ist. Durchweg wenden Verbände erhebliche Zeit dafür auf, Pressemitteilungen zu verfassen, Interviews zu geben oder aber auch selbst Publikationen herauszugeben. Gute Kontakte der Verbandsfunktionäre zu Journalisten jeglicher Couleur sind daher die Regel. Dies gilt besonders für die Fach-und die Tagespresse; elektronische Medien (Hörfunk, Fernsehen) kommen hierfür nur in Ausnahmefällen in Frage, welche skandalträchtig oder von allgemeinem öffentlichen Interesse sind

Von den übrigen Kontaktpartnern sind nur noch die Institutionen der EU, die Bundesminister und die nachgeordneten Behörden erwähnenswert: Daß in Zeiten unaufhaltsamer europäischer Integration die Brüsseler und Straßburger Institutionen als Anlaufstelle der Verbände immer größere Bedeutung gewinnen, liegt auf der Hand; daß die Bundesminister als Leiter ihrer Ressorts ebenso von Bedeutung sind wie die ihnen unterstehenden Beamten, ist auch plausibel, wobei derlei Kontakte in der Regel nur bei politisch bedeutsamen Sachverhalten gepflegt werden. Die Routineangelegenheiten obliegen den Abteilungen und Referaten des Ressorts. Cum grano salis gilt dies auch für die nachgeordneten Behörden.

Die Parteizentralen spielen demgegenüber als Kontaktpartner nur eine zweitrangige Rolle: Als personell nicht üppig ausgestattete Institutionen, welche zudem der langfristigen Programmarbeit und nicht der kurzfristigen, projektorientierten Gesetzgebungstätigkeit dienen, sind sie für Verbandsfunktionäre, denen letzteres am Herzen liegt, ohnehin nicht die geeignete Anlaufstelle. Aus anderen Gründen ist dies auch beim Bundesrat der Fall: Sobald eine Materie in das Plenum der „Länderkammer“ gelangt, ist die Vorab-stimmung unter den einzelnen Bundesländern in der Regel schon erfolgt. Auch hier würde also lobbyistische Einflußnahme zu spät ansetzen. Demgegenüber ist es wesentlich effektiver, die verschiedenen Landesadministrationen vorab zu kontaktieren. Auch dies erklärt den relativ guten Wert, welchen die Landesministerien erreichen. 4. Die Spielregeln des Lobbyismus Worin liegt das Geheimnis für lobbyistische Erfolge? Immer noch haftet der politischen Arbeit deutscher Interessengruppen etwas Mystisches an: Lobbyisten werden als lichtscheue Gestalten charakterisiert, die abseits des Rampenlichts eifrig Klinken putzen und ihren Einfluß primär durch die politische Hintertür zur Geltung bringen. Eine gut gefüllte Brieftasche könne dabei nicht schaden ... Der politische Alltag des Lobbyisten sieht wohl etwas unspektakulärer aus. Tabelle 4 ist zu entnehmen, welche Verhaltensregeln im Umgang mit politischen Akteuren als besonders wichtig erachtet werden Diesen Selbsteinschätzungen ist recht klar zu entnehmen. daß alle jene Verhaltensregeln, welche der Ausstrahlung von Kompetenz, Seriosiät und der Fähigkeit zur Diskretion dienen, besonders wichtig sind. Natürlich müssen dahinter auch Sachwissen und politische Verläßlichkeit stehen; politische Blender verspielen nach Ansicht der interviewten Funktionäre sehr schnell ihr Vertrauenskapital. Drei Zitate deutscher Verbandsfunktionäre sollen dies stellvertretend illustrieren: „Nach meiner Erfahrung und nach meiner Meinung ist die Hauptsache: Glaubwürdigkeit. Wenn ich als . Lobbyist'hier in Bonn ’rumturne und Populismus mache und eine Forderung an die andere reihe, und die Probleme würden von mir gezinkt dargestellt, um also die Bereitschaft der Politiker auf diese Weise zu mobilisieren: Das ist eine Sackgasse. Der Erfolg der Arbeit [kommt durch] sachliche Information und, darauf aufbauend, Glaubwürdigkeit. Das andere ist sehr kurzsichtig und im übrigen auch menschlich nicht in Ordnung. Zielführend ist sachlich fundierte, qualifizierte Arbeit, und dann stellt sich auch über die Jahre hin ein gewisses -Vertrauensverhältnis ist vielleicht zuviel gesagt -, eine gewisse Basis, eine Glaubwürdigkeit ein. Und das ist die erste und beste Voraussetzung -auch für den Erfolg der Verbandsarbeit.“ 16

Auch ein Funktionär eines großen Handwerksverbandes riet -wie der eben zitierte Bauernvertreter -dazu, dem Gesprächspartner vor allem das Gefühl der eigenen Glaubwürdigkeit zu vermitteln: „Ich meine: Das Wichtigste ist, daß man mit glaubwürdigen Argumenten hantiert und nicht immer in den Vordergrund rückt: , Wir haben also so und soviel Stimmen im Rücken, und wenn Du nicht unseren Argumenten folgst, dann wird’s Dir ganz schlimm ergehen', sondern ich meine, man sollte an den Funktionen ansetzen: Wen vertreten wir, und wo kommen wir her, was sind wir heute, und wo wollen wir in Zukunft stehen bei den ganzen Veränderungen, die uns ja ins Haus stehen? Ich glaube, das ist das Allerwichtigste, daß man dem Gesprächspartner gegenüber aufrichtig und glaubwürdig bleibt und sachorientiert.“

Dabei spielen die eigenen Vorleistungen offensichtlich eine große Rolle. Der taktische Grundsatz „Mit Vorlagen übt man Macht aus“ prägt auch die politische Arbeit von Interessengruppen, dient aber gleichzeitig auch der Demonstration der eigenen Sachkunde. Daran läßt der Geschäftsführer eines kleinen Baufachverbandes jedenfalls keinen Zweifel: „Generell zum Lobbying kann man eins sagen: Es reicht nicht aus, bei einem Vorhaben der Verwaltung nur zu sagen: , Das ist nicht sinnvoll aus den und den Gründen', sondern man muß immer mit Gegenvorschlägen kommen. Und besonders erfolgversprechend sind Projekte, die Sie den Beamten fertig vorlegen, wo die sicherlich das eine oder andere ändern, aber was sie im Prinzip selber als fertiges Konzept übernehmen können. Das kommt der natürlichen menschlichen Faulheit entgegen.“ 18

Darüber hinaus muß der Verbandsfunktionär über ein gerüttelt Maß an Kontaktfreude verfügen und die Fähigkeit zum Zuhören und zum Einfühlen in die Problemlage seines Gesprächspartners besitzen, um erfolgreich zu sein. Kurzum: Zum Erfolg führt nicht in erster Linie politische Gerissenheit, sondern ehrliche, unspektakuläre, berechenbare und auch transparente politische Alltagsarbeit. Lobbyistentätigkeit könnte daher auch unspektakulärer nicht sein. Mystisches haftet ihr jedenfalls nicht an.

IV. Interessenaggregation und -Selektion: Mechanismen und Probleme verbandsinterner Willensbildung

Tabelle 4: Die Bedeutung von Verhaltensregeln gegenüber politischen Akteuren im Urteil deutscher Verbandsfunktionäre Quelle: Interviews; vgl. Anm. 1.

1. Strukturmuster des deutschen Verbändesystems Die Gesamtzahl deutscher Verbände läßt bereits erahnen, daß eine derartige Vielfalt von Organisationen der strukturierenden Ordnung bedarf. Und so kommt es auch nicht von ungefähr, daß die gesamte deutsche Verbandslandschaft in mehr oder minder großem Ausmaße hierarchisch strukturiert ist. Jedoch existiert kein einheitliches Schema, sondern je nach Politikfeld haben sich vielfältige Strukturen entwickelt, welche in unterschiedlichem Grade formalisiert sind. In Über-sicht 1 wird versucht, in graphisch verdichteter Form zu veranschaulichen, welche Beziehungsmuster dabei grundsätzlich vorfindbar sind.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß jedes einfache Verbandsmitglied (Person, Firma oder sonstige Institution, welche selbst nicht Verband ist) zunächst einmal in einfachen Mitgliedsverbänden organisiert ist Übersicht 1 20

Diese Mitgliedsverbände gehören als Mitglieder selbst wiederum sogenannten Fachspitzenverbänden an, welche die Mitgliedsverbände eines bestimmten Sektors zusammenfassen. Die Fachspitzenverbände bilden ihrerseits die Mitglieder der allgemeinen Spitzenverbände, welche dann bereits einen sehr breiten Interessenbereich repräsentieren. Gegebenenfalls stimmen so große Dachorganisationen ihr Vorgehen im Rahmen von Koordinierungsgremien ab, die aber meist nicht formal organisiert sind, sondern informelle Stätten der Begegnung darstellen. Quer zu diesem vertikalen Aufbau steht das System der jeweiligen Landesverbände; denn dem föderalistischen Aufbau Deutschlands tragen die Verbände in der Regel dadurch Rechnung, daß in den einzelnen Bundesländern spezifische Unterorganisationen eingerichtet werden, welche in mehr oder minder großem Ausmaße Gestaltungsautonomie für ihren Zuständigkeitsbereich besitzen. Wie später noch zu zeigen sein wird, erwachsen den großen Spitzenverbänden gerade aus dieser komplexen innerund interverbandlichen Kommunikationsszenerie erhebliche Probleme bei der Formulierung eines für die gesamte Mitgliedschaft verbindlichen Standpunkts. Zweifellos am nächsten kommt diesem idealtypischen Organisationsmuster das Spektrum der deutschen Wirtschaftsverbände: So steht quasi an deren organisatorischer Spitze als lockeres Koordinationsgremium der Gemeinschaftsausschuß der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft, in dem sich die großen ökonomischen Spitzenverbände Deutschlands (derzeit: 16; als Gastverband tritt der Deutsche Bauernverband hinzu) zusammengefunden haben. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist dort ebenso vertreten wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände oder der Deutsche Industrie-und Handelstag. Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks oder der Bundesverband deutscher Banken sind dort zu finden

Die Spitzenverbände umfassen ihrerseits wieder eine Reihe von Fachspitzenverbänden. So sammeln sich im Bundesverband der Deutschen Industrie nicht weniger als 35 Organisationen, welche den unterschiedlichsten Industriebranchen angehören Sie wiederum dienen der Organisation der einzelnen Mitgliedsverbände der Branchen. So etwa setzt sich der Bundesverband Steine und Erden selbst aus 26 Mitgliedsverbänden zusammen Zu ihnen gehören etwa der Deutsche Asphaltverband oder der Bundesverband der Deutschen Ziegelindustrie. In der Regel besitzen die genannten Organisationen auch entsprechende Landesverbände in den Bundesländern. Andere Sektoren des deutschen Verbändespektrums sind demgegenüber allerdings wesentlich weniger formal organisiert. So sind etwa die großen deutschen Wohlfahrtsorganisationen (Caritas, Diakonisches Werk, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Arbeiterwohlfahrt) selbst nur lokker in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengefaßt Die Vielzahl deutscher Berufsverbände, Wissenschaftsgesellschaften und Selbsthilfeorganisationen sind darüber hinaus meist überhaupt nicht in Dachorganisationen integriert, sondern agieren als Solitärorganisationen abgelöst von einer formalisierten Verbandshierarchie Kurzum: Die Erscheinungsformen sind vielfältig. 2. Die Gliederung deutscher Spitzenverbände: Das Beispiel BDI Zur vertiefenden Illustration dieses Problem-komplexes eignet sich der Bundesverband der Deutschen Industrie in besonderem Maße, da er aufgrund seiner Prominenz schon häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Analysen war Probleme innerverbandlicher Willensbildung lassen sich an seinem Beispiel recht gut herausarbeiten. In Über-sicht 2 sind seine Mitgliedsverbände aufgelistet:

Schon eine grobe Durchsicht der Liste zeigt, daß das Spektrum der vertretenen Branchen kaum größer sein könnte. Von der Schwerindustrie angefangen über die Chemische und die Keramische Industrie bis hin zur Elektro-oder zur Automobilindustrie finden sich dort Fachspitzenverbände jeglicher Couleur. Aufgabe des BDI ist es also, politische Positionen zu formulieren und zu vertreten, welche von allen angeschlossenen Organisationen akzeptiert werden können. Sein Selbstverständnis charakterisiert er infolgedessen auch folgendermaßen: „Wahrnehmung und Förderung aller gemeinsamen Belange der in ihm zusammengeschlossenen Industriezweige. Zusammenarbeit mit den anderen Spitzenorganisationen des Unternehmertums; ausgenommen ist die Vertretung sozialpolitischer Belange.“ Zudem besitzt er in jedem Bundesland auch noch eigene Landesvertret umgen, welche der Koordination der regionalen Wirtschaftsaktivitäten dienen. In Bayern leistet dies etwa der Landes-verband der Bayerischen Industrie, in Hessen die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände.

Zur Koordination seiner Verbandsaktivitäten unterhält der BDI in Köln eine gut ausgebaute Verbandszentrale, welche unter dem derzeitigen Hauptgeschäftsführer Ludolf von Wartenberg nicht weniger als 15 Abteilungen umfaßt Hinzu treten BDI-Vertretungen bei der EU, in Washington und in Tokio. Verbindungsstellen werden überdies in Berlin und in Bonn unterhalten. Große Bedeutung für die verbandsinterne Willensbildung besitzen darüber hinaus die mit ehrenamtlich tätigen Mitgliedern besetzten Führungsgremien. Ein zahlenmäßig umfangreiches Präsidium unter dem derzeitigen Präsidenten Hans-Olaf Henkel dient diesem Zweck ebenso wie die insgesamt 16 BDI-Ausschüsse und die sechs Regionalinitiativen Ausschüsse wie Initiativen dienen der Bearbeitung konkreter Problemfelder, wobei bei ersteren Themenschwerpunkte (Energie, Verkehr, Steuern etc.) im Mittelpunkt des Interesses stehen, bei letzteren aber Regionalaktivitäten (Japan, Lateinamerika, Afrika etc.). Kurzum: Der BDI hat sich eine komplexe Verbandsstruktur gegeben, um der anspruchsvollen Aufgabe, für die gesamte deutsche Industrie allgemeinverbindliche Positionen zu formulieren und zu artikulieren, auch professionell gerecht zu werden. 3. Muster und Probleme verbandsinterner Willensbildung: Der BDI in der Krise?

So imposant die hierarchische Struktur großer Spitzenverbände auf den ersten Blick auch wirken mag, so ausgeprägt sind auch die Probleme verbandsinterner Willensbildung, die daraus resultieren. Am Beispiel des BDI läßt sich dieser Sachverhalt recht gut illustrieren. Denn gerade in den letzten Jahren war er wiederholt vor konkrete Probleme gestellt, welche ihn oft zur politischen Sprachlosigkeit verurteilten bzw. zu internen Willensbildungsproblemen führten.

Zum einen erwies sich die Wahl von Heinrich Weiss zum Verbandspräsidenten 1991 als Problem: Weiss „bekam den Apparat nicht in den Griff“ Denn er überwarf sich nach kurzer Zeit sowohl mit seinem Hauptgeschäftsführer Ludolf von Wartenberg als auch mit mächtigen Mitgliedsorganisationen. So wendete er sich gegen die Forderung des Elektroverbandes ZVEI, eine staatlicherseits subventionierte europäische Chipproduktion aufzubauen. Gleichermaßen verprellte er die Rüstungsindustrie, als er sich nicht für den Bau des Jägers 90 engagierte. Und der Verband der Automobilindustrie fror sogar aus Verärgerung über mangelhafte Interessenvertretung durch den BDI seine Mitgliedsbeiträge ein.

Auch die Diskussion um das Entsendegesetz bescherte dem BDI, wie auch der Schwesterorganisation BDA, erhebliche Zerreißproben, da der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie als wichtigster Advokat der Entsenderegelung sich in BDI und BDA exportorientierten Mitgliedsorganisationen gegenübersah, welche wegen einer derartigen protektionistischen Arbeitsmarktpolitik Deutschlands Repressalien des Auslands in Form von Exportbehinderungen befürchteten Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie drohte zeitweilig sogar mit dem Austritt aus der BDA, sollte die Spitzenorganisation einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung der auf der Basis des Entsendegesetzes beschlossenen Tarife in der Bauwirtschaft nicht zustimmen.

Und so verwundert es auch nicht, daß die Spitzen-organisationen von ihren angeschlossenen Verbänden keineswegs gute Noten erhalten. Verschiedene Aussagen zur Rolle des BDI sollen das belegen. Ein Funktionär eines Bauverbandes beschreibt zunächst dessen Nutzen: „Also ich persönlich -und ich glaube, das entspricht auch der Meinung des Verbandes -halte den BDI in seiner Außen-wirkung für völlig unverzichtbar. Es gibt halt bestimmte Sachen, wo sich ein Tyll Necker vor die Kamera stellen muß. Der BDI ist ja wohl, glaube ich, Deutschlands bekanntester Verband. Die Abkürzung , BDT ist ja fast schon in der Bevölkerung bekannt. Und insbesondere bei Politikern: Wenn der BDI irgendwo auftaucht und was sagt, hört man immer hin. Das ist bei mir auch nicht anders. Wenn ich auf irgendeinem Kongreß bin und da einer sagt: , Ich bin der Müller vom BDI, und wir sind der Ansicht... ‘, dann höre ich immer genau hin. Der BDI ist schon die Spitzenorganisation, ich halte ihn für sehr wichtig -gerade für das Lobbying, für die politische Interessenvertretung, auch für die Koordinierung untereinander.“

Doch sogleich setzt er hinzu, daß er die interne Mechanik des BDI durchaus nicht für ausgewogen halte: „Was die speziellen Interessen einiger Fachverbände angeht: Wie gut die vertreten sind, ist eine andere Frage. Das liegt natürlich auch daran, daß es im BDI von der Brillenindustrie bis zur Automobilindustrie sehr unterschiedliche Verbände -insbesondere von ihrer Kraft her -[gibt]. Es gibt im BDI schon so einen inneren Zirkel von sieben, acht großen Verbänden, die das Wesentliche unter sich ausmachen ... Natürlich sind Automobil, VDMA, Elektrochemie, VCI große Verbände, die haben Kohle, das geht irgendwo auch nach Geld und Einfluß, und so ganz verkehrt ist das ja auch nicht. Der BDI muß sich ja nach dem Schwergewicht dessen richten, was er vertritt.“

Auch der Funktionär eines Mitgliedsverbands im Bundesverband Steine und Erden, welcher selbst wieder Mitglied im BDI ist, beklagt derlei verbandsinterne Unausgewogenheiten: „Der Einfluß der verschiedenen Betonverbände im Spitzenverband ist sicherlich deutlich höher als unserer, das muß man einfach klar sehen. D. h., im Streitfälle, den ich bisher aber auch noch nicht erlebt habe, würde sich der Spitzenverband sicherlich auf die andere Seite schlagen, wenn er eine Entscheidung nicht mehr vermeiden könnte ... Der braucht sich nur anzusehen: Was zahlt der X an Beitrag, was zahlen die Betonverbände an Beitrag? Das ist eine logische Sache.“

Derlei Probleme haben eine Fachorganisation der Ernährungsindustrie sogar zum Austritt aus der Bundesvereinigung der Ernährungsindustrie bewogen, welche gleichermaßen Mitglied im BDI ist: „Wir sind ja nicht Mitglied der Bundesvereinigung der Ernährungsindustrie, weil wir den Eindruck hatten, daß wir unsere Interessen dort nicht hinreichend vertreten sehen ... und ich sag’ das, weil ich einen relativ hohen Anspruch an die Arbeit eines Spitzenverbandes habe: Es ist so, daß die Interessenlage in Spitzenverbänden sehr unterschiedlich ist und daß sich die Zentrifugalkräfte ausgleichen. D. h., es gibt keine klaren Positionen, es sei denn, die ganze Gruppe ist bedroht, wo der ganzen Gruppe gleichmäßig Schmerzen zugefügt wird. Ich sage es also ehrlich: Das ist ähnlich, wie im Kriegszustand, da können Sie also eine Gemeinschaft auf ein Ziel ausrichten. Und das ist natürlich bei fachlichen Fragen überhaupt nicht möglich ... Das würde in einem Spitzenverband überhaupt nicht vertretbar sein, weil der Spitzenverband natürlich einvernehmliche Lösungen suchen muß, wenn die Truppe nicht auseinanderfallen soll -mit der Konsequenz, daß ein Spitzenverband eigentlich nur in diesen Ausnahmesituationen, die ich beschrieben habe [eine Rolle spielt]. Aber alle anderen fachlichen Fragen werden im Grunde genommen in einem Spitzenverband in den großen Topf geworfen, und dann gibt’s den Einheitsbrei.“

Gepaart mit diesen Klagen über die inhaltliche Positionsbestimmung der Spitzenorganisationen kommen auch solche über den enormen Kostenaufwand. Der eben schon zitierte Bauverbandsfunktionär führt dazu aus: „So ein Verein ist ja auch teuer. Das ist ja furchtbar, das ist ja eines der Probleme bei den Verbänden: So wie wir jede Mark nachrechnen, die wir dem BDI geben, so rechnen unsere Mitgliedsverbände jede Mark nach, die sie uns geben, und unsere Mitgliedsfirmen rechnen jede Mark nach, die sie den Landesverbänden geben. Das ist ja das große Problem der Verbände: Die Beitragsfreudigkeit und -unfreudigkeit der Mitgliedsfirmen ... Das ist ganz schlimm, und der BDI leidet da besonders drunter. Beim BDI ist es im Moment ganz schlimm, da ist das große Heulen und Zähne-klappern.“

Resümierend bringt ein Vertreter eines Ernährungsverbandes die angeschlagene Position der Spitzenorganisationen klar auf den Punkt: „Das ist für uns im Moment die Frage, die uns ’rumreißt. Denn Spitzenverbände -und ich freu’ mich, daß ich das auch von anderen Ländern weiß, Frankreich, England usw. -haben es ganz schwer, und zwar, weil die von dem Geld leben, das die Fachverbände von ihren Betrieben einsammeln. Die Fachverbände sind in den letzten 10 Jahren sehr stark geworden. Da ist jeder ein Pascha, will ich mal sagen. Es gibt vielleicht hier in der ganzen Ernährungsindustrie acht Hauptgeschäftsführungen, oder 10 vielleicht, die das Ganze machen. Und dann steht oben drüber eine Dachorganisation, die gar nicht Dienstleistung sein kann, weil die alle ihre Fachsachen selbst wissen. Die Dienstleistung könnte sein, wenn so ein Übermanager soviel Gespür hat, daß er also möglichst alle Minister oder Staatssekretäre persönlich kennt, so daß man sagt: , Können Sie mal mitgehen und mich da unterstützen? 1 Spitzenorganisationen machen aber den Fehler, daß sie sagen: , Wir sind für Euch Dienstleistung und machen alles 4, haben aber nicht die Ausstattung, [um das zu leisten], so daß die Finanzierung von Spitzenverbänden immer problematischer wird, weil die immer teurer werden und sich immer weniger rechtfertigen können. Heute muß sich jeder, der Geld kriegt, rechtfertigen, daß er das Geld wert ist. Und die Spitzenverbände können das nicht mehr, nicht? Die machen große Empfänge und reden mit Politikern, die überhaupt nichts bewegen, weil das Geld fehlt.“

V. Fazit

Übersicht 1: Idealtypische Organisationsmuster im System deutscher Verbände

Die vorliegende Abhandlung sollte dem Nachweis dienen, daß Interessengruppen die ihnen zugeschriebenen Funktionen der Interessenartikulation, -aggregation, -Selektion und der politischen Integration praktisch auf unterschiedliche Weise wahrnehmen. Dabei ist jede dieser Aufgaben im politischen Arbeitsalltag harte „Knochenarbeit“: Verbandsinterne Willensbildung muß organisiert und Unstimmigkeiten unter den „Mitgliedern müssen beseitigt werden. Schließlich formulierte Verbandspositionen müssen in einem harten politischen Konkurrenzkampf mit anderen Interessengruppen politisch vertreten und durchgesetzt werden. Probleme sind hier allenthalben vorprogrammiert. Insoweit trifft man in der politischen Praxis auch weniger auf Klagen über eine „Herrschaft der Verbände“, sondern vielfach auf Unmut über deren mangelnde Professionalität und ihre suboptimale politische Wirkung. All dies trägt wirkungsvoll zu einer „Entzauberung“ des Lobbyismus bei und hilft, Interessenvertretung auch in der politischen Bildung als mit Fehlern behaftetes, damit aber letztlich menschliches und politisch unabdingbares politisches Gewerbe zu vermitteln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Interviewpassagen, welche in dieser Abhandlung abgedruckt werden, entstammen Gesprächen, welche im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts zur deutschen Verbändelandschaft geführt wurden. Vgl. dazu Martin Sebaldt, Organisierter Pluralismus. Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen, Opladen 1997. Zu Dokumentationszwecken wird hier jeweils die Nummer angegeben, welche den anonymisierten Gesprächs-protokollen zugewiesen wurde. Hier: Interview Nr. 6, S. 3.

  2. So der Titel -allerdings mit einem Fragezeichen versehen -des Klassikers: Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 19632.

  3. Vgl. Jürgen Weber, Die Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, München 19812, S. 386-396; generell wichtig auch Ulrich von Alemann unter Mitarbeit von Reiner Fonteyn und Hans-Jürgen Lange, Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, Opladen 19892, S. 183-193.

  4. Thomas Ellwein, Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß, in: Ernst Bernd Blümle/Peter Schwarz (Hrsg.), Wirtschaftsverbände und ihre Funktion, Darmstadt 1985 (erstm. 1973), S. 239-277, hier: S. 240. Noch 14 (!) Jahre später verwendet Ellwein -bei veränderter Zahl der Gesamtbevölkerung -dieselbe Faustregel mit gleichem Ergebnis: „Ihr zufolge kommen in der Bundesrepublik auf 1 000 Einwohner wenigstens 3 bis 4 Vereinigungen, was einer Gesamtzahl von mindestens 200 000 entspräche. Da sich damit kaum arbeiten läßt und örtliche oder regionale Totalerhebungen nicht vorliegen ..., kann man verstehen, warum sich die Wissenschaft zurückhält oder von vornherein mit Hilfe eines engen Verbands-und eines ebenso verengten Interessenbegriffs ihr Thema einschränkt." Vgl. Thomas Ellwein/Joachim J. Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 19876, S. 162.

  5. Vgl. Fischer Weltalmanach 1997, Frankfurt/M. 1996, Spalte 191.

  6. Vgl. J. Weber (Anm. 3), S. 91.

  7. In der „öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern“, wie die Lobbyliste amtlich heißt, finden sich alle jene Organisationen wieder, die offiziell bundespolitisch tätig werden wollen und dafür gleichsam eine „Akkreditierung“ benötigen. Denn laut Beschluß des Deutschen Bundestages vom 21. 9. 1972 wird nur denjenigen Interessengruppen Zugang zu parlamentarischen Entscheidungsgremien gewährt, die sich in der Liste registrieren lassen und dabei Angaben zu folgenden Punkten machen: Name und Sitz der Organisation, 1. Adresse, weitere Adressen, Vorstand und Geschäftsführung, Interessenbereich, Mitgliederzahl, Anzahl der angeschlossenen Organisationen, Verbandsvertreter, Anschrift am Sitz von Bundestag und Bundesregierung. Ausgenommen von dieser Registrierungspflicht bleiben laut Beschluß des Präsidiums des Deutschen Bundestages vom 14. 3. 1973 nur Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts sowie deren Dachorganisationen, da sie keine Verbände im Sinne der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages darstellen.

  8. Vgl. M. Sebaldt (Anm. 1), Kapitel III.

  9. Vgl. ebd., S. 303.

  10. Vgl. ebd., S. 307.

  11. Vgl. Jürgen Weber, Politikvermittlung als Interessenvermittlung durch Verbände, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Politikvermittlung. Beiträge zur politischen Kommunikationskultur, Bonn 1987, S. 203-218, hier: S. 213.

  12. Vgl. Martin Sebaldt, Interessengruppen und ihre bundespolitische Präsenz in Deutschland: Verbandsarbeit vor Ort, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 27 (1996) 4, S. 658-696, hier: S. 673-680.

  13. Im Rahmen einer schriftlichen Befragung aller in der Lobbyliste 1993 registrierten Interessengruppen wurde den Verbandsfunktionären die Möglichkeit gegeben, die Bedeutung der jeweiligen Gesprächspartner durch „Noten“ zu beurteilen (1 = sehr wichtig ... 5 = unwichtig). Die angegebenen Zahlen sind die jeweiligen Gesamtdurchschnittswerte. Insgesamt gingen 602 Fragebögen in die Auswertung ein. Die unterschiedlichen Nennungszahlen deuten darauf hin, daß je nach Vorgabe überhaupt keine Angabe gemacht bzw.der ebenfalls vorgegebene Wert 0 (trifft nicht zu) eingetragen wurde. Vgl. dazu M. Sebaldt (Anm. 12), S. 673-680.

  14. Vgl. dazu M. Sebaldt (Anm. 1), S. 320-329.

  15. Die Daten wurden im Rahmen von Intensivinterviews mit deutschen Verbandsfunktionären erhoben. Vgl. dazu Anm. 1.

  16. Interview Nr. 9, S. 3-4.

  17. Vgl. J. Weber (Anm. 3), S. 94 f.

  18. Vgl. Günter Triesch/Wolfgang Ockenfels, Interessenverbände in Deutschland. Ihr Einfluß in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München -Landsberg a. L. 1995, S. 16.

  19. Vgl. BDI-Bericht 1996, S. 76 f.

  20. Vgl. Lobbyliste 1996, S. 115.

  21. Vgl. Hans Flierl, Freie und öffentliche Wohlfahrtspflege. Aufbau, Finanzierung, Geschichte, Verbände, München 19922.

  22. Viele Beispiele dafür finden sich jetzt in M. Sebaldt (Anm. 1), Kapitel III.

  23. VgL Siegfried Mann, Macht und Ohnmacht der Verbände. Das Beispiel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. (BDI) aus empirisch-analytischer Sicht, Baden-Baden 1994.

  24. Vgl. Lobbyliste 1996, S. 71. Die „sozialpolitischen Belange“ sind von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) wahrzunehmen.

  25. Vgl. BDI-Bericht (Anm. 22), Anhang.

  26. Vgl. ebd., S. 78-81.

  27. So der Untertitel eines Artikels in der „Zeit“: Wechsel beim BDI: Ex-Präsident Heinrich Weiss bekam den Apparat nicht in den Griff, in: Die Zeit vom 4. 9. 1992, S. 23.

  28. „Das Entsendegesetz entzweit die Arbeitgeberverbände. Allgemeinverbindlichkeit der Tarife umstritten. Handwerk, Baugewerbe und Gewerkschaft wollen mehr“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 8. 1995, S. 17.

  29. Interview Nr. 18, S. 11.

  30. Ebd.

  31. Interview Nr. 8, S. 11; die Passage wurde anonymisiert.

  32. Interview Nr. 1, S. 10 f.

  33. Interview Nr. 18, S. 11.

  34. Interview Nr. 13, S. 9.

Weitere Inhalte

Martin Sebaldt, Dr. phil. habil., geb. 1961; Privatdozent und Oberassistent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Universität Passau; 1997/98 Vertretung einer Professur für politische Systeme an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen u. a.: Die Thematisierungsfunktion der Opposition. Die parlamentarische Minderheit des Deutschen Bundestags als innovative Kraft im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. u. a. 1992; Katholizismus und Religionsfreiheit. Der Toleranzantrag der Zentrumspartei im Deutschen Reichstag, Frankfurt/M. u. a. 1994; Organisierter Pluralismus. Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen, Opladen 1997.