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Alltagsleben und Agrarpolitik im „sozialistischen Dorf“. Eine Regionalstudie zum Wandel eines thüringischen Dorfes während der Jahre 1945-1990 | APuZ 38/1997 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 38/1997 Probleme des Brigadealltags Arbeitsverhältnisse und Arbeitsklima in volkseigenen Betrieben 1950-1989 Hochtechnologien in der Zentralplanwirtschaft der DDR. Zum Dilemma der Mikroelektronik der DDR in den achtziger Jahren Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Eine Bilanz der Jahre 1945-1965 Alltagsleben und Agrarpolitik im „sozialistischen Dorf“. Eine Regionalstudie zum Wandel eines thüringischen Dorfes während der Jahre 1945-1990 Kommentar und Replik. Widerstandsforschung und DDR-Kontakte. Zum Beitrag von Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Zeitgeschichte in Deutschland vor und nach 1989 (B 26/97) Widerstandsforschung und vorauseilende Kompromißbereitschaft

Alltagsleben und Agrarpolitik im „sozialistischen Dorf“. Eine Regionalstudie zum Wandel eines thüringischen Dorfes während der Jahre 1945-1990

Barbara Schier

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag befaßt sich mit Merxleben -einem thüringischen Dorf, in dem 1952 die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) der DDR gegründet worden war. Das Alltagsleben wurde auch schon vorher maßgeblich von der SED-Agrarpolitik bestimmt. Diese nahm Einfluß auf die Sozialstruktur, auf die Produktions-und Eigentumsverhältnisse, auf die ländliche Kulturpolitik u. a. m. Nach mehrjährigen Forschungen der Verf. vor Ort, Auswertung von Archivmaterialien aus den ehemaligen Parteiarchiven sowie Expertenbefragungen entstand das Bild eines „sozialistischen Dorfes“, das trotz seiner gewissen Besonderheit mitnichten dem Wunschbild der Partei entsprach, aber dennoch ökonomisch erfolgreich war. Die Dorfbewohner verstanden es, die Nischen und Winkel einer normativen Agrarpolitik für sich zu nutzen. Während einzelner Phasen der „Entwicklung zum Sozialismus“ entschieden sich die Bauern Merxlebens je nach privater Wirtschaftslage, den zu erwartenden Fördermaßnahmen oder staatlichen Zwängen für den Eintritt in die Genossenschaft oder dagegen. Als die industrialisierte Landwirtschaft einen normierten, dem der Industriearbeiter vergleichbaren Acht-Stunden-Arbeitstag vorschrieb, bauten die LPG Bauern in ihrer Freizeit den privatwirtschaftlichen Agrarsektor aus (die private Hauswirtschaft), der ihnen durch hoch subventionierten Produktverkauf zusätzliche Einkünfte verschaffte. Die Führungskader der LPG nutzten ihre Beziehungen zu einflußreichen Partei- und Landwirtschaftsfunktionären auf der Kreis-und Bezirksebene, um die LPG zu wirtschaftlichen Erfolgen zu führen. Der Grundtenor der Berichte zahlreicher Dorfbewohner aus unterschiedlichen Sozial-schichten ist denn auch geprägt vom Stolz auf die Eigenleistung, unter politischem Druck das Beste für sich, die Familie, die Freunde „herausgeholt zu haben, was unter schwierigen Verhältnissen überhaupt möglich war“. Sie jonglierten geschickt zwischen Anpassung und Widerstand. Die LPG-Bauem in Merxleben, dem „sozialistischen Dorf“, waren den Industriearbeitern in der Stadt ökonomisch weit überlegen. Sie sind auch heute noch stolz auf ihre damaligen Leistungen und ihre unternehmerische Phantasie.

I. Vorbemerkungen

Das Alltagsleben der Dorfbewohner in Mittel-deutschland wurde während der Jahre 1945 bis 1990 nicht mehr von Besitzstand und Platz im traditionellen Hierarchiegefüge des Dorfes bestimmt, ebensowenig von der rigiden Sozialkontrolle einer dörflichen Gesellschaft in den bisher bekannten Formen. Es wurde durch einschneidende agrarpolitische Maßnahmen beeinflußt, und das war in dieser Konsequenz neu. Als besonderes Charakteristikum aller Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft galt, daß die Agrarpolitik ausschließlich Sache der „machtausübenden kommunistischen oder Arbeiterpartei“ war, die sich auf die Erkenntnisse der Klassiker des Marxismus-Leninismus bezog Sie war auch weiter gefaßt als in den westlichen Ländern üblich, denn sie war nicht allein als Wirtschaftspolitik zu verstehen, die die agrarische Produktion betraf, sondern wurde darüber hinaus wirksam in bezug auf die Produktions-und Eigentumsverhältnisse, die ländliche Kulturpolitik, die Bildungspolitik sowie die Sozialpolitik und hatte damit gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Die SED-Agrarpolitik hatte also Auswirkungen auf die Sozialstruktur, auf die Arbeit, das Privatleben und die Besitzverhältnisse der Dorfbewohner.

Die Wirkung der Agrarpolitik auf das Dorf als Sozialgefüge läßt daher Aussagen über die Absichten dieser Politik ebenso zu, wie über den Umgang der Dorfbevölkerung mit den durch diese Politik angeordneten und von den örtlichen Staats-und Parteiorganen durchgeführten Maßnahmen. Ziele der SED-Agrarpolitik waren neben der Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion durch Anwendung industriemäßiger Produktionsmethoden die Annäherung der Lebensbedingungen des Dorfes an die der Stadt, also die Überwindung des Stadt-Land-Unterschieds. Den Führungsanspruch bei diesen Umgestaltungsprozessen auf dem Lande gemäß dem „Leninschen Genossenschaftsplan“ erhob die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei, die SED.

Das Dorf, als Mikrokosmos einer regionalen Gesellschaft verstanden, bot sich als Forschungsfeld an. Hier konnte man anhand kommunaler Besonderheiten untersuchen, wie der sogenannte „Aufbau des Sozialismus“ tatsächlich vor sich ging, wie die Bewohner eines Dorfes darauf reagierten, wie er ihren Alltag veränderte. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) zu. Diese Genossenschaften schufen mit der Vergesellschaftung des privaten Bodenbesitzes der Dorfbewohner -die nur formal noch Eigentümer blieben, aber keine Verfügungsgewalt über den Boden hatten -die Voraussetzungen für den sogenannten Aufbau des Sozialismus im Dorf. Das „sozialistische Dorf“ gründete sich daher vorrangig auf die Existenz der LPG. Agrarpolitik, LPG und dörflicher Alltag waren eng miteinander verbunden, waren aufeinander bezogen.

Das thüringische Dorf Merxleben, Gründungsort und Sitz der ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft der DDR, hatte zwar in den fünfziger Jahren eine gewisse politische Bedeutung, war aber kein „Muster-Dorf“, auch die LPG war keine durchgängige „Muster-LPG“. Das Dorf wurde aufgrund einer relativ guten Quellenlage ausgewählt, um hier zu untersuchen, welche Auswirkungen die SED-Agrarpolitik hatte: auf die Veränderung der dörflichen Sozialstruktur, auf den Wechsel örtlicher Eliten, auf das Zusammenleben der Dorfbewohner, ihre Gemeinschaftsbeziehungen, ihre Lebensbedingungen, schließlich auf ihre Handlungsspielräume. Hatten die Dorfbewohner sich mit den agrarpolitischen Diktaten abgefunden oder gab es Widerstände, und während welcher agrarpolitischer Phasen reagierten sie in welcher Weise?

II. Das thüringische Dorf Merxleben im Wandel

Merxleben, im Thüringer Becken gelegen, ist als Dorf mit stark landwirtschaftlicher Prägung in seiner Nachkriegs-und in seiner Kollektivierungsgeschichte für diese Region sicherlich typisch. Ob man allerdings die Ergebnisse der Forschungen im Ort verallgemeinern kann, und sei es nur für den Nordthüringer Raum, bleibt dahingestellt. Für die Forschung war die Tatsache wichtig, daß die Dorfbewohner im Laufe längerer Interviews, von denen Tonbandmitschnitte angefertigt wurden, sehr freimütig erzählten. Wichtig war auch, daß die nostalgischen Darstellungen einer heilen „Dorfgemeinschaft“, des harmonischen Miteinanderlebens, der selbstlosen gegenseitigen Hilfeleistungen in einer durch Versorgungsmängel gekennzeichneten Gesellschaft bei Zweitinterviews häufig nicht mehr in dieser Form aufrecht erhalten wurden. Die Geschichte dieses Dorfes nach 1945 bis zur „Wende“ erfuhr Zäsuren durch die von der SED geprägten Phasen der Vorgeschichte und Geschichte der DDR, die ihre agrarpolitischen Entsprechungen hatten Diese strukturierten auch die Geschichte des Dorfes und gingen mit einschneidenden Maßnahmen einher, die z. T. tiefgreifende Wandlungsprozesse bewirkten. Die folgende Phaseneinteilung übernimmt deshalb die politisch-ideologischen Termini als gliederndes Hilfsmittel.

Phase I: „Periode der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ 1945-1949

Merxleben war bis 1945 ein Gutsdorf, in unmittelbarer Nähe einer kleinen Ackerbürgerstadt gelegen, dem heutigen Bad Langensalza. Das Ritter-gut verfügte über 124 Hektar Ackerland, es gab 85 ablieferungspflichtige landwirtschaftliche Betriebe, davon waren 17 als großbäuerlich (mit 15-100 ha), 25 als mittelbäuerlich (5-15 ha) und 42 als kleinbäuerlich eingestuft (die Kleinbauernstellen waren 1945 auf 13 reduziert). Der Ort verfügte über 820 ha landwirtschaftliche Nutzfläche. Nach Kriegsende kamen zahlreiche Flüchtlinge nach Merxleben, so daß die Einwohnerzahl, die jahrzehntelang bei 500 gelegen hatte, sich um mehr als 50 Prozent auf ca. 780 erhöhte. 1945 wurden in Merxleben 123 Wohnungen gezählt, d. h. Häuser und Wohnungen waren hoffnungslos über-belegt. Der Agrarhistoriker Arnd Bauerkämper beschreibt die entstehenden Konflikte zwischen Einheimischen und Flüchtlingen wie folgt: Die Flüchtlinge „trafen auf traditionelle Gesellschaftsstrukturen und Werte, die bei den Einheimischen über hohe Verbindlichkeit und Integrationskraft verfügten. Der ökonomische Verteilungskonflikt um knappe Ressourcen ging darum mit scharfen Spannungen im dörflichen Sozialgefüge einher.“ In Merxleben wurde 1945 im Zuge der Bodenreformdirektive der Leitung der KPD und entsprechend der Länderverordnung von Thüringen die Enteignung und Aufteilung des Rittergutsbesitzes und des Besitzes des ortsansässigen ehemaligen NS-Kreisbauernführers von insgesamt 140, 27 ha durchgeführt. 35 anspruchsberechtigte Familien wurden ermittelt -darunter sieben Flüchtlingsfamilien -an die Land, Nutztiere und kleinere Landmaschinen verteilt wurden. Die ehemaligen Flüchtlinge -Umsiedler genannt -berichten heute von Benachteiligungen gegenüber den einheimischen Anspruchsberechtigten bei der Verteilung der Tiere, vor allem der Milchkühe, die sie hinnehmen mußten. Der Gutsbesitzer, für dessen Verbleib im Ort sich ehemalige Landarbeiter in einer Petition eingesetzt hatten, wurde im Zuchthaus Gräfentonna inhaftiert -vorsorglich, so hieß es, damit er die Verteilung seines Besitzes nicht behindere. Nach seiner Entlassung durfte er den Ort nicht mehr betreten und zog zur Familie seiner Frau in einen Nachbarort. Gemäß Befehl 209 der sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) mußten für die Umsiedler Wohn-und Wirtschaftsgebäude errichtet werden, damit sie als sogenannte Neubauern ansässig werden konnten. Bis 1948 waren in Merxleben unter tätiger Mithilfe der Neubauern vier Höfe aus Abbruchmaterial von Kasernen der benachbarten Kreisstadt errichtet worden. 1947 war das Gutshaus im Dorf abgerissen worden -obwohl es Umnutzungsvorschläge für die Schule und Verwaltung gab -, wozu die Bauern des Ortes zwangsverpflichtet wurden. Gutsabriß und Neubauernhäuser am Dorfrand bedeuteten grundlegende Veränderungen der architektonischen Dorfstruktur, die nicht nur optisch, sondern auch ideologisch gewertet werden müssen.

Die Ansiedlung der Flüchtlinge und die Bodenreform bedeuteten in dem von Gutsbesitz und mittel-und großbäuerlichen Wirtschaften geprägten Dorf einen gravierenden Wandel. Die Zahl der kleinen Landwirte hatte sich durch die hinzugekommenen Neubauern deutlich vergrößert. Sie stellten im Dorf eine neue Gruppierung dar, deren Zusammenhalt zunehmend enger wurde. Die Neu-bauern befleißigten sich großer Loyalität gegenüber dem Staat und der durch Zusammenschluß der Parteien KPD und SPD 1946 entstandenen SED, zu deren Mitgliedern ein Großteil von ihnen zählte Nach den Worten der alteingesessenen Bauern, die noch immer die Vormachtstellung im Dorf innehatten, ließen die landwirtschaftlichen Fähigkeiten der Neubauern aber zu wünschen übrig. Die größeren Bauern nahmen ihnen gegenüber eine distanzierte Haltung ein. Äußerungen wie: „Ihr braucht euch nicht erst groß einzurichten, ihr werdet euer Zeug sowieso wieder los, das habt ihr ja nur gepachtet!“ oder „Die Genossen müßte man alle schwarz machen und zum Dorf hinausjagen!“ zeigen, daß der von der Partei lancierte „Klassenkampf im Dorf“ durchaus Realität war. Großbauern verweigerten in einigen Fällen den Neubauern das Ausleihen landwirtschaftlicher Maschinen, andere ließen sich dafür mit Hand-und Spanndiensten bezahlen. Die Neubauern wiederum sangen Spottverse auf die Großbauern: „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt -die Großbauern, die Großbauern“, die sie auch gern „Kulaken“ titulierten.

Phase II: „Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“ 1949-1952

Alle landwirtschaftlichen Betriebe wurden dekadenmäßig, d. h. alle zehn Tage zur Ablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse veranlagt. Die Höhe des „Ablieferungssolls“ richtete sich nach der Größe der Anbaufläche, nach der Anzahl der Tiere usw. In Merxleben hatten die Großbauern, aber auch die Neubauern Ablieferungsprobleme, letztere vor allem wegen zu kleiner Ackerflächen, unzureichender maschineller Ausrüstung, Mangel an Saatgut und Kunstdünger Die nach sowjetischem Vorbild gegründeten Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) waren zwar angewiesen, vorzugsweise das Land der Neubauern zu bearbeiten, in Merxleben bevorzugten sie jedoch in den wirtschaftlich schwierigen Anfangsjahren die mittel-und großbäuerlichen Auftraggeber, die die Traktoristen mit Würsten und Speck bezahlen konnten 1950 schlossen sich 22 Neubauern zu einer soge-nannten „Liefergemeinschaft“ zusammen unter Führung eines Umsiedlers aus dem Sudetenland. Man wollte sich bei den Ablieferungsverpflichtungen gegenseitig helfen, wollte aber auch unabhängig vom Maschinenausleihen bei alteingesessenen Bauern werden. Die Liefergemeinschaft funktionierte gut, mußte aber am 28. Mai 1951 auf Veranlassung des ZK der SED und sowjetischer Militärs wieder aufgelöst werden. Die Zeit sei noch nicht reif für Genossenschaften, hieß es, und westliche Medien hätten die Liefergemeinschaft als Kollek­ tivierungsbeginn nach sowjetischem Vorbild bezeichnet.

Phase III: „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ 1952-1960

Am 8. Juni 1952 gründeten 22 Neubauern in Merxleben wiederum eine Genossenschaft, sie nannte sich jetzt „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ (LPG) und war die erste dieser Art in der DDR Sie erhielt den Namen „Walter Ulbricht“. Absprachen mit der SED auf höchster Ebene und mit dem Landwirtschaftsministerium waren vorausgegangen *Die LPG gab sich Statuten, die die Vergesellschaftung der Ackerflächen und des Grünlandes aller Mitglieder vorsahen, ebenso der vorhandenen Geräte und Maschinen, nicht aber der Nutztiere. Die Statuten wurden nach der 2. Parteikonferenz der SED, wo der planmäßige Aufbau des Sozialismus verkündet wurde und der neue LPG-Vorsitzende aus Merxleben referiert hatte, DDR-weit zu Musterstatuten der LPG Typ II erklärt. Die neue LPG hatte von der Regierung großzügige Wirtschaftshilfen und langfristige Kredite zugesagt bekommen. Am Jahresende wurde die LPG Typ II in eine LPG Typ III umgewandelt, d. h. die einzelbäuerlichen Betriebe wurden samt lebendem und totem Inventar vergesellschaftet. Der Boden blieb formell im Besitz der Bauern, die alleinige Verfügung darüber aber hatte die LPG. Alle Mitglieder hatten einen soge-nannten Inventarbeitrag in Höhe von 500, -Mark pro Hektar eingebrachtes Land zu zahlen, auf den eingebrachtes Vieh und Gerät angerechnet wurde. Am Rande des Dorfes entstanden im Laufe der nächsten Jahre Wirtschaftsgebäude und Stallungen. Die LPG wurde ausländischen Delegationen als Musterbetrieb vorgeführt, aber den Mitgliedern ging es finanziell schlecht. Nur mit Hilfe der „persönlichen Hauswirtschaft“, die bei Nutzung von lediglich 0, 5 ha Land pro Familie eine vorgeschriebene, begrenzte Tierhaltung erlaubte, konnten die LPG-Bauern während der ersten Jahre überleben. Ende des Jahres 1952 gab es in Merxleben noch immer 56 Bauernwirtschaften mit zusammen 600 ha Land, die die private land­ wirtschaftliche Produktion der genossenschaftlichen vorzogen. Die LPG hatte zu diesem Zeitpunkt 241 ha landwirtschaftliche Nutzfläche. Die Agrarpolitik begünstigte in den frühen fünfziger Jahren insbesondere die mittelbäuerlichen Betriebe mit Nutzflächen unter 20 ha, die ihre landwirtschaftlichen Überschüsse, die ihnen nach der „Soll“ -Ablieferung geblieben waren, als soge-nannte „Freie Spitzen“ zum Zwei-bis Dreifachen des Normalpreises verkaufen konnten. Die Bauern allerdings, die das „Soll“ nicht erfüllt hatten -das war in Merxleben vor allem bei einigen Groß-bauern der Fall, für die sich die Hektarveranlagung negativ auswirkte -, verschuldeten sich und wurden unter Druck gesetzt. Sie erhielten außerdem keine Schlachtgenehmigung. Das war für Bauern, die selber für tierische Produkte keine Lebensmittelkarten erhielten, eine Maßnahme von empfindlicher Härte. „Schwarzschlachtungen“ wurden unnachgiebig bestraft, oft mit Inhaftierung. Sollschulden führten in Merxleben in einem Fall zur Ausweisung einer Großbauernfamilie von ihrem Hof und zur Inhaftierung des Familienoberhauptes. Die Genossenschaft in Merxleben wie auch die privaten Landwirte litten gleichermaßen unter Arbeitskräftemangel. Die LPG versuchte das Problem durch die von der Partei angekurbelte Aktion „Industriearbeiter aufs Land“ zu lösen, die privaten Landwirte sollten ihren Landbesitz „abstocken“, d. h. aufteilen, oder an die LPG verschenken, da sie zur Bearbeitung gesetzlich gezwungen waren, aber nicht genügend Arbeitskräfte hatten. Als beides nicht recht funktionierte, kamen in Merxleben 1958 vier miteinander verwandte mittelbäuerliche Familien auf die Idee, ebenfalls eine LPG zu gründen, allerdings eines Typs, der nur die Nutzflächen, nicht aber die privaten Tierbestände vergesellschaftete (LPG Typ I). Sie besaßen 80 ha Land und kamen nun auch in den Genuß von Vorteilen, wie sie nur LPGs zugestanden wurden. Die beiden LPGs galten zwar offiziell als befreundet und gleichberechtigt, tatsächlich aber rivalisierten sie miteinander und neideten sich die jeweiligen Vorzüge: bessere Technisierung und modernere Ställe die eine LPG, die Möglichkeit des privaten Tierverkaufs die andere Lpg.

Phase IV: „Der umfassende Aufbau des Sozialismus“ 1960-1970

Im Jahre 1960 wurde in der DDR die Vollkollektivierung mit Hilfe einer Kampagne der SED durchgesetzt, die das Ziel hatte, den Widerstand auch der letzten Privatbauern zu brechen. Die Parole dazu hieß propagandistisch: „sozialistischer Frühling“; es wurde mit massivem agitatorischem Druck gegen die Privatbauern vorgegangen. In Merxleben schlossen sich 40 Personen, das waren 26 Haushaltungen, der LPG Typ I an, nicht der als progressiver geltenden LPG Typ III. Für sie entfiel der zu zahlende Inventarbeitrag. Die wirtschaftliche Prosperität der LPG Typ I unterschied sich positiv von der des Typs III. Die Mitgliedervollversammlung der LPG Typ III wählte 1965 ihren bisherigen Vorsitzenden ab man legte ihm die zu niedrigen Einkommen der Genossenschaftsbauern zur Last. Die Partei hatte die Ablösung vorbereitet, wie aus Interviews mit ehemaligen Landwirtschaftsfunktionären des Kreises hervorging und bereits einen neuen Vorsitzenden ausgewählt. Der neue Mann an der Spitze der LPG hatte eine landwirtschaftliche Fachschulausbildung, straffte und reorganisierte den gesamten Betrieb durch Spezialisierung und rigorose Rationalisierung, der auch manche kulturelle Einrichtung zum Opfer fiel. Für den Bereich Kulturarbeit wurde nun in den Jahres-plänen auf die nahegelegene Stadt verwiesen.

Phase V: „Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ ab 1971

In Merxleben wurde diese Phase um zwei Jahre vorgezogen. Am 30. Dezember 1968 wurden hier, noch bevor die Partei es anordnete, auf Initiative der Leitungskader der LPG Typ III beide LPGs zusammengeschlossen. Alle Mitglieder der LPG Typ I hatten beim Zwangsübertritt einen Inventar-oder Fondsausgleichsbeitrag von 4 450, -Mark pro ha eingebrachte Nutzfläche zu zahlen, Nutzvieh wurde darauf angerechnet -taxiert unter Wert, wie die Interviewpartner berichteten. Keiner konnte sich dem widersetzen. Inventar-oder Fondsausgleichsbeiträge hatten auch die Mitglieder anderer LPGs bei Zusammenschlüssen zu zahlen, aber Zahlungen in dieser Höhe waren selbst im DDR-Maßstab ungewöhnlich. „Wir haben unser Land verloren und mußten auch noch dafür zahlen!“ sagten mir Dorfbewohner wiederholt im Interview. Mit dem Geld der Fondsausgleichsbeiträge, das den Wert der Arbeitseinheiten schlagartig in die Höhe trieb, konsolidierte sich die LPG.

Der neue Vorsitzende veranlaßte eine Zusammenarbeit mit der Landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Rostock-Dummersdorf, die dem Betrieb Subventionen und Erfolge in der Schweineaufzucht brachte. Schließlich fusionierte er die Merxlebener LPG mit zwei weiteren LPGs der benachbarten Stadt, so daß ein Großbetrieb mit 2 350 ha Nutzfläche und 500 Mitgliedern entstand, wenngleich derartige Groß-LPGs einen „Sonderweg“ darstellten, den die Partei nur ungern sah -Kooperationen galten als der Modellfall. 1975 mußte die LPG die staatlich verfügte Trennung von Pflanzen-und Tierproduktion akzeptieren; sie entschied sich für die Tierproduktion und gab landwirtschaftliche Flächen bis an die Ortsgrenze an benachbarte LPGs ab. Sie spezialisierte sich u. a. auf Schweinezucht und Schafhaltung. 1976 wurden die vorhandenen Technikkapazitäten in einen gesonderten Koordinationsbetrieb auf Kreisebene ausgegliedert. Ein nochmaliger Wechsel des LPG-Vorsitzes führte zu einer weiteren intensiven Spezialisierung. Der Betrieb hatte nun einen Bestand von 15 000 Schweinen und eine jährliche Läufer-produktion (Jungschweine) von 21 000 Tieren. Die moderne Schafzucht-Anlage (Stammzuchtbetrieb) umfaßte 7 500 Tiere. Geflügelhaltung (Broileraufzucht) und Milchviehhaltung wurden abgeschafft, letzteres an den Direktiven der Partei vorbei. Der neue Vorsitzende dirigierte den Betrieb von der Stadt aus, wo am Stadtrand Verwaltungsgebäude errichtet worden waren und moderne Hallen für die Tierhaltung. Seine guten Beziehungen zur Kreisparteileitung und zum Rat des Kreises waren bei der Führung des Betriebes sehr hilfreich. Ob das Futterengpässe waren oder benötigte Plan-Kennziffern für Investitionen -die Partei half aus, und die verantwortlichen Funktionäre wurden dafür großzügig entschädigt. Die Landwirtschaft sei das „Filetstück der DDR-Wirtschaft“ gewesen -so ein ehemaliger örtlicher Landwirtschaftsfunktionär im Interview. Eine LPG, die schwarze Zahlen schrieb, ein erfolgreicher Landwirtschaftsbetrieb also, konnte mit der vollen Unterstützung der Partei rechnen, die dann sogar die Abschaffung der Milchkühe tolerierte, in der DDR die „heiligen Kühe“! Die Merxlebener LPG-Mitglieder arbeiteten in einer industrialisierten Landwirtschaft teils am Ort, teils in den Stallungen der fusionierten LPGs des Nachbarortes. Zahlreiche Frauen hatten die Feldarbeit, die ja nun von anderen LPGs übernommen worden war, mit der Arbeit in der LPGeigenen ,, Plaste“ -Produktion in Merxleben vertauscht, ursprünglich als Winterarbeitsplätze der Feldbaubrigaden vorgesehen. Mit zunehmender Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion kamen Techniker und Facharbeiter in die LPG, die entweder pendelten oder in die neuer-bauten Mietshäuser am Ortsrand einzogen.

Für einen Großteil der LPG-Mitglieder war die persönliche Hauswirtschaft neben dem Acht-Stunden-Tag in der LPG eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle: sei es, daß Stallungen für die Auf-zucht von Schweinen, Mastkälbern, Schafen oder Geflügel vorhanden waren, daß Gärten gute Obst-ernten abwarfen, daß Kaninchen in größerem Umfang gezüchtet wurden, daß die ganze Familie mit aufs Feld ging, wenn beispielsweise Rhabarber oder Knoblauch geerntet werden mußten. Der Verkauf der Produkte aus der persönlichen Hauswirtschaft war hoch subventioniert und die Deputate der LPG in Form von Futtermitteln erleichterten die Tierhaltung

In den achtziger Jahren verdiente ein Merxlebener LPG-Mitglied im Durchschnitt 1 200, -Mark monatlich in der LPG bei zusätzlichen Sozialleistungen wie billigem Kantinenessen (pro Woche kostete es eine Mark!), kostenlosem Urlaub in betriebseigenen Urlaubswohnungen und Geschenken für alle Mitglieder zu allen nur möglichen festlichen Anlässen, z. B. zum „Tag des Genossenschaftsbauern“, zum „Internationalen Frauentag“ oder zum Jahresabschlußfest. Es waren aufwendige Geschenke wie Marken-Armbanduhren, Koffersets, Bettwäsche, Gläsersortimente, Kaffeeservices Diese Geschenke und die Sozialleistungen bedeuteten eine sogenannte „zweite Lohntüte“ -so jedenfalls schilderte es der letzte Vorsitzende der LPG -, weil die Einkünfte der LPG-Bauern die der „führenden Klasse“ der Industriearbeiter offiziell nicht überschreiten durften. Die Sozialleistungen der Kommune wie Kindergarten und Kinderkrippe, die die Frauen entlasteten bzw.freistellten für einen Acht-Stunden-Tag in der LPG, sind dabei noch nicht berücksichtigt. Hinzu kamen die Gewinne aus den Verkäufen der Produkte der persönlichen Hauswirtschaft. Die LPG-Mitglieder in Merxleben waren mit ihren Einkünften zufrieden, seit die industrialisierte Tierhaltung gute Gewinne abwarf, dadurch ihre Arbeitseinheiten hoch bewertet wurden und die Erzeugnisse der persönlichen Hauswirtschaft unabhängig von Marktlage oder Bedarf von zentralen Aufkaufstellen zu guten Preisen abgenommen wurden.

III. Ergebnisse

1. Die Auswirkungen der SED-Agrarpolitik auf die Sozialstruktur 1945 war im Gutsdorf Merxleben -mit einer durchmischten, vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung -durch die Bodenreform und die Entmachtung bisher herrschender Familien bei gleichzeitiger Aufwertung kleinbäuerlicher Schichten und der nach Kriegsende einquartierten mittellosen Flüchtlinge ein grundlegender Wandel der Sozialstruktur eingeleitet worden. Er führte zu einer neuen Schichtenbewertung. Staatliche Förderung erhielten nun die ehemals Mittellosen, die Loyalität gegenüber Staat und Partei zu erkennen gaben, wie z. B. durch Mitgliedschaft in der SED. Sozial-prestige, bislang immer mit örtlichem Besitz und daraus resultierendem Einfluß auf die Lokalpolitik verbunden, wurde nun an andere Kriterien ge-knüpft. An der Spitze der dörflichen Hierarchie standen jetzt Personen, deren absolute „System-loyalität“ durch die Partei gewährleistet war. Führungspositionen wie LPG-Vorsitzender, hauptamtlicher Bürgermeister und Parteisekretär besetzten im Dorf politisch „zuverlässige“ Fremde, die aufgrund von Vertreibung aus den Ostgebieten oder durch Einheirat (und politische „Umerziehung“ in sowjetischer Kriegsgefangenschaft) oder als Industriearbeiter im Dorf ansässig wurden.

Die Gutsbesitzerfamilie wurde des Dorfes verwiesen, die Großbauern durch Gesetzgebung und unangemessene Ablieferungsverpflichtungen drangsaliert. Sie waren von Macht und Einfluß ausgegrenzt. Die 1958 gegründete LPG Typ I verstand sich als Alternativ-LPG zur vorhandenen LPG Typ III, ihr Vorsitzender war Mitglied der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD), und sie erstarkte durch den Mitgliederzuwachs anläßlich der Zwangskollektivierung 1960. Mit dieser Zwangskollektivierung, die sämtlichen Landbesitz aller Dorfbewohner der alleinigen Verfügung der beiden Genossenschaften unterstellte, war offiziell die soziale Nivellierung erreicht. Tatsächlich aber bestand die soziale Differenzierung fort, bedingt durch die unterschiedlichen Produktionserfolge der beiden LPGs. Die staatlich sanktionierte Zwangszusammenlegung beider LPGs bedeutete die wirtschaftliche und politische Niederlage der Bauern der LPG Typ I, die durch erhöhte Zahlungen von Inventarbeiträgen finanziell ausgeblutet waren. Die soziale Nivellierung schien jetzt erreicht zu sein.

Allerdings hatte die industrielle landwirtschaftliche Produktion zu einer weiteren Umstrukturierung des Dorfes geführt, seit 1970 die LPG in Merxleben mit zwei anderen Produktionsgenossenschaften zusammengelegt worden war. Es entstand ein neuer Typ Bauer, der die Funktion eines landwirtschaftlichen Arbeiters in der LPG mit der eines kleinen unabhängigen Landwirts verband, der als privater Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte in seiner Hauswirtschaft auch deren Vermarktung übernahm. Je geschickter die Auswahl der Erzeugnisse der Hauswirtschaft -z. B. Schaf-wolle durch Schafzucht -, je besser die Qualität, um so besser ging es den Erzeugern, um so mehr verdienten sie. Der unterschiedliche ökonomische Erfolg auf dem Gebiet der privaten Hauswirtschaft war Grund für eine erneute soziale Differenzierung. Die Führungspositionen im Dorf blieben auch in der zweiten Generation in den Händen von Dorffremden, d. h. sie wurden von der Partei besetzt. Die Kinder der ersten Führungsgeneration arbeiteten in der Regel nicht mehr im Dorf, wohnten aber dort. Es war ihre Entscheidung, ob sie durch Studium einen gesellschaftlichen Aufstieg erreichten, oder aber Arbeiter wurden. Die Position der Väter konnte den Ausbildungsweg ebnen, nicht aber eine Funktionsnachfolge in der Dorfhierarchie garantieren. Die LPG war der bedeutendste Arbeitgeber im Dorf, die LPG-Leitung nahm Einfluß auf das Dorfgeschehen, die Gemeindeverwaltung und die häufig wechselnden Bürgermeister. Die späteren LPG-Vorsitzenden mit Wohnsitz in der Stadt waren nicht mehr im Dorf integriert, was sie nicht hinderte, die Möglichkeiten der privaten Hauswirtschaft in großem Umfange auch für sich zu nutzen Sie feierten mit den Genossenschaftsmitgliedern Betriebsfeste, die Dorf-Kirmes allerdings haben sie nie besucht.

2. Die Auswirkung der SED-Agrarpolitik auf das Zusammenleben der Dorfbewohner, auf ihre Gemeinschaftsbeziehungen

Das Zusammenleben der Dorfbewohner war auch im Realsozialismus der DDR deutlich von ihrer ökonomischen Position geprägt. Diese ökonomischen Positionen änderten sich analog zu den Phasen der SED-Agrarpolitik. Vom Kriegsende bis zum Beginn der fünfziger Jahre gab es ein Status-gefälle von Altbauern (Mittel-und Großbauern) gegenüber Neubauern, solange die Neubauern ökonomisch schwach und von den Altbauern abhängig waren. Die Agrarpolitik begünstigte zu dieser Zeit noch die Altbauern (speziell die Mittel-bauern) mit ihren technischen Ressourcen durch die Möglichkeit des Verkaufs von Überschußprodukten, den „Freien Spitzen“. Die Haltung der Altbauern gegenüber den ökonomisch schwachen politischen „Aufsteigern“ war dabei von Überlegenheit und Arroganz gekennzeichnet. Wenig später brachte die Agrarpolitik dieselben Altbauern durch überhöhte Ablieferungsverpflichtungen an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Der parteilich verordnete „Klassenkampf im Dorf“ brächte die verschiedenen bäuerlichen Schichten gegeneinander auf. Obwohl beide -Altbauern wie Neubauern -unter den rigiden Ablieferungsverpflichtungen litten, solidarisierten sie sich nicht untereinander, sondern gruppierten sich gegeneinander. Die Neubauern fanden sich in der Liefergemeinschaft und später der LPG zusammen, Alt-bauern wurden als Klassenfeinde diskriminiert, sie mußten um ihre wirtschaftliche Existenz, ihren Besitz, ihre persönliche Freiheit fürchten, wenn sie den Bestimmungen der Agrarpolitik zuwiderhandelten. Das von der Partei vorgegebene „Klassenschema“ im Dorf zementierte die Trennung von Gruppierungen und hatte zur Folge, daß sich hauptsächlich innerhalb der jeweiligen Gruppe Freundschafts-und Verwandtschaftsbeziehungen festigten, der Umgang der jeweiligen Gruppenmitglieder mit denen der anderen Gruppe jedoch auf das Notwendigste beschränkt blieb. Die Zwangs-zusammenlegung der beiden LPGs im Dorf am Jahresende 1968 vertiefte durch die eingeforderten hohen Inventarbeiträge die Spaltung zwischen den Gruppierungen, denn einige Mitglieder mußten die geschuldeten Beträge jahrelang in der LPG abarbeiten.

Mit dem Verlust des Bodenbesitzes und der gleichberechtigten Lohnarbeit aller Genossenschaftsmitglieder hätte -nach Meinung des Agrarsoziologen Kurt Krambach -„ein historisch neuer Typ von Dorfgemeinschaft“ entstehen müssen, nachdem „mit der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft ... die sozialen Widersprüche zwischen Klein-und Mittelbauern und den kapitalistischen Großbauern beseitigt waren ...“. Erstmals in der Geschichte sei damit die objektive Voraussetzung für die Entwicklung der „sozialistischen Dorfgemeinschaft“ entstanden In Merxleben hat eine solche Entwicklung m. E. nicht stattgefunden Ein Teil der Dorfbewohner fühlte sich mehrfach enteignet, entrechtet, unterdrückt. Statt der sozialen Barrieren gab es noch immer die politischen, und die wurden auch mit gleichem Lohn für gleiche Arbeit nicht abgebaut. Die Spaltung im Dorf blieb. Sie wurde in späteren Jahren durch unterschiedliches Engagement und unterschiedliche Erfolge auf dem Gebiet der Hauswirtschaft noch vertieft. Nicht zu vergessen die „West-Verwandten“ und die „West-Pakete“ -für zahlreiche meiner Interviewpartner ein wichtiges Thema, soziale Unterschiede zu begründen. Einige Dorfbewohner hatten „West-Beziehungen“, andere nicht. Eine Familie aus dem Dorf wurde wegen ihrer „WestKleidung“ hinter vorgehaltener Hand „die Ewings“ genannt (und das waren keine ehemaligen Großbauern)! Soziale Nivellierung war Wunschdenken der Partei, die sozialistische Dorfgemeinschaft -so wie sie rückblickend konstatiert wird -eine nachträglich nostalgisch überhöhte Fiktion. Möglicherweise gab es sie hier und da -ich habe sie in Merxleben vergeblich gesucht.

3. Die Auswirkungen der SED-Agrarpolitik auf die Handlungsspielräume der Dorfbewohner: Akzeptanz oder Widerstandsbereitschaft gegenüber normativen Anordnungen

Ob es agrarpolitische Anweisungen der DDR-Regierung waren und ihrer führenden Partei, der SED, oder Anordnungen anderer Obrigkeiten -thüringische Bauern haben traditionell ihre Handlungsspielräume ausgelotet, d. h. sie haben versucht, Anordnungen, die ihre Lebensweise einzuschränken drohten, erst einmal zu ignorieren, sich den Zwängen aber schließlich gefügt und versucht, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Daß die ehemaligen Klein-und Neu-bauern im Dorf aufgrund der Bodenreform-Geschenke“ politisch loyal blieben, war staatlich eingeplant. Die Agrarpolitik umwarb (oder bedrohte) -je nach politischem Kurs -die leistungsfähigen Mittel-und Großbauern, damit sie die Volksernährung gewährleisteten, die Kollektivierung mittrugen und nicht vorzeitig ausstiegen und nach Westdeutschland flüchteten

Die ökonomisch starken Mittelbauern waren in den Anfangsjahren der Kollektivierung, als die wirtschaftlichen Erfolge der LPG noch zu wünschen übrig ließen, aufmüpfig, erlaubten sich politische Witze, wurden dafür eingesperrt, hofften auf Änderung der politischen Verhältnisse in ihrem Sinne und glaubten nicht an einen dauerhaften Erfolg der neuen Großbetriebe. Erst in dem Moment, als die LPG mit gesetzlicher Duldung nicht nur Zugriff auf ihr Land, sondern (über die Inventarbeiträge) auch auf ihre Bankkonten erhielt, gaben sie sich „geschlagen“. Sie arbeiteten jetzt nach „Vorschrift“, ohne besonderes Engagement. Sie zogen sich in ihre vier Wände zurück, d. h. ihr Privatleben rangierte vor dem Arbeitsleben in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb, dessen Funktionieren in den Händen von Lei-tungskadern lag und auf das sie so gut wie keinen Einfluß mehr hatten. Die persönliche Hauswirtschaft war ein neues (altes) Betätigungsfeld, das sie ausbauten. Die Phantasie, die LPG-Bauern entwickelten, wenn es darum ging, rare Güter -seien es tierische oder pflanzliche Produkte -zu produzieren und damit die staatlichen Subventionen abzuschöpfen, ist bewundernswert.

Es war für einen Genossenschaftsbauern als Arbeitnehmer unter den neuen Bedingungen eines gut funktionierenden Großunternehmens besser, sich zu arrangieren, sich anzupassen, im „Tausch“ gegen Leistung von der LPG Zuwendungen zu erhalten (ob das Baumaterial war oder das Ausleihen von Fahrzeugen), als eine nutzlose Opposition zu pflegen. Der Generationenwechsel hat das seinige dazu getan. Die Widerständigkeiten in den frühen fünfziger Jahren gegen die Zumutungen der SED-Agrarpolitik wurden nun durch Anpassungsbereitschaft ersetzt. Und wenn der letzte LPG-Vorsitzende berichtet, daß er „erfahrene Bauern, auch reaktionäre“, in leitende Funktionen hineingenommen hatte, weil fachliches Können und nicht das Parteibuch den Erfolg eines Betriebes garantierten, so ist das auch ein Beweis gegenseitiger Annäherung.

Zusammenfassend kann man sagen, daß Anpassung und Widerstand von verschiedenen sozialen Schichten zu verschiedenen Zeitabschnitten unterschiedlich gehandhabt wurden -auch deshalb, weil die Schichten ihr Selbstverständnis änderten und ihre gesellschaftliche Bewertung ebenfalls einem Wandel unterlag. Trotz einer rigiden Agrarpolitik fanden die Dorfbewohner Mittel und Wege, sich • mit dieser Politik auseinanderzusetzen, sie zu akzeptieren, wenn es keine andere Möglichkeit gab, die Anordnungen zu modifizieren, wenn das Vorteile brachte, die Nischen und kleinsten Freiräume einer solchen Politik für sich zu nutzen -

und sei es unter Rückbezug auf Persönlichkeiten in leitenden Positionen, deren taktisches Geschick und politische Beziehungen oftmals sehr nützlich waren. Man verpflichtete sich zum längeren Dienst in der Armee, wenn das der beruflichen Karriere förderlich war; man ging in die Partei, wenn davon die dringend benötigte Materiallieferung für den privaten Hausbau abhängig gemacht wurde. Eine Hand wusch die andere -Widerstand hatte keinen Sinn, man wollte überleben, und das so gut wie nur irgend möglich. Zu einem Zeitpunkt, als das moderne Management der LPG seine Entscheidungen häufig im Alleingang traf, war man nicht unglücklich darüber, mit Verantwortung nicht belastet zu sein. Die Hauptsache war, daß „die LPG so lief, daß unterm Strich für jeden 'was übrigblieb“. In einer politischen Situation, die für unumkehrbar gehalten wurde, war ein solches Verhalten logisch und rational.

IV. Zur Situation im Dorf seit 1990

Als im. Jahre 1990 infolge der Vereinigung Ost-und Westdeutschlands die Fleisch-und Wollpreise fielen, wandelte der letzte Vorsitzende, über die Köpfe der Mitglieder hinweg, die LPG kurzerhand in einen Industriebetrieb um, verkaufte alle Tiere und installierte in den modernen Stallungen (freitragende Hallen) eine Fensterrahmenproduktion. Die LPG-Vollversammlung wählte ihn daraufhin ab. Die LPG (T) Bad Langensalza/Merxleben wurde 1991 aufgelöst. Sie hatte nach Auskunft des letzten Vorsitzenden zuletzt noch 328 Mitglieder (wovon 185 im Arbeitsverhältnis standen) und 21 Millionen Mark bilanziertes Vermögen. Die seinerzeit gegründete Fensterrahmenproduktion unter neuer Geschäftsführung beschäftigte 1996 in Bad Langensalza 124 Personen und unterhält je einen Zweigbetrieb in Mecklenburg-Vorpommern und in Litauen. Sie erreicht einen Jahresumsatz von ca. 30 Millionen DM. 50 Beschäftigte der Firma sind ehemalige Mitglieder der Groß-LPG, 21 ehemalige LPG-Mitglieder sind Gesellschafter der Firma.

Das Dorf Merxleben hat sein Gesicht verändert, seit es nur noch zwei landwirtschaftliche Betriebe gibt, sogenannte hauptberufliche „Wiedereinrichter“. Das ehemalige LPG-Gelände liegt brach, die Ställe verfallen. Ein Teil der Dorfbewohner arbeitet in der Fensterrahmenproduktion des LPG-Nachfolge-Betriebes, andere haben private Handwerksbetriebe gegründet, insgesamt haben sich 16 Dienstleistungs-und Gewerbebetriebe in Merxleben angesiedelt. Zahlreiche jüngere Leute arbeiten in unterschiedlichen Branchen in der benachbarten Stadt. Die Arbeitslosigkeit im Dorf beträgt 23 Prozent (ABM-Kräfte eingerechnet), 22 Prozent befinden sich im Rentenalter oder im Vorruhestand. Gegenwärtig findet eine neue soziale Differenzierung im Dorf statt, alte Ressentiments brechen auf, auch gegenüber denjenigen, die sich selbständig gemacht haben. Jetzt trennt sich die Dorfbewohnerschaft in diejenigen, welche Arbeit haben, und die, die arbeitslos sind. „Wir waren früher gleicher!“ sagte mir ein Interviewpartner. Der Ort hat gegenwärtig 512 Einwohner. Im März 1994 wurde Merxleben nach Bad Langensalza eingemeindet.

V. Resümee

Wohl nicht nur im „sozialistischen Dorf“ Merxleben hatte „die , Ummodelung der werktätigen Bauern, ihrer ganzen Mentalität, ihrer gesamten Gewohnheiten, Arbeits-und Lebensbedingungen“ aufgrund der Umwandlung der landwirtschaftlichen Arbeit in die Form der Industriearbeit“ nicht in der von der SED-Agrarpolitik vorgesehenen Weise stattgefunden. Auch die feste Verbundenheit der , Klasse der Genossenschaftsbauern mit der Arbeiterklasse und der Führungsanspruch der letzteren gegenüber den Bauern blieb in Merxleben Wunschdenken der Partei. In einem „sozialistischen Dorf“, in dem Genossenschaftsbauern sich über die Angehörigen der verbündeten Arbeiterklasse als die Bewohner der „Warmwasserviertel“ oder der „Faultierfarmen“ mokierten, wo selbst die zu Vorbildverhalten verpflichteten Vorsitzenden der Produktionsgenossenschaft große private Tierherden hielten und die Genossenschaft eher nach den Methoden westlichen Managements führten (nach ihren eigenen Worten) als nach den Regeln genossenschaftlicher Mitbestimmung, wo man auf Schritt und Tritt (zu DDR-Zeiten) privat-bäuerlichen Aktivitäten begegnete und der Stolz darauf identitätsstiftende Kraft hatte -in einem solchen Dorf konnten die Werthaltungen nicht denen der Industriearbeiter angenähert werden.

Die SED-Agrarpolitik, wiewohl mit eindeutigen Zielen angetreten, bot winzige Freiräume, Nischen, Winkel, die auf dem Wege zum Sozialismus Atempausen gewähren sollten. Daß diese Winkel von den LPG-Bauern in Merxleben derart geschickt genutzt wurden, daß ihnen die Segnungen der Privatwirtschaft als willkommene Ergänzung zum landwirtschaftlichen Industriearbeiter-Alltag erschienen, und nicht als Übergangslösung -damit hatte die Partei offensichtlich nicht gerechnet. Einer der wichtigsten „Sinnsprüche“ Thüringer Bauern ist seit jeher -so wurde mir im Interview gesagt „Jeder muß sehen, daß er mit dem Hintern an die Wand kommt!“ Vorsichtiger umschreibt das der Soziologe und Theologe Ehrhart Neubert, Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“: „Das heißt, jeder einzelne in der DDR ging seinen Weg, nichts ging in Wahrheit den gemeinsamen sozialistischen Gang, sondern der einzelne versuchte, sein Verhältnis zu den Umständen, zum realen Sozialismus zu gestalten, in seiner Verantwortung. Er wußte, wann er sich verweigern mußte; und er wußte, wann er versuchte, sich anzupassen. Er schätzte das Risiko ein und versuchte Chancen wahrzunehmen oder sie auch auszuschlagen.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der vorliegende Aufsatz stellt einige Aspekte aus meiner Dissertation vor, die 1997 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommen wurde. Titel der Arbeit: „Alltags-leben im , sozialistischen Dorf’. Zum Wandel eines thüringischen Dorfes während der Jahre 1945-1990 vor dem Hintergrund der SED-Agrarpolitik“. Die Arbeit entstand im Zusammenhang mit einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt, das am Institutfür deutsche und vergleichende Volkskunde an der genannten Universität durchgeführt wird. Vgl. Diethelm Gabler, Entwicklungsabschnitte der Landwirtschaft in der ehemaligen DDR, Berlin 1995, S. 438; Christian Krebs, Der Weg zur industriemäßigen Organisation der Agrarproduktion in der DDR. Die Agrarpolitik der SED, Bonn 1989.

  2. Zu Merxleben gibt es umfangreiches Archivmaterial in regionalen Archiven und im ehemaligen Bezirksparteiarchiv (jetzt im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar einzusehen). Leider fehlen statistische Angaben zur Bevölkerungsbewegung im Dorf seit den fünfziger Jahren und zu Mitgliederbewegungen in der LPG. Das statistische Kreisamt existiert nicht mehr, im Statistischen Landesamt in Erfurt befinden sich keine speziellen Unterlagen zum Dorf Merxleben; man vermutet dort Kassation nach Einarbeitung der Daten in die Kreisstatistik.

  3. Die Phaseneinteilung wurde erstmals im Parteiprogramm der SED von 1963 vorgenommen. Vgl. Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin (Ost) 1967, S. 232 ff., zit. nach Irma Hanke, Die Sozialstruktur der DDR im Vergleich, in: Jürgen Weber (Bearbeitung), DDR -Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zu einer vergleichenden Analyse ihrer politischen Systeme, (= Akademiebeiträge zur Lehrerbildung Bd. 3), München 1980, S. 81 f. „Westliche Periodisierungsversuche der DDR-Geschichte lehnen sich durchweg eng an die offizielle Einteilung in der DDR an, auch wenn sie andere Bezeichnungen wählen. Die offizielle Periodisierung ist durch die Ereignisse weitgehend gerechtfertigt und von daher plausibel.“ Hans-Georg Wehling, Die geschichtliche Entwicklung der DDR, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 205, Die DDR, Bonn 1988, S. 7.

  4. Arnd Bauerkämper, Von der Bodenreform zur Kollektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und DDR 19451952, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 119. Vgl. auch den Beitrag von Arnd Bauerkämper in diesem Heft.

  5. Siehe dazu auch Jochen-Christoph Kaiser, Klientel-bildung und Formierung einer neuen politischen Kultur. Überlegungen zur Geschichte der Bodenreform in Thüringen, in: Arnd Bauerkämper (Hrsg.), „Junkerland in Bauemhand“? Durchführung, Auswirkung und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996, S. 119-131.

  6. Bezirksparteiarchiv (BPA), Bestand Bezirksparteileitung Erfurt. A IV/2/7-18, Bericht über die am 25. 5. 1951 in Merxleben, Kreis Mühlhausen, erfolgte Überprüfung.

  7. Eine von der Partei angeordnete repräsentative Betriebs-analyse bei einem Merxlebener Neubauern über sämtliche Einnahmen und Ausgaben in Wirtschaft und Haushalt ergab, daß die Rentabilität des Betriebes nur durch drastische Einschränkung der Bedürfnisse der Familie und durch lange Arbeitszeiten einigermaßen gewährleistet war. (Stadtarchiv Bad Langensalza, Nr. KA B 39, Neubauern-Betriebsanalyse).

  8. Vgl. Stadtarchiv Bad Langensalza, KA A 187, Aktenvermerk vom 5. 12. 1950, Situation im Ort Merxleben.

  9. D. Gabler (Anm. 1, S. 64 f.) bezieht sich auf J. Lieser zur Erklärung des Unterschieds von herkömmlichen Genossenschaften gegenüber den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, deren Hauptaufgabe mit der Planerfüllung eine öffentliche sei, nicht aber die Förderung der Mitglieder. J. D. Lieser, Marburger Schriften zum Genossenschaftswesen, Reihe A, Bd. 37, Veröffentlichungen des Instituts für Genossenschaftswesen an der Philipp-Universität, Marburg (Lahn) 1969.

  10. Gründungen anderer Genossenschaften (LPGs) erfolgten fast zeitgleich.

  11. Der bisherige Vorsitzende der LPG „Walter Ulbricht“, ein ausgebildeter Molkereifachmann aus dem Sudetenland, hatte bereits die Liefergemeinschaft ins Leben gerufen. Er wurde 1954 ZK-Mitglied der SED, nutzte seine „guten Beziehungen nach Berlin“ und erhielt wiederholt finanzielle Stützungen und Kredite für die LPG. Trotz später absolvierten Studiums auf der LPG-Hochschule in Meißen war er mit der Leitung und den Modernisierungsanforderungen eines Großbetriebs auf Dauer überfordert.

  12. Arbeitseinheit (AE): Maß zur Vergütung von Arbeitsleistungen von LPG-Mitgliedern, die sich an Quantität und Qualität der Arbeit, sowie der Arbeitsqualifikation der Arbeitskräfte ausrichtet und sich errechnet aus dem für die Verteilung an die Mitglieder vorgesehenen Teil des erwirtschafteten Produkts einer LPG, dividiert durch die von allen Mitgliedern geleisteten AE. Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Bonn 1987, S. 457.

  13. Die LPG-Plaste-Produktion war ein kleiner Industrie-betrieb auf LPG-Gelände, der kleinteilige Plastik-Haushalts-gegenstände herstellte. Der Betrieb arbeitete in drei Schichten, die ca. 30 Angestellten arbeiteten nach Stückzahlnormen; es wurde nach Arbeitseinheiten abgerechnet.

  14. Die Einkommen aus der persönlichen Hauswirtschaft waren steuerfrei, die Zahl der privat gehaltenen größeren Nutztiere seit 1977 nicht mehr limitiert. Über die tatsächlichen Einkünfte aus privater Hauswirtschaft gibt es keine verbindlichen Angaben, lediglich die Vermutung, daß sie „beträchtlich“ gewesen seien. Vgl. Martin Diewald/Heike Solga, Soziale Ungleichheiten in der DDR: Die feinen aber deutlichen Unterschiede am Vorabend der Wende, in: Johannes Huinink/Karl Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.), Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach. Berlin 1995, S. 267.

  15. Auf das Einkommen der LPG-Bauern wurde keine Lohnsteuer erhoben; lediglich 60, -Mark Sozialversicherungsbeitrag (SVK-Beitrag) als Höchstsatz bei Einkommen über 600, -Mark wurden abgezogen. Seit 1971 gab es noch eine sogenannte Freiwillige Zusatz-Rentenversicherung (FZR), für die zehn Prozent des monatlichen Einkommens abgeführt werden mußten.

  16. Die von D. Gabler (Anm. 1, S. 175) angeführten Bestrafungen der Geschenkpraktiken von LPG-Vorständen anläßlich von Betriebsfesten wurden in Merxleben von keinem der Interviewpartner je erwähnt. Es wurde aber berichtet, daß die LPG-Leitung zusammen mit der Buchhaltung Mittel und Wege fand, Geldentnahmen für Geschenke anderweitig zu verbuchen; die Praktiken seien allgemein bekannt gewesen. Befreundete LPGs hätten miteinander gewetteifert, welcher Betrieb die kostbareren Geschenke verteile.

  17. Von einem der LPG-Vorsitzenden ist bekannt, daß er private Schafherden von beträchtlichem Umfang im Thüringer Wald unterhielt; über die Anzahl der Schafe mußten die Mitarbeiter bei Entlassungsdrohung Stillschweigen bewahren.

  18. Autorenkollektiv (Ltg. Kurt Krambach), Wie lebt man auf dem Dorf? Soziologische Aspekte der Entwicklung des Dorfes in der DDR, Berlin (Ost) 1985, S. 43.

  19. Auch die von den Soziologen Gebhardt und Kamphausen (Winfried Gebhardt/Georg Kamphausen, Zwei Dörfer in Deutschland, Opladen 1994) für das ostdeutsche Dorf Werda rückwirkend festgestellte funktionierende Dorfgemeinschaft, die sogar die Aktivitäten der Staatssicherheit der dörflichen Sozialkontrolle wegen beinahe überflüssig machte, konnte für Merxleben nicht festgestellt werden, im Gegenteil! Denunziation und Inhaftierungen hatten die Menschen in Merxleben sehr vorsichtig gemacht; man habe nur noch sehr guten Freunden getraut, wurde wiederholt im Interview gesagt.

  20. Die Ewings, Ölmillionärsfamilie der amerikanischen Fernsehserie „Dallas“, waren den Dorfbewohnern aus dem „West-Fernsehen“ bekannt.

  21. In Merxleben flüchteten lediglich zwei mittelbäuerliche Familien 1952 nach Westdeutschland.

  22. LPG (T) bedeutet LPG Tierproduktion.

  23. Volker Klemm u. a„ Von den bürgerlichen Agrarreformen zur sozialistischen Landwirtschaft in der DDR, Berlin 1978, S. 181.

  24. Ehrhart Neubert, Zwischen Anpassung und Verweigerung -der einzelne im realen Sozialismus, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-DiUatur in Deutschland“, hrsg. vom Deutschen Bundestag. Baden-Baden 1995, Bd. II/l, S. 120.

Weitere Inhalte

Barbara Schier, M. A., Film-Studium in Potsdam-Babelsberg; Studium der deutschen und vergleichenden Volkskunde, Soziologie und Sozialpsychologie in München; wissenschaftliche Mitarbeit an einem DFG-geförderten Forschungsprojekt am Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde der Universität München zur „Alltagskultur im sozialistischen Dorf“; Promotion 1997. Veröffentlichungen u. a.: Volkskundliche Verlage im Dritten Reich vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Kulturpolitik, in: Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Institut für Volkskunde (Hrsg.), Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1988; Hexenwahn und Hexen-verfolgung. Rezeption und politische Zurichtung eines kulturwissenschaftlichen Themas im Dritten Reich, in: Komm. f. Bayerische Landesgesch., ebd. (Hrsg.), Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1990; Der Delphin-Verlag Dr. Richard Landauer. Eine Studie zur Ausschaltung eines jüdischen Verlegers im Dritten Reich, in: Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Hrsg.), Buchhandelsgeschichte 1995/2.