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Bilanz deutscher Politik gegenüber Polen 1949 bis 1997 | APuZ 53/1997 | bpb.de

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APuZ 53/1997 Bilanz deutscher Politik gegenüber Polen 1949 bis 1997 Polen und Deutschland seit 1945 Die polnische „Preußenkrankheit“ und ihre politische Instrumentalisierung Die Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute

Bilanz deutscher Politik gegenüber Polen 1949 bis 1997

Dieter Bingen

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bilanz der deutsch-polnischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird bereits stark durch die Erfahrungen der letzten sieben Jahre geprägt. In das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist zumindest auf offizieller Ebene ein Grad an Normalität und politischer Freundschaft eingekehrt, der vor zehn Jahren noch als unvorstellbar galt. Der historische und politische Ausgleich mit Polen war in den Gründerjahren der „alten“ Bundesrepublik kaum zu erwarten gewesen. Der Verständigung stand schließlich auch das Problem deutscher Zweistaatlichkeit und konkurrierender Politik entgegen. So gab es Anfang der fünfziger Jahre nur wenige Ansätze für eine neue Politik gegenüber Polen. Freilich galt das Friedensgebot gegenüber dem polnischen Staat und das Verständigungs-und Versöhnungsangebot an das polnische Volk von Anfang an. In den fünfziger und sechziger Jahren hatte sich die Bundesrepublik mit ihren Rechtspositionen selbst gebunden. Aber gerade in der Bonner Haltung zur deutschen Ostgrenze stießen die Faktoren der Kontinuität (rechtsdogmatische Positionen) und des Wandels, ja des Bruchs (mit dem traditionellen Grenzrevisionismus), in harter Weise aufeinander. Hier wurde die Diskontinuität mit der traditionellen deutschen Ost-und Polenpolitik evident. Die durchgängig feststellbare innenpolitische Instrumentalisierung des Verhältnisses zu Polen hatte jedoch auch ihr Gutes: Es erscheint im Rückblick geradezu als eine List der Geschichte, daß die Zögerer und Verursacher innenpolitischer Fehden in polnischen Angelegenheiten dazu beigetragen haben, das Verhältnis zu Polen nach 1945 so zu „bewältigen“, daß in der politischen Elite und in der Bevölkerung -soweit sie sich ernsthaft mit Polen beschäftigt -die neuen Grundlagen des Verhältnisses zu Polen so unstrittig sind wie nie zuvor in der schwierigen Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die Bilanz der deutsch-polnischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird bereits stark durch die Erfahrungen der letzten sieben Jahre nach dem Völkerfrühling geprägt. In das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist zumindest auf offizieller Ebene ein hoher Grad an Normalität und sogar politischer Freundschaft eingekehrt, der vor zehn Jahren noch als unvorstellbar galt. Für die junge Generation der Deutschen und Polen ist der Weg kaum noch darstellbar, der zurückgelegt werden mußte, bis im Sommer 1997 die Agenturmeldung kaum noch Aufsehen erregte, daß vor der Westerplatte bei Danzig eine deutsche Fregatte vor Anker gegangen war, deren Kommandant den polnischen Präsidenten Kwasniewski als Gast an Bord begrüßen durfte -an jenem Ort, von dem aus das nationalsozialistische Deutschland mit dem Zerstörer „Schleswig-Holstein“ am 1. September 1939 seinen Krieg gegen Polen begonnen hatte.

I. Grundlagen der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1990

An der deutschen Polenpolitik und an der polnischen Deutschlandpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts läßt sich der Paradigmenwechsel in der europäischen Politik exemplarisch darstellen. Die Berufung auf eine „polnisch-deutsche Interessengemeinschaft“ in Europa von polnischer Seite, wie erstmals im Februar 1990 durch Außenminister Krzysztof Skubiszewski in Bonn geschehen, ist ohne Vorbild in der Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen.

Nirgends wurde der sich ankündigende Paradigmenwechsel sinnfälliger darstellbar als zwischen dem 9. und 14. November 1989. Die Koinzidenz des offiziellen, außergewöhnlich langen Polenbesuchs von Bundeskanzler Kohl und der Versöhnungsgeste der Regierungschefs Mazowiecki und Kohl in Kreisau/Krzyzowa (Niederschlesien), die kurzfristig entschiedene Unterbrechung des Besuchsprogramms für einen Blitzbesuch in Berlin nach dem Fall der Mauer und die anschließende Unterzeichnung einer „Gemeinsamen Erklärung“ mit 78 Punkten über das Verhältnis zwischen den beiden Staaten verdichteten die Anzeichen einer historischen Zeitenwende in der Mitte Europas.

Mit dem wenige Wochen nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands am 14. November 1990 Unterzeichneten deutsch-polnischen Grenzvertrag beabsichtigten die deutsche und die polnische Regierung, das Kapitel Territorialstreitigkeiten zwischen Deutschen und Polen endgültig abzuschließen Das ursprüngliche Fernziel der bundesdeutschen Außenpolitik seit 1949, die Wiedergewinnung der staatlichen „Einheit in Frieden und Freiheit“, wurde gleichzeitig mit dem Hauptziel der polnischen Außenpolitik nach 1945, der allseitigen Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße, erreicht. Der große Entwurf zukünftiger deutsch-polnischer Beziehungen war dem „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom 17. Juni 1991 Vorbehalten. Der Nachbarschaftsvertrag sollte nach dem Willen der deutschen und polnischen Akteure die historische Chance für eine wirkliche Verständigung zwischen Deutschland und Polen in einer revolutionär veränderten europäischen Situation reflektieren und Felder der Zusammenarbeit vorbildlich für Europa erschließen.

Vergleicht man den Stand der deutsch-polnischen Beziehungen 1997 mit der Situation im Jahr der deutschen Vereinigung, dann läßt sich unschwer feststellen, daß das Profil und die Probleme des bilateralen Verhältnisses in den letzten sieben Jahren einen ganz neuen Charakter bekommen haben. 1990/91 wurde das deutsch-polnische Verhältnis von den inneren und äußeren Aspekten der Erlangung der deutschen Einheit geprägt; 1997 wird es zumindest auf der offiziellen Ebene von einer expandierenden Nachbarschaftspolitik im Rahmen der vorgezeichneten Zugehörigkeit zu denselben Bündnissen (EU, NATO) getragen. Die polnischen Ängste kurz vor der Vereinigung Deutschlands haben sich nach den ersten Erfahrungen mit dem vereinigten Deutschland verflüchtigt. Als entscheidend für den Paradigmenwechsel im deutsch-polnischen Verhältnis seit dem System-wechsel in Mitteleuropa stellt sich eine neue Hierarchie der Interessen heraus. Bis 1989 galten die polnische und die westdeutsche Staatsräson als unvereinbar. Kompliziert wurden die Verhältnisse durch die deutsche Zweistaatlichkeit und die deutsch-deutsch-polnischen Dreiecksbeziehungen. Heute prägt das Motto „Interdependenz“ die deutsch-polnischen Verhältnisse. Griffig haben deutsche Regierungspolitiker dies so formuliert: „Es kann Deutschland nicht gutgehen, wenn es Polen schlecht geht.“ In Warschau ist entsprechendes Denken politisches Allgemeingut.

II. Überlegungen zu Kontinuität und Wandel in den Beziehungen zu Polen

Zum Leitmotiv Bonner Polenpolitik

Der historische und politische Ausgleich mit Polen, der sich im nachhinein wie eine in die Wiege der Bundesrepublik gelegte Erfolgsgeschichte und notwendige Erfüllung eines Auftrags darstellen läßt, war in den Gründerjahren der „alten“ Bundesrepublik kaum zu erwarten gewesen. Blickt man vom Ende der Bonner Republik auf ihren Anfang zurück, auf ihre Erbschaft, ihr Selbstverständnis und ihre Aufgaben, dann waren in der konkreten Politik am Anfang der fünfziger Jahre nur wenige Ansätze für eine neue Politik gegenüber Polen identifizierbar

Aber ungeachtet der weitgehenden Sprachlosigkeit und mangelnden außenpolitischen Kompetenz der jungen Bundesrepublik im Verhältnis zu Polen kristallisierte sich recht bald das Gegenmodell zum Begriff des Politischen im Nationalsozialismus, aber auch zu dem Verständnis von Weimarer Realpolitik heraus. Leitmotivisch galt das Friedensgebot gegenüber dem polnischen Staat und das Verständigungs-und Versöhnungsangebot an das polnische Volk von Anfang an. Der Hinweis auf eine erstrebenswerte gemeinsame europäische Friedensordnung war zwar eher unbestimmt -aber ohne Zweifel ein großer Bruch mit der deutschen Außenpolitik, insbesondere der Osteuropa-politik -und hier der Polenpolitik -der zurückliegenden Jahrzehnte. Diese Haltung der neuen Bundesregierung war nicht der außenpolitischen Alternativlosigkeit eines Dreimächte-Protektorats oder schierem Opportunismus zuzuschreiben, sondern eine Schlußfolgerung aus den verheerenden Konsequenzen der Politik vorhergehender Epochen. Gerade die vielgescholtene Charta der Heimatvertriebenen von 1950 war -wenn auch kein Regierungsdokument -so doch ein wichtiges Element für ein neues Leitmotiv der Politik des demokratischen Deutschland gegenüber seinen östlichen Nachbarn.

Die neue Richtschnur polenpolitischen Handelns hat anfangs eher im Verborgenen gewirkt und kaum Früchte getragen, wenn man beispielsweise an das unbekannt gebliebene, von dem CDU-Nachwudhspolitiker Ernst Majonica mitorganisierte erste Treffen deutscher und (exil-) polnischer Christdemokraten in Paris im Jahre 1951 denkt.

Zwar waren seit der Gründungsphase in der Bonner Republik reeducation und westernization vorgegeben, die Gefahren eines Grenzrevisionismus und eines fortgesetzten deutsch-polnischen Antagonismus aber noch nicht endgültig gebannt. Gegenüber einer Politik der Rechtsvorbehalte, des Alleinvertretungsanspruchs, der jede Aktivität gegenüber Warschau lähmte, und eines „Niemals“ mit Blick auf die Oder-Neiße-Grenze konnte das neue Leitmotiv fast eineinhalb Jahrzehnte lang kaum etwas ausrichten. Die alles überlagernde Deutschlandpolitik beeinflußte das Verhältnis zu Polen in den ersten beiden Jahrzehnten vornehmlich negativ. Die Bonner Polenpolitik war nie eine „Politik der Stärke“ gewesen, in den ersten beiden Jahrzehnten der Republik im Gegenteil eine „Politik der Schwäche“, die gelegentlich durch offensiv wirkende Rhetorik und juristischen Dogmatismus kaschiert wurde. Erst der visionäre Realismus eines Willy Brandt und seiner engeren Umgebung (Egon Bahr u. a.), der in den sechziger Jahren, auf Berliner Erfahrungen beruhend, einen Durchbruch erzielte, schuf auch in der Polenpolitik neue Chancen. Vor allem aber war es eine Bewegung von unten, die allmählich Veränderung in die festgefahrenen Minimalbeziehungen zwischen Bonn und Warschau brachte. Die beiden christlichen Kirchen, Schriftsteller und Publizisten, Einzelpersönlichkeiten in den großen Parteien und Initiativen von Bürgern verhalten der zähen und nur langfristig wirkenden Implementierung der neuen Polenpolitik zum Durchbruch. Die Ablösung des statischen, rein juristischen Denkens in den Bonner Amtsstuben, aber auch die Überwindung der Fixierung der Betroffenen auf die eigenen Verluste, auf das den Deutschen zugefügte Leid und an ihnen begangene Verbrechen haben der neuen Ostpolitik auf den Weg geholfen. Recht spät, eigentlich erst in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, begann das öffentliche Nachdenken über die Verluste der Polen, die Verbrechen, die von den Deutschen in und an Polen begangen worden waren. Die moralische und menschenrechtliche Perspektive wurde entnationalisiert und als universell gültig erkannt -was sie an und für sich war, was aber im Verhältnis zu Polen oft verdrängt wurde. Es war der Außenminister Gerhard Schröder, der in aller Zurückhaltung diesen Perspektivenwechsel als wichtige Hilfe für eine neue Politik gegenüber den ostmitteleuropäischen Staaten und insbesondere gegenüber Polen gewürdigt hatte. Das neue Leitmotiv deutscher Polenpolitik konnte endlich von der rhetorischen in die praktische Phase übergeleitet werden.

Es bleibt allerdings festzuhalten, daß schon in der Frühgeschichte der Bundesrepublik die Beschäftigung mit der Vertreibung und dem Verlust jahrhundertealter deutscher Siedlungsgebiete und Kulturräume im wesentlichen den vom Heimatverlust unmittelbar Betroffenen allein überlassen wurde. Es ging hier um einen Komplex des Ausblendens und kollektiver Verdrängung in beiden deutschen Gesellschaften nach 1945 auf der Grundlage von ideologisch unterschiedlich begründeten Integrationsmodellen in der Bundesrepublik und in der DDR.

Zur Verdrängung von Flucht und Vertreibung

Wie haben „die“ Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR das Problem der Grenzverschiebung und ganz konkret der Flüchtlings-und Übersiedlerströme aus den verlorengegangenen Ostprovinzen nach 1945 betrachtet bzw. betrachten dürfen? Müßte hier nicht über Tabus und Defizite diskutiert werden, die das Bewußtsein eines großen Teils der BRD-und der DDR-Deutschen bis in die jüngste Vergangenheit hinein prägten und nichts mit kommunistischer Unterdrückungspolitik in den polnischen Westgebieten zu tun haben?

Hat es jemals in den vergangenen Jahrzehnten eine „Bewältigung“, d. h. eine historische Würdigung des Verlusts von integralen Bestandteilen deutscher Geschichte und Kultur (Schlesien, Neu-mark, Pommern, Ostpreußen) gegeben? Ist diese Geschichte nicht vornehmlich als Belastung durch Folgewirkungen in Form von schwieriger Integration und Lastenausgleich perzepiert worden? Wer im Westen hat sich wirklich Gedanken darüber gemacht, daß diejenigen Deutschen, die ihre historischen und kulturellen Wurzeln kollektiv verloren haben -sei es, daß sie in die beiden deutschen Staaten flüchteten oder vertrieben wurden, sei es, daß sie nun in einer polnischen Umgebung lebten -, nicht schuldiger an den Verbrechen des Nationalsozialismus waren als etwa die Deutschen im Rheinland oder in Sachsen, aber für den verlorenen Krieg doppelt und dreifach zu zahlen hatten?

Beide deutschen Gesellschaften verhielten sich nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend gleichgültig oder gar abwehrend gegenüber dem Drama im Osten. Die DDR fühlte sich ohnehin nicht zuständig für die deutsche Geschichte vor 1945. „Polacken“ wurden die Deutschen aus dem Osten geschimpft, die in den vierziger und fünfziger Jahren in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen und anderswo angesiedelt wurden. Dies zu erwähnen heißt nicht, im nachhinein anzuklagen, sondern zu verstehen suchen, warum die West-und Mitteldeutschen sich bis heute so schwer tun mit diesem Erbe deutscher Verantwortung für Krieg und Verbrechen. Es ist nachvollziehbar, daß die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR vollauf mit dem Wiederaufbau, der Schaffung von beruflichen und familiären Existenzen beschäftigt waren und in jedem zusätzlichen Nachbarn aus dem Osten instinktiv eine weitere unerwünschte Belastung sahen, obwohl die Zuwanderung eine ökonomische Bereicherung und schließlich mit ein Grundstein für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg wurde -herrschte doch in den fünfziger Jahren ein dramatischer Arbeitskräftemangel in Deutschland (West und Ost).

So nimmt es kaum Wunder, wenn das Thema des historischen Ostdeutschland und des Heimatverlustes, wenn Kultur-und Brauchtumspflege, vor allem aber auch die politische und völkerrechtliche Dimension der Offenhaltung der Grenzfrage im Osten von den Landsmannschaften bestimmt wurde. Das Vertriebenenproblem und die Frage, wie man mit der achthundertjährigen Geschichte der deutschen Ostprovinzen umgehen sollte, beschäftigten hauptamtliche Vertriebenenfunktionäre, die sich mehr und mehr von der „politischen Klasse“ isolierten, an den Rand der großen Volksparteien gedrängt wurden, deren Politiker sich nur noch zu den legendären Sonntagsreden veranlaßt sahen, zunehmend aber nicht nur ihre Vertriebenenkollegen, sondern den gesamten Komplex deutscher Geschichte und Kultur östlich von Oder und Neiße links oder politisch vielmehr „rechts“ liegen ließen.

Bis weit in konservativ-liberale Kreise hinein galt es als unzeitgemäß, sich mit diesen Themen zu befassen, die für die Vertriebenenpolitiker weiterhin aktuell blieben. Die Beschäftigung mit Fragen nationaler Identität, mit den Wechselbeziehungen von Sprache, Kultur und Nationalität in einem Grenzraum galt lange Zeit als antiquiert, ja als nationalismusverdächtig. „Europa“ und der „Westen“ waren die Sehnsucht der Westdeutschen, nicht der verlorene „Osten“. Aber war soviel historische Verdrängung notwendig? Man sollte die Kosten dieser „Erlösung“ von der mentalen wie historischen und kulturgeschichtlichen Mittel-lage nicht vergessen. Trotz dieser Verdrängungsgeschichte des verloren-gegangenen deutschen Ostens im deutschen Westen darf jedoch nicht übersehen werden, daß einer aktiven Politik zugunsten der in ihrer nunmehr polnisch gewordenen Heimat verbliebenen Landsleute enge Grenzen gesetzt blieben bis zum Niedergang des Kommunismus in Europa am Ende der achtziger Jahre. Auch nach Abschluß der Ostverträge der siebziger Jahre konnte die bundesdeutsche Politik gegenüber Polen nur die Lösung „humanitärer Fragen“ erreichen. Die Durchsetzung kultureller Rechte für eine deutsche Minderheit lag außerhalb des Vorstellbaren. Politik für die deutsche Minderheit, insbesondere im Oppelner und Kattowitzer Oberschlesien, bestand hauptsächlich in der Förderung der Umsiedlung. Alles andere war für die polnischen Behörden „Einmischung in innere Angelegenheiten“.

Zum Friedensvertragsvorbehalt zwischen rechtlichem Dogma und politischem Willen

Wie erwähnt, hatte sich die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren mit ihren Rechtspositionen im Kontext des Friedensvertragsvorbehalts über das seinerzeit notwendige Maß hinaus selbst gefesselt. Dessen Bezug zur noch ausstehenden endgültigen Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze erhielt im deutschen Einigungsprozeß 1990 eine ungeahnte Aktualität, die nach 20 Jahren der „neuen deutschen Ostpolitik“ vielen Realpolitikern befremdlich erschien, aber in der rechtlichen Logik der Ostpolitik Brandts begründet war. Nur hatte fast 20 Jahre lang die politische Logik der Ostvertragspolitik das komplizierte rechtliche Netzwerk mit den Rückversicherungen zugunsten der Vier Mächte nahezu vergessen lassen. So ist denn ungeachtet aller realpolitischen Wenden seit den fünfziger Jahren in der Grenzfrage, die vor allem -aber nicht nur -Polen betraf, der Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassungsorgane bis zum erfolgreichen Abschluß der „Zwei-plus-Vier“ -Verhandlungen aufrechterhalten worden, daß nämlich eine endgültige völkerrechtlich wirksame Regelung der deutsch-polnischen Grenzfrage allein von einem gesamtdeutschen Souverän vorgenommen werden konnte.

Im Kontext der Diskussion über Kontinuität und Wandel mußte gerade in der Oder-Neiße-Grenzfrage neben dem rechtsdogmatischen Aspekt, der die Kontinuität westdeutscher Positionen belegte, der Wandel bei der politischen Einschätzung des „rechtlichen Pfands“ in den bundesdeutschen politischen Entscheidungseliten registriert werden. Schon in den fünfziger Jahren tauchte in internen Erwägungen des Auswärtigen Amts die „Pfand-theorie“ auf. Bereits damals wurden Überlegungen angestellt, Polen territorialpolitisch entgegen-zukommen, wenn es sich zugunsten der deutschen Einheit einsetzen oder wenn die Staatengemeinschaft einer deutschen Wiedervereinigung zustimmen würde. So kam der Globke-Plan von 1959 einer impliziten Respektierung des Gebietsverlusts im Osten nahe. Staatssekretär Carstens entwickelte unter Kanzler Erhard im Auswärtigen Amt Vorstellungen, wie ein Entgegenkommen in der Grenzfrage mit einer Herauslösung Polens aus der Solidarität mit der DDR und der Sowjetunion verbunden werden könnte. Der seinerzeit für bundesdeutsche Verhältnisse revolutionäre, aber unter realpolitischen Gesichtspunkten illusionäre Gedanke, die Respektierung oder gar endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik als Pfand bzw. als Gegenleistung für die polnische Zustimmung zur deutschen Einheit einzusetzen, wurde in der Ostpolitik Brandts wegen des Wertverfalls dieses vermeintlichen Pfands aufgegeben. Diese Vorstellung gewann dann 1990/91 nochmals kurzfristig an Aktualität -nämlich zur Besänftigung der Gruppen, die sich mit dem endgültigen Gebietsverlust immer noch nicht abfinden wollten, als Politiker der CDU/CSU die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Deutschland als den „Preis“ für die Wiedervereinigung bezeichneten. In der Bonner Haltung zur deutschen Ostgrenze stießen demnach die Faktoren der Kontinuität (rechtsdogmatische Positionen) und des Wandels, ja des Bruchs (mit dem traditionellen Grenzrevisionismus) hart aufeinander. Hier wurde die Diskontinuität mit der traditionellen deutschen Ost-und Polenpolitik evident, wie sie zuletzt Außenminister Stresemann repräsentiert hatte. Im Prozeß der deutschen Einigung sollte die Unterscheidung zwischen politischem Willen und völkerrechtlichen Maßgaben zum letzten großen deutsch-polnischen Mißverständnis über die gemeinsame Grenze führen, als Bundeskanzler Kohl im Winter 1989/90 nicht dazu zu bewegen war, die Gratwanderung zwischen innen-, parteipolitischen und verfassungsrechtlichen Rücksichten und politischen Willensbekundungen zugunsten der bestehenden deutsch-polnischen Grenze zu wagen, die sowohl die Gefahr einer einstweiligen Anordnung des Karlsruher Verfassungsgerichts vermieden, aber auch eindeutige öffentliche Signale nach Polen zugelassen hätte. Allerdings war die neue demokratische Regierung in Warschau in den atmosphärisch kritischen ersten Monaten des Jahres 1990 mit ihren diplomatischen Aktivitäten und Interventionen auch nicht sonderlich hilfreich. Ihr Rückfall in alte deutschland-und außenpolitische Reflexe, ihre Fixierung auf Rechte und Verträge sowie ihr fehlendes Gespür für das von Anfang an Selbstverständliche, daß nämlich das vereinigte Deutschland die polnische Westgrenze bestätigen wollte und mußte, nährte auch bei vielen „Polenfreunden“ in der Bundes-hauptstadt die Zweifel, ob die neue politische Elite in Warschau wirklich für das einstehen würde, was ihre Repräsentanten (Geremek, Wal$sa) im Sommer 1989 in Bonn und in der Gemeinsamen Erklärung vom November 1989 versprochen hatten. Das Urteil über die polnischen diplomatischen Irrwege und Sackgassen des Jahres 1990 muß freilich äußerst verständnisvoll ausfallen, wenn man sie mit der Verzögerungstaktik und dem offensichtlichen Mißtrauen Frankreichs und Großbritanniens -den wichtigsten europäischen Verbündeten Deutschlands -im Einigungsprozeß vergleicht.

Zur DDR als ständigem Mitspieler

Bis 1990 machte die Deutsche Demokratische Republik in jedem westdeutsch-polnischen Kontakt, bei jeder Verhandlung zwischen Bonn und Warschau als unsichtbarer, aber ständig präsenter Dritter ihren Einfluß geltend. 42 Jahre lang gab es die deutsche Polenpolitik in zweifacher Ausführung -und die polnische Deutschlandpolitik war ebenfalls doppelt. Polenpolitik war für die „alte“ Bundesrepublik stets auch Deutschlandpolitik und gegen den kommunistischen deutschen Staat gerichtete Politik. Das geschah mit der Berechtigung, die eine demokratisch legitimierte deutsche Regierung für sich und die Bevölkerung in Anspruch nehmen konnte. Polnische Kommunisten teilten ihr Verständnis für diese Position ihren bundesdeutschen Gesprächspartnern bei verschiedenen Gelegenheiten hinter vorgehaltener Hand mit. Die rein instrumenteile Betrachtung der DDR in weiten Kreisen der kommunistischen Elite Polens zog sich wie ein roter Faden nicht nur durch interne Bewertungen, sondern auch durch Publikationen und sogar öffentliche Äußerungen. Die frühe Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR im Görlitzer Vertrag von 1950 wurde im kommunistischen Polen unter diesem Aspekt gewürdigt -und relativiert.

In den fünfziger Jahren verhinderte die DDR durch ihre schiere Existenz -aber auch die Bonner „Hallstein-Doktrin“ -den politischen Kontakt mit Polen. Beim polnischen Verbündeten intervenierte sie vor, während und nach jeder bundesdeutsch-polnischen Verhandlung, um diese entweder mit eigenen Forderungen gegenüber Warschau zu belasten oder zu verhindern, wie es beispielsweise zwischen 1967 und 1969 mit der „UlbrichtDoktrin“ der Fall war, die von den Warschauer-Pakt-Verbündeten verlangte, von offiziellen Beziehungen mit der Bundesrepublik abzusehen, solange Bonn die Anerkennung der DDR und der „Selbständigen Politischen Einheit Westberlin“ ablehnte. Die sogenannte „Berlin-Klausel“, d. h. die Einbeziehung von Berlin (West) in zweiseitige Abmachungen, war in den sechziger und siebziger Jahren Streitpunkt in den Vertragsverhandlungen mit Warschau. Rücksichtnahme auf die deutsch-deutschen Beziehungen beeinflußte wesentlich die Haltung von Bundeskanzler Schmidt zur Solidarnosc-Bewegung und zum Kriegsrecht in Polen.

Die „sozialistische“ Freundschaft zwischen der DDR und Polen wurde von beiden Seiten zum Zweck der machtpolitischen Stabilisierung des eigenen Regimes instrumentalisiert. Sie unterlag der politischen Konjunktur und wurde bei Bedarf zur Disposition gestellt. „Das läßt sich an den teilweise hysterischen Reaktionen der DDR auf die in immer kürzeren Abständen auftretenden polnischen Krisen 1 ablesen.“ Die Strategie zur Abwehr des Solidarnosc-Bazillus schloß 1980/81 auch Propagandamethoden ein, die in der eigenen Bevölkerung Gefühle der Abneigung und Herablassung gegenüber dem polnischen Volk in seiner Gesamtheit förderten. Schließlich war Honecker sogar bereit, mit Panzern in Polen einzumarschieren. Die DDR-Opposition hatte noch 1989/90 an der Gleichsetzung von DDR-Staat und Gesellschaft durch viele Polen zu tragen. Von der neuen, demokratisch legitimierten Regierung Polens wurde diese Opposition kaum wahrgenommen.

Zum Verhältnis zwischen Innen-und Außenpolitik in den Beziehungen zu Polen

Von allen außenpolitischen Themen der Bonner Republik eigneten sich die Beziehungen zu Polen am ehesten für eine innenpolitische Instrumentalisierung und Profilierung. Historische Stereotypen und Vorurteile gegenüber Polen, die politische Interessenlage im Ost-West-Konflikt, das unterschiedliche Gewicht und die unterschiedliche politische Legitimation der Bundesrepublik einerseits und des kommunistischen Polen andererseits, die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung und der Verlust von alten deutschen Provinzen an Polen, ein uneingestandenes Schuldgefühl derer, die sich aber deshalb von „diesen Polen“ nicht an den Pranger stellen lassen wollten -diese unheilige Melange von Gefühlen, Haltungen und Erwartungen hob Polen von allen außenpolitischen Partnern, Freunden und Gegnern der „alten Bundesrepublik“ ab.

Die nicht nur tragische, sondern über weite Etappen der Beziehungsgeschichte als fruchtbar empfundene, in der alteingesessenen westdeutschen Bevölkerung jedoch kaum bewußt wahrgenommene geographische Nähe zu Polen hat zugleich auch die Verletzlichkeit des deutsch-polnischen Beziehungssystems nach der Gründung der Bundesrepublik verursacht. Da das innenpolitische Motiv durchgängig in allen Phasen der Polenpolitik der Bonner Republik bis 1990/91 auftrat, sei nur an einige besonders exemplarische „Fälle“ erinnert: Die Rücksicht auf die Vertriebenenverbände wurde von der Bundesregierung zumindest als Vorwand genutzt, um nach 1956 eine ernsthafte Erörterung der „Pfandtheorie“ (Wiedervereinigung gegen Gebietsverzicht) und weitere Überlegungen über einen vertraglichen Gewaltverzicht zu verhindern. Im positiven Sinne wirkte das innenpolitische Motiv zweifellos in der Phase der Entwicklung und Durchführung der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. SPD und FDP wurden hier von einer breiten Zustimmung in den meinungsbildenden gesellschaftlichen Kreisen getragen und von einer ähnlichen Zustimmung in der Bevölkerung, die in den plebiszitären Bundestagswahlen vom November 1972 ihre demonstrative Bestätigung fand.

Als machtpolitischen Poker zwischen Regierung und Opposition stellten sich die Ratifizierungsdebatten zum Warschauer Vertrag 1971/72 und zu den sogenannten Polen-Vereinbarungen von Helsinki 1975/76 dar. Die damalige CDU/CSU-Opposition nutzte die Ostvertragspolitik der sozialliberalen Koalition als Vehikel, um Kanzler Brandt und seine Regierung zu stürzen. Niemals ist die rein innenpolitische Motivierung einer polenpolitischen Entscheidung deutlicher zum Ausdruck gekommen als in dem Bekenntnis von Franz-Josef Strauß in seinen Erinnerungen: Es ging ihm um den Sturz von Helmut Schmidt Das Zögern von Bundeskanzler Kohl, sich in der Grenzfrage politisch eindeutig zu erklären (bis zur Bundestags-rede vom 6. Februar 1985), und sein Zögern, sich rechtlich zu binden (bis zum „Zwei-plus-Vier“ -Vertrag vom 12. September 1990), waren vor allem innen-und parteipolitisch bedingt.

Da der Hinweis auf die innenpolitische Instrumentalisierung der Beziehungen zu Polen zumeist als Vorwurf formuliert wird, sei hier eine Überlegung hinzugefügt: Mit keinem anderen Land war die Regelung eines bilateralen Verhältnisses mit einem so hohen Maß an Selbstkritik, an Überwindung überkommener Stereotypen und Haltungen und an konkreten Verzichtsleistungen verbunden wie mit Polen. Es erscheint im Rückblick geradezu als eine List der Geschichte, daß die Zögerer und Verursacher innenpolitischer Fehden in polnischen Angelegenheiten dazu beigetragen haben, daß das Verhältnis zu Polen über 40 Jahre so „abgearbeitet“ werden konnte, daß in der deutschen politischen Elite wie in der deutschen Bevölkerung, soweit sie sich für die polnische Thematik einnehmen läßt, die neuen Grundlagen des Verhältnisses zu Polen so unstrittig sind wie nie zuvor in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Zum Verhältnis zwischen Politik und Moral

Erst der europäische Paradigmenwechsel von 1989/90 hat die bundesdeutschen Beziehungen zu Polen grundsätzlich von Dilemmata erlöst, vor die* S. sie sich von der Kanzlerschaft Adenauers über Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt bis in die ersten Jahre der Kanzlerschaft Kohls gestellt sahen: 1. Die latente Spannung zwischen politischem Realismus und moralischem Anspruch in der Osteuropa-und insbesondere in der Polenpolitik war in der Ära des Kalten Kriegs und des Systemantagonismus nicht aufzulösen. In manchen Augenblicken trat sie nicht so offen zutage, in anderen Situationen war sie schmerzlich. Wie konnte Versöhnung mit dem Volk gefunden werden, wenn man mit Machthabern verhandeln mußte, die nicht vom Volk legitimiert waren? Für Adenauer bildete die Herrschaft der Kommunisten in Warschau einen Vorwand fürs Nichtstun. Brandt hatte das Glück, daß es zu Zeiten seiner Ostpolitik noch keine demokratische Opposition gab und er mit dem Grenzrespektierungs-bzw. Normalisierungsvertrag sowohl den Regierenden wie den Regierten in Polen entgegenkam. Schmidt entkam dem Dilemma am wenigsten und machte sich über die Maßen zu seinem Gefangenen. Kohl hatte am Ende Fortüne. 2. Die außergewöhnliche moralische und historische Komponente im Verhältnis zu Polen wurde zudem dadurch überschattet, daß die Bundesrepublik Deutschland den Schlüssel zur Wiedervereinigung -dem prioritären langfristigen Hauptziel der Bonner Republik -zu Recht in Moskau sah. Besondere Rücksichtnahme auf die Vormachtrolle der Sowjetunion schien somit vom Anfang der Republik an geboten.

Zum Faktor Macht in den deutsch-polnischen Beziehungen

Die Asymmetrie der Potentiale und der Bindungen bildet eine Konstante in den Beziehungen zwischen Bonn und Warschau, die bis zum Zeitpunkt der Erreichung der äußeren Souveränität im Jahre 1989 durch die Blockzugehörigkeit Polens überlagert wurde. Durch die Aufgabe des sowjetischen Interventionsanspruchs und die Erringung der außenpolitischen Handlungsfreiheit war Polen 1989 frei und auf sich allein gestellt. Ein langes und zähes Unabhängigkeitsstreben wurde von Erfolg gekrönt, gleichzeitig war die neue Lage aber ungewohnt und unkomfortabel. Warschau nahm ohne neue feste Verbündete und Allianzen an dem Machtpoker im deutschen Einigungsprozeß teil. Und tatsächlich ist das Machtgefälle zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen kaum je so deutlich sichtbar geworden wie im ersten Halbjahr 1990. Die Bundesregierung setzte die Reihenfolge im Einigungsprozeß gegen den entschiedenen polnischen Willen durch. Bonn hatte Washington von Anfang an auf seiner Seite und Warschau mit Paris und London die schwächeren Verbündeten. Dem Poker wurde freilich ganz entscheidend dadurch die Dramatik genommen, daß die Zielperspektiven der Bundesregierung und der polnischen Regierung hinsichtlich der Auflösung der „deutschen Frage“ identisch waren (ein vereinigtes Deutschland in den Grenzen von 1945 im NATO-Bündnis) und der Streit „nur“ über das Prozedere geführt wurde. Die Bundesregierung mit dem Bundeskanzler an der Spitze war, wenn man so formulieren will, letztendlich entschieden propolnisch eingestellt.

Zur Relativierung von Machtgefälle durch Integrationspolitik

Seit 1990 stellen die Beziehungen zu Polen keine Funktion der Politik mit der Sowjetunion/Rußland mehr dar. Für die Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland gibt es kein Entweder -Oder: entweder „Moskau zuerst“ und „Abschreibung“ Polens als Glacis russischer Neo-Hegemonialpolitik oder „Warschau zuerst“ und Mißachtung der sogenannten „legitimen“ Sicherheitsinteressen Rußlands. Im nationalen deutschen Interesse liegt seit der großen Wende eine Ergänzung der ursprünglich auf Westeuropa beschränkten Integrationspolitik um Ostmitteleuropa, insbesondere um den strategisch wichtigsten ostmitteleuropäischen Staat, nämlich Polen, und die institutionalisierte Kooperation und Partnerschaft mit Ruß-land. Wenn der Begriff der Instrumentalisierung im deutsch-polnischen Verhältnis nach 1990 noch einen Sinn hat, dann in der positiven Wendung des Begriffs, die heißt, daß es ein gesteigertes deutsches Interesse an der weiteren Stabilisierung des demokratischen Rechtsstaats und der Entwicklung einer offenen Gesellschaft sowie an dem Erfolg der marktwirtschaftlichen Reformen in Polen gibt. Schließlich sucht Deutschland in seinem polnischen Nachbarn einen Anker der Stabilität an seiner Ostgrenze, der mit Deutschland die Mitgliedschaft in denselben Bündnissen teilen soll und verhindert, daß die Grenze an Oder und Neiße die östliche Grenze des durch Integration gefestigten Stabilitätsraums bleibt. Dabei stellt es sich als historisches Glück für Deutschland heraus, daß Polens Westdrift Deutschlands Verankerung und Position im Westen zusätzlich stärkt. Deutsche Polenpolitik nach der großen Wende stellt sich auch insofern als interessengeleitet dar, als sie einen Grundstein der Politik der Stabilisierung und Integration Ostmitteleuropas als Mittel zur Erhaltung des deutschen und europäischen Handlungsspielraums in der internationalen Politik und Wirtschaft legt. Zugegebenermaßen bleibt die spezifische deutsch-polnische Asymmetrie der Potentiale, Rollen und Einflüsse im bilateralen Verhältnis sowie in den europäischen Beziehungen und in der Weltpolitik vorläufig erhalten. Von deutschen und polnischen Zweiflern werden das wirtschaftliche Ungleichgewicht, die ungleiche gegenseitige Wahrnehmung und Aufmerksamkeit oder die Fürsprecherrolle Deutschlands im europäischen Integrationsprozeß ständig als Argumente gegen einen Vergleich mit dem deutsch-französischen Versöhnungsprozeß herangezogen. Selbstverständlich lassen sich objektive Zahlen und Daten und unterschiedliche politische Gewichte nicht hinwegdiskutieren.

Jedoch stellt das deutsche Interesse an Polen trotz des deutsch-polnischen Machtgefälles eine ebenso objektive Tatsache dar. Dieses Bemühen der Bundesrepublik Deutschland sollte als Beleg für eine Politik gelten, die sich nicht durch exklusiven Bilateralismus erklären läßt, sondern sich in die Multilateralität europäischer Friedenspolitik eingewoben sieht, die allein es den verantwortlichen Politikern in Deutschland zukünftig erlauben wird, äußeren und inneren Frieden, Stabilität und den Erhalt der in fünfzig Jahren erreichten Wohlfahrt mit dem Anspruch auf Glaubwürdigkeit zu versprechen. Dem „Primat der verflochtenen Interessen“ des im Inneren und nach außen saturierten

Deutschland ließe sich demnach nur in einem freundschaftlich-partnerschaftlichen Verhältnis mit Polen -wie mit allen anderen Nachbarn Deutschlands -gerecht werden. Bisher trägt der Versuch der Vertrauensbildung des vereinigten Deutschland in Polen Früchte

Die Gemeinsame Erklärung der Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen anläßlich ihres Treffens in Weimar am 28. und 29. August 1991 formulierte die Grundidee der deutschen Nachbarschaftspolitik nach dem Ende der Teilung Europas, die in der Zeit des Kalten Krieges im westdeutsch-französischen Verhältnis erprobt worden war und sich nunmehr nach Osten ausweitet Die deutsch-französische Aussöhnung wurde seit den fünfziger Jahren von kühlen Kalkulationen gefördert, die nichts von der historisch-moralischen Dimension entwerteten. Die prodeutsche Orientierung in Polen erhält ihren Schub ebenso durch nationale Interessenabwägung. Aus nationalem Interesse in Polen einen strategischen Partner gewonnen zu haben und die Partnerschaft und politische Freundschaft zu pflegen -das ist das Vermächtnis der „alten“ Bundesrepublik an die „neue“ Bundesrepublik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze, in: Bulletin des Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 134 vom 16. 11. 1990, S. 1394.

  2. Vgl. Bulletin, Nr. 68 vom 18. 6. 1991, S. 541-546.

  3. Vgl. Polacy wobec kwestii niemieckiej. Kommunikat z badati (Die Polen gegenüber der deutschen Frage. Forschungskommunique), hrsg. vom Centrum Badania Opinii Spolecznej (CBOS), Warszawa, marzec 1990.

  4. Im folgenden beziehe ich mich auf das Schlußkapitel meiner im Januar 1998 im Nomos-Verlag erscheinenden Monographie: Dieter Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl 1949-1991, Baden-Baden 1998 (Schriftenreihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, Bd. 33). Die polnische Ausgabe erschien unter dem Titel: Polityka Republik! Bonskiej wobec Polski. Od Adenauera do Kohla. 19491991, Krakow 1997.

  5. Ludwig Mehlhorn, Die Sprachlosigkeit zwischen Polen und der DDR: Eine Hypothek, in: Eva Kobylihska/Andreas Lawaty/Rüdiger Stephan (Hrsg.), Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, München -Zürich 1991, S. 522-528, hier S. 523.

  6. Vgl. Franz-Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 461 ff.

  7. Christian Hacke, Die neue Bedeutung des nationalen Interesses für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/97, S. 3-14, hier S. 9.

  8. Nach einer repräsentativen Umfrage des CBOS-Instituts in Warschau vom September 1996 wurde Deutschland von den Befragten auf Rang eins unter den Staaten gesetzt, mit denen Polen die engsten Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Sicherheitspolitik (Militär) knüpfen sollte. In der Umfrage rangierte Deutschland vor den USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien usw.; Public Opinion Research Center. CBOS, Polish Public Opinion, September ’ 96, S. 2.

  9. Vgl. Deklaration von Weimar vom 29. August 1991 (Auszug), in: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994. Herausgegeben aus Anlaß des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amts, Köln 1995, S. 816 f.

Weitere Inhalte

Dieter Bingen, Dr. phil., geb. 1952; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte, Soziologie und Erziehungswissenschaft in Bonn; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: (Bearb.) Manfred Gebhardt/Joachim Küttner, Deutsche in Polen nach 1945. Gefangene und Fremde, München 1997; (Hrsg. zus. mit Burkard Steppacher) Polonia in Deutschland. Dokumentation, Bonn 1997; Polens Suche nach einer neuen Mitte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 42 (1997) 11; Die Republik Polen. Eine kleine politische Landeskunde, Landsberg 1998; Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl 1949-1991, Baden-Baden 1998.