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Die Konsolidierung der polnischen Demokratie in den neunziger Jahren | APuZ 6-7/1998 | bpb.de

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APuZ 6-7/1998 Systemwechsel und Zivilgesellschaft: Welche Zivilgesellschaft braucht die Demokratie? Zivilgesellschaft in der Tschechischen und Slowakischen Republik Die Zivilgesellschaft in Ungarn vor und nach der Wende Die Konsolidierung der polnischen Demokratie in den neunziger Jahren Zwischen Konsens und Polarität Zur Entwicklung der demokratischen politischen Kultur in Polen

Die Konsolidierung der polnischen Demokratie in den neunziger Jahren

Klaus Ziemer

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die politische Entwicklung Polens seit Ende der achtziger Jahre entspricht in ihren wichtigsten Zügen den aus der vergleichenden Demokratisierungs-und Transitionsforschung geläufigen Grund-mustern. Den gescheiterten Liberalisierungsversuchen des realsozialistischen Regimes folgte mit dem Runden Tisch von 1989 eine Demokratisierungsphase, die 1990/91 in die bis heute andauernde Phase der Konsolidierung überging. Hauptakteure der polnischen Zivilgesellschaft wie die Katholische Kirche und die Bewegung Solidarnosc, die den Systemwechsel ganz wesentlich herbeigeführt hatten, zeigten sich auf die neuen Rahmenbedingungen nur unzureichend vorbereitet. Die Parlamentswahlen von 1997 haben mit der Konzentration des Parteiensystems und der Bildung einer auf eine breite Parlamentsmehrheit gestützten Mitte-rechts-Regierung zu einer deutlichen Stabilisierung des politischen Systems beigetragen. Nur zögernd klärt sich jedoch die Rollenteilung zwischen ziviler und politischer Gesellschaft.

Die Endphase des Ancien rgime

Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 27. Oktober 1991, 19. September 1993 und 21. September 1997 Quelle: Klaus Ziemer, Das Parteiensystem Polens, in: Oskar Niedermayer/Dieter Segert/Richard Stöss (Hrsg.), Die Parteiensysteme der postkommunistischen Staaten Osteuropas, Wiesbaden -Opladen 1997, S. 48 f.; Rzeczpospolita vom 26. 9. 1997. a 1994 fusionierten UD und KLD zur „Freiheitsunion“ (UW); b 1991 Katholische Wahlaktion (WAK), 1993 Wahlkoalition „Ojczyzna“ („Vaterland“) zusammen mit dem „Polnischen Konve螤ߑបޢ৞

Eine von den Zeitgenossen kaum beachtete Zäsur in der Geschichte der Volksrepublik Polen bildete die Gründung des „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) 1976, das auf zwei Ebenen eminente Bedeutung gewann: Es führte kleine, aber strategisch wichtige Eliten der Intellektuellen und der Arbeiter zu einer Aktionseinheit zusammen, und von KOR-Mitgliedern wurden Konzepte entworfen, wie die Gesellschaft Freiräume gegen den Partei-Staat zurückgewinnen könne. Durch die Festigung der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschen-und Bürgerrechte und den Ausbau autonomer Sphären der Gesellschaft sollte die Macht der Partei zwar nicht beseitigt, aber doch schrittweise eingegrenzt werden.

Diese Konzeption erfuhr ihren Durchbruch mit der legalen Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc 1980. Ein von Andrew Arato im Frühjahr 1981 veröffentlichter Aufsatz, der die Entstehung der Solidarnosc analytisch darstellte, leitete mit seinem Schlüsselbegriff „civil society“ eine Renaissance des Terminus „Zivilgesellschaft“ ein, machte aber mit dem Titel „Gesellschaft versus Staat“ zugleich auch die Besonderheit der polnischen Variante von Zivilgesellschaft deutlich, nämlich die Auseinandersetzung dieser Gesellschaft mit dem kommunistischen Staat Die etablierte politische Führung hielt auch nach der Verhängung des Kriegsrechts Ende 1981 und dem Verbot der Solidarnosc verbal am Kurs einer Liberalisierung fest Sie scheiterte jedoch in ihrem Bemühen, die zerrüttete Wirtschaft zu sanieren. Die Parteiführung unter General Jaruzelski war daher vom Herbst 1988 an bereit, mit der (illegalen) Opposition über grundlegende Reformen des politischen und des wirtschaftlichen Ordnungssystems zu verhandeln.

Der Übergang zur Demokratie

Kristallisationspunkt der verschiedenen Aktivitäten dieser Opposition war die Solidarnosc. Das Angebot zu Verhandlungen am Runden Tisch erging freilich nur an die Kräfte der sogenannten „konstruktiven“ Opposition, die bereit waren, die bestehende Ordnung als Ausgangspunkt für in ihrem Sinne vorzunehmende Reformen zu akzeptieren, nicht aber an die Fundamentalopposition, die zunächst die sozialistische Ordnung und vor allem die Anbindung an die Sowjetunion beseitigen wollte, ehe man über weitere Reformen reden könne. Die Opposition wurde daher am Runden Tisch ausschließlich von zu taktischen Kompromissen mit dem Establishment bereiten Anhängern gradualistischer Vorgehensweisen vertreten. Zur Vorbereitung des Runden Tisches bildete sich ein „Bürgerkomitee bei Lech Walesa", dem Vorsitzenden der Solidarnosc. In diesem Gremium versammelte sich der Kern der Gegenelite zum bestehenden Regime.

Ziel der am Runden Tisch von Februar bis April 1989 geführten Verhandlungen war es auf Seiten des Ancien regime, eine Regierung zustande zu bringen, die von der Gesellschaft als legitim anerkannt würde, so daß sie in der Lage wäre, einschneidende Wirtschaftsreformen durchzuführen. Die Opposition sollte in das politische System mit eingebaut werden, die Kontrolle über die Macht jedoch bei der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) verbleiben. Ziel der Opposition war dagegen, am Runden Tisch den Ausgangspunkt für eine grundlegende Umgestaltung von Staat und Gesellschaft in Richtung auf Demokratie und Marktwirtschaft zu schaffen.

Das Ergebnis der Verhandlungen -Wiederzulassung der Solidarnosc; Schaffung eines semipräsidentiellen Regierungssystems, das eine Verlagerung der Kompetenzen von der Partei auf den Staat (mit General Jaruzelski als Staatspräsidenten) erleichtern sollte; freie Wahlen zu einer neu-geschaffenen zweiten Kammer (dem Senat), während in der wichtigeren ersten Kammer (dem Sejm) der bisherigen Regierungskoalition der PZPR mit ihren Partnern eine Mehrheit von 65 Prozent garantiert war dieses Ergebnis stellte einen Elitenkompromiß dar, von dem die Hauptakteure auf beiden Seiten nicht sicher sein konnten, daß die , Hardliner im eigenen Lager sowie die eigene Basis ihn akzeptieren würden. Für die Opposition bedeutete das Ergebnis, daß sie dem Partei-Staat Zugeständnisse hatte abtrotzen können, die im Sinne der seit 1976/77 formulierten Zielsetzung breite Freiräume für die Gesellschaft sicherte und die Macht der PZPR auch im politischen Bereich einer unvergleichlich größeren Kontrolle als zuvor unterwarf.

Eine neue Situation entstand mit dem erdrutsch-artigen Sieg, den die Kandidaten der Solidarnosc erzielten (99 von 100 Sitzen im Senat, alle 161 parteilosen Kandidaten zustehenden Mandate im Sejm). Schon die Wahl General Jaruzelskis zum Staatspräsidenten (durch Sejm und Senat) war nur mehr möglich, weil einige erfahrene Politiker der Solidarnosc bewußt ungültig stimmten. Als sich dann herausstellte, daß die PZPR zu einer Regierungsbildung nicht mehr in der Lage war, weil ihre bisherigen „Bündnispartner“ (Bauernpartei und Demokratische Partei) nicht an den Erfolg einer künftigen PZPR-Politik vor allem im Bereich der Wirtschaft glaubten und bei den nächsten (freien) Wahlen in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken fürchteten, setzte Lech Walesa im August/September 1989 eine von der Solidarnosc geführte Regierung unter Tadeusz Mazowiecki ohne formelle Beteiligung der PZPR durch.

Damit sah sich die Solidarnosc, die sich eigentlich auf vier Jahre in der Opposition eingestellt hatte, in der sie lernen und sich auf die Regierungsverantwortung nach den künftigen freien Wahlen vorbereiten wollte, plötzlich vor die Notwendigkeit gestellt, selbst die Regierung zu stellen. Auf diese Situation war die bisherige Opposition jedoch weder personell noch inhaltlich vorbereitet, wie ihre führenden Vertreter unumwunden einräumten In den achtziger Jahren waren zwar zahllose Debatten darüber geführt worden, wie das real-sozialistische System reformiert werden könne, jedoch kein Programm für eine eigene Regierungsbildung oder gar eine neue Verfassung ausgearbeitet worden.

Die Bildung der Regierung Mazowiecki löste eine Dynamik aus, die das Konzept der PZPR-Führung, das bisherige System zu „liberalisieren“, endgültig scheitern ließ. Aus dem intendierten Systemwandel wurde ein Systemwechsel. Ende 1989 wurde die Verfassung wenigstens in den Teilen geändert, die am stärksten rechtsstaatlichen Prinzipien widersprachen. Die Führungsrolle der PZPR wurde gestrichen, der Parteienpluralismus ausdrücklich anerkannt, der Primat des Rechts in mehreren Bestimmungen unterstrichen. Die PZPR erlebte einen drastischen Mitgliederschwund und löste sich auf einem Sonderparteitag Ende Januar 1990 selber auf. Auch wenn sich die große Mehrzahl der Delegierten zu einer Gründungsversammlung der „Sozialdemokratie der Republik Polen“ (SdRP) neu konstituierte, hatte mit der PZPR einer der entscheidenden Vertragspartner der Übereinkommen des Runden Tisches aufgehört zu existieren. Da zudem nach den Revolutionen bei Polens bisherigen Bündnispartnern der externe Druck auf die Regierung Mazowiecki nachließ, schwand auch die Kohäsionskraft der im politischen Arm der Solidarnosc zusammengeschlossenen sehr unterschiedlichen Gruppierungen. Lech Walesa, der im Herbst 1989 ein Regierungsamt ausgeschlagen hatte, drängte immer spürbarer nach dem Präsidentenamt. Zwar war General Jaruzelski bis 1995 als Präsident gewählt, doch versagte er sich nicht der Einsicht, daß er sich als Repräsentant des Anden regime politisch überlebt hatte, und trat im Herbst 1990 zurück.

Sieht man von den wichtigen Wahlen zur lokalen Selbstverwaltung im Juni 1990 ab, waren die Präsidentschaftswahlen von November/Dezember 1990 nach vielen Jahrzehnten die ersten freien („Gründungs“ -) Wahlen in Polen. Zwar siegte nicht unerwartet Lech Walesa. Daß jedoch im ersten Wahlgang der wenige Wochen zuvor noch völlig unbekannte Auslandspole Stan Tyminski, der mit wirren Parolen um Stimmen warb, den Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki von der Stichwahl ausschaltete, wurde als Zeichen der Unreife und der Unerfahrenheit der polnischen Wählerschaft gewertet. Die völlige Zersplitterung des Parlaments bei dessen „Gründungswahlen“ 1991 (vgl. Tabelle S. 31) konnte diesen Eindruck nur verstärken.

Der schwierige Aufbau eines neuen politischen Institutionensystems

Verlief der Systemwechsel relativ glatt, so erwies sich sowohl die Etablierung eines neuen Institutionensystems als auch dessen organisatorische Ausfüllung als außerordentlich schwierig. Ein Konzept für eine Verfassung war nicht vorhanden, und bei manchen Solidarnosc-Aktivisten bestand die Vorstellung, man könne ein „neues Modell“ von Demokratie ohne Parteien -gestützt auf die in den siebziger und achtziger Jahren entstandenen zivilgesellschaftlichen Strukturen und die zu den Wahlen vom Juni 1989 gebildeten „Bürgerkomitees“ -aufbauen Bald bestätigte sich die bekannte Erfahrung, daß eine mit dem bisherigen System brechende Verfassung am ehesten in revolutionären oder quasirevolutionären Situationen durchzusetzen ist. Je mehr sich nämlich neue Beziehungsgeflechte herausbildeten und sich alte Strukturen wieder festigten, desto mehr vermischte sich der Prozeß der Verfassungsgebung mit tagespolitischen Fragen und wurde zunehmend schwieriger.

Neun Regierungen (von den Wahlen im Juni 1989 bis Ende 1997), dazu zwei gewählte Ministerpräsidenten, die keine Regierung bilden konnten, vermittelten das Bild eines instabilen politischen Systems, das allerdings nur bedingt zutraf. Ein Teil der Probleme war dabei in institutioneilen Regelungen des am Runden Tisch ausgehandelten semipräsidentiellen Systems angelegt. Die sogenannte „Kleine Verfassung“ vom Oktober 1992 konnte in der Praxis die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, durch eine (allerdings nur unzureichende) Präzisierung der Kompetenzen von Präsident, Regierung und Parlament größere Regierungsstabilität zu erreichen. Begründet lag dies auch im mangelnden Verständnis von Staatspräsident Lech Walesa für die Bedeutung politischer Institutionen. Er perzipierte Problemlagen fast ausschließlich in personenbezogenen Konstellationen (mit ihm als Hauptakteur), und er besaß kaum Verständnis für die Notwendigkeit einer personen-unabhängigen Konsolidierung des neuen Institutionensystems. Er setzte in der Zeit der „Cohabitation ä la polonaise" ab 1993 (linke Regierung bei konservativem Präsidenten) ein unter Verfassungsrechtlern kontroverses Vetorecht bezüglich der Person des Innen-, Außen-und Verteidigungsministers durch, was mit zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen und mehreren schweren innenpolitischen Krisen beitrug. Überraschend beschleunigte sich mit dem nach Meinungsumfragen wahrscheinlichen Ende der SLD-PSL-Koalition im Frühjahr 1997 die Arbeit am Verfassungstext erheblich. Die aus Vertretern des Sejm und des Senats zusammengesetzte Verfassungskommission, in der das Mitte-rechts-Lager nach den Wahlen von 1993 nur sehr schwach vertreten war, verabschiedete am 2. April 1997 mit einer (SLD-, PSL-, UW-und UP-) Mehrheit von 451 gegen 40 Stimmen den Text der neuen Verfassung, die Spuren zahlreicher Kompromisse und damit von Inkonsistenzen trägt. Heftig kritisiert wurde der Entwurf vor allem von der damaligen außerparlamentarischen Opposition. Die von der Solidarnosc bis 1989 und in den ersten Jahren danach vernachlässigte Diskussion über das Staats-modell, über die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit oder über die nationale Identität brach plötzlich auf, so daß sich eher eine Grundsatzdebatte als eine Auseinandersetzung um die Bestimmungen konkreter Artikel entwickelteS Diese Debatte setzte die während des Präsidentschaftswahlkampfes 1995 sichtbare Polarisierung (annähernd in die alten Lager von 1989) fort und diente der neugegründeten AWS zur Profilierung. Im institutionellen Bereich wurde die Position des Sejm leicht, die der Regierung erheblich gestärkt (z. B. ihr Sturz nur noch durch ein konstruktives Mißtrauensvotum). Die Rechte des Präsidenten wurden beschnitten, wenn auch weniger stark, als ursprünglich geplant. Sein Veto gegen Beschlüsse des Sejm kann dieser nun mit 60 statt bisher mit 65 Prozent zurückweisen. Vor allem aber verlor der Präsident sein Recht auf Mitsprache in Angelegenheiten der Innen-und der Verteidigungspolitik, während er im Bereich der Außenpolitik mit dem Ministerpräsidenten und dem zuständigen Minister „zusammenarbeitet“, was eine enge Koordination zwischen diesen drei Personen und dem Führungspersonal der Regierungsmehrheit voraussetzt. Nicht geregelt wurde in der Verfassung eine Dezentralisierung des Verwaltungsaufbaus. Die neue Regierung Buzek hat eine solche Reform zur absoluten Priorität erklärt. Statt der Gliederung nur in Wojewodschaften und Gemeinden soll es künftig über den Gemeinden wieder Kreise geben. Ferner soll die Zahl der jetzt 49 Wojewodschaften drastisch reduziert werden Ihre Größe soll etwa der von EU-Regionen entsprechen. Die Verlagerung von Kompetenzen (und Finanzen) an die Basis entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip soll dort die Partizipation erhöhen und zugleich das Zentrum entlasten.

Die Herausbildung des neuen Parteiensystems

Politische Parteien stoßen auch in Polen auf die in allen postkommunistischen Staaten zu beobachtenden Vorbehalte, die auf die weit verbreitete Gleichsetzung von „Partei“ und „Kommunistischer Partei“ zurückzuführen sind. Hinzu kommt das Verhalten der Politiker, das oft als verantwortungslos oder in erster Linie am Eigennutz orientiert wahrgenommen wird. Wenn im 1991 gewählten Sejm, der nur 18 Monate tagte, 123 der 460 Abgeordneten mindestens einmal ihre Fraktionszugehörigkeit wechselten dann konnte dies kaum zur Transparenz politischer Verantwortlichkeiten beitragen, sondern verstärkte das negative Image der Parteien und die Entfremdung der Bevölkerung von den neuen politischen Eliten.

Strukturierend für das Parteiensystem wirkten zum einen die Konfliktlinien in der Gesellschaft. Diese sind wie in allen postkommunistischen Staaten durch die Folgen der ökonomischen System-transformation bestimmt und bewegen sich zwischen den Polen freie Marktwirtschaft und Staatsintervention. Ferner verlaufen sie entlang der Linie Demokratie versus Autoritarismus/Populismus, wobei sich für letztere in Umfragen ein noch beachtliches Potential ausmachen läßt; hinzu kommt die in jüngster Zeit akut gewordene Frage der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit. Als spezifisch polnische Konfliktlinien können die Öffnung gegenüber dem Westen versus die Betonung nationaler Werte sowie die kontroversen Positionen über den Umfang des Einflusses der Katholischen Kirche auf das öffentliche Leben gelten.

Zum andern wurde die Entwicklung des Parteien-systems durch institutionelle Faktoren bestimmt, das heißt durch das Verfassungs-und insbesondere durch das Wahlsystem. Das Wahlgesetz von 1991 begünstigte in extremem Maße kleine Parteien und damit eine große parteipolitische Zersplitterung (vgl. Tabelle). Nach dem in seinen Grundsätzen weiterhin gültigen Wahlgesetz von 1993 werden die 460 Mandate im Sejm nun zu 85 Prozent in 52 Wahlkreisen (mit zwischen drei und 17 Mandaten) nach Proporz vergeben. Berücksichtigt werden dabei nur Listen, die landesweit mindestens 5, bei Wahlkoalitionen mindestens 8 Prozent der gültigen Stimmen erhalten haben (ausgenommen Listen nationaler Minderheiten). Die restlichen 15 Prozent der Sitze werden über Landeslisten nach Proporz an diejenigen Parteien vergeben, die landesweit mindestens 7 Prozent der gültigen Stimmen erhalten haben.

Bei den Sejm-Wahlen von 1993 traten die dem Mitte-rechts-Lager zuzuordnenden Parteien derart zersplittert an, daß fast alle an der Fünf-bzw. Acht-Prozent-Hürde scheiterten und somit nicht weniger als 35 Prozent der gültigen Stimmen bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt blieben, so daß SLD und PSL mit nur 35 Prozent der gültigen Stimmen auf 66 Prozent der Mandate im Sejm kamen (vgl. Tabelle S. 31).

Bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 siegte in der Stichwahl knapp der Fraktionsvorsitzende der postkommunistischen SLD im Sejm, Aleksander Kwasniewski. Lech Walesa konnte jedoch durch eine extreme Polarisierung des Wahlkampfes („kommunistische Vergangenheit oder demokratisches Polen“) im zweiten Wahlgang noch einmal fast das ganze ehemalige Solidarnosc-Lager hinter sich einigen. Seinem Nachfolger als Gewerkschaftsführer, Marian Krzaklewski, gelang es im Sommer 1996, in einer „Wahlaktion Solidarnosc“ (AWS) etwa 40 mitte-rechts einzuordnende Organisationen und Grüppchen zu vereinen. Den organisatorischen Kern der AWS, die auch 50 Prozent der Kandidaten zum Sejm stellte, bildete die Gewerkschaft Solidarnosc Die AWS erhielt ziemlich genau den Stimmenanteil, der bei den Sejm-Wahlen 1993 bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt wurde. Mit 33, 8 Prozent der gültigen Stimmen wurde sie stärkste Gruppierung, gewann 201 Mandate und stellt nun mit Jozef Buzek den Premierminister. Die AWS ist freilich ausgesprochen heterogen zusammengesetzt. Im November 1997 wurde unter Vorsitz von Krzaklewski eine „Soziale Bewegung (RS) AWS“ als Partei registriert, in die nur Einzelpersonen und Vereinigungen, nicht aber politische Parteien kollektiv aufgenommen werden können. Für etliche kleinere „Parteien“ stellt sich somit die Frage der Selbstauflösung oder einer Existenz unterhalb der Fünf-Prozent-Marke und damit außerhalb des Parlaments. In der (Fraktion) AWS dürften künftig drei große politische Gruppierungen vertreten sein: (die Partei) RS AWS; ein konservativ-liberaler, eher den Arbeitgebern zuzurechnender Flügel (SKL); ein starker klerikal-nationaler Flügel (ZChN), der einer Integration in die EU deutlich reserviert gegenübersteht; hinzu kommen die Vertreter der wirtschaftspolitisch bisweilen linkspopulistisch ausgerichteten Gewerkschaft Solidarnosc. Heftige Spannungen innerhalb der AWS-Fraktion sind absehbar, wenn die AWS-UW-Regierung einige Problembereiche des von der Vorgänger-Regierung hinterlassenen Reformstaus in Angriff nimmt Insofern könnte Marian Krzaklewski das Amt des Premierministers nicht nur aus dem Kalkül heraus ausgeschlagen haben, als Fraktionsvorsitzender leichter bei den nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren zu können. Seine Führungsqualitäten werden gerade in seiner Funktion als Fraktionsvorsitzender gefragt sein.

In gewisser Weise ein Gegenbild zur AWS ist das „Bündnis der Demokratischen Linken“ (SLD) aus rund 30 Organisationen. Unter ihnen ist die mit Abstand stärkste Kraft die „Sozialdemokratie der Republik Polen“ (SdRP). die Nachfolgepartei der PZPR. Auch wenn sie heute nur 80 000 Mitglieder angibt (Anfang 1989: 2, 1 Mio.), verfügt sie doch durch ihr ererbtes Organisationsnetz über einen erheblichen strukturellen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten. Auch in der SdRP lassen sich mehrere Strömungen ausmachen: die Vertreter des alten Parteiapparats mit dem früheren Politbüro-mitglied Leszek Miller an der Spitze; Manager, die sich zu einem großen Teil frühere Staatsbetriebe privat aneignen konnten; ferner Funktionäre des einst mit der PZPR liierten Gewerkschaftsverbands OPZZ, dessen zum Teil auch parteilose Abgeordnete etwa ein Drittel der SLD-Fraktion stellen.

Auf dem Parteitag im Dezember 1997 löste der 51jährige Miller mit ausgebuffter Taktik den nach Vorwürfen der Spionage für die Sowjetunion zurückgetretenen früheren Ministerpräsidenten Jozef Oleksy als SdRP-Chef ab. Die angekündigte Erneuerung des Führungspersonals durch unbelastete junge Politiker blieb jedoch aus. Dies dürfte eine langfristig mögliche Annäherung der knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterten Arbeitsunion (UP), die sich überwiegend aus dem linken Solidarnosc-Flügel herleitet und sich als eine Art Labour-Party versteht, vorerst verhindern.

Weit höher als ihr zahlenmäßiger Anteil ist der Einfluß der Freiheitsunion (UW, 1997 13, 8 Prozent Stimmen zum Sejm): einer liberalen, sich vornehmlich auf eine Wählerschaft im Intellektuellen-milieu stützenden Partei mit nicht nur in Polen bekannten linksliberalen, zentristischen und christlich-konservativen Politikern wie Jacek Kuron, Bronislaw Geremek, Tadeusz Mazowiecki, Hanna Suchocka u. a..

Mit großen internen Problemen haben die Wahl-verlierer von 1997 zu kämpfen. Die Polnische Bauernpartei (PSL) besitzt das Image einer Partei von Postenjägern, die keine langfristige Konzeption für die dringend erforderliche Modernisierung der polnischen Landwirtschaft vorgelegt, sondern in der bisherigen Regierungskoalition strukturkonservierend und blockierend agiert hat. Nach der verheerenden Wahlniederlage wurde zwar der frühere Ministerpräsident Waldemar Pawlak als Parteichef abgelöst. Doch kündigte sein wichtigster Gegenspieler, der reformorientierte Roman Jagielinski, die Gründung einer neuen Partei an. Auch die vom früheren Ministerpräsidenten Jan Olszewski nach dem Achtungserfolg bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 gegründete, mit rechts-wie linkspopulistischen und national-klerikalen Parolen vorwiegend ältere Wähler ansprechende „Bewegung für den Wiederaufbau Polens“ (ROP) ist durch eine Parteispaltung geschwächt.

Sollte es der AWS auf der „rechten“ wie dem SLD auf der „linken“ Seite des politischen Spektrums gelingen, die jeweils erheblichen internen Gegensätze zu integrieren, so könnte sich in Polen mittelfristig ein mit westeuropäischen Vorbildern durchaus vergleichbares bipolares Parteiensystem mit einem liberalen „Zünglein an der Waage“ herausbilden.

Der Aufbau intermediärer Instanzen

Entgegen dem Anschein des Erfolgs der Solidarnosc von 1989 waren beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen beträchtliche Hindernisse zu überwinden. Die Eliten der bisherigen Opposition waren darauf vorbereitet, sich gegen den (kommunistischen) Staat zu behaupten, nicht jedoch darauf, den („eigenen“) Staat zu stützen. Ein Staat, mit dem man sich ohne Vorbehalte identifizieren konnte, war -abgesehen von der Zwischenkriegszeit -eine in Polen seit rund 200 Jahren unbekannte Erfahrung. Ferner hatte das Organisationsmonopol der PZPR den Aufbau autonomer gesellschaftlicher Organisationsstrukturen blockiert, so daß solche Strukturen, die den Aufbau eines demokratischen Staates hätten unterstützen können, trotz der Opposition der siebziger und achtziger Jahre allenfalls rudimentär entwickelt waren. Der Soziologe Jerzy Szacki brachte dies auf den Begriff, angesichts der schwachen Entwicklung der Zivilgesellschaft sei es unter den neuen Rahmenbedingungen paradoxerweise der Staat, der der Zivilgesellschaft die Freiräume für ihre Entfaltung bereitstelle: „Die civil society wird hier gewissermaßen zu einem staatlichen Projekt, zu etwas, das der Staat verwirklicht und dessen Verwirklichung bis zu einem gewissen Grad vom Willen derer abhängt, die die Macht ausüben.“

Zudem wurden 1989 durch den Einzug von der Solidarnosc nahestehenden Personen in den Sejm und den Senat, in die Spitzen von Ministerien und Verwaltungsbehörden etliche Personen rekrutiert, die bisher den der Zivilgesellschaft zuzurechnenden , Gegeneliten angehörten und künftig dem Aufbau gesellschaftlicher Organisationsstrukturen entzogen waren. Deren Entwicklung wurde ferner dadurch behindert, daß zentralen Akteuren, die den Erfolg der Zivilgesellschaft am Runden Tisch erst ermöglicht hatten, die Bedeutung einer klaren Unterscheidung zwischen der politischen und der zivilgesellschaftlichen Sphäre nicht bewußt war. So verwischten sich bei Solidarnosc lange die Konturen zwischen der in den „Bürgerkomitees“ organisierten gesellschaftlich-politischen Bewegung, der Fraktion der Solidarnosc im Parlament und der Gewerkschaft Solidarnosc, die nach ihrer erneuten Legalisierung große Mühe mit dem Aufbau einer schlagkräftigen Organisation hatte und zunächst zahlenmäßig deutlich hinter dem Gewerkschaftsverband OPZZ zurückblieb.

Zu den Parlamentswahlen von 1991 trat die Gewerkschaft Solidarnosc mit eigenen Kandidaten an, und zwar mit der Begründung, sie strebe nicht nach Macht oder Teilnahme an einer Regierung, sondern wolle nur im Parlament Arbeitnehmerinteressen zur Geltung bringen. Angesichts der extremen Zersplitterung des Sejm stellte die Fraktion der Solidarnosc selbst mit ihren 27 (von 460) Sitzen bei 5 Prozent der gültigen Stimmen jedoch einen auch quantitativ zu wichtigen Faktor dar, als daß sie ihre ursprünglich propagierte Maxime konsequent hätte durchhalten können. Im Ergebnis machte die Gewerkschaft Solidarnosc Erfahrungen, die sozialen Bewegungen in westlichen Gesellschaften, die ins Parlament gelangt waren, nicht unbekannt sind. So kam es zu Situationen, in denen die Parlamentsfraktion der Solidarnosc von der gewerkschaftlichen Basis unter Druck gesetzt wurde, im Parlament die Gewerkschaftsbeschlüsse durchzusetzen. Insbesondere bei Abstimmungen über den Staatshaushalt führte dies die Abgeordneten der Solidarnosc mehrfach zu Gratwanderungen zwischen den Postulaten der gewerkschaftlichen Basis einerseits und staatstragenden Erwägungen andererseits. Einige Male wurde nur knapp ein Bruch der Solidarnosc-Fraktion vermieden, und 1993 führte die Annahme des von der kleinen Solidarnosc-Fraktion eingebrachten Mißtrauensantrags gegen Premierministerin Hanna Suchocka, mit dem höhere Gehälter für Lehrer erzwungen werden sollten, zur Auflösung des Parlaments, wobei die Solidarnosc bei den Neuwahlen knapp an der neuen Fünf-Prozent-Klausel scheiterte.

Gewerkschaften zählen neben den politischen Parteien als Scharniere zwischen Gesellschaft und Staat zu den Schlüsselgrößen für das Gelingen der Konsolidierung der Demokratie. Beide großen Gewerkschaftsverbände -OPZZ und Solidarnosc -haben mit analogen Problemen zu kämpfen. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften insgesamt liegt weit niedriger als zu realsozialistischen Zeiten, sie können nur in geringem Umfang im neu entstehenden Privatsektor Fuß fassen und haben von daher -entgegen der üblichen Rhetorik -nur ein begrenztes Interesse an einer zügigen Privatisierung auch der defizitären Staatsbetriebe. Auch Probleme ihrer Abgrenzung gegenüber AWS bzw. SLD sind durchaus vergleichbar. Durch die Gesetzgebung dazu veranlaßt, ziehen Solidarnosc und OPZZ vor Ort oft an einem Strang. Noch schwächer als die Gewerkschaften sind in der Praxis die Arbeitgeberverbände. Ihre Effizienz -und damit auch die trilateraler Strukturen gemeinsam mit Gewerkschaften und Regierung -wird behindert durch inkonsistente gesetzliche Bestimmungen, geringen Organisationsgrad und Verhaltensweisen, die aus dem durch andere Rationalitäten bestimmten Realsozialismus geprägt sind (persönliche Beziehungen, nicht ökonomische Funktionalität etc.)

Politik wird der breiten Mehrheit der Bevölkerung über die Medien vermittelt. Deren Kontrolle zählte zu den wichtigsten Herrschaftsinstrumenten der Partei, die sie daher 1989 am Runden Tisch auch am hartnäckigsten verteidigte. Heute sind die Printmedien pluralistisch strukturiert. Zwänge sind weniger politischer als finanzieller Natur. Radio und Fernsehen sind öffentlich-rechtlich wie privat aufgebaut, wobei seit der Wende Eingriffe von Regierenden aller Couleur üblich waren allerdings nicht über das auch im übrigen Ostmitteleuropa gängige Maß hinaus.

Die Katholische Kirche auf der Suche nach ihrer Rolle im neuen soziopolitischen Kontext

Die Katholische Kirche war in der Volksrepublik Polen in der Praxis die wichtigste Organisation, mit deren Hilfe die Gesellschaft sich gegen den Partei-Staat behaupten konnte Sie trug entscheidend zum Zustandekommen und zum Erfolg des Runden Tisches sowie zum nachfolgenden Wahlsieg der Solidarnosc bei und stand 1989 auf dem Höhepunkt ihres Ansehens.

Sehr rasch zeigte sich indessen, daß die Kirchen-führung Schwierigkeiten hatte, sich in den neuen, von ihr selbst maßgeblich mit herbeigeführten soziopolitischen Rahmenbedingungen zurechtzufinden. Sie hatte die Emanzipation großer Teile der Gläubigen nicht nur gegenüber staatlichen, sondern auch gegenüber kirchlichen Instanzen unterschätzt und zeigte ihnen gegenüber weiterhin ein paternalistisches Verhältnis. Problemfelder, in denen Konflikte zwischen der Kirche sowie Staat und/oder Gesellschaft aufbrachen, waren die Wiedereinführung des Religionsunterrichts an den Schulen, die gesetzlichen Regelungen der Abtreibung, die Ratifizierung des von der Regierung Suchocka 1993 verabschiedeten Konkordats u. a.

Innerhalb der Kirche traten sehr unterschiedliche Strömungen immer deutlicher hervor. Die Vertreter der in den achtziger Jahren zahlenmäßig zwar schwachen, dafür aber einflußreichen „offenen Kirche“, die die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils nachdrücklich befürworteten, gerieten zunehmend in eine Defensivposition. Dominierend wurde die auch vom Primas Kardinal Jozef Glemp vertretene traditionalistische Haltung, während integrationalistische Vertreter offen einen Bekenntnisstaat propagierten und im „Liberalismus“ den neuen Hauptfeind sahen Am medienwirksamsten präsentierten sich dabei die Vertreter des privaten Rundfunksenders „Radio Maryja“ unter Pater Rydzyk, die mit fundamentalistischen und national-klerikalen Parolen die polnische Öffentlichkeit polarisierten. Bei Demonstrationen kam es bereits zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern unterschiedlicher kirchlicher Lager.

Bei mehreren Wahlen gaben zwar nicht so sehr die Vertreter des Episkopats, dafür aber viele Geistliche vor Ort sehr konkrete „Wahlempfehlungen“, die sich meist weniger gegen die postkommunistische SLD als gegen die „liberale“ UW (und deren Vorläufer UD) richteten („Freimaurer“, „Juden“). Der Wahlerfolg für die vom Klerus empfohlenen Parteien war durchweg sehr bescheiden. Bei den Parlamentswahlen vom September 1997 hielt sich der Klerus sichtlich zurück, was sich ganz wesentlich zugunsten der AWS ausgewirkt haben dürfte.

Zwar konnten nach den Wahlen von 1997 die Rücknahme liberalisierender Maßnahmen bei der Abtreibungsgesetzgebung, der Versuch, die Einführung von Sexualkunde in den Schulen zu verhindern, das über Nacht angebrachte Kreuz an einer ins Auge fallenden Tür im Sejm und andere Maßnahmen den Eindruck nahelegen, als seienfundamentalistische und teilweise antisemitische Positionen auf dem Vormarsch. Doch wurde der Danziger Prälat Jankowski für seine vor allem gegen Außenminister Geremek gerichteten antisemitischen Äußerungen von seinem Ortsbischof Goclowski gemaßregelt. Und zunehmend differenzieren sich die Positionen innerhalb des Episkopats, was von dessen Sekretär, Bischof Tadeusz Pieronek, ausdrücklich und mit positivem Unterton bestätigt wurde. Die Kirchenführung wolle sich auch nicht über die neue, ihr nahestehende Regierungsmannschaft in die Politik einmischen, sondern hoffe, daß die regierenden Politiker Manns genug seien, auch dem Episkopat einmal zu widersprechen Große Beachtung fand, daß sich eine Delegation der Bischöfe mit Kardinal Glemp an der Spitze im November 1997 nach einem Besuch bei der Europäischen Kommission in Brüssel positiv zur Perspektive eines polnischen Beitritts zur EU äußerte, nachdem lange Zeit gerade von kirchlicher Seite Vorbehalte geäußert worden waren, Polen drohe mit einem EU-Beitritt sein christliches Wertesystem und seine nationale Identität zu verlieren.

Nach den Wahlen von 1997: Neubestimmung des Verhältnisses zwischen ziviler und politischer Gesellschaft?

Die Parlamentswahlen von 1997 haben mit der Konzentration des Parteiensystems und der Bildung einer von einer deutlichen Parlamentsmehrheit gestützten Mitte-rechts-Regierung das politische System erheblich konsolidiert. Die politischen Eliten haben aus Fehlern, die nach 1989 beim raschen Aufbau eines demokratischen politischen Institutionensystems zweifellos gemacht wurden, zumindest teilweise gelernt. So hat die neue Verfassung bei allen Unzulänglichkeiten doch die Position der Regierung deutlich gestärkt. Das Wahlgesetz zum Sejm von 1993 hat dem Mitte-rechts-Lager nach der bitteren Lektion von 1993 Anreize zum Zusammenschluß gegeben, die zur Gründung und zum Wahlsieg der AWS führten. Schließlich wurde 1997 ein neues Parteiengesetz verabschiedet, das nun mindestens 1 000 Unterschriften für die Registrierung einer Partei verlangt, was die über 200 liegende Zahl der bisherigen „Parteien“ drastisch senken dürfte. Ferner müssen Parteien nun nach demokratischen Prinzipien aufgebaut sein und jährlich einen Rechenschaftsbericht über ihre Finanzen vorlegen.

Zu den weiterhin bestehenden Defiziten im institutioneilen Bereich zählt neben der Reform der Staatsverwaltung das Fehlen einer parteiunabhängigen Beamtenschaft, was nach den Wahlen von 1997 erneut in einem umfangreichen Personal-wechsel auf vielen nachgeordneten Positionen auf nationaler Ebene und bei Führungspositionen auf regionaler Ebene zum Ausdruck kam Dies dürfte auch bedeuten, daß ähnlich wie 1989 ein großer Transfer von Eliten aus den gesellschaftlichen Organisationen in den staatlichen Bereich erfolgt und den zivilgesellschaftlichen Unterbau weiter schwächt. Der „ausgehandelte“ System-wechsel von 1989/90 hat eine Diskussion über die nicht nur strafrechtliche, sondern auch wertbezogene Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit behindert. Diese wird seit dem Wahlsieg der postkommunistischen Linken 1993 immer schärfer geführt 1998 wird vermutlich eine am Vorbild der deutschen Gauck-Behörde orientierte Institution ihre Tätigkeit aufnehmen.

Innerhalb der AWS findet eine heftige Diskussion statt über die Trennung gewerkschaftlicher und parteipolitischer, d. h. zivilgesellschaftlicher und politischer Funktionen. Nach dem Beschluß des Solidarnosc-Kongresses vom Dezember 1997 soll für die laufende Wahlperiode die gleichzeitige Ausübung sowohl eines Amtes in der Gewerkschaft als auch in staatlichen Institutionen erlaubt sein. Dies ermöglicht etlichen für die AWS ins Parlament gewählten Gewerkschaftsfunktionären die Wahrnehmung beider Positionen und schiebt damit ihre Entscheidung für eine Aktivität in der politischen oder in der Zivilgesellschaft weiter hinaus. Marian Krzaklewski soll bis September 1998 (aber nicht, wie er erhofft hatte, bis zum Ende der Wahlperiode des Parlaments 2001) sowohl das Amt des Solidarnosc-Vorsitzenden als auch das des AWS-(Partei-) Vorsitzenden sowie des Vorsitzenden der AWS-Fraktion im Parlament vereinen können.

Die Parlamentswahlen von 1997 haben zu einem politischen Machtwechsel geführt, ohne daß damit dramatische Veränderungen im Wählerverhalten verbunden waren. Dieses ist vielmehr durcherstaunliche Stabilität gekennzeichnet, die sich auch in einer zunehmenden Konstanz der regionalen Stimmenverteilung der Parteien ausdrückt. Auch wenn sich das Parteiensystem mit den Parlamentswahlen von 1997 deutlich an westeuropäische Strukturen angenähert hat, bleibt unter dem Aspekt der Konsolidierung der Demokratie negativ die geringe Parteienidentifikation -die niedrigste in ganz Ostmitteleuropa -und vor allem die extrem niedrige Wahlbeteiligung (48 Prozent) festzuhalten. Etwa 35 Prozent der Bevölkerung sollen politisch völlig desinteressiert sein. Allerdings ist auf absehbare Zeit kaum zu befürchten, daß die bisherigen Nichtwähler von populistischen und/oder autoritären Parteien mobilisiert werden könnten. Vielmehr wird die politische Stabilisierung gestützt von in vielen Umfragen belegten optimistischen mittel-und langfristigen Erwartungshaltungen im wirtschaftlichen Bereich, die vom bevorstehenden, von der großen Mehrheit der Bevölkerung nachdrücklich begrüßten Beitritt zu NATO und EU noch verstärkt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Andrew Arato, Civil Society Against the State. Po-land 1980-1981, in: Telos, 47 (1981), S. 23-47.

  2. Zu den Reformen im einzelnen vgl. Klaus Ziemer, Auf dem Weg zum Systemwandel in Polen. Teil I: Politische Reformen und Reformversuche 1980 bis 1988, in: Osteuropa, 39 (1989) 9, S. 791-805.

  3. Nur fünf ihrer 260 Abgeordneten und Senatoren verfügten über parlamentarische Erfahrung aus der Zeit der Volksrepublik.

  4. Vgl. u. a. Inka Slodkowska, Jalowe lata? Opozycji antykomunistycznej brak bylo wizji przyszlej Polski (Unfruchtbare Jahre? Der antikommunistischen Opposition fehlte eine Vision des künftigen Polen), in: Wiez, Dezember 1997, S. 52-62. Dort sind zahlreiche Belege für entsprechende Äußerungen führender Solidarnosc-Politiker zu finden.

  5. Vgl. Wiktor Osiatynski, A Brief History of the Constitution, in: East European Constitutional Review, 6 (1997) 2-3, S. 66-76, hier S. 69.

  6. Vgl. Pawel Spiewak, The Battle for a Constitution, in: East European Constitutional Review, 6 (1997) 2-3, S. 8996.

  7. Die genaue Zahl ist noch immer umstritten. Sie schwankt zwischen 12 und 25; vgl. u. a. Janina Paradowska, Rysowanie Polski (Das Zeichnen Polens), in: Polityka vom 20. 12. 1997, S. 20-22.

  8. Vgl. Stanislaw Gebethner, Osiemnascie miesiecy rozczlonkowanego parlamentu (Achtzehn Monate eines zersplitterten Parlaments), in: ders. (Red.), Polska scena polityczna a wybory (Die polnische Szene und die Wahlen), Warszawa 1993, S. 7-30, hierS. 17.

  9. Zur AWS siehe die Analyse von Leszek Graniszewski, AWS -sojusz prawicy demokratycznej (Die AWS -das Bündnis der Demokratischen Rechten), in: Stanislaw Gebethner (Red.), Wybory ’ 97. Partie i programy wyborcze (Wahlen ’ 97. Parteien und Wahlprogramme), Warszawa 1997, S. 59-85.

  10. So z. B. die weitere Privatisierung, insbesondere defizitärer Sektoren wie Kohle, Stahl, Schiffbau, in denen die Solidarnosc einen starken Rückhalt unter der Belegschaft hat; ferner die Reform des Gesundheitswesens und der Renten-und Sozialversicherung etc.

  11. „(Wieder-) Aufbau der civil society.“ Diskussionsbeitrag von Jerzy Szacki, in: Transit, (1990) 1, S. 127f. (Kursivdruck im Original).

  12. Vgl. u. a. Krzysztof Jasiecki, Organizacje pracodawcöw i przedsiebiorcöw w Polsce (Organisationen der Arbeitgeber und Unternehmer in Polen), in: Jacek Wasilewski (Red.), Zbiorowi aktorzy polskiej polityki (Kollektive Akteure der polnischen Politik), Warszawa 1997, S. 167-202, hier S. 197.

  13. Vgl. etwa zur Besetzung der Schlüsselpositionen im Aufsichtsrat von Rundfunk und Fernsehen (auf mehrere Jahre) kurz vor den Parlamentswahlen durch die noch amtierende Koalition: Rzeczpospolita vom 13. 8. 1997.

  14. Vgl. Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945-1989. Die Anatomie einer Befreiung, Köln -Weimar -Wien 1993.

  15. Zur Entwicklung der Katholischen Kirche in den neunziger Jahren siehe das grundlegende Werk von Jaroslaw Gowin, Kosciöl po komunizmie (Die Kirche nach dem Kommunismus), Krakow -Warszawa 1995; deutsche Kurzfassung: Kirche, Staat, Gesellschaft. Polen in den neunziger Jahren, (Center for International Relations at the Institute of Public Affairs), Warszawa 1996.

  16. Vgl. das Interview mit Bischof Pieronek in: Polityka, Nr. 43 vom 25. 10. 1997.

  17. Vgl. Janina Paradowska, Gabinety z kluczem. Najwieksza rewolucja kadrowa w III RP (Kabinette mit Schlüssel. Die größte Kaderrevolution in der III. Republik), in: Polityka, Nr. 49 vom 6. 12. 1997, S. 3-8.

  18. Eine wichtige Aufsatzsammlung hierzu stellt dar: Marta Fik u. a., Spor o PRL (Die Auseinandersetzung um die Volksrepublik Polen), Krakow 1996.

  19. Vgl. u. a. zahlreiche Umfrageergebnisse in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Harald Waldrauch (Hrsg.), Politischer Kulturwandel in Ost-Mitteleuropa. Theorie und Empirie demokratischer Konsolidierung, Opladen 1997.

Weitere Inhalte

Klaus Ziemer, Dr. phil., geb. 1946; seit 1991 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Forschung und Lehre Ostmitteleuropas im Umbruch. Sozialwissenschaften in der Transformation, Marburg 1996; Das Parteiensystem Polens, in: Dieter Segert/Richard Stöss/Oskar Niedermayer (Hrsg.), Parteiensysteme in postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas, Wiesbaden -Opladen 1997; (Hrsg. zus. mit Dieter Nohlen und Peter Waldmann) Lexikon der Politik, Band 4: Die östlichen und südlichen Länder, München 1997.