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Rußland -Land der Extreme | APuZ 8/1998 | bpb.de

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APuZ 8/1998 Elitenwandel in Osteuropa. Einstellungsunterschiede zwischen Eliten und Bevölkerung am Beispiel Ungarns Von der „Solidarität“ zum Kampf um die Macht. Elitenbildung und Intelligenz in Polen Elitenwandel in der Tschechischen Republik Rußland -Land der Extreme

Rußland -Land der Extreme

Friedrich Schmidt

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Wandel von parteihörigen Kadern zur neuen Geld-und Machtelite spiegelt die Probleme der Transformation in Rußland wider: Organisationsstrukturen, Institutionen und Werte zerfallen. Ohne Verselbständigung der Regionen kann die Modernisierung Rußlands nicht gelingen, Moskau ist dazu nicht in der Lage. Die regionalen Eliten müssen eine eigenständige Politik betreiben und sich dagegen wehren, daß die Gebietseinnahmen in der Zentrale versickern. Unausgereifte Gesetze, eine überbesetzte, leistungsfeindliche und korrupte Bürokratie und der fehlende Rechtsstaat behindern tiefgreifende Reformen. Eine parasitäre Geld-und Machtelite hat die Wirtschaft im Würge-griff. In dem von der KPdSU vorbereiteten und von der neuen , Elite'vergrößerten Wirtschaftschaos sind Filz, Korruption, Kriminalität und Alkoholismus die einzige Wachstumsbranchen. Armut, soziale Not, rückläufige Geburtenraten, die Existenz von Straßenkindern, asoziale Verhaltensweisen, Schließung sozialer Einrichtungen usf. sind die Folgen einer Politik, die auf einen Kapitalismus ohne soziale Komponente setzt. Ein Hoffnungsschimmer ist das Engagement der Frauen, die sich für die sozial Benachteiligten -allen voran die Kinder -einsetzen. Auf der Basis von Spenden unterhalten sie die notwendigen sozialen Einrichtungen, für die es keine staatlichen Mittel gibt. Auch für die Schulen und die Hochschulen ist kein Geld da. Eine gründliche Strukturreform des Bildungswesens, ohne die der kranke Riese Rußland nicht genesen kann, steht noch aus.

I. Vorbemerkungen

Einkommen in Rußland (1995) Quelle: Friedrich Schmidt, Soziale Situation in Rußland, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 27 (1996) 3, S. 244. Die Angaben stammen vom Statistischen Amt Nowosibirsk.

Der Prozeß der Transformation vollzieht sich in Rußland ungeheuer dynamisch. Dimension und Intensität der Veränderungen sind durch Instabilität, wechselnde Krisensituationen und sich verschärfende Widersprüche innerhalb sozialer Gruppen und politischer Kräfte gekennzeichnet. Zwei sich wechselseitig beeinflussende Prozesse bestimmen den Übergang: erstens die Auflösung des alten (kommunistischen) Gesellschaftssystems durch Demontage seiner Institutionen und Organisationsstrukturen; zweitens die Modernisierung der Gesellschaft, die Installierung marktwirtschaftlicher Mechanismen und der Aufbau neuer Institutionen

Werte und Ordnungsstrukturen zerfallen, der schnelle, komplexe und äußerst widersprüchliche Wandel erzeugt Unsicherheit und Not. Früher war der Staat zwar fest in der Hand der kommunistischen Herrschaftselite (Nomenklatura), aber trotz aller Mängel herrschte (diktatorische) Ordnung, und soziale Sicherheit war auf niedrigem Niveau gegeben.

II. Staat und Politik

In der Duma -dem russischen Parlament -dominieren Parteien, die eine Demokratisierung Rußlands nicht wollen. Präsident Boris Jelzin kann gegen sie regieren, seine Erlasse und Dekrete haben mehr Gewicht als Gesetze. Die regionalen Besonderheiten in dem Riesenland mit ausgeprägten klimatischen, ethnischen, wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden haben sich weiter ausdifferenziert: Die Höchst-bzw. Niedrigstwerte der Industrieproduktion, der Durchschnittslöhne, Arbeitslosen oder Lebenshaltungskosten weisen ein Gefälle von bis zu 1 000 Prozent auf. Die politischen Sympathien der regionalen Eliten, die Intensität ihrer Kontakte zu und ihre Abhängigkeit von Moskau, der Stand der Reformen in Verwaltung und Wirtschaft differieren ebenfalls. Übereinkünfte über die Zusammenarbeit mit den Regionen werden mangels Gesetzen durch Verträge getroffen. Es besteht keine Gleichheit zwischen Föderation und Föderationssubjekten -den Republiken, autonomen Gebieten und Städten

Durch die Gouverneurswahlen 1996/97 in 50 Regionen wurden die neuen Eliten auf regionaler und örtlicher Ebene legitimiert. Die Beziehungen zwischen zentralen und regionalen Machtorganen sind vielschichtiger geworden. Regionale Eliten, besonders gewählte, müssen ihre Region glaubwürdig vertreten, für ihre Selbständigkeit eintreten. Manche Gouverneure versuchen, die finanzielle Abhängigkeit von Moskau abzubauen und eine eigenständige Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Bisher hat die Zentralmacht Versuche der 89 territorialen Verwaltungseinheiten (Republiken, autonome Gebiete und Städte), Teile der Gesetzgebung an sich zu ziehen oder mehr vom Steuerkuchen zu bekommen, weitgehend verhindert, sie will jetzt sogar die Kontrolle über die Gouverneure verstärken, die Vertreter des Präsidenten mit größeren Vollmachten ausstatten

Das Verhältnis zwischen föderalen und regionalen Machtorganen wird von gegenseitigem Druck und abgerungenen Zugeständnissen bestimmt. Eine Balance zwischen sachlich notwendiger regionaler Selbständigkeit und föderalem Zusammenhalt ist nicht in Sicht.

Nationalisten wie Kommunisten würden die Autonomie am liebsten ganz zurücknehmen. Schirinowskijs Rechtsextreme haben angekündigt, die „verlorenen“ Republiken wieder einzugliedern; sie versprachen billigen Wodka, billige Wohnungen sowie ein Rußland in den Grenzen von 1975. Eine Vielzahl von Verträgen zwischen Föderation und Föderationssubjekten schmälert die Zuständigkeit föderativer Gesetzgebung und verlagert Kompetenzen auf die Exekutive. Je schwächer die Duma ist, desto mehr Verträge grenzen zentrale von regionalen Verwaltungsebenen ab, regeln die Beziehungen zwischen föderativen und regionalen Eliten. Die russische Verfassung erlaubt es, Föderationssubjekte gegeneinander auszuspielen und regionale Eliten an Moskau zu binden.

Unausgereifte Gesetze erzwingen häufige Änderungen. Der Präsident verstärkt die Rechtsunsicherheit, indem er Industriegiganten Steueraufschub gewährt oder die reiche Gas-und Ölindustrie mit Steuernachlässen bevorzugt. Eine dilettantische Steuerreform brachte undurchsichtige, häufig wechselnde Vorschriften, besteuerte Investitionen, als müßten Leistung und Risikofreude bestraft werden. Fünf verschiedene Behörden ziehen irrwitzige Steuern ein, weshalb Geschäftsleute auf illegale Praktiken ausweichen, Gewinne ins Ausland verschieben. Eine leistungsfeindliche, überbesetzte Bürokratie, ein Wirrwarr widersprüchlicher Gesetze und Erlasse sowie eine Wirtschaftspolitik im Zickzackkurs, wie wir sie heute in Rußland antreffen, sind für Reformen tödlich.

Die Demokratisierung hat kaum die Oberfläche des politischen Bewußtseins erreicht; schon wird ein bereits autoritäres Präsidialsystem angepeilt. Starke Gewerkschaften und Interessenverbände, das Recht als ein eigenständiger Wert sowie unabhängige Gerichte sind unerwünscht; auch die Medien werden von der Macht-und Geldelite gekauft oder geknebelt. Statt junge Menschen zu Selbständigkeit zu erziehen und ihnen Rechtsbewußtsein beizubringen, werden autoritäre Strukturen kultiviert, Hilfesuchende zu ohnmächtigen Bittstellern gemacht. Materielle Unterstützung erfolgt nicht in Form von Hilfe zur Selbsthilfe, und einklagbare Rechte einzelner sind in Rußland Neuland.

Ohne gründliche Erneuerung des Rechtswesens bleibt jede Reform bereits im Ansatz stecken, erst recht wenn -wie in Rußland -die Beamten unter-bezahlt und vielfach korrupt sind. Die Justiz fungierte jahrzehntelang als verlängerter Arm der Partei; zwar haben inzwischen zaghafte Reformen stattgefunden, aber es entstand kein Vertrauen in die neuen Institutionen. Auch das Privateigentum, die Grundlage der Marktwirtschaft, wurde nur bruchstückhaft eingeführt.

III. Wirtschaft

An die Stelle der zusammengebrochenen staatlichen Planwirtschaft ist in Rußland keine marktwirtschaftliche Ordnung getreten, sondern ökonomisches Chaos: Der Rücksichtsloseste steigt auf und bereichert sich.

Jelzin konnte seine Wahlversprechen nicht einhalten. Die Staatskassen sind leer und die Not wächst. Wenn er nicht als der Präsident in die Geschichte eingehen will, der das Land ruiniert hat, muß er Reformen durchsetzen. Wohlstand ist auf die Zentren beschränkt, in denen ausländische Firmen, zahlreiche Banken, Immobilien-und Baufirmen ökonomische Dynamik vortäuschen, während die meisten Regionen des Landes von der Hand in den Mund leben. Die Betriebe sind hoch verschuldet. Sie entlohnen deshalb ihre Arbeiter nicht selten mit Produkten.

Die Preise stiegen uneinheitlich, im nordrussischen Archangelsk liegen sie um 5 bis 10 Prozent, in der gleichnamigen Region um 20 Prozent über dem Landesdurchschnitt. Hier war die Militärindustrie neben der Holzindustrie der wichtigste Industrie-zweig. Inzwischen beträgt die Arbeitslosigkeit in der Region 22 bis 25 Prozent. Die Berufsaussichten für Jugendliche sind katastrophal

Ein mittleres Unternehmertum gab es in der Sowjetunion nicht, positive Ansätze im heutigen Rußland wurden durch die Geld-, Steuer-, Zoll-und Wirtschaftspolitik zunichte gemacht. Die Hyperinflation von 1992/93, ungeklärte Eigentumsfragen und bürokratische Hemmnisse haben es schließlich in den Ruin getrieben.

Das Chaos, in dem sich die russische Wirtschaft heute befindet, wurde von der KPdSU-Führung und der neuen Herrschaftselite verursacht. Gewinner sind die , Neuen Russen 1, zwei Gruppen, die die Wirtschaft im Würgegriff haben: meist junge , Bisnismeni‘ (Geschäftsleute") und ehemalige in die kapitalistische Führungsriege gewechselte Parteikader. Viele Funktionäre schafften den Umstieg problemlos. Sie sicherten sich den Zugriff auf Staatskapital und -betriebe, Banken, Kolchosen und Immobilien und übernahmen die Pfründe der Partei.

Die , Bisnismeni’ sprechen von Leistung und imitieren unbewußt die alten Sowjetfunktionäre; die jungen Angehörigen der staatlichen Elite unterscheiden sich nur in Nuancen von den früheren kommunistischen Funktionären. , Bisnismeni‘ und Wendefunktionäre sind mittels kapitalistischer Methoden und durch kriminelle Praktiken zu Reichtum gelangt. Aufgrund guter Kontakte zur Regierung erhalten sie Subventionen, günstige Kredite und Steuererlasse. Die Folge ist, daß unrentable Großbetriebe nicht reformiert und Konsequenzen für unfähige Direktoren verhindert werden. Das halbprivatisierte Finanzwesen ist ein Dschungel, in dem Millionen verschoben, Politiker gekauft sowie Wahlkampagnen finanziert werden.

Die neuen . Eliten 1 stecken ohne Skrupel Gewinne zwischen 300 und 700 Prozent ein. Das Risiko ist hoch: 50 bis 80 Prozent der Geldinstitute werden, so heißt es, von der Mafia kontrolliert. Die Banken sind besonders gefährdet, ein Viertel der Bankbelegschaften besteht aus Sicherheitsleuten, die Stäbe werden von ehemaligen KGB-Angehörigen geleitet. Korruption, ungerechtfertigte Privilegien, die Vergabe von Pfründen und dubioser Erwerb staatlicher Unternehmen förderten eine parasitäre Elite, die das neue Rußland ausplündert. Die Macht-und Geldelite übt Druck auf Gesetzgebung und Verwaltung aus, um Reformen zu verhindern, egal, ob die Wirtschaft ruiniert, die Intelligenz an den Existenzrand gedrängt wird oder die Armen noch ärmer werden. Wer dem Sumpf aus Bestechung, krimineller Aneignung und Nepotismus zu entkommen sucht oder gar versucht, den Filz zwischen Regierung und Kapital aufzudecken, Korruption und organisiertes Verbrechen auszuschalten, lebt in Rußland gefährlich

Jelzin unternimmt nichts, zu eng sind Politik und Finanzwelt verflochten, die neuen Eliten bestimmen die Regeln. Vier große Wachstumsbranchen soll es in Rußland geben: Filz, Korruption, Kriminalität und Alkoholismus.

Nationaler Hoffnungsträger ist die Öl-und Gasindustrie, die ein Drittel des Sozialprodukts erzeugt. Doch mafiose Manager zweigen vom staatseigenen Öl Teile ab und verkaufen sie im Westen, der Erlös geht auf Privatkonten , Neue Russen 1 fahren im teuren Mercedes vor und geben an einem Abend den Monatslohn eines Bus-fahrers aus. Am anderen Ende der Skala stehen Straßenkinder, bettelnde Alte und Invalide: Millionen Arme. Dem Staatskommunismus folgte in Rußland der Manchesterkapitalismus.

Für eine marktwirtschaftliche Ordnung fehlen in Rußland die rechtlichen Rahmenbedingungen. Nicht die Marktwirtschaft hat demnach die Ausbreitung von Kriminalität, Korruption und Ausbeutung verursacht, wie viele Menschen meinen, sondern das Fehlen des Rechtsstaates.

Marktwirtschaft’ ist in Rußland längst zum Synonym für ungerechtfertigte Bereicherung geworden; in der Parlamentswahl 1995 hat fast die Hälfte gegen Wirtschaftsreformen gestimmt. Nationale Demütigung, Verarmung ganzer Schichten und schwere wirtschaftspolitische Fehler haben Nationalisten und Kommunisten Zulauf beschert. Das Potential, das zu einem Wechsel bereit ist, wächst.

Gefährlich, weil unberechenbar, ist die Verflechtung der „Raubritterkapitalisten 11 mit der Staatsverwaltung und dem organisierten Verbrechen. Das Wertesystem löst sich auf. die neue Elite ist kriminell unterwandert. Existenzangst, drückende Armut, Korruption und wachsende Kriminalität verlangen eine Radikalkur. Wie will man auch Millionen schuldlos Verarmten erklären, daß die Annäherung an südamerikanische Zustände keine Folge der Demokratie ist? Die Gier der neuen . Eliten verhinderte den Weg in die soziale Marktwirtschaft. Ein Spiegelbild der russischen Wirtschaft ist das Hotelwesen: Es wird kassiert und nichts geleistet. Hotels in der Provinz nehmen Preise, wie sie in weltberühmten Kurorten üblich sind, bieten einen Service wie im Sowjetsystem, haben Personal, das jeden Wettbewerb an Unfreundlichkeit und Unverschämtheit gewinnen würde, und die Sanitäreinrichtungen sind wie zu Lebzeiten Lenins.

IV. Sozialwesen

In der Sowjetzeit gab es soziale Einrichtungen auf staatlicher, kommunaler und betrieblicher Ebene. Heute sind diese -wie zum Beispiel Kindergärten, Krankenhäuser und Kantinen -oft nicht mehr finanzierbar und mußten deshalb teilweise geschlossen werden. Der Aufbau neuer Einrichtungen wurde vernachlässigt; statt private soziale Organisationen zu fördern, werden Spenden hoch besteuert; außerdem fehlt es an Fachleuten und Gesetzen.

Westeuropäische Hochschulen helfen dabei, die fehlenden Fachleute heranzubilden. 1991 wurde damit begonnen, an zirka 50 Hochschulen entsprechende Studiengänge einzurichten. Zum Beispiel hat der Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Kiel entscheidend zum Aufbau der Fakultät Sozialarbeit an der Universität Archangelsk in Nordrußland beigetragen.

Sinkender Lebensstandard und die damit im Zusammenhang stehende rapide Verschlechterung der Gesundheit führten zur Verkürzung der Lebenserwartung. Armut, soziale Not und Wohnungsmangel drücken die Geburtenraten. Die Zahl der Scheidungen nimmt zu, mehr und mehr Kinder wachsen ohne Fürsorge auf, und die Gewalt sowie die Kriminalität unter den Jugendlichen nehmen zu. Der Staat bietet den Familien keine soziale Sicherheit; Alleinerziehende, chronisch Kranke, Behinderte, Arbeitslose werden völlig unzureichend unterstützt.

Die sozialen Spannungen haben eine bedrohliche Schärfe angenommen, der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach einem besseren Leben und der Chance der Verwirklichung wächst. Armut, Hoffnungslosigkeit oder Resignation lassen viele -vor allem die Männer -zur Flasche greifen. Frauen bringen oft mehr Energie dafür auf, Initiativen zu ergreifen. Sie sind es, die Heime für Straßenkinder, Schulen für Behinderte oder Klubs für herumstreunende Jugendliche schaffen, die die Medien mobilisieren, Banken und Geschäfte um Spenden bitten und so etwas Positives für Kinder und Jugendliche erreichen: -Die Stadt Archangelsk stellte einer Pädagogin ein Gebäude zur Verfügung; sie baute eine Schule für körperbehinderte Kinder auf, arbeitete bis zur Erschöpfung, bettelte das Geld zusammen.

-Ein Sozialzentrum nimmt Kinder auf, die auf der Straße, in Kellerlöchern und auf Baustellen lebten. Auch hier leisten Frauen schier Unglaubliches, bekommen monatelang kein Gehalt, leben wie die Kinder von den gespendeten Lebensmitteln.

-Frauen bauten im Keller eines Betriebes ein Zentrum für Kinder und Jugendliche auf, arbeiten oft ohne Bezahlung, geben den Kindern das Gefühl, in dieser Gesellschaft einen Platz zu 'haben.

Durchschnittsverdiener verloren durch die Freigabe der Preise und den Zwangsumtausch mehrmals ihr Erspartes, die Löhne wurden nicht an die Preise angepaßt. Viele Menschen wünschen sich inzwischen das alte System zurück, wollen lieber stundenlang anstehen und genug zu essen haben als volle Regale und kein Geld. Sie glauben, Demokratie und Marktwirtschaft brächten nur Reichen Vorteile. Etwa 40 Prozent der Einwohner Rußlands lebten 1995 unterhalb des Existenzminimums, die Durchschnittsrente liegt unter der Armutsgrenze.

Die Föderation muß den Haushalt sanieren, aber die regionalen Eliten würden unpopuläre Maßnahmen wie höhere Miet-und Energiepreise nicht mittragen. Die sozialen Spannungen haben ohnehin schon bedrohliche Formen angenommen. Das Volk protestiert zwar noch nicht gegen Unfähigkeit, Schlamperei, Korruption und Ausbeutung, aber der Ruf nach Ordnung und Gerechtigkeit wird lauter.

V. Hochschulen -Schulen

Jahrzehntelang sind in Rußland Investitionen im Bildungs-und Hochschulbereich (Ausnahme: Eliteeinrichtungen, militärisch-industrieller Komplex) unterblieben. Nach der Perestroika wurden zwar Studienrichtungen gefördert, in denen schnell verwertbare Kenntnisse vermittelt wurden. Hoffnungen auf die Erneuerung des Bildungswesens erwiesen sich aber als Illusion. Mit Mühe wird der Bestand gehalten, die Anschaffung von moderner Literatur oder technischer Ausrüstungen wie etwa Kopiergeräten ist nicht möglich Die Lage der Studierenden ist schlimm, die Höhe der Stipendien erreicht nicht einmal das Existenzminimum. Nicht minder schlecht ist die Situation der Lehrenden, die nicht selten den Hochschulen den Rücken kehren, weil Unternehmen und Staat besser zahlen. Häufig warten Angestellte mehrere Monate auf ihr Gehalt.

Für Strukturänderungen fehlen der politische Wille und das Geld. Visionen, man könne das russische Hochschulsystem mit westlicher Hilfe strukturell reformieren, neue Studiengänge und Curricula einführen, sind in sich zusammengebrochen, das Beharrungsvermögen der alten Organisationsstrukturen wurde unterschätzt. Hilfe ist in Form von Know-how und gezielten Sachinvestitionen sinnvoll, als pauschale Geldleistung würde sie versickern. Inzwischen sind rege Westkontakte wieder Ziel von Intrigen. Auch der eingeschränkte Zugang zu Archiven deutet auf ein rauher werdendes Klima hin

An den Schulen sieht es nicht viel besser aus. Das Niveau ist niedrig. Die Ausbildung der Lehrer ist unzureichend, und der Verdienst von 350 000 Rubel (110 DM) ist kein Anreiz dafür, freiwillig mehr zu tun. Die Kraft wird für den existenzsichernden Zweitjob gebraucht. Bis zu 30 Prozent der Junglehrer flüchten denn auch aus dem Lehrberuf. Bessere, private Schulen können nur Kinder gut verdienender Eltern besuchen, was zur weiteren Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Die Kinder der , Neuen Russen'besuchen die besten Schulen und Universitäten.

Die Berufsaus-und -Weiterbildung hinkt beinahe um Jahrzehnte hinterher; Produktionseinschränkungen und Stillegung von Fabriken bedrohen sie in der Existenz. Arbeitslosen mit geringer oder falscher Qualifikation könnte durch Weiterbildungsprogramme geholfen werden, aber es fehlen entsprechend ausgebildete Lehrkräfte, und es fehlt eine moderne Ausrüstung.

VI. Intellektuelle

Gerade jene, die auf Demokratie und eine Wirtschaft nach westlichem Vorbild gesetzt hatten, die Intellektuellen, haben ihre Illusionen verloren und sind dabei, sich damit abzufinden, daß ein autoritäres Regime kommt. Der Schriftsteller Lew Razgon, der über zwanzig Jahre Gulag durchgestanden hat, zählte in der Perestroika zu den engagierten Demokraten; 1993 forderte er eine autoritäre Regierung, weil es anders nicht gehe. Inzwischen teilen viele die Ansicht, Demokratie und Rechtsstaat seien derzeit unerreichbar.

Unter den Intellektuellen waren es vor allem Journalisten, die den Wandel Rußlands zur demokratischen Leistungsgesellschaft unterstützten. Intellektuelle sahen mit dem Ende des Kommunismus eine Chance, besser zu leben und frei von Entmündigung zu werden. Im Sowjetsystem sind sie eingeschüchtert, verfolgt, in Lager gesperrt oder umgebracht worden; nach der Wende verloren sie durch Inflation, niedrigen Lohn, entwürdigende Arbeitsbedingungen und verweigerte Schlüsselpositionen materielle Sicherheit und Ansehen -und nicht selten die Selbstachtung: Ingenieure verkaufen Batterien in der Metro, Krankenschwestern putzen bei, Neuen Russen, Offiziere arbeiten als Tür-steher, und Professoren fahren Taxi. Vielen ist die Politik gleichgültig geworden, der Überlebenskampf absorbiert alle Kräfte, sie wünschen sich nur noch ein geordnetes und einigermaßen erträgliches Leben.

Werden sich enttäuschte Intellektuelle, bedroht von Chaos und Unsicherheit, der nationalen Wiedergeburt zuwenden? Russen sind auf ihre Geschichte, den Reichtum und die Größe ihres Landes stolz. Doch das Land liegt am Boden, Millionen vegetieren unterhalb der Armutsgrenze, während der besiegte Feind reich ist. , Zurück zum Sowjetimperium! kann verlockend klingen, wenn der Verfall nicht mehr zu ertragen ist.

Es wird wohl zwei bis drei Generationen beanspruchen, bis Rußland westlichen Standard erreicht haben wird Rußland muß den steinigen Weg langwieriger Reformen gehen, muß Wirtschaft und Staat auf Leistung trimmen, die Korruption bekämpfen, investieren und produzieren sowie Bürokratie und Privilegien abbauen. Um leistungsbewußte Eliten für die Erneuerung des Landes zu erhalten, sind strukturell reformierte Hochschulen einschließlich einer leistungsgerechten Besoldung nötig. Der europäisch-asiatische Koloß muß sich von innen erneuern. Demokratie entsteht nicht von selbst, Lernprozesse und Einstellungsänderungen sind dafür unabdingbare Voraussetzungen, doch diese brauchen viel Zeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. N. Slepzow/L. Rewenko, Die Perestroika-Generation. Jugendliche in Rußland, Internationale Texte Bd. 3, München 1993, 5f.

  2. Vgl. Galina Tschinarichina, Föderalismus im Spannungsfeld neuer Reformen, in: Wostok, Informationen aus dem Osten für den Westen, (1997) 5, S. 23 ff.

  3. Vgl. ebd., S. 21-24.

  4. Vgl. T. S. Butorinoi, National-regionale Komponente, PMPU, Archangelsk 1994, S. 4-12.

  5. Vgl. Christian Schmidt-Häuer, Va Banque in Moskau, in: Die Zeit vom 24. Mai 1996, S. 9f.

  6. Vgl. ebd., S. 10.

  7. Vgl. Karl Eimermacher, Bedingungen eines Strukturwandels des Hochschul-und Wissenschaftssystems in Rußland, in: ders. /Anne Hartmann (Hrsg.), Deutsch-russische Hochschulkooperation: Erfahrungsberichte, Bochum 1996, 6 f.

  8. Vgl. Anne Hartmann, Von der Euphorie zur Ernüchterung: Perestrojka der Kooperation, in: ebd., S. 20 f.

  9. Vgl. Friedrich Schmidt, Erfahrungen deutsch-russischer Zusammenarbeit unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Situation, in: ebd., S. 41.

Weitere Inhalte

Friedrich Schmidt, Dr. rer. pol., geb. 1937; Professor für Politologie und Massenmedien an der Fachhochschule Kiel, Fachbereich Sozialwesen; wiss. Leiter des Weiterbildungsstudiums , AV-Journalismus 4 (ehemaliger FS-Journalist); Beteiligung am Aufbau der Fakultät für Sozialarbeit an der Universität Archangelsk/Nordrußland, ein Semester Lehrtätigkeit am dortigen Deutschlehrstuhl; Aufbau von Hochschulpartnerschaften mit russischen Universitäten (Technische Universität Tallinn, Pomorenuniversität Archangelsk, Sozialuniversität Moskau). Veröffentlichungen über Rußland, Medienfragen, Parteien, Fernsehfilme sowie über politische und soziale Themen.