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Politikverdrossenheit, populäres Parlamentsverständnis und die Aufgaben der politischen Bildung | APuZ 7-8/1999 | bpb.de

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APuZ 7-8/1999 Restauration oder Neubeginn? Politische Bildung 1945-1960 Entstehung und Krise der Fachdidaktik Politik 1960-1976 Annäherung durch Wandel Für eine neue Sicht auf die „innere Einheit“ und die Rolle der politischen Bildung Politikverdrossenheit, populäres Parlamentsverständnis und die Aufgaben der politischen Bildung

Politikverdrossenheit, populäres Parlamentsverständnis und die Aufgaben der politischen Bildung

Werner J. Patzelt

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird die einst so modische Politikverdrossenheit in ihren größeren Zusammenhang gestellt: in das Umfeld jenes „latenten Verfassungskonflikts“, den eine empirische Untersuchung des populären Parlamentsverständnisses zutage förderte. Im Kern besteht dieser Konflikt darin, daß Deutschlands moderne Verfassungsordnung und sein ebenso modernes parlamentarisches System mit dem immer noch eher antiquierten populären Verfassungsdenken nicht recht zusammenpassen. Dieser Konflikt ist geistesgeschichtlich tief verankert. Neuere Umfragedaten machen dessen Struktur und Dimensionen deutlich. Sie zeigen: Gerade dann, wenn Deutschlands parlamentarisches System ordnungsgemäß funktioniert, zieht dies populäre Kritik auf dieses System und seine Repräsentanten. So entstehen (nicht zuletzt medial vermittelte) Legitimationsprobleme, Verdrossenheit und auf Abwege führende Verbesserungsvorschläge. Die politische Bildungsarbeit hat aus alledem Konsequenzen zu ziehen. Welche das im Prinzip sein sollten, wird sowohl im Hinblick auf die Politikverdrossenheit im allgemeinen als auch in bezug auf diesen „latenten Verfassungskonflikt“ im besonderen erörtert.

I. Politikverdrossenheit und die Aufgaben politischer Bildung

Mit der Politikverdrossenheit ist es so eine Sache: Das Thema, modisch in den frühen neunziger Jahren, wirkt heute etwas abgestanden. Außerdem merkt nun mancher, daß jener „Populismus von oben“, den der Verdrossenheitsdiskurs ja auch darstellte, nicht ohne Folgen blieb. Er war in der Tat nicht konstruktiv-zielgerichtet, sondern destruktivselbstbezogen. Trotzdem haben hochgeschätzte Diskurseliten -vom damaligen Bundespräsidenten bis hin zu Leitartiklern und Feuilletonisten -einst den Begriff der Politikverdrossenheit zu einem kommunikativen Statussymbol geadelt. Mit ihm mußte sich zieren, wer glaubhaft machen wollte, er sei sensibel und um unsere Demokratie besorgt. Dabei war „Politikverdrossenheit“ am Ende nur mehr eine Art kommunikativer Mülleimer, in den man alles mögliche an Kritik, Unzufriedenheit, Ängsten oder antipolitischen Vorurteilen stopfen konnte -und das auch weidlich tat

Jene Doppelmode von zur Schau gestellter Politik-verdrossenheit und offensiv demonstriertem Verständnis für Politikverdrossene hatte freilich eine bittere Pointe. Im „Superwahljahr“ 1994 war nicht genug zu beklagen, Politik-und Parteienverdrossenheit sei schuld am angeblich demokratiegefährdenden Absinken der Wahlbeteiligung. Doch als dann 1998 in Sachsen-Anhalt die Politikverdrossenen wirklich wählen gingen, da war das auch wieder nicht recht: Sie wählten nämlich falsch. Sie hatten ja auch falsch gewählt: nämlich Parteien, die den einstigen politikverdrossenen „Populismus von oben“ nun mit einem nicht minder politik-verdrossenen „Populismus von unten“ komplettierten. In ihm fand sich die feingewirkte Kritik gutmenschenhafter Besorgnisverwalter zur Kenntlichkeit des traditionellen Anti-Parteien-Affekts, Antipluralismus, Antiliberalismus und Antiparlamentarismus entstellt.

Wo politische Bildungsarbeit, sich . systemkritisch verstehend, an jenem „Populismus von oben“ mitgewirkt hat, indem sie argumentationsunkriüsch die Gemeinplätze der Politikverdrossenheit in vielerlei Publikationen und Seminarveranstaltungen hegte, dort muß auch sie sich Vorwürfe gefallen lassen. Heute wäre es ihre Aufgabe, den zur rechtsradikalen Demagogie abgesunkenen Verdrossenheitsdiskurs nicht einfach mit Tabus zu umstellen, sondern ihn in jenem größeren Zusammenhang verständlich -und dekonstruierbar -zu machen, aus dem er einst erwuchs: aus einer vielleicht gut gemeinten, doch mit historisch unaufgeklärten und systematisch unstimmigen Argumenten geführten Systemkritik unseres Volkes und seiner Eliten.

Allerdings war die seit Beginn der neunziger Jahre mit Umfragedaten glaubwürdig gemachte Politik-, Politiker-und Parteienverdrossenheit ja nicht nur ein demoskopisches Artefakt. Sie hatte durchaus einen harten Kern. Zwar entbehrte der damalige Alarmismus einer realen Grundlage, lag -und liegt -unser Land doch im internationalen Vergleich der Demokratien bei allen einschlägigen Indikatoren des Institutionen-und Systemvertrauens sowie der politischen Partizipation schlechtestenfalls im Mittelfeld Doch sehr wohl zeigten -und zeigen -sich in den Befunden zur Politik-, Politiker-und Parteienverdrossenheit grundlegende und immer wieder neu akut werdende Probleme im Verhältnis zwischen unserem Volk und seiner politischen Klasse.

Da haben sich Parteien und Politiker den Aufstieg Westdeutschlands zu einem der reichsten und erfolgreichsten Länder der Erde als politisches Verdienst selbst zugerechnet. Ganz unrecht hatten sie damit auch nicht. Doch insgesamt nährten sie so die Illusion, kaum etwas liege außerhalb des Bereichs politischer Machbarkeit. Allmählich aber wird angesichts von politisch nicht wegzukurierender Massenarbeitslosigkeit, von massiven öffentlichen Finanzproblemen, von finanziell letztlich ja doch ungesicherter Sozialstaatlichkeit und von ein­ schüchternden Schwierigkeiten bei unserer Anpassung an die Bedingungen der Globalisierung deutlich, wie wenig die Politik gegen die Eigenlogik wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen erzwingen kann. Die Politikillusion ist aber noch nicht verflogen. Die konkurrierenden Parteien nähren sie vielmehr mit Nachdruck: Es versagten die jeweils Regierenden, und die Erneuerung politischer Gestaltungskraft sei darum vom Machtwechsel zu erwarten. Alsbald steht freilich auch der neue Kaiser ohne Kleider da und gibt Grund, über ihn und auch den Rest der politischen Klasse verdrossen zu sein.

Angesichts dessen wäre es eine zentrale Aufgabe politischer Bildungsarbeit, auf die enger denn je gewordenen Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit aufmerksam zu machen und überzogenen Erwartungen an die Politik zu wehren. Es wäre sehr viel gewonnen, wenn politische Bildung es schaffte klarzumachen, daß allein schon die verläßliche Sicherung von innerem Frieden, von Rechtsstaatlichkeit, von Gewaltenteilung und pluralistischer Demokratie ganz außerordentliche politische Leistungen sind, während darüber hinausgehende Wohlfahrtssicherung auch noch besonders glücklicher und politisch nicht erzwingbarer Zeitumstände bedarf.

Zu den Realien des Verdrossenheitsdiskurses gehört ferner die in der Tat nachlassende Bindungskraft der großen Parteien. Sie ist ihrerseits Bestandteil des Rückgangs der Unterstützung für unser politisches System auf den verschiedensten Ebenen und insgesamt ein Vorbote für das Auseinandertreten der Befürworter und der Gegner unserer politischen Ordnung Hier mischen sich die Folgeerscheinungen der Auflösung bislang stabiler soziokultureller Milieus, in denen die Parteien wurzeln konnten, mit der zunehmenden Abhängigkeit des politischen Prozesses von der Mitwirkung und Eigendynamik der Massenmedien. Wenn aber lebensweltliche Traditionen und Erfahrungen nicht mehr die modischen Umschwünge im massenmedialen Meinungsklima abbremsen können, dann schlägt die Eigendynamik der Medien-wirklichkeit unmittelbar auf politische Stimmungen und Wahlergebnisse durch.

Zu jener Eigendynamik gehören ganz zentral Themenkarrieren mit ihrem stets sehr engen sachlichen und zeitlichen Horizont, in deren Verlauf eher die auftretenden Probleme als ihre erarbeiteten Lösungen ins öffentliche Bewußtsein dringen. Ferner bleibt, wenn die soziokulturell abgesicherte Parteiidentifikation schwindet, der inzwischen über alle vernünftige Zweifel hinaus empirisch nachgewiesene Negativismus der Massenmedien nicht ohne Folgen. Wenn -wie die verdienstvollen Medienanalyen der Zeitschrift „Medientenor“ zeigen -in der Berichterstattung über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Sachverhalte sowie über die politischen Parteien konstant die negativen Meldungen die positiven überwiegen, dann kann die Konsequenz schwerlich eine andere sein als jene, welche die Demoskopie verläßlich mißt: Man traut den etablierten Parteien Problemlösungskompetenz nicht mehr zu. Über ihre -fälschlicherweise für völlig verfehlt gehaltene -Politik ist man erst recht verdrossen und münzt derartige Verdrossenheit dann in Protestwahlverhalten um, das anschließend solche Probleme hervorrufen mag, die ihrerseits die Regierungs-und Steuerungsfähigkeit unseres politischen Systems weiter herabsetzen.

Aufgabe politischer Bildung wäre es hier, einesteils die Eigentümlichkeiten massenmedialer Wirklichkeitskonstruktion und deren weitreichende Prägekraft für die öffentliche Meinung ins allgemeine Bewußtsein zu heben, so daß man nicht nur dem massenmedial vermittelten politischen System gegenüber kritisch sein kann, sondern auch gegenüber der Wirklichkeitsvermittlung durch die Massenmedien. Andernteils hätte politische Bildung die so wichtige, wertvolle und überaus schwierige Rolle politischer Parteien im Prozeß sowohl politischer Konkurrenz als auch gesamtstaatlicher Führung bekannter zu machen, als sie das derzeit offenkundig ist. Noch halten nämlich jene Gemeinplätze des traditionellen Anti-Parteien-Affekts das Feld besetzt, die sich aus obrigkeitsstaatlichen und aus (direkt-) demokratischen Quellen zugleich speisen.

Wie überaus populär dieser Anti-Parteien-Affekt ist, der Nation und Gemeinwohl gegen pluralistisch konkurrierende Parteien ausspielt, zeigt allenthalben die Fortwirkung des „Hindenburg-Syndroms“. „Für das Vaterland beide Hände, aber nichts für die Parteien“ -diesen Ausspruch Hindenburgs prägte man 1925 auf eine Gedenkmünze anläßlich seiner Wahl zum Reichspräsidenten S„. Zuerst das Land, dann die Parteien“ -das ließ der jetzige sozialdemokratische Kanzler am Verfassungstag des letzten Jahres in den großen deutschen Zeitungen drucken. Der anschließende Text erlaubte keinen Zweifel, wer wohl dem „Zusammenhalt und Gemeinsinn“ in Deutschland im Wege steht und über wen sich ein -im amerikanischen Stil -von den Massenmedien getragenes politisches Führertum erheben müßte: Es sind die konkurrierenden Parteien. Daß derlei letztlich obrigkeitsstaatliche Argumentationsmuster als attraktiv in einem Wahlkampf gelten konnten, bei dem faktisch doch Parteien zur Wahl standen, die ihrerseits ab dem Herbst Deutschlands Regierung tragen wollten, das zeigt an, wie gewaltig die Defizite politischer Bildung in unserem Lande sind, sobald es nicht um das kleine Einmaleins tagespolitischen Wissens, sondern um das große Einmaleins eines rationalen Systemverständnisses geht. Von grundlegenden Problemen der Herausbildung eines solchen Systemverständnisses, die ihrerseits eine wichtige Quelle des akademischen wie populären Verdrossenheitsdiskurses sind, soll im folgenden die Rede sein vom Unbehagen am parlamentarischen Regierungssystem als grundlegender Ordnungsstruktur Deutschlands.

II. Geistesgeschichtliche Grundlagen deutscher Verdrossenheit am parlamentarischen Regierungssystem

Jenes Unbehagen an der Bonner Demokratie, den Ursprung und die politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit, analysierte Ernst Fraenkel, einer der Gründerväter der deutschen Politikwissenschaft, schon vor weit über dreißig Jahren Er führte jenes Unbehagen „auf das instinktmäßige Gefühl zurück, daß unser Verfassungswesen weitgehend nicht dem entspricht, was man sich unter der Herrschaft einer , echten Demokratie vorstellt“ Die Ursache sah Fraenkel darin, daß in Deutschland „Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auf der einen Seite und die demokratische Vulgärideologie auf der anderen Seite aus verschiedenen Quellen gespeist sind“. Denn: „Wir haben uns unsere Verfassungsordnung . . . von den Engländern und unsere Verfassungsideologie von den Franzosen ausgeborgt.“ Hinzu komme, daß Englands parlamentarisches Regierungssystem seit dem 19. Jahrhundert in der deutschen politischen Diskussion und bei den -inzwischen so erfolgreichen -deutschen verfassungsrechtlichen Nachahmungsversuchen auch noch gründlich mißverstanden worden sei Das betreffe vor allem das Verhältnis von Parlament und Regierung

Tatsächlich muß man bedenken, daß das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland einen klaren Bruch mit unserer verfassungsgeschichtlichen Tradition darstellt. Diese war seit dem 19. Jahrhundert bis zur Revolution von 1918/19 durch die konstitutionelle Monarchie, durch das monarchische Prinzip der Regierungsführung sowie durch einen Parlamentarismus ohne Zugriff auf die Regierungsämter gekennzeichnet. In dieser Tradition -und nicht zuletzt ihretwegen -wurden solche Gewaltenteilungsvorstellungen populär, die sich heute am präsidentiellen Regierungssystem ausrichten, das strukturell ja nur die republikanische bzw.demokratische Variante einer konstitutionellen Monarchie ist. An den entsprechenden Vorstellungen von einem Gegenüber von Gesamt-parlament und Regierung orientieren sich, wie zuletzt in der Mitte der achtziger Jahre eine umfassende Schulbuchanalyse zeigte nun aber auch viele Lehrmaterialien, anhand welcher die nachrückenden Jahrgänge mit den Grundlagen unseres politischen Systems vertraut gemacht werden sollen. Die popularisierte Darstellung unseres Regierungssystems hinkt dessen struktureller Entwicklung also hinterher.

Noch mehr werden das dann allerdings die alltäglichen Vorstellungen der Bürger von diesem Regie-rungssystem tun, weil sie ja nicht durch eigenes Erleben geprägt und verändert werden können, sondern auf die Vermittlungs-und Korrekturleistungen schulischer politischer Bildung und außerschulischer politischer Information angewiesen sind, im wesentlichen also auf Unterricht und Massenmedien. Bleibt beider Korrekturleistung zu gering, so wird im generationenübergreifenden Wissenstransfer „Meinung von gestern und vorgestern“ weitergegeben und in Tausenden von Alltagsgesprächen zu einer als sicher geltenden „sozialen Tatsache“ verfestigt.

III. Populäres Parlamentsverständnis in Deutschland

Daß genau dies der Fall ist, legen die Ergebnisse einer 1995 erstmals durchgeführten systematischen Repräsentativerhebung zum Parlamentsverständnis der Deutschen nahe Sie zeigen nämlich, daß die meisten Deutschen ganz andere Vorstellungen von den zentralen Merkmalen unseres Regierungssystems, von den Aufgaben des Parlaments und von der Rolle der Abgeordneten haben, als es der Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems und unserer Verfassungswirklichkeit entspricht. Dann zieht freilich gerade das ordnungsgemäße Funktionieren unseres Institutionensystems solche Kritik auf sich, die zwar allgemein akzeptiert wird, doch wenig fundiert ist und vor allem von Mißverständnissen lebt. Als deren Folge tragen die Bürger dann in Tausenden von Alltagsgesprächen zu jenen Legitimationsschwächen unseres politischen Systems bei, die Demoskopen in ihren Studien zu dessen Vertrauens-und Akzeptanzkrise seit langem messen Darüber hinaus belegt eine vom Verfasser im Frühjahr 1994 unternommene Befragung aller gut 2 800 deutschen Landes-, Bundes-und Europaparlamentarier daß auch eine beträchtliche Minderheit der Abgeordneten sich auf jenen irreführenden Gemeinplätzen der populären Parlamentarismuskritik bewegt und darum der Öffentlichkeit falsche Zeugen abgibt, wenn unserem Regierungssystem der Prozeß gemacht wird.

I. Was vermuten die Deutschen über den Bundestag?

Was wissen, was vermuten die Deutschen eigentlich von ihren Parlamenten, die sie oft so heftig kritisieren? Die Wahrheit ist: Sie wissen recht wenig, und „zum Ausgleich“ vermuten sie viel Falsches. Von sich aus, also ohne weitere Hinweise, können beispielsweise 58 Prozent der Bürger keinerlei Angaben dazu machen, wo denn -außer im Plenarsaal -die Arbeit des Bundestages überhaupt stattfinde. Auf so dünner Wissensgrundlage kommt es dann zu Fehleinschätzungen der parlamentarischen Arbeit. Für deren wichtigste Stätte halten die Deutschen nämlich -nach den Fraktionen und dem inzwischen so bekannten Vermittlungsausschuß -ausgerechnet das Plenum Koalitionsrunden hingegen, ohne Antwortvorgabe von niemandem ausdrücklich genannt, werden von ganzen 20 Prozent für „besonders wichtig“ gehalten. In derselben Größenordnung bewegt sich auch die Einschätzung der Wichtigkeit von Fraktionsvorständen, von Arbeitskreisen der Fraktionen und von Ausschüssen. In Wirklichkeit ist die Wichtigkeitsreihung von Plenum und parlamentarischen Arbeitsgremien aber genau andersherum -was die Bürger freilich nicht wissen. Folgenreiche Wissenslücken spiegeln sich auch in den Vermutungen über die Aufgaben des Bundestages. Am besten ist die Gesetzgebungsfunktion bekannt, was gut zur populären, doch unzulänglichen Redeweise vom Parlament als der „Legislative“ paßt. Hinsichtlich der so wichtigen Funktion der Regierungsbildung wußten zwar 74 Prozent um die Wahl des Bundeskanzlers als eine Aufgabe des Bundestages. Von ihnen hielten aber nur 39 Prozent auch persönlich dies für eine „besonders wichtige“ Aufgabe. Daß der Wahl des Kanzlers sowohl vorausgehend als auch ihr folgend der Bundestag für eine stabile Regierungsmehrheit zu sorgen hat, das erachteten ohnehin nur 30 Prozent der Bürger als eine Aufgabe des Parlaments. Daß in Deutschland die Regierung mit der Mehrheit des Parlaments eine Funktionseinheit bildet, ist den meisten Deutschen offenbar bis heute verborgen geblieben. Dann freilich wird sich auch kein rechtes Verständnis für die -zu diesem Zweck erforderliche -Fraktionsdisziplin einstellen.

2. Urteile zur Struktur des Regierungssystems

Bei allen zentralen Merkmalen unseres parlamentarischen Regierungssystems gibt es große Meinungsunterschiede zwischen den Abgeordneten und der Bevölkerung. Sie betreffen schon die Art des Regierungssystems. 61 Prozent der Bürger erkennen durchaus, daß Deutschland ein parlamentarisches Regierungssystem hat. Ein solches Regierungssystem wünschen aber nur 40 Prozent der Deutschen, während 33 Prozent ein präsidentielles Regierungssystem bevorzugen Brisant sind nun die Differenzen zwischen den Angaben einesteils zum erwünschten, andernteils zum als bestehend wahrgenommenen Regierungssystem. Denn für 15 Prozent der Deutschen wirkt das präsidentielle Regierungssystem wie ein nicht verwirklichtes „Idealsystem“ richtiger Gewaltenteilung, während 21 Prozent das etablierte parlamentarische Regierungssystem wie eine Abweichung von der eigentlich anzustrebenden gewaltenteilenden Norm auffassen. Dieses Regierungssystem, das überkommene Vorstellungen von der Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung zu differenzieren zwingt, ist also in Deutschland noch nicht zu einer politisch-kulturellen Selbstverständlichkeit geworden. Es wird zwar von einer relativen Mehrheit, absolut aber nur von einer Minderheit der Bevölkerung unterstützt.

Unter den Abgeordneten waren glücklicherweise nur sechs Prozent der irrigen Ansicht, in einem präsidentiellen Regierungssystem zu agieren. 84 Prozent sahen, daß ein parlamentarisches Regierungssystem besteht Die Parlamentarier wünschen dieses Regierungssystem auch stärker als die Bevölkerung: 70 Prozent sprachen sich dafür, nur 11 Prozent dagegen aus. Allerdings befürworteten zugleich 53 Prozent ein präsidentielles Regierungssystem. Die Abgeordneten mögen also zwar überzeugt hinter der repräsentativen Demokratie stehen, die sich ja auch im präsidentiellen Regierungssystem entfalten kann. Aber nur eine Minderheit unter ihnen befürwortet eindeutig das parlamentarische Regierungssystem. Immerhin identifizieren sich die Volksvertreter mit diesem System viel stärker, als es das Volk tut.

3. Urteile zur Verbindung von Parlamentsmandat und Regierungsamt

Grundsätzliche Beurteilungsunterschiede zwischen dem Volk und seinen Vertretern prägen auch die Haltung zum zentralen Konstruktionsmerkmal des parlamentarischen Regierungssystems: der Verbindung von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt. In der Praxis haben rund 90 Prozent der deutschen Minister auf Bundes-oder Landesebene ein Abgeordnetenmandat inne und geben es auch nicht auf. Für richtig halten das aber nur 52 Prozent der Abgeordneten, während 36 Prozent gegen eine solche Verbindung von Mandat und Regierungsamt sind. Auch wünschen 23 Prozent gleichzeitig -und funktionslogisch widersinnig -das parlamentarische Regierungssystem und die Inkompatibilität von Mandat und Regierungsamt. Sie wollen offenbar das bestehende Regierungssystem mit dem -im Rahmen überkommener Denkweisen „eigentlich richtigen“ -Gegenüber von Parlament und Regierung verbinden. Noch viel stärker sind die entsprechenden Vorbehalte in der Bevölkerung. 57 Prozent der Deutschen lehnen die Verbindung von Parlamentsmandat und Regierungsamt rundweg ab; nur 16 Prozent befürworten sie. Gegen jene Kompatibilität ist eher, wer ein präsidentielles Regierungssystem bevorzugt bzw. in Deutschland bestehen sieht. Ganz offensichtlich funktioniert unser Regierungssystem in seinem Kernbereich also anders, als es eine Mehrheit der Bevölkerung und eine beträchtliche Minderheit der Abgeordneten wünscht.

4. Urteile zur Verbindung von Parlamentsmandat und Parteiamt

In ähnlicher Weise widerspricht die Praxis der Verbindung von parlamentarischem Mandat und Parteiamt dem, was die Mehrheit der Deutschen für richtig hält. Auf der Faktenebene ist festzustellen: Deutschlands Parlamentarier sind Parteiführer. Fast 90 Prozent der Abgeordneten üben Vorsitzenden-und Vorstandsfunktionen auf den unterschiedlichen Organisationshöhen ihrer Parteien aus nur gut 13 Prozent haben keine Parteiführungsfunktionen, und insgesamt bloß 2 Prozent der Abgeordneten überhaupt keine Parteifunktion. Diese bestehende Praxis, daß nämlich Abgeordnete Parteifunktionen übernehmen, halten aber nur 52 Prozent der Abgeordneten auch für richtig, 22 Prozent aber für falsch. Die produktive Antwort auf das Aufkommen starker Parteien, zu dem es ja erst nach der Etablierung von Parlamentarismus und parlamentarischer Demokratie kam, besteht zwar eben in der Verbindung von innerparlamentarischer und innerparteilicher Verantwortung sowie in der Verschränkung von innerparlamentarischer und innerparteilicher Willensbildung. Doch das sieht eine nennenswerte Minderheit von deutschen Parlamentariern bis heute nicht so.

Bei den Bürgern ist die Ablehnung einer innerparteilichen Führungsrolle von Abgeordneten erst recht populär. Es lehnen nämlich 50 Prozent der Deutschen eine Verbindung von Parteiamt und Parlamentsmandat glatt ab; nur 29 Prozent befürworten sie. Wüßten die Bürger besser um die tatsächliche Praxis Bescheid, so machten sie den Abgeordneten bestimmt weitere Vorwürfe. Es vermuten nämlich nur 22 Prozent, die Parlamentarier hätten in ihren Parteien Führungsfunktionen inne und übten innerparteilich Einfluß aus, während 42 Prozent vom Gegenteil überzeugt sind. Natürlich läßt sich auch das Zustandekommen von Fraktionsdisziplin nicht richtig verstehen, wenn man sich die Abgeordneten eher als knetbares Wachs in den Händen des Fraktionsvorstands vorstellt denn als Mannschaft etablierter und selbstbewußter regionaler Parteiführer.

5. Urteile zum Plenarverhalten der Abgeordneten und zur Fraktionsdisziplin

Wo ein parlamentarisches Regierungssystem besteht, dort stimmen -aufgrund der mannschaftsbildenden Funktionslogik dieses Systemtyps -im Parlamentsplenum die Fraktionen meist geschlossen ab Die zu solcher Geschlossenheit führende Willensbildung und Entscheidungsfindung wird im Rahmen der Fraktionen und ihrer Arbeitskreise sowie in den Parlamentsausschüssen geleistet. Darum finden im Plenum überwiegend solche Debatten statt, in denen zwar die entscheidungstragenden Gründe öffentlich vorgetragen und notifiziert werden, sich aber keinerlei ergebnisoffene Beratung ereignet. Diese wurde ja schon im Vorfeld der Plenarsitzungen durchgeführt und mit einer klaren Positionierung der eigenen Fraktion abgeschlossen.

Diese stimmige Funktionsweise der Parlaments-praxis wird von einer Mehrheit der Bürger aber nicht verstanden und nicht akzeptiert. 51 Prozent der Deutschen halten die beschriebene -und überwiegend praktizierte -Form der Plenardebatte nämlich für falsch. Nur 29 Prozent verstehen und akzeptieren sie. Das heißt: Wo das Parlament seine Öffentlichkeitsfunktion am sichtbarsten erfüllt, nämlich in seinen Plenardebatten, dort ruft es bei den meisten Bürgern Widerspruch und Kritik hervor.

Ein derart tiefliegendes Mißverständnis der Plenardebatte wird nun aber ebensowenig folgenlos für die Einschätzung von Parlament und Parlamentariern bleiben wie die Tatsache, daß 54 Prozent der Deutschen auch das -für ein parlamentarisches Regierungssystem notwendige -einheitliche Abstimmen der Fraktionen für falsch halten. Nur ganze 30 Prozent billigen solche Fraktionsgeschlossenheit. Dabei sind vor allem jene Bürger gegen die bei Abstimmungen praktizierte Fraktionsdisziplin, die einesteils nicht darum wissen, daß die Abgeordneten auf die politischen Positionen ihrer Parteien Einfluß nehmen und die andernteils unter den Parlamentsaufgaben ausgerechnet jene für wenig wichtig halten, die für das parlamentarische Regierungssystem zentral ist: nämlich die Sicherung einer stabilen Regierungsmehrheit.

Wieder tritt also das gleiche Muster zutage: Gegen die tatsächliche Funktionsweise unseres parlamentarischen Regierungssystems sind vor allem die Bürger, welche seine Funktionsweise nicht durchschauen und das Zusammenwirken seiner Funktionselemente nicht verstehen. Als Surrogat für Einsicht dienen dann Fiktionen: 38 Prozent der Deutschen meinen etwa, die Fraktionsvorstände würden häufig „den Fraktionszwang beschließen“, was bedeute, „daß alle Abgeordneten der Partei bzw. Fraktion gemeinsam abstimmen müssen“. Zwei Drittel der Deutschen meinen sogar, das geschehe immerhin manchmal. Nun gibt es in Wirklichkeit aber überhaupt keinen „Fraktionszwang“ Was es gibt, das ist Fraktionsdisziplin, die zu wahren zwar mitunter erheblicher Führungsanstrengungen bedarf, die aber niemals gegen den Willen der Abgeordneten erzwungen werden kann. Doch die reine Fiktion des „Fraktionszwangs“ wird von den Deutschen für eine häufigere Ursache von Fraktionsgeschlossenheit gehalten als vielerlei andere -und realistische -Ursachen geschlossenen Abstimmungsverhaltens. So wird eine Fiktion zum real folgenreichen, den Parlamentarismus ein Stück weit entlegitimierenden Ärgernis.

IV. Ein „latenter Verfassungskonflikt“

Aufgrund solcher Tatsachen führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Gerade wenn unser parlamentarisches Regierungssystem so funktioniert, wie es seiner Funktionslogik entspricht und wie'es auch funktionieren sollte, zieht es die Kritik der Bürger auf sich und auf die Abgeordneten als seine zentralen Akteure. Seitens der Bevölkerung verschmelzen dabei -auf recht dünner Kenntnis-grundlage -manche richtigen Einzelbeobachtungen zu einem falschen Gesamtbild. Was an diesem Bild unverständlich bleibt, wird als zu beseitigender Mißstand aufgefaßt oder durch das Wirken unzulässiger Zwangsmaßnahmen erklärt. Beides speist dann Politik-und Systemverdrossenheit Genau das ist gemeint mit der Rede vom „latenten Verfassungskonflikt“. Er ist ein Konflikt zwischen der Verfassungsstruktur und ihrem populären Verständnis, zwischen dem Selbstverständnis und Handeln von Parlamentariern auf der einen Seite, den Verhaltenserwartungen der Bürger auf der anderen Seite. Dieser Konflikt ist latent, weil er zwar fallweise immer wieder aufbricht und folgenreich ist, doch als grundsätzliches -Problem unserer politischen Kultur und als wichtiger Gegenstand politischer Bildungsarbeit bislang ignoriert wird.

Dieser latente „Verfassungskonflikt“ ist vor allem deshalb ernst zu nehmen, weil nicht das kritisierte Verhalten der Abgeordneten und die Funktionsweise des Parlaments dem eingerichteten Regierungssystem widerspricht, sondern -wie schon von Ernst Fraenkel diagnostiziert -eben das System den Vorstellungen der Bürger. Gerade sein ordnungsgemäßes Funktionieren entlegitimiert dann das Regierungssystem, macht das Parlament angreifbar, bringt Politiker in Mißkredit und trägt bei zur Politik-und Parteienverdrossenheit.

Ferner leidet zunächst die politische Partizipation, sodann die Rekrutierung politischer Eliten darunter, wenn der Vertrauensverlust parlamentarischer Demokratie und die populäre Verachtung von Parteien und Abgeordneten allzuweit vorangeschritten sind. Wer will nämlich schon, falls sich ihm andere Karrieren öffnen, zur mißachteten politischen Klasse gehören -um von finanziellen Konkurrenzmängeln des politischen Gewerbes etwa für Wirtschaftseliten ganz zu schweigen.

Vor allem aber gewinnen, wenn man jenem „latenten Verfassungskonflikt“ seine Eigendynamik läßt, bei den Bürgern funktionswidrige, teils auch systemsprengende Reformvorstellungen große Attraktivität und Schubkraft. Leider gelten gerade sie oft als besonders wirksame Heilmittel gegen die Ursachen von Politik-und Systemverdrossenheit. Das wird klar, wenn man die populärsten dieser -aus Mißverständnissen entspringenden -Reformvorschläge zusammenstellt:

Das „leere Plenum“ erregt öffentlich Anstoß; also muß man die Abgeordneten zum Absitzen der Plenarzeit anhalten! Debatten ohne vorausgehende fraktionsinterne Konsensbildung (wie etwa zum Bonn/Berlin-Umzug, zum Paragraphen 218 oder zum Hirntod-Kriterium) gelten dem Volk als „Sternstunden des Parlamentarismus“. Warum dann nicht zur Regel machen, daß man mit noch unabgeschlossenen Diskussionsprozessen ins Plenum geht und dort -„spannender Debatten“ wegen -aufs Geratewohl entscheidet?

Weil das Publikum am Plenum vor allem die überraschenden Mehrheitsentscheidungen schätzt: Warum dann überhaupt um innerfraktionell Mehrheitsfähiges ringen, warum den Verdacht auf „Fraktionszwang“ nähren und parlamentarische Berechenbarkeit stiften -statt die Fraktionen immer wieder in konkurrierende Gruppen zerfallen zu lassen, in denen sich dann ein „wahrhaft freies“ Mandat der Abgeordneten entfalten kann?

Und nachdem das Volk ja offenbar keine Parteiführer im Parlament und keine Parlamentarier an der Regierung will: Warum nicht gesetzliche Inkompatibilitätsregeln erlassen? Falls sich hinter ihnen dann doch wieder das „wirkungsmächtige Geheimnis“ der parlamentarischen Regierungsweise durchsetzt, nämlich eine enge Bindung zwischen Mehrheitsfraktionen und Regierungsmitgliedern -müßte man dann nicht erst recht dem Volk seinen Wunsch erfüllen und das Regierungssystem zum präsidentiellen umgestalten: mit Direktwahl von Bundes-und Ministerpräsidenten, mit größeren persönlichen Kompetenzen solcher Staats-und Regierungschefs, mit Kabinetten von Fachleuten anstelle von Politikern?

Und hätte man am Ende einer solchen Reform nicht sogar besonders gute Gründe dafür, nun auch noch auf Bundesebene den Wunsch nach einem leicht zu nutzenden Sortiment plebiszitärer Instrumente zu erfüllen, um nämlich Präsident, Regierung und Parlament weiterhin demokratisch im Zaum zu halten -nachdem man, mit bester Absicht, die vom parlamentarischen Regierungssystem so effizient angelegten Fesseln eines responsible party government beseitigt hat?

V. Der „latente Verfassungskonflikt“ und die Aufgaben politischer Bildung

Was in einer solchen Lage zu tun ist, bemißt sich vor allem danach, wem man bei diesem „latenten Verfassungskonflikt“ recht gibt. Ist es richtig, der Mehrheit der Bevölkerung vorzuhalten, daß sie von der wirklichen Funktionsweise unseres Regierungssystems falsche Vorstellungen besitzt und unbegründete Vorwürfe erhebt? Oder muß man nicht viel eher den Schluß ziehen, daß dem bestehenden Regierungssystem die Vertrauensbasis und Verständnisgrundlage im Volk fehlt, so daß eine zur politischen Integrationsstiftung nicht fähige Verfassungsstruktur die zentrale Schwachstelle unserer Demokratie ist und es darum angebracht wäre, das Regierungssystem zu ändern? Die Antwort auf diese Fragen hängt einerseits davon ab, wie man den Strukturtyp des parlamentarischen Regierungssystems überhaupt einschätzt. Hält man ihn für eine Fehlentwicklung, die vom „eigentlich richtigen“ Typ des präsidentiellen Regierungssystems weggeführt hat, so wird man für eine Systemveränderung zu argumentieren haben. Gilt das parlamentarische Regierungssystem hingegen als -über das präsidentielle Regierungssystem hinausgehende -Fortsetzung des Aufstiegs der Parlamentsmacht bis hin zum unmittelbaren Zugriff auf die Regierungsämter, so wird man für das parlamentarische Regierungssystem als den neueren und -aus Sicht des Parlaments -fortschrittlichen Verfassungstyp plädieren müssen. Andererseits hängt die Antwort davon ab, wie man die Einsichts-und Lernfähigkeit der Bürger einschätzt. Wer meint, das Urteil der Bevölkerung liege fest und lasse sich nicht ändern, der muß im Interesse der Legitimitätssicherung für Reformen eintreten, die unser Regierungssystem und die Rolle der Abgeordneten besser an die Erwartungen und Wünsche der Bürger anpassen. Wer hingegen an die mittelfristige Wirksamkeit politischer Aufklärung und Bildung glaubt und die Lage dahingehend beurteilt, das politische Alltagsdenken hinke der Entwicklung unserer Institutionen eben hinterher, der sollte dafür plädieren, lieber den politischen Bildungsstand des Volkes zu verbessern als strukturkonservativem Denken durch die Abschaffung moderner Institutionen nachzugeben.

Meine Meinung ist: Wir sollten wohl auf den moderneren Strukturtyp des parlamentarischen Regierungssystems setzen und der langfristigen Einsichtsfähigkeit der Bürger vertrauen. Bei solchen Prämissen hat man, um die gestörten Beziehungen zwischen dem Volk und seinen Vertretern zu verbessern, zunächst jenen „latenten Verfassungskonflikt“ ins Bewußtsein zu rufen und ihn sodann durch offensive Information und Argumentation auszutragen. Also wären größere Anstrengungen politischer Bildungsarbeit gefordert, um -durchaus in provozierender Absetzung von populären Denkweisen -über die Wirklichkeit des Parlamentarismus, über die tatsächliche Amtsführung der Abgeordneten sowie über die Funktionslogik unseres Regierungssystems bessere und zutreffendere Kenntnisse zu vermitteln, als sie derzeit bei den Bürgern verfügbar sind. Im übrigen ist es eine zentrale, jedoch noch unbefriedigend bewältigte Aufgabe politischer Bildung, den politisch so folgenreichen populären Umgang mit den massenmedialen Informations-und Interpretationsangeboten zu verbessern.

Erstens fehlt es an Wissen über Ausmaß und Art des faktischen Einflusses von Massenmedien auf die Ausprägung der öffentlichen Meinung. Wenn aber -wie David Hume einst formulierte -repräsentative Demokratie allein auf öffentlicher Meinung beruht, dann ist es grundsätzlich inakzeptabel, die Massenmedien als die zentralen Prägefaktoren öffentlicher Meinung außerhalb der Reichweite empirisch begründeter Reflexion und Kritik zu lassen.

Zweitens gibt es zu wenig verbreitetes Wissen über die jeweils besonderen Produktmerkmale von Medienwirklichkeit, so daß gar nicht wenige in der Praxis ihres Medienkonsums zwischen aufgesetztem Agnostizismus und selbstgewissem Laissez-faire hin-und herschwanken. Der Desinformationskraft von Massenmedien wehrt beides nicht.

Drittens mangelt es an breit gestreuter Kompetenz zur kritischen Entzifferung des massenmedial Vermittelten. Daher können Massenmedien über bloße Anpolitisierung zur Anti-Politisierung und somit zur Untergrabung der Legitimität freiheitlicher Verfassungsordnung führen.

In allen drei Bereichen einer „politischen Medien-pädagogik“ kann schlechterdings niemand anderes eine erfolgversprechende Initiative zur Besserung des bestehenden Zustands ergreifen als die ausdrücklich zum Zweck der politischen Bildung ins Leben gerufenen Institutionen. Doch erst wenn professionelle politische Bildungsarbeit und Massenmedien Zusammenwirken, wird sich unser „latenter Verfassungskonflikt“ beheben lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wolfgang Thierse, Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31/93, S. 19.

  2. Vgl. die einschlägigen Daten zum Institutionenvertrauen in: Oscar W. Gabriel/Frank Brettschneider (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, Opladen 19942.

  3. Vgl. Gert Pickel/Dieter Walz, Politikverdrossenheit in Ost-und Westdeutschland: Dimensionen und Ausprägungen, in: Politische Vierteljahresschrift, 38 (1997), S. 27-49, hier S. 47 f.

  4. Vgl. Peter Lösche, Parteienverdrossenheit ohne Ende? Polemik gegen das Lamentieren deutscher Politiker, Journalisten. Politikwissenschaftler und Staatsrechtler, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 26 (1995), S. 149-159, hier S. 154 f.

  5. Die weiteren Realien der Politik-, Politiker-und Parteienverdrossenheit seien nur abrundend genannt: die politischen Skandale und Skandalisierungen, welch letztere immer Geringfügigeres zum Anlaß von Entrüstung und moralischer Selbsterhöhung nehmen; die teils echt empfundenen, teils durch politisch-korrektes Beschwören nur im Gefühl gehaltenen Nachwehen des Zusammenbruchs der DDR und der Vereinigungskrise; die teils durch taktisches Ungeschick, teils absichtlich herbeigeführten Blockaden wichtiger politischer Entscheidungsprozesse in den Monaten vor der Bundestagswahl, die unser System handlungsunfähiger erscheinen ließen, als es -außerhalb von Wahlkampfzeiten -wirklich ist. Bei allen diesen Ursachen von Politikverdrossenheit wäre politische Bildungsarbeit aufgerufen, nicht als akademisches Echo und popularisierender Verstärker des Volkszorns zu fungieren, sondern als kritisch-aufklärerische Instanz nicht nur die politischen Probleme selbst zu benennen, sondern gerade auch die Probleme der Problem-wahrnehmung, Problemdeutung und der populären Problemlösungsvorschläge bewußt zu machen.

  6. Vgl. Ernst Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung (orig. 1964), und ders., Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit (orig. 1966), in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart u. a. 19797, S. 48-68 bzw. S. 101-110.

  7. Ders., Strukturdefekte, ebd., S. 52.

  8. Ebd.

  9. Vgl. ebd., S. 54 f.

  10. Vgl. E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (Anm. 6), S. 16-31.

  11. Vgl. Heinrich Oberreuter, Funktion und Bedeutung politischer Institutionen, in: Manfred Hättich u. a„ Die politische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland in Politik-und Geschichtsbüchern, Melle 1985 (= Forschungsbericht 47, hrsg. im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung von Hans-Joachim Veen und Peter R. Weilemann), S. 185258.

  12. Sie wurde, gefördert von der DFG, 1995 im Auftrag des Verfassers vom Aliensbacher Institut für Demoskopie durchgeführt. Ihre in diesem Zusammenhang einschlägigen Ergebnisse sind ausführlich dokumentiert, in: Werner J. Patzelt, Ein latenter Verfassungskonflikt? Die Deutschen und ihr parlamentarisches Regierungssystem, in: Politische Vierteljahres-schrift, 39 (1998), S. 725-757. und in: ders., Ist der Souverän unaufgeklärt? Die Ansichten der Deutschen über Parlament und Abgeordnete, Dresden 1996 (Universitätsdruck).

  13. Vgl. exemplarisch das umfangreiche Datenmaterial in: Oscar W. Gabriel. Politische Einstellungen und politisches Verhalten, in: ders. /Everhard Holtmann (Hrsg.), Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, München-Wien 1997, S. 381 -497, vor allem S. 412-434, sowie die Zeitreihe zum Ansehensverfall der deutschen Abgeordneten zwischen 1953 und 1996 in: Aliensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993-1997, Bd. 10, hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher, München u. a. 1997, S. 822.

  14. Zentrale Ergebnisse dieser Studie und Angaben zu Methode. Repräsentativität und Validität finden sich in: Werner J. Patzelt, Deutschlands Abgeordnete. Profil eines Berufs-standes, der weit besser ist als sein Ruf, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 27 (1996), S. 462-502.

  15. 39 Prozent erachten dieses als „besonders wichtig“.

  16. Von ihm meinen sogar 18 Prozent, es bestehe in Deutschland.

  17. Die übrigen meinten, eine Art „Mischmodell“ mit Regierung, Koalitionsfraktionen und Opposition als eigenständigen Machtfaktoren zu erkennen.

  18. Rund 60 Prozent auf Kreis-und Unterbezirksebene, über 20 Prozent auch in den Landesvorständen ihrer Parteien. Im übrigen sind gut 80 Prozent der Abgeordneten Delegierte für die -auf unterschiedlichen Organisationshöhen angesiedelten -Parteitage ihrer Parteien, und knapp ein Drittel wirkt führend in den Arbeitskreisen der Parteien mit.

  19. Ursache ist die mannschaftsformende Prägekraft dieses Systemtyps. Eine Zusammenstellung der einschlägigen Prägefaktoren findet sich in: Werner J. Patzelt, Wider das Gerede vom „Fraktionszwang“. Funktionslogische Zusammenhänge, populäre Vermutungen und die Sicht von Abgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 29 (1998), S. 323-347.

  20. Tatsächlich glauben nur 17 Prozent der Bürger, die Abgeordneten könnten die Positionen ihrer Parteien weitgehend mitbestimmen. 33 Prozent meinten „teils-teils“, und 40 Prozent waren gar der Ansicht, die Abgeordneten müßten meist Positionen vertreten, auf die sie selbst eher wenig Einfluß hätten. 10 Prozent wußten nichts zu sagen.

  21. Vgl. W. J. Patzelt (Anm. 19).

  22. Zu diesem Zusammenhang vgl. P. Lösche (Anm. 4), S. 152-156.

Weitere Inhalte

Werner J. Patzelt, M. A., Dr. phil. habil., geb. 1953; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in München, Straßburg und Ann Arbor; Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden; Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung; Mitglied der Redaktion der Zeitschrift für Parlamentsfragen. Veröffentlichungen u. a.: Sozialwissenschaftliche Forschungslogik. Einführung, München-Wien 1986; Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags, München 1987; Einführung in die Politikwissenschaft, 3. erg. Aufl., Passau 1997; Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit, Passau 1993; Aufgaben politischer Bildung in den neuen Bundesländern, Dresden 1994; Abgeordnete und ihr Beruf. Interviews, Umfragen, Analysen, Berlin 1995.