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Ein halbes Jahrhundert Nordatlantische Allianz | APuZ 11/1999 | bpb.de

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APuZ 11/1999 Artikel 1 Ein halbes Jahrhundert Nordatlantische Allianz Die NATO im Geflecht internationaler Organisationen Das neue Strategische Konzept der NATO. Entwicklung und Perspektiven Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten seit 1990

Ein halbes Jahrhundert Nordatlantische Allianz

Lothar Rühl

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das atlantische Bündnis hat sich in 50 Jahren als ein historischer Erfolg, als widerstandsfähig gegen äußeren Druck wie gegen innere Auflösungstendenzen und gegen jeden Versuch der politischen Neutralisierung erwiesen. Es hat dabei seinen Gründungsauftrag von 1949 erfüllt: Westeuropa gegen die sowjetrussische Bedrohung zu verteidigen und seine europäischen Mitglieder unter amerikanischer Führung in einem System gemeinsamer Sicherheit mit Nordamerika zu organisieren. Die Integration Westeuropas in der EWG, später EG und seither in der EU mit dem Ziel politischer Einheit konnte zwischen 1950 und 1990 nur unter dem Schirm der amerikanischen Macht und im Rahmen des Bündnisses gelingen: Der Mißerfolg der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ und der mit dieser verbundenen „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ 1954 in Paris verweist auf die Hindernisse. Die Vereinigung Deutschlands als souveräner Staat 1990 in der NATO war die Krönung des politischen Erfolgs der Allianz am Ende des „Kalten Krieges“. Sie bedeutete auch die Wiederherstellung von „Europa frei und ganz“, wie Präsident Bush dies der Bündnispolitik 1989 noch vor der großen Wende aufgegeben hatte. Die transatlantische Bindung in einer gleichberechtigten Partnerschaft war und bleibt das letzte Ziel der Allianz, die Verankerung der amerikanischen Macht auf dem europäischen Kontinent ist dafür zugleich die Voraussetzung und das Mittel. Dabei erwies sich die NATO als ein freies Bündnis: Sie war weder Hegemonialpakt noch US-Protektorat im Gegensatz zum sowjetrussisch kontrollierten „Warschauer Pakt“. Mit dieser politischen Qualität kann die Allianz der europäischen Sicherheit als Fundament dienen und als Instrument internationaler Sicherheit über die kollektive Verteidigung des Bündnisgebietes hinaus wirksam werden. Doch gelten nun neue Maßstäbe für dauerhaften Erfolg, vor allem ein Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen zwischen den USA und der EU in einer atlantischen Partnerschaft. Denn es gibt in der Geschichte kein Beispiel für den Bestand einer Allianz im Frieden ohne gemeinsame Bedrohung, wenn sie nicht auch auf gemeinsame ökonomische Interessen gegründet werden kann.

I.

Die NATO, so lautet die Brüsseler Devise, sei „das erfolgreichste Bündnis der Geschichte“. Auch wenn diese Sentenz den Zeitbogen sehr weit spannt, so kann doch das atlantische Bündnis schon nach fünfzigjährigem Bestehen zu den erfolgreichsten Allianzen der modernen Geschichte gezählt werden. In jedem Fall bleibt es weitaus erfolgreicher als das von der russischen Sowjetmacht 1955 zur dauernden Kontrolle Osteuropas gegründete imperiale Gegenbündnis „Warschauer Pakt“, das keine 50 Jahre hielt. Die von den drei mitteleuropäischen Verbündeten der UdSSR: Ungarn, Polen und Tschechoslowakei 1990 nach ihren friedlichen Revolutionen erzwungene Auflösung dieses politisch-militärischen Hegemonialpakts zog nicht, wie es Moskau gefordert hatte, die Auflösung des Nordatlantikpakts nach sich. Die Selbstbehauptung der westlichen Allianz, die zwar auch im Westen auf dem Höhepunkt ihres langjährigen Erfolgs politisch nicht unangefochten blieb, begründet ihren epochalen Rang wie ihre einzigartige Stellung als das „euroatlantische Bündnis“: Anker der Sicherheit in Europa zu sein.

Ihre politische Qualität lag von Anfang an in der Freiwilligkeit ihres Zusammenschlusses, in der Unabhängigkeit aller ihrer Mitglieder auch von der Schutz-und Führungsmacht Amerika sowie in der Freiheit als dem Grundwert dieses Bundes freier Länder, deren nationale Souveränität nie in Frage stand. Gerade darin unterschied sie sich stets vom Zwangsbündnis der unfreien, von ihrer sowjetrussischen Vormacht nicht unabhängigen, sondern dieser direkt unterworfenen Staaten im Osten Europas. In diesem Vergleich wurde der unbezweifelbar höhere Wert des atlantischen Bündnisses für seine Mitglieder und für Europa offenkundig: Es mußte nur nach außen schützen, es mußte nicht nach innen binden, um sich selbst zu erhalten. Der innere Zusammenhalt mußte nicht erzwungen werden. Hier lag und liegt die Stärke dieser Allianz -sie ist an neue Lagen anpassungsfähig und kann ihre Strukturen verändern wie jeder reaktionsfähige Organismus. Im Gegensatz zum Warschauer Pakt war das atlantische Bündnis nie erstarrt, noch destruktiven Spannungen an seinem politischen Fundament ausgesetzt. Selbst die gaullistische Dissidenz, die Frankreich aus dem militärischen Bündniszusammenhang herauslöste, ohne diesen allerdings abzutrennen, erschütterte das Bündnis nicht. Die militärische Zusammenarbeit mit Frankreich in dessen Sonderstellung außerhalb der gemeinsamen Militärstruktur blieb für das Nötigste erhalten. De Gaulle und die Nachfolger im Elysee-Palais hoben Frankreichs Bereitschaft hervor, im Krieg und in einer akuten Krise die Verbündeten militärisch zu unterstützen, pochten aber auf eine „souveräne nationale“ Entscheidung über den Bündnisfall. Zu dieser Bedingung trat später auch Spanien der NATO außerhalb der alliierten Militärstruktur bei. um sich danach schrittweise in diese einzufügen.

Auch der griechisch-türkische Gegensatz riß die Südostflanke der NATO nicht auf, obwohl die militärische Funktionsfähigkeit hier über lange Jahre eingeschränkt war und die gemeinsame Sicherheit nur durch die Militärpräsenz der USA mit der alliierten Befehlsgewalt in Südeuropa, der 6. US-Flotte und den NATO-Stützpunkten aufrechterhalten werden konnte. Doch noch in dieser schwierigen Situation blieb dank der amerikanischen Moderation des politischen Konfliktes zwischen den beiden Verbündeten und der gemeinsamen Solidarität mit den NATO-Partnern, auch außerhalb der Integrationsstruktur (bis zur Rückkehr Griechenlands in diesen Rahmen), das Risiko begrenzt: Die Allianz wirkte in diesem Fall sogar als kollektives Sicherheitssystem zwischen ihren Mitgliedern -eine Funktion, die in Artikel 1 des Washingtoner Bündnisvertrags von 1949 nach dem Vorbild des panamerikanischen Rio-Pakts und der UNO-Satzung angelegt ist.

Diese mäßigende, friedenserhaltende, Risiken begrenzende Wirkung des Nordatlantikpakts nach innen wie nach außen dauert an -sie ist sogar eine seiner Hauptattraktionen für andere Staaten, die zur NATO streben, um dort Schutz und Halt zu finden. Gerade in diesen Eigenschaften liegt der Sinn der „Öffnung“ der Allianz nach Osten als internationaler Ordnungsfaktor wie auch alsInstrument internationaler Sicherheit über die kollektive Verteidigung des Bündnisgebietes hinaus. Dieser Ansatz für den Dienst der Allianz an der internationalen Sicherheit hat es seit 1994 auch erlaubt, als Auftragnehmer der für kollektive Sicherheit verantwortlichen UNO militärisch in Bosnien-Herzegowina oder im Kosowo tätig zu werden, wie UNO-Generalsekretär Annan Ende Januar 1999 erklärte.

Die Verhandlungen über die politischen Bedingungen für solche militärischen Dienste zwischen den damaligen Generalsekretären der NATO (Wörner) und der UNO (Boutros-Ghali) sind für die Anwendung bewaffneter Bündnisgewalt nach außen zur „Friedensunterstützung“ (peace Support) einschließlich „Friedenserzwingung“ (peace enforcement) und „Friedensfestigung (peace consolidation) im Sinne der UNO-„Agenda für den Frieden“ weit über die bloße „Friedenserhaltung“ hinaus (peace keeping im Einvernehmen mit Konfliktparteien in einem Lande, aber ohne militärisches Eingreifen) von eben so großer Bedeutung für die kollektive Sicherheit wie für die NATO selbst. Damit wurde 1994/95 auch die frühere „out-of-area“ -Abstinenz aufgegeben und das, was der Nordatlantikrat schon seit 1981/82 auf amerikanisches Drängen hin als Leitlinie für militärische Aktionen außerhalb des Vertragsgebietes beschlossen hatte, verwirklicht.

Dabei ist es jedem NATO-Partner weiterhin überlassen, ob er an solchen Aktionen außerhalb der Bündnisverteidigung mitwirken will und mit welchen Mitteln -eine Konzession an die nationalen Interessen und Souveränitätsrechte, die dem Bündnisprinzip entspricht, denn auch zur gemeinsamen Verteidigung und zur Bündnishilfe mit Streitkräften kann kein Verbündeter gezwungen werden. Insofern war auch die Kritik de Gaulles am angeblichen „Allianz-Automatismus“, mit dem ein NATO-Partner in einen Konflikt gegen seine Interessen und wider Willen hineingezogen werden könnte, unbegründet. Zwar dauert der Streit mit Paris auch drei Jahrzehnte danach trotz der ersten Schritte Frankreichs unter Präsident Chirac 1995/96 zur Wiederannäherung an den Militärverband noch immer -wenngleich abgeschwächt -an. Doch ist er, mit den Einschränkungen, die sich aus der Kontroverse über die Verteilung der regionalen Oberkommandos in Europa für die Teilnahme Frankreichs an der Militärorganisation ergeben, politisch überwunden. Die NATO ist seit 1992 in Südeuropa an der kritischen Südostflanke trotz des fortdauernden griechisch-türkischen Gegensatzes und der Abseitsstellung Frankreichs insgesamt fester gefügt und militärisch sicherer denn je seit den sechziger Jahren.

Diese Rekonsolidierung ist um so wertvoller, als angesichts des Balkankriegs in Bosnien und im Kosovo mit seinen Eskalationsrisiken, der Destabilisierung des Kaukasusgebietes seit dem Ende der achtziger Jahre mit dem zeitweiligen Brennpunkt 1994-1996 in Tschetschenien und der fortdauernden Konfliktlage im Nahen und Mittleren Osten von Libanon und Palästina bis zur Golfregion insgesamt die potentiellen Bedrohungen der Sicherheit des europäischen Bündnisgebietes zugenommen haben. Der Nordatlantikrat bezog diese Gefahren schon Ende 1991 in sein „Neues Strategisches Konzept der Allianz“ ein, das für die Rats-tagung im April 1999 überarbeitet und in kritischen Punkten ergänzt wurde.

Zumal die Verbindung der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und moderner Flugkörpertechnologie, die seit dem Ende der UdSSR vor allem im Mittleren Osten und in Asien stattfindet und neue Unsicherheiten auch für Europa schafft, stellt die NATO-Partner vor neue Herausforderungen und Aufgaben: -Errichtung einer regionalen Flugkörperabwehr hoher Widerstandskraft gegen Durchdringung mit genauer Flugzielbekämpfung; -Beschaffung wirksamer, auch durch Satelliten gestützter strategischer Fernaufklärungsmittel; -Bereitstellung weiträumig einsetzbarer konventioneller Eingreifkräfte zur Krisenbeherrschung, aber auch zur „Gegenproliferation“ (counter proliferation) gegen Weiterverbreitung nuklearer und chemischer Waffen; -Bereitstellung für den Lufttransport von Truppenverbänden über längere Strecken geeigneter Großraumflugzeuge; -Einrichtung moderner, NATO-standardisierter Führungs-und Fernmeldesysteme mit Datensicherheit; -Datenaufklärungsmittel sowie eigene NATO-Informationssysteme, die mit denen der USA technisch kompatibel sind.

Diese Forderungen haben die USA auch schon erhoben, und jede Administration in Washington wird sie, unterstützt vom Kongreß, gegenüber den europäischen Verbündeten konsequent verfolgen.

II.

In diesem Bereich wie in dem der internationalen Friedenssicherung außerhalb Europas werden die amerikanischen Forderungen Spannungen entstehen lassen, wenn Druck auf Europa für „Lastenteilung“ und einen größeren europäischen Beitrag in außereuropäischen Krisen und Konflikten ausgeübt wird. Dies war der Sinn der „common vital interests“ als eines der politischen Schlüsselbegriffe im Strategischen Konzept 1999 für die Allianz, der „gemeinsamen vitalen Interessen“ in der Welt, die gemeinsam verteidigt werden sollen.

Das amerikanische Streben nach solchem Lasten-ausgleich ist fast so alt wie die Allianz. Es begann, die europäischen NATO-Partner mit der Wieder-bewaffnung Westdeutschlands zu drängen und dauerte nach dieser Zäsur in der Nachkriegslage Europas an: Alle Präsidenten und alle Kongreßmehrheiten seither ermahnten die Europäer, mehr für ihre eigene Sicherheit zu leisten. In dieser Periode -beginnend mit der Verstärkung der US-Truppen in Deutschland nach der Berlinkrise von 1961 und mit der zunehmenden nuklearen Bewaffnung der NATO in Europa ab 1962 -wurden die neuen militärischen Fakten geschaffen, die erst die Verteidigung des Bündnisgebietes möglich machten: Die Linie der Anfangsverteidigung in Deutschland wurde danach vom Rhein an Weser und Werra vorverlegt -erst zu dieser Zeit konnte die „forward defence“ oder „Vorwärtsverteidigung“ (in Bonn für den deutschen Sprachgebrauch vorsichtshalber in die harmloser klingende „Vorneverteidigung" übersetzt, was auch bedeutete, daß man nach rückwärts verteidigen würde) nahe der innerdeutschen Grenze angelegt werden. Ohne die deutschen Streitkräfte wäre dies unmöglich geblieben. Aber auch mit ihnen und den weiter verstärkten amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik, die in den sechziger Jahren zum Hauptgarnisonland der USA in Europa wurde, hätte die bloße Verteidigung ohne Kernwaffen dem Offensivdruck der Sowjetarmee nicht lange standhalten können. So stand und fiel der Bündnisschutz für die Bundesrepublik mit der dauerhaften Wirkung der nuklearen Abschreckung, anders gesagt: mit der Glaubwürdigkeit des strategischen Engagements der USA für Europa, dessen Unter-pfand oder „Geiseln“ (Henry Kissinger) die amerikanischen Soldaten in Deutschland waren.

Von dieser Situation aber profitierte ganz Westeuropa bis 1989/90. Gerade deshalb war es für Frankreich, Belgien, die Niederlande und Dänemark -außerhalb des Bündnisses auch für die Schweiz und Österreich -lebenswichtig, daß die Abschreckung der amerikanischen Kernwaffen auf Moskau stets ausreichen würde. Die Probe aufs Exempel mußte nie gemacht werden, denn die Abschreckung erwies sich als wirksam, während die Sowjetmacht in der passiven Konfrontation zerbrach.

Dieser Erfolg der NATO im Frieden wurde von der Vereinigung Deutschlands in Souveränität, äußerer und innerer Freiheit als Mitglied der Atlantischen Allianz gekrönt: In der Tat war dies der zweite Entscheidungssieg in Europa seit 1945 und von ebenso großer strategisch-politischer Bedeutung wie der am Ende des Zweiten Weltkriegs, weil er Europa, wie Präsident Bush es 1989 noch vor der großen Wende mit seiner Parole „Europe whole and free“ als Ziel gewiesen hatte, als Ganzes wiederherstellte und den Bruch von 1944/45 heilte. Für Deutschland wie für Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei, für die baltischen Staaten wie für die übrigen westlichen Randländer Rußlands brachte dieser politische Sieg im Frieden eine Befreiung von der Last der Konfrontation und vom Schatten der sowjetrussischen Vormacht.

Zumal der westliche Teil Deutschlands unter dem Schutz der Allianz war für die USA stets mehr gewesen als ein militärisches Vorfeld gegenüber der Sowjetunion. Amerika hatte nach 1945 seinen Schutz vor allem gewährt und sich in Europa engagiert, um die freiheitliche Ordnung zu erhalten, in Deutschland eine Demokratie nach dem westlichen Modell aufzubauen und es aus der Niederlage mit seinem staatlichen und moralischen Zusammenbruch zum akzeptierten Partner aller freien Länder zu erheben. Daß 1990 dieses Ziel mit dem Anschluß des Sowjetmodells DDR an das amerikanische Modell Bundesrepublik erreicht wurde, war der Sieg im ideellen und sozialen Systemkonflikt -nicht nur im machtpolitischen Konflikt um die Kontrolle Europas. Auch darin zeigte sich, daß die NATO weder ein „amerikanisches Protektorat über Europa“ (Pompidou 1969) noch das Machtinstrument einer der „beiden Hegemonien“ (de Gaulle) war. Deshalb können NATO und Warschauer Pakt auch nicht auf dieselbe Stufe gestellt werden -sie waren einander nicht ähnlich und noch weniger wesensverwandt.

Deshalb hatte moralische Neutralität zwischen ihnen in „Äquidistanz“, in gleichem politischen Abstand, zur Rechtfertigung von Neutralismus und Pazifismus in Wahrheit keinen Platz. Der Erfolg der Allianz und der amerikanischen Europapolitik war 1990 deshalb so vollkommen, weilalle Ziele erreicht wurden, einschließlich des lange Zeit für unerreichbar gehaltenen der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands in einem offenen und freien Europa. Hier liegt die epochale, über die bisherigen 50 Jahre hinweg historische wie exemplarische Bedeutung dieses Erfolgs des atlantischen Bündnisses -einer Allianz, die als Friedensbündnis singulär in ihren Erfolgen ist.

III.

In diesem Zusammenhang sollte an einige historische Beispiele erinnert werden, zumal die NATO nach dem Ende der Konfrontation unter neuen Bedingungen existieren muß und damit nun auch andere Kriterien des Erfolgs über eine längere Zeit gelten, wie die europäische Geschichte zeigt. Ein Beispiel bietet die große Allianz zwischen Rußland und Österreich, die von der „Heiligen Liga“ am Ende des 17. Jahrhunderts gegen die Türkenmacht über das 18. Jahrhundert gegen wechselnde Gegner währte und erst im Jahre 1855 während des Krimkrieges der Westmächte gegen Rußland bei österreichischer Neutralität ihr politisches Ende fand -150 Jahre Bündnis in Krieg und Frieden in sich ändernden Konstellationen bei mehreren Koalitionswechseln zwischen den europäischen Mächten, die sich auch im Vergleich mit der festeren Atlantischen Allianz sehen lassen können. Dies gilt auch für das spätere Bündnis zwischen Rußland und Preußen (ab 1871 mit Deutschland) von der 1. Polnischen Teilung 1772 (nur kurz unterbrochen 1812) bis zum Berliner Kongreß 1878 und einer unharmonischen Fortsetzung im Dreibund mit Österreich bis zur franko-russischen Allianz 1892/93. Allerdings lehrt der zweite Fall, daß mit der Einigung Deutschlands nach den Kriegen gegen Österreich und Frankreich für Rußland die europäischen Voraussetzungen für die Kontinuität dieser historischen Allianz fundamental verändert waren.

In beiden Beispielfällen schwangen politische Spannungen zwischen den Alliierten mit, die ihre Verständigung immer wieder störten und das Bündnis zeitweilig lähmten. Aber für die losen Bündnisbeziehungen und die Praxis wechselnder Ad-hoc-Koalitionen unter der Wirkung einer allseitigen Politik des Mächtegleichgewichts, der „Balance of Power“, war vor allem die österreichisch-russische Allianz ein Exempel raumübergreifender und relativ dauerhafter Stabilität mit überwiegenden gemeinsamen Interessen. Auch den großen europäischen Koalitionen gegen das Frankreich Ludwigs XIV. und Napoleons I. läßt sich der kontinentweite Erfolg in den Siegen und Friedensschlüssen ihrer Zeit nicht bestreiten. Dies gilt nicht für den untauglichen Versuch der „Heiligen Allianz“ auf dem Wiener Kongreß von 1814/15 zur Verteidigung des vereinbarten Status quo und der Legitimität der absoluten Monarchien, die den Realitäten Europas nicht mehr angemessen war. Aber es gilt für die kurzen Kriegsbündnisse gegen Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ihren Zweck jeweils im gemeinsamen Sieg zunächst erfüllten, danach jedoch keine Fortsetzung im Frieden fanden und keine dauerhafte Nachkriegsordnung stiften konnten. Dennoch machten beide europäische Geschichte und veränderten insgesamt die politische Struktur Europas, die Grenzen, die Staaten-ordnung und die Machtverteilung, vor allem aber das Verhältnis zu Nordamerika.

Die nach dem gemeinsamen Sieg über NS-Deutschland zerfallene „Große Allianz“ (Churchill) der drei Mächte läßt sich allerdings in einer Hinsicht mit dem Erfolg der Atlantischen Allianz im „Kalten Krieg“ des Ost-West-Konflikts über die Sowjetunion 1990/91 vergleichen: In beiden Fällen endete die Konfrontation nicht nur in der Niederlage des Gegners, sondern in dessen Staats-untergang und mit der Auflösung von dessen Bündnissen.

Als politischer Sieg ohne Krieg durch Einigkeit und militärische Abwehrkraft mit abschreckender Wirkung ist der bisherige Erfolg der NATO eine epochale Leistung und insofern exemplarisch für feste Allianzen im Unterschied zu losen Koalitionen wie der im Golfkrieg unter amerikanischer Führung zur Verteidigung Saudi-Arabiens („Desert Shield“) und zur Befreiung Kuwaits („Desert Storm“) 1990/91 gegen den Irak. Die 1999 noch unbewältigten Probleme in der Golfregion verweisen auf die Grenzen des Nutzens von Ad-hoc-Koalitionen in der internationalen Politik und auch der Konfliktregelung durch begrenzten Krieg.

Ohne die europäische Infrastruktur und die Logistik der NATO, ohne NATO-Truppen aus Europa hätten die USA auch diesen Koalitionskrieg kurzer Dauer mit begrenzten militärischen Zielen nicht erfolgreich führen können. Die Solidarität der Alliierten bot ihnen den notwendigen politischen und materiellen Sukkurs, auch wenn sie auf deren militärische Mitwirkung nicht angewiesen waren. Aber die Atlantische Allianz stand im Hintergrund dieses Golfkriegs neben den USA inReservestellung mit direkter Unterstützung der militärischen Operationen gegen den Irak. Gleichgültig, ob man sie deshalb als „indirekte Kriegführende“ bezeichnen will, war sie am militärischen Erfolg beteiligt. Sie erwies sich als nützlich auch „out-of-area", außerhalb ihres Vertragsgebietes, für das die Bündnisverpflichtungen gelten. Sie wirkte im Gegensatz zur Sowjetunion in deren Endkrise vor dem Zusammenbruch des Jahres 1991 für den Mittleren Osten stabilisierend: Eine weitere Eskalation des Golfkonflikts war durch die Existenz der NATO mit dem Eckpfeiler Türkei sowie der Luft-und Seeherrschaft im Mittelmeer von vornherein in ihren möglichen Auswirkungen begrenzt.

Diese Wirkung zeitigt die NATO abermals -wenngleich nunmehr viel zu spät wegen des allzu langen Abwägens und Zögerns der Alliierten wie der UNO -bei der Beendigung des Krieges in Bosnien-Herzegowina durch einen von ihr erzwungenen und überwachten unbefristeten allgemeinen Waffenstillstand samt dem Pariser Frieden vom Dezember 1995 und dessen Umsetzung durch eine internationale Truppenpräsenz unter der Kontrolle der NATO. Mit dieser Operation in Bosnien unter amerikanischer Führung hat die NATO sich über die Grenzen ihrer kollektiven Bündnisverteidigung hinaus als Instrument der internationalen Sicherheit durch militärische und politische Aktion erwiesen. Sie hat damit einen Präzedenzfall des Völkerrechts wie ihres eigenen Bündnis-rechts, aber auch ein Beispiel europäischer Friedenswirkung der einzigen fortbestehenden Allianz geschaffen. Sie hat ihre zentrale Position in Europa aktiv genutzt und zugleich andere europäische Länder außerhalb des Bündnisses einschließlich Rußlands dabei beteiligt. Sie hat so den praktischen Wert ihrer Sicherheitspolitik mit den 1994 angebotenen „Friedenspartnerschaften“ an außenstehende europäische Länder bewiesen und für die europäische Sicherheit neue Perspektiven -konkretere, als es die OSZE bisher getan hat oder tun konnte -geöffnet.

Die nach 1990 im US-Kongreß formulierte Alternative an die NATO „out of area or out of business“ wurde als politische Herausforderung schließlich aufgenommen. Damit ist die „Neue NATO“ der postsowjetischen und postkonfrontativen Ära im Verhältnis zur alten NATO der nuklearen Abschreckung und der geschlossenen Verteidigung hinter festen Bündnisgrenzen nach vorgefaßten Plänen mit fest eingeteilten Truppen irreversibel verändert. Die notwendige neue „raison d’etre“, ein neuer Daseinszweck, wurde gefunden -er hat sich wie von selbst aus der veränderten europäischen und orientalischen Situation als strategische Notwendigkeit ergeben: aktive Friedenssicherung statt passiver Verteidigungsbereitschaft mit der Folge von Interventionsbereitschaft jenseits der Bündnisgrenzen mit hoher Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit an verschiedene, sich schnell verändernde Situationen. Dies schließt auch die eigene Sicherung auf dem geostrategischen Vorfeld des Bündnisgebietes, die Abweisung entstehender Gefahren und Bedrohungen im Vorfeld, also die echte Vorwärtsverteidigung in Krisen und Konflikten ein. Es bleibt abzuwarten, wie die NATO bei knappen Mitteln und wachsenden Aufgaben -auch in Europa selbst mit der Bündniserweiterung -die sich daraus ergebenden Probleme bewältigen wird: Es sind finanzielle, technische, ökonomische und militärische Problemlösungen zu finden, die über die erste Anpassung ihres strategischen Konzepts und ihrer Militärstruktur hinausreichen.

Dies alles betrifft zugleich das politische Verhältnis zu den USA in einer transatlantischen Partnerschaft, die künftig breiter gelagert und auch mit einer Verständigung über Wirtschaftsinteressen zwischen den USA mit ihrer Nordamerikanischen Freihandelszone und der EU fundiert werden muß, wie auch die Beziehungen der USA zur Euröpäischen Union als dem sich politisch festigenden europäischen Partner. Beides hängt unlöslich zusammen, denn es gibt kein historisches Beispiel für den Bestand einer Allianz im Frieden, die ihren Gegner als äußeren „agent federateur“, als Zwang zur Geschlossenheit verloren hat, ohne politisch-wirtschaftlichen Interessenausgleich. Dies aber ist der NATO 1990/91 geschehen, und dieses durchaus positive Ereignis stellt die Erfolgsfrage für die Zukunft neu. Es hat auch neue Maßstäbe des Erfolgs an das Wirken der Allianz angelegt.

Das „acquis du siede“, die Errungenschaft des Jahrhunderts für Europa, ist das beständige Engagement der amerikanischen Demokratie und Macht für die Freiheit und Sicherheit Europas, das nicht zuletzt Deutschland zugute gekommen ist. Die Bundesrepublik stieg in dieser Epoche zu einem der Hauptverbündeten der USA auf und war auf dem Höhepunkt der Konfrontation nach militärischen Maßstäben der europäische NATO-Partner mit dem größten konventionellen Bündnisbeitrag -zum eigenen Nutzen, aber auch zum Nutzen aller Länder Westeuropas.

Deutschlands Aufgabe in der NATO und die Hauptfunktion der NATO in der internationalen Politik bleibt die politisch-strategische Verankerung der USA auf dem europäischen Kontinent.Ohne diese Machtpräsenz wird Stabilität in Europa wie im Nahen und Mittleren Osten, der für die Energieversorgung Europas die Schlüssel-region bleibt, nicht dauerhaft geschaffen bzw. in Krisen bewahrt werden können. Diese Realität erweist sich im Streben der osteuropäischen Länder in die NATO wie in die EU. Eine militärisch organisierte WEU als Verteidigungsagentur der EU innerhalb der NATO würde daran im Kern nichts ändern.

Fussnoten

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