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Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht | APuZ 11/1999 | bpb.de

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APuZ 11/1999 Artikel 1 Ein halbes Jahrhundert Nordatlantische Allianz Die NATO im Geflecht internationaler Organisationen Das neue Strategische Konzept der NATO. Entwicklung und Perspektiven Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten seit 1990

Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht

August Pradetto

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Reaktionen in Politik und Wissenschaft auf den neuen Zustand der „Weltunordnung“ bestehen im Versuch, neue Ordnungsstrukturen zu kreieren und dafür die geeigneten Instrumente zu finden. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet, geht es dabei vor allem um das Bemühen, massiver Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen aus ethnischen, religiösen u. a. Motiven entgegenzutreten. In diesem Kontext haben in den neunziger Jahren Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen ein vergleichsweise starkes Gewicht erlangt. Die Defizite multilateralen Reagierens auf neuartige Krisenszenarien durch UNO und OSZE haben zunehmend Forderungen nach unilateraler humanitärer Intervention laut werden lassen. Simultan hat die NATO beim militärischen peace-und law enforcement vielfach die operative Umsetzung, damit aber auch letztlich die politische Entscheidung in diesem Prozeß übernommen. Gleichzeitig widerspricht die Unilateralität sowie die Ermöglichung weitergehender Handlungsoptionen den erreichten völkerrechtlichen Standards und Verbindlichkeiten in der internationalen Politik: In der Konsequenz würde eine generelle Berechtigung zur „humanitären Intervention“ nichts anderes bedeuten als die Rückkehr zum Recht der Staaten auf Krieg. Diese Problematik wird im Zusammenhang damit beleuchtet, für die NATO eine neue Rolle in einem veränderten internationalen Umfeld zu finden wie auch auf neue Krisenszenarien zu reagieren. Vor allem geht es um die Frage, in welchem völkerrechtlichen und politischen Beziehungsrahmen sich die Allianz bewegt, wenn sie auf massenhafte Menschenrechtsverletzungen (wie im Falle Bosnien-Herzegowina und Kosovo) zur Reaktion herausgefordert ist.

I. Die NATO in Zeiten der Transformation

Das letzte Jahrzehnt des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist, wie die Jahre nach dem Ersten und dann nach dem Zweiten Weltkrieg, von einer gewaltigen Transformation in den internationalen Beziehungen gekennzeichnet. Wesentliche Determinanten eines mehr als vier Jahrzehnte gültigen Ordnungssystems -an erster Stelle die Kalte-Kriegs-Konstellation mit ihrer bipolaren Grundlage und den entsprechenden institutionellen Ausformungen -sind verschwunden. Dafür sind plötzlich neue Bestimmungsfaktoren wirksam, die partiell wie die Rückkehr zu den Verhältnissen der internationalen Politik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert anmuten: an hervorgehobener Stelle eine neue Welle des nation building, die wie ehedem mit der Auflösung multinationaler staatlicher Gebilde, und zwar wieder in Mittel-und Osteuropa, eingesetzt hat; das Aufleben einer Auseinandersetzung um „frei“ gewordene Ressourcen; die Neupolung der Elemente in einem veränderten internationalen Magnetfeld. Die Spannungen, die diesem Transformationsprozeß inhärent sind, finden ihren Ausdruck in einer quantitativ wie qualitativ vergrößerten Krisen-intensität, wobei die Transformation mehrere ineinandergreifende Aspekte aufweist: diverse endogene -vor allem die Veränderung der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in den ehemals kommunistischen Ländern -und verschiedene exogene, nämlich einen Schub integrativer wie auch desintegrativer Tendenzen im ökonomischen, politischen, sicherheitspolitischen und kulturellen transnationalen, europäischen und globalen Gefüge.

Die Reaktion in Politik und Wissenschaft auf diesen neuen Zustand der „Weltunordnung“ ist der Versuch, je nach weltanschaulichen Motiven und sicherheitspolitischen, ökonomischen und sonstigen politischen Interessen neue Ordnungsstrukturen zu kreieren und dafür die geeigneten Instrumente zu finden und wirksam werden zu lassen. Dabei wird das zur Verfügung stehende klassische Repertoire internationalen „Krisenmanagements“ in neuer Variation eingesetzt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute und verankerte westliche und internationale Institutionen wie die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union, die NATO, der Europarat, die KSZE/OSZE, die Vereinten Nationen u. a. sind teilweise erfolgreich integrationistisch-institutionalistisch tätig geworden, um der Transformation eine bestimmte Richtung und Struktur zu geben. Teilweise haben nationale Eliten (in Transformationsländern) versagt und gewaltsame Auseinandersetzungen herbeigeführt, auf die mit integrationistischen Mitteln nur unzureichend (d. h. die Eskalation nicht verhindernd) eingewirkt werden konnte. Zum Teil sind auch internationale und regionale Organisationen gescheitert in dem Sinne, daß sie u. a. aufgrund interner Divergenzen nicht zu einer dezidierten Haltung und Aktion in auftretenden Krisensituationen in der Lage waren.

Gewaltsame Konflikte gab und gibt es in einer ganzen Reihe von Lokalitäten bzw. Regionen des postkommunistischen Transformationsraumes -von Aserbaidschan und Armenien über Georgien, Moldawien bis hin nach Albanien und Kroatien. Die Zustände nach dem Kalten Krieg, auf die sich die Frage nach dem „Krisenmanagement“ der NATO bezieht, sind erst in zweiter Linie durch Tatbestände wie Völkermord durch die Roten Khmer in Kambodscha oder durch Angriffshandlungen wie die von Saddam Hussein gegenüber Kuwait gekennzeichnet. Viel bedeutsamer und komplexer sind Konflikte wie einerseits die mehr oder minder große Diskriminierung von (meist kleineren) Bevölkerungsgruppen aus ethnischen, religiösen u. a. Motiven durch die staatlich-politische Führung eines Landes und andererseits der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, infolge derer mehr oder weniger große Bevölkerungsteile Diskriminierung, Verfolgung und Not ausgesetzt sind.

Insoweit die Auseinandersetzungen in diesen Konflikten als mit den Ansprüchen an grundlegendeMenschenrechtsstandards unvereinbar und/oder als Gefährdung der regionalen oder gar globalen Sicherheit erachtet werden, werden auch „Lösungsformen“ diskutiert und eingesetzt, die Sanktionen bis hin zu militärischen Zwangsmaßnahmen beinhalten. Die letztgenannte Art der Ordnungspolitik hat in den neunziger Jahren ein vergleichsweise großes Ausmaß angenommen -entsprechend dem vergrößerten Umfang jener Konfliktsituationen, die unter die oben genannten Kriterien fallen und mit anderen Mitteln nicht befriedigend bewältigt werden konnten. Die UNO hat in den wenigen Jahren der beschriebenen Post-Kalter-Krieg-Situation mehr Blauhelmmissionen organisiert und eine größere Anzahl von Soldaten eingesetzt als in all den Jahrzehnten seit ihrer Existenz zuvor. Rußland bzw. die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist mit militärischen Kräften (u. a. in Moldavien, Kasachstan) ebenso wie die NATO out ofarea (u. a. in Bosnien-Herzegowina, Kosovo) aktiv geworden.

Seit den Petersberger Beschlüssen 1992 werden in der Westeuropäischen Union (WEU) Überlegungen angestellt, wie man -außerhalb des Vertragsgebietes und über die fixierte Verteidigungsfunktion hinausgehend -militärisches Krisenmanagement in solchen Konflikten bewerkstelligen könne. Die EU zielt mit Überlegungen zur Schaffung einer „militärischen Komponente“ für eine zu realisierende Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) seit dem Vertrag von Maastricht (ebenfalls 1992) in dieselbe Richtung. Sogar in der KSZE/OSZE wurde reflektiert, ob nicht der eigenständige Zugriff auf militärische Kapazitäten für eine wirksame Einhaltung und Umsetzung der gemeinsam von allen europäischen Staaten vereinbarten Prinzipien (wie sie u. a. in der Charta von Paris vom November 1990 zum Ausdruck kommen) ermöglicht werden müßte. Mit noch größerer Intensität wurde eine analoge Debatte in der UNO geführt.

Mit dem Umfang hat sich auch die Qualität bzw. die Intensität der militärischen Ordnungspolitik differenziert. Beim peace- und law-enforcement ist eine bemerkenswerte Entwicklung eingetreten: Die NATO hat in zunehmendem Maße in Europa westlich der GUS-Staaten und auch außerhalb Europas in für den Westen zentralen Interessengebieten die operative Umsetzung, damit aber letztlich auch die politische Entscheidung in diesem Prozeß übernommen. Die drei herausragenden Beispiele sind die Intervention gegen Irak Anfang 1991, nachdem Saddam Hussein Kuwait hatte überfallen und besetzen lassen, die militärischen Einsätze in Bosnien-Herzegowina zur Durchsetzung von UN-Resolutionen sowie die SFOR/IFOR-Stationierung (letztere nach dem Abkommen von Dayton im Dezember 1995) und schließlich das Ultimatum und der „Aktivierungsbefehl“ gegen Serbien, um den Rückzug militärischer und paramilitärischer Einheiten aus dem Kosovo im Sommer 1998 und dann wieder Anfang 1999 zu erzwingen.

Die drei Fälle manifestieren indes drei völlig unterschiedliche Varianten von peace- bzw. lawenforcement durch die NATO. Bei der Aktion „Desert Storm“ war die NATO nicht als (vom UN-Sicherheitsrat) formal mandatierte Organisation beteiligt. Vielmehr waren die UNO-Mitglieder aufgefordert, „mit allen“ -also auch mit militärischen -Mitteln für die Umsetzung der Beschlüsse der Weltorganisation in bezug auf Irak/Kuwait Sorge zu tragen. Formaliter trug eine Staatenkoalition aus diversen Teilen der Welt die militärische Befreiung Kuwaits. Realiter übernahmen die USA die militärische Führung, und mit der Beteiligung anderer westlicher Staaten und der Nutzung der vorhandenen Kommunikationsstrukturen, Logistik und sonstigen Kapazitäten war es de facto die NATO, die militärisch nicht nur den Status quo ante wiederherstellte, sondern auch neue militärisch-strategische Gegebenheiten im Nahen Osten (u. a. über die Durchsetzung von Rüstungsbeschränkungen für Irak und die Einrichtung von Flugverbotszonen) kreierte.

In Bosnien-Herzegowina erhielt die NATO, nachdem sie Unterstützung angeboten hatte, direkt ein Mandat zuständiger UNO-Gremien, um mit militärischen Mitteln die Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates zu bewerkstelligen. Das Bündnis sicherte solcherart gleichzeitig die Aktivitäten der laufenden Blauhelmmission ab. Nach dem Abkommen von Dayton übernahm die NATO, ebenfalls vom Sicherheitsrat „beauftragt“, die militärische „Bürgschaft“ der Implementation der in den Vereinigten Staaten ausgehandelten Vereinbarungen.

Im Falle des Kosovo war es wiederum die NATO, die mit militärischen Mitteln bzw.der Androhung militärischer Gewalt zumindest vorübergehend eine Veränderung der Lage gemäß den Forderungen der UNO bewirkte, indem sie den partiellen Rückzug von Einheiten der Armee der Bundesrepublik Jugoslawien erzwang. Dort handelte die Allianz allerdings ohne Mandat des Sicherheitsrates der UNO, nahm also die Umsetzung von Beschlüssen bzw. von Forderungen in die eigeneHand. Zwar bemühte sich die NATO um eine Bestätigung ihres Vorgehens durch den UN-Sicherheitsrat, ließ sich aber auch nicht von den aufgrund eigener Beschlüsse zu treffenden Sanktionen abbringen, als das oberste UN-Gremium Militäraktionen der NATO nicht zustimmte. Unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet, unterschied sich insofern die letztgenannte Aktion fundamental von den beiden erstgenannten. Alle drei Fälle haben indes eine wesentliche Gemeinsamkeit: Der entscheidende Akteur waren in bezug auf Irak, Bosnien-Herzegowina wie auch Kosovo die USA, und die NATO wurde in allen drei Fällen erst unter der Voraussetzung „amerikanischer Führung“ aktiv. Die NATO spielte jeweils als militärisches Instrument zur Durchsetzung politischer Entscheidungen eine gewichtige Rolle; sie war aber in ihrer Funktion, in ihrem Aktionsradius, in ihren politischen wie militärischen Aktivitäten weitestgehend von den USA abhängig.

Dies resultiert im wesentlichen aus der nach wie vor gegebenen De-facto-Monopolstellung der USA beim militärisch determinierten peace- und law-enforcement, zu dem die europäischen Staaten bis heute nur in sehr engen Grenzen fähig sind. Als sich Anfang der neunziger Jahre die Frage nach der zukünftigen Rolle der NATO stellte, schien die Antwort offen -eine Funktion im Rahmen der von den USA angestrebten „neuen Weltordnung“ schien ebenso möglich wie die Wahrnehmung militärischer Funktionen für UNO und KSZE/OSZE oder eben auch eine vor allem von deutscher Seite propagierte, vorrangig „politische“ Funktion bei der Absicherung des Transformationsprozesses im Osten Europas. Als Bilanz ist zu ziehen, daß alle diese Vorstellungen in einem gewissen Ausmaß realisiert wurden; der global einflußreichste und militärisch potenteste national-staatliche Akteur im internationalen System, die USA, konnte aber aufgrund der realen Konflikt-entwicklungen nach dem Kalten Krieg und den daraus resultierenden Anforderungen sowohl an die politische Führung wie an die militärische Kapazität seinen Einfluß innerhalb der NATO wie auch als herausragender Faktor europäischer Sicherheit in besonderer Weise geltend machen.

Dies festzuhalten ist deswegen wichtig, weil sich die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimation von Aktivitäten der NATO außerhalb von Art. 5 des Washingtoner Vertrags (und damit außerhalb von Art. 51 bzw. 53 der UN-Charta) auch unter dem Gesichtspunkt machtpolitischer Rahmenbedingungen stellt. Mit dem Eingreifen im Kosovo ist ein Präzedenzfall geschaffen: Zum erstenmal in ihrer Geschichte hat die NATO peace- bzw. lawenforcementin eigener Regie, und zwar außerhalb ihrer in Art. 5 fixierten Verteidigungsfunktion und außerhalb ihres Vertragsgebietes, wahrgenommen. Wesentlich ist darüber hinaus -wie noch zu zeigen sein wird -, daß vor dem Hintergrund veränderter Konfliktentwicklungen sowie erheblich erweiterter politischer Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen argumentativ zunehmend der Begriff der „humanitären Intervention“ verwandt wird und gerade unabhängig von einer Mandatierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vorgenommene oder vorzunehmende militärische Aktivitäten zur Friedens-und Rechts-durchsetzung mit diesem Begriff gerechtfertigt werden.

Im Kontext neuer Krisenszenarien nach dem Kalten Krieg einerseits und vergrößerter Handlungsspielräume andererseits hat seit Anfang der neunziger Jahre eine immer breitere Diskussion über Intervention und Interventionsberechtigung begonnen. Mittlerweile wird von „humanitären“, „ökologischen“, „demokratischen“, „Antiterror-“, „Antidrogen-“, „ökonomischen“ bis hin zu „finanzpolitischen“ Interventionen auch mit militärischen Mitteln gesprochen. Vor allem die Intervention im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Irak 1990/91 und dem Engagement im sich auflösenden Jugoslawien seit 1992 hat auch zu einer veränderten Interpretation des Begriffs „Intervention“ geführt. Die diesbezüglichen Diskussionen in Publizistik und Politik haben Ausmaße angenommen, die, wie Gerhard Zimmer es formuliert, die skeptische Frage aufdrängen: Neue Weltordnung durch Intervention? Zugleich nimmt die Befürchtung zu, daß in immer weiterem Maße unilateral Gewaltanwendungen zum Schutz angeblicher völkerrechtlicher Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt und genutzt werden könnten. Mit der Anerkennung einer Berechtigung zu „humanitären Interventionen“ werde möglicherweise wieder die Büchse der Pandora geöffnet Der Kontext für die nachfolgenden Überlegungen wird ergänzt durch die vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den neunziger Jahren und der sich differenzierenden Interessen innerhalb der NATO eben erst begonnene Debatte darüber, worin die „Neue NATO“, die „NATO des 21. Jahrhunderts“ bestehen soll. Dabei ist die „humanitäre Intervention“ nur ein Aspekt einerseits der an die NATO herangetragenen Forderung, die Allianz möge in der neuen Welt-(Un-) Ordnung als zentrales oder in einem System von interlocking institutions eingebettetes Instrument des Krisenmanagements tätig werden, und andererseits der von der NATO selbst beanspruchten Rolle als zentrales Sicherheitssystem zumal für Europa. Im Rahmen dieser Debatte wird dem Bündnis eine immer größere und bereits im Vorfeld von möglichen Krisen agierende Rolle zugedacht, weil Krisenmanagement präventives Handeln fordere.

Der Fokus in diesem Aufsatz liegt auf einigen völkerrechtlichen und politischen Aspekten in dieser Auseinandersetzung. Es geht weitgehend um die Frage, in welchem völkerrechtlichen und politischen Bezugsrahmen sich die NATO bewegt, wenn sie auf massenhafte Menschenrechtsverletzungen (wie im Falle Kosovo) zur Reaktion herausgefordert ist. Fragen anderer Sicherheitsgefährdungen, die die Weltgemeinschaft betreffen -wie Terrorismus, Proliferation u. a. werden ebenso ausgespart wie die „klassische“ Verteidigungsfunktion der NATO, also die gemeinsame Abwehr eines Angriffs auf einen oder mehrere der Mitgliedstaaten des Bündnisses. Die Frage des Eingreifens in Situationen, in denen offenkundig schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen stattfinden, und zwar unilateral -also ohne Mandatierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen -, ist mit Blick auf die Entwicklung in der Ära nach dem Kalten Krieg nicht nur von besonderer Aktualität, sondern -neben der Frage des Eingreifens in Fällen, in denen ein evidenter Friedensbruch out of area (eine Aggression/Intervention eines Staates oder mehrerer Staaten gegen einen anderen Staat oder mehrere Staaten) vorliegt -auch von besonderer politischer Brisanz.

II. NATO und internationales Krisenmanagement zwischen Ingenuität und multilateraler Bindung

Operativ liegt dem Washingtoner Vertrag ein restriktiver Sicherheitsbegriff zugrunde. Er fand in den Zeiten des Kalten Krieges Ausdruck in einem passiven, auf die Wahrung des politisch-militärischen Status quo ausgerichteten Verständnis des Militärbündnisses. Die NATO konzentrierte sich fast ausschließlich auf die in Art. formulierte Beistandsverpflichtung für ihre Mitgliedstaaten. Das Bündnis hatte demnach rein defensiven Charakter zur Abwehr eines möglichen Angriffs von Seiten der Sowjetunion bzw.des War-schauer Pakts. Krisenmanagementmechanismen im weiteren Sinne bedurfte es unter diesen Bedingungen nicht; das System der Krisenverhinderung war auf die nukleare Abschreckung ausgerichtet Gleichzeitig -quasi als Sekundäreffekt -fungierte die NATO in einer spezifischen Form eines kollektiven Sicherheitssystems: Sie stellte einen „politischen Transformationsrahmen“ für den graduellen Wandel der europäischen politischen Beziehungen dar, der den Rückgriff auf militärische Mittel zur Status-quo-Veränderung ausschloß.

Schon in den sechziger Jahren gab es Ansätze und Forderungen nach einer politischen Reform der Allianzmechanismen, die auf Krisenmanagement in einer kommenden Übergangsphase zu einer neuen internationalen Ordnung orientierten. Dem lag die Überlegung zugrunde, die Bedrohungen europäischer Sicherheit würden künftig eher lokaler bzw. regionaler Natur sein und einige Allianzmitglieder mehr als andere tangieren. Deshalb müsse auch der Entscheidungsapparat der Allianz in Teilen regionalisiert werden.

Diese Auffassung wurde aber in der Allianz nie praktisch wirksam. Die Gründe für die Abneigung, der NATO weiterreichende Aufgaben im Bereich der Krisenbeherrschung zu übertragen, lagen nicht nur in der Furcht begründet, damit vom primären Bündniszweck der kollektiven Verteidigung abzulenken. Die Interessen einzelner Verbündeter bei „out-of-area“ -Fragen klafften weit auseinander. So waren gelegentliche Versuche einzelner Mitglieder, die NATO für Belange außerhalb der traditionellen Verteidigungsaufgaben zu instrumentalisieren, stets erfolglos.

Seit den politischen Umbrüchen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre wurden neue Anläufe unternommen, um eine „genuine Krisenmanagementrolle“ der NATO zu entwickeln. Der dadurch ausgelöste Reformprozeß schlug sich in neuen Kommando-und Streitkräftestrukturen nieder. Sie brachten einerseits die verringerte Bedrohung zum Ausdruck, andererseits reflektierten sie aber auch schon die verstärkte Hinwendung zur selektiven Intervention. Auf der politischen Ebene wurde ein umfassender Sicherheitsdialog mit den ehemaligen Gegnern des zerfallenen Warschauer Pakts eingeleitet. Damit veränderte sich die auf Abschreckung gerichtete Strategie hin zu einer Stabilisierungspolitik, die zugleich sicherheitspolitisch präventiv angelegt war.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Allianz gefordert, Vorstellungen für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu definieren. Zum damaligen Zeitpunkt wurde für diesen konzeptionellen Ansatz als Leitbegriff der Allianz der Terminus der interlocking institutions formuliert. Die NATO sah ihre Hauptaufgabe darin, die existierenden Organisationen euroatlantischer Sicherheit -UNO, KSZE, NATO, EG und WEU -durch neu zu schaffende Mechanismen der Zusammenarbeit und der Arbeitsteilung zu verbinden. Diese Politik resultierte aus der Überzeugung, daß keine der genannten Institutionen allein über das für erfolgreiches Krisenmanagemenl notwendige Spektrum an politischen, wirtschaftlichen und militärischen Optionen verfügte. Folgerichtig gab die Allianz eine prinzipielle Bereitschaftserklärung ab, KSZE und UNO bei ihren Aktivitäten -wenn erforderlich -militärisch zu unterstützen. Aus der Sicht der NATO war hierbei maßgeblich, daß sich künftige Krisen und Konflikte vornehmlich außerhalb des traditionellen Bündnisgebietes ereignen würden. Derartige Aktivitäten des Bündnisses müßten folglich durch ein entsprechendes Mandat der Vereinten Nationen oder der KSZE legitimiert sein.

Die Anforderungen, die von Seiten anderer internationaler Organisationen aufgrund des intensiveren Konfliktregelungsbedarfs an die NATO herangetragen wurden, und gleichzeitig das Bemühen der NATO, sicherheitspolitisch „gesamteuropäisch“ tätig zu werden und einen neuen Rahmen, neue Bezugspunkte und neue Parameter für die europäische Sicherheit zu entwickeln, verschoben bereits die Linie, hinter der die NATO tätig war, über das bisherige Vertragsgebiet hinaus. Wo die neue Linie lag, war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr klar bestimmbar. Als „Verantwortungs-und Interessenbereich“ wurden Gebiete deklariert, deren Instabilität Bündnisinteressen beeinträchtigen könnte. Als solche Regionen wurden Mittel-und Osteuropa, die ehemalige Sowjetunion und nicht zuletzt das breite Staatenband an der südlichen und östlichen Peripherie Europas identifiziert. Ein Großteil der in diesen Regionen auftretenden Konflikte würde wahrscheinlich die Sicherheit der Allianzmitglieder indirekt berühren, doch eine Sicherheitsgefährdung sah man nun nicht mehr vorrangig in einer möglichen Beeinträchtigung territorialer Integrität. Der Ausdehnung des Sicherheitsbegriffs auf ökonomische, politische, ökologische u. a. Fragen entsprach ein sehr viel weiter gefaßtes Verständnis von Sicherheitspolitik. „Politische Kettenreaktionen“, die sich aus dem Zusammenbruch der multinationalen Staatengebilde im Osten und Südosten Europas ergeben könnten, würden möglicherweise „nicht nur Bündnisinteressen, sondern schließlich auch Bündnisgebiet tangieren“. Außerdem antizipierte man „ohne den Versuch einer Eindämmung .. . die Gefahr einer Eskalation, die die NATO-Verbündeten in unterschiedliche Richtungen drängen“ könnte

Einerseits zeigten die vor allem seit 1992 verstärkt auftretenden Konflikte in Ost-und Südosteuropa sowie die mit ihnen einhergehenden Flüchtlings-wellen, daß genau dies der Fall war. Andererseits stellte diese diffuse Definition von Sicherheit und Sicherheitspolitik die bestehenden Grundsätze außenpolitischen Handelns zur Disposition: In geographischer Hinsicht ist ein Limit, welches das Handeln der NATO begrenzt, nicht mehr erkennbar; das ganze, außerhalb des bisherigen NATO-Gebietes liegende östliche und südöstliche Europa inklusive der ehemaligen Sowjetunion sowie die nordafrikanische und nahöstliche „Peripherie“ werden zum NATO-Interessengebiet erklärt. Politisch hängen die Aktivitäten des Bündnisses auch außerhalb des Bündnisgebietes von der Interpretation dessen ab, was als „ernsthafte“ Beeinträchtigung von „Bündnisinteressen“ gewertet wird. Michael Rühle schränkte 1994 noch ein, die NATO könne nur auf Basis „gemeinsamen Handeins“ mit anderen zuständigen bzw. kompetenten Organisationen und unter der Prämisse einer Mandatierung durch die UNO bzw. die KSZE als regionale Organisation, die im Auftrag der UNO handelt, tätig werden. Spätestens 1998 wurde auch diese Restriktion -am massivsten von den USA -in Frage gestellt. Setzt sich dieser Standpunkt durch, ist die NATO weder nur mehr eine Organisation kollektiver Verteidigung, die auf Basis von Art. 51 der UN-Charta, noch eine regionale militärische Organisation, die mit dem Mandat der UNO aufgrund eines Beschlusses des Sicherheitsrates tätig werden kann. Damit wären bisher gültige völkerrechtliche Bestimmungen sowie'der NATO-Vertrag in seiner bisherigen Form und Interpretation nicht mehr Grundlage für die Tätigkeit des Bündnisses; vielmehr würde die NATO unter Zugrundelegung eigener, jeweils aktueller Interessendefinition bestimmen, ob, wann, wo und wie sie ihr militärisches Potential einsetzt. Damit würden gleichzeitig die partikularen Interessen und Motive der wichtigsten NATO-Staaten, allen voran der USA, zur wichtigsten Entscheidungsvoraussetzung über den Einsatz der NATO

Es wäre aus verschiedenen Gründen verfehlt, aus dieser (partiell schon realisierten, partiell weitergehend geforderten) Neuorientierung der Allianz eine „Militarisierung“ oder einen Hang zum „Expansionismus" der NATO ablesen zu wollen. Die NATO stellt ein Verteidigungs-, Sicherheits-, Interessen-und Wertebündnis demokratischer Staaten dar, denen eher eine Ökonomisierung als eine Militarisierung ihrer Außenpolitik und ihrer Außenbeziehungen entspricht. Auch die Gefahr einer Indienstnahme im einzelstaatlichen Interesse ist nicht besonders groß. Schon zu Zeiten viel größerer Abhängigkeit von den USA -denen des Kalten Krieges -widersetzte man sich einseitigen Funktionalisierungsversuchen. Außerdem ist davon auszugehen, daß im Regelfall friedensschaffende Operationen immer nur dann realisiert werden, wenn zentrale Interessen der Bündnismitglieder tangiert sind, und daß das Krisenmanagement der NATO außerhalb des Bündnisgebietes immer äußerst selektiv durchgeführt wird

Die postulierte Ingenuität -also die Ermöglichung größerer Handlungsoptionen -ist in erster Linie Resultat der Unsicherheit über die nach dem Kalten Krieg entstandenen Verhältnisse, über Krisen-entwicklungen, auf die die nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Mechanismen und Institutionen nur unzureichend zu reagieren vermögen, sowie der Unwägbarkeiten zukünftiger Entwicklungen in einem Europa, das sich in einem tiefgreifenden, mit vielen Unsicherheiten und noch gar nicht absehbaren Risiken behafteten Transformationsprozeß befindet. Zugleich ist eine solche absichtlich diffus belassene Optionsbreite im Kontext hoher Variabilität je zu definierender Interessen abhängig von machtpolitischen Unwägbarkeiten und nicht voraussehbaren Konstellationen. Die Erfahrung zeigt, daß gerade in der internationalen Politik Faktoren wirksam sind, die sich vielfach der demokratischen Kontrolle entziehen, wenig transparent sind und denen ein vergleichsweise hoher Grad an Manipulierbarkeit anhaftet.

III. Humanitäre Intervention als Spezialfall internationalen Krisenmanagements

Der Begriff der „humanitären Intervention“ kommt aus dem 19. Jahrhundert und wurde als „Recht“ von Einzelstaaten vor allem mit der Verteidigung individueller Freiheiten gegen Über-griffe durch andere Regierungen begründet Die Staatenpraxis des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zeigt allerdings, daß humanitäre Beweggründe vielfach nur die Legitimation für’ eine Intervention aus ökonomischen, machtpolitischen oder anderen Gründen vermitteln sollten. Gegebenenfalls sollten mit dem Hinweis, es handele sich um eine humanitäre Intervention, die nachteiligen Folgen der Deklaration eines Kriegszustands vermieden werden.

Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Reihe unilateraler militärischer Maßnahmen gegen andere Staaten, die mit humanitären Erwägungen gerechtfertigt wurden. In den allermeisten Fällen handelte es sich indes um durchsichtige Schutzbehauptungen für Aggressionsakte. Die meisten Fälle zeigen, daß, wenn massive Menschenrechtsverletzungen der Intervention voraus-gegangen sind, diese Verletzungen nicht die vorrangige Ursache der Intervention waren, sondern die Möglichkeit boten, unter dem Deckmantel humanitärer Besorgnisse die je „spezifischen geostrategischen, wirtschaftlichen oder sonstigen politischen Interessen mit militärischer Gewalt zu sichern oder durchzusetzen“ Bei den Interventionen der USA spielten humanitäre Beweggründe durchgehend eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Dagegen gab es eine ganze Reihe von Fällen schwerster systematischer Menschenrechtsverletzungen, bei denen Nachbarstaaten, regionale oder globale Mächte offenbar keine Veranlassung zu einer „humanitären Intervention“ sahen.

Aufgrund der Entwicklung des Völkerrechts und der Staatenpraxis in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im Kontext der Verbindlichmachung von Konventionen hat sich für die Verhinderung von massenhaften Menschenrechtsverletzungen eine im Vergleich zu den bis zur Mitte dieses Jahrhunderts herrschenden Verhältnissen in großem Maße veränderte Lage ergeben Die Staatengemeinschaft hat durch die Entwicklung des ins cogens (zwingendes Recht) und von Normen erga omnes (für alle gültiges Recht) Anliegen des Menschen-rechtsschutzes „in einem bislang nicht gekannten Grad vergemeinschaftet“ Einzelstaatliche Souveränität genießt demnach keinen absoluten Stellenwert mehr. Im Hinblick auf die Einhaltung der Gesetze der Menschlichkeit unterliegen die Staaten relativ weitgehenden Verpflichtungen

Nun hat sich hinsichtlich des Menschenrechts-schutzes noch kein globaler Konsens über gemeinsame Wertvorstellungen herausgebildet, aber doch ein gemeinsames Unwertbewußtsein, daß unter elementaren Menschenrechtsverletzungen Völkermord, Menschenhandel (Sklaverei), „ethnische Säuberungen“ sowie systematische Verfolgung aus ethnischen, rassischen, religiösen oder sonstigen Gründen zu verstehen ist und daß solches Handeln keine Angelegenheit darstellt, die in den für das Völkerrecht nicht zugänglichen Bereich des domaine reserve fällt Dieses Unwertbewußtsein spiegelt sich in einer Vielzahl völkerrechtlich verbindlicher Dokumente wider. Zwar herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß die humanitäre Prävention der humanitären Intervention vorzuziehen sei, doch stellt sich die Frage, ob nicht militärische Zwangsmaßnahmen „in Ausnahmefällen die einzige Möglichkeit darstellen, Geschehnisse im Inneren eines Staates, die von der Weltöffentlichkeit als schlechthin unerträglich und nicht hinnehmbar empfunden werden, wenigstens temporal und in ihren schlimmsten Auswirkungen einzudämmen“ Demnach wäre eine „humanitäre Intervention“ keine Intervention im Sinne eines nicht zulässigen Übergriffs, sondern eine Maßnahme zur Wiederherstellung des verletzten Rechts.

Die entscheidende Frage ist, ob einzelne Staaten, Staatenkoalitionen oder regionale Organisationen notfalls mit bewaffneter Gewalt zur Wahrung von Normen berechtigt sind, die dem Gemeinschaftsinteresse dienen (u. a. ein Einsatz gegen einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Verpflichtung zur Einhaltung der Mindeststandards von Menschenrechten), ohne vom Sicherheitsrat nach Art. 53 Abs. 1 Satz 2 ermächtigt worden zu sein, d. h., ob ein beanspruchtes Interventionsrecht ein legitimiertes Rechtsetzungsverfahren vorweisen kann. Zimmer meint, Staatenverpflichtungen könnten ohne „klaren Nachweis“ völkerrechtlicher Bindungen weder geltend gemacht noch durchgesetzt werden. Der bloße Hinweis auf einen „common concern“ oder auf „vital interests" der Staatengemeinschaft genüge „jedenfalls nicht“. Rechtlich wie politisch stehen hier also gegebenenfalls divergierende völkerrechtliche Prinzipien in einem Spannungsverhältnis: auf einer ersten Ebene jeweils das Prinzip der Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte und das der Souveränität, auf einer zweiten das der humanitären Intervention und das des legitimen Rechtsetzungsverfahrens. Der wichtigste und elementarste Grundsatz des Völkerrechts, wie es sich nach dem Ersten Welt-krieg bis heute entwickelt hat, besteht im Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt unter den souveränen Mitgliedern der Staatengemeinschaft. Das schon im Briand-Kellogg-Pakt 1928 verankerte Kriegsverbot weitet die Charta der Vereinten Nationen in Art. 2, Ziff. 4, auf ein allgemeines Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt aus. Sie gibt -abgesehen vom Recht der Staaten auf Selbstverteidigung -nur dem Sicherheitsrat die Befugnis, bei Friedensgefährdungen, Friedensbrüchen und militärischen Aggressionen durch Staaten militärische Mittel zur Sicherung bzw. Wiederherstellung des Friedens einzusetzen. Er trägt laut Charta „die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Die UN-Mitglieder „erkennen an, daß der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung der sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten in ihrem Namen handelt“ (Art. 24). Laut Art. 39 stellt der Sicherheitsrat fest, „ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“. Maßnahmen bis hin zum Einsatz von Luft-, See-oder Land-streitkräften beschließt der Sicherheitsrat, wenn „neun Mitglieder einschließlich sämtlicher ständiger Mitglieder“ zustimmen (Art. 27, Ziff. 3 bzw. Art. 42). Ansonsten ist in Art. 2, Ziff. 7 der UN-Charta in aller Deutlichkeit das Interventionsverbot, d. h. das Verbot der Intervention gegen die Souveränität eines Staates, fixiert. „Intervention“ ist also in Wirklichkeit überhaupt kein völkerrechtlich sanktioniertes Handeln, sondern das Gegenteil davon: Intervention verstößt gegen das für die Charta der UNO konstitutive Interventionsverbot und ist einer der Hauptgründe für Friedensbruch, Friedensgefährdung und Sicherheitsgefährdung, die der Sicherheitsrat feststellt. Die „babylonische Sprachverwirrung“ (Gerhard Zimmer), die mit dem in den vergangenen Jahren inflationär benutzten Begriff „humanitäre Intervention“ eintritt, hat indes politische Konsequenzen: Damit wird der subjektiven Interpretation Tür und Tor geöffnet, was eine „gerechte“ und was eine „ungerechte“ Intervention ist -womit der Schritt zurück zur Unterscheidung zwischen „gerechten“ und „ungerechten“ Kriegen de facto vollzogen wäre.

Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Lehren aus der Praxis der „humanitären Interventionen“ des und beginnenden Jahrhunderts, die angeblich zugunsten ethnischer und religiöser Minderheiten erfolgt waren, gezogen. Der Schutz der Minderheiten in den neu entstandenen Staaten wurde vertraglich festgeschrieben und unter die Aufsicht der im Völkerbund organisierten Staatengemeinschaft gestellt. Damit sollte u. a. die Gefahr gebannt werden, daß „einzelne Staaten ein humanitäres Interventionsrecht zum Schutz einer ethnischen Minderheit ... in Anspruch nahmen“ 19.

Dieses System war aus den unterschiedlichsten Gründen zum Scheitern verurteilt, nicht zuletzt aber deswegen, weil dem Völkerbund zur Überwachung und Durchsetzung dieser vertraglichen Verpflichtungen von der Staatengemeinschaft nur völlig unzureichende Kompetenzen eingeräumt wurden. Wohin die unilaterale Inanspruchnahme des Rechts auf „humanitäre Intervention“ in der Folgezeit führte, zeigt die Geschichte der Zwischenkriegszeit. Gegen die im nationalsozialistischen Deutschland begangenen Greueltaten gegen Minderheiten gab es nur lauwarme Resolutionen von Seiten des Völkerbundes sowie von den demokratischen Staaten kaum Maßnahmen gegen die nationalsozialistische Politik, weil die Staaten ihre Bereitschaft zur „humanitären Intervention“ von politischen Opportunitäten und Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig machten. Der einzige Akteur im internationalen System, der das „Recht auf humanitäre Intervention“ praktisch in Anspruch nahm, war das nationalsozialistische Deutschland, und zwar bei seinem Überfall auf die Tschechoslowakei im März 1938 mit Hinweis auf sudetendeutsche Belange. D. h.: „Eine der größten Schwächen, die das sogenannte . Rechtsinstitut der humanitären Intervention’ kennzeichnen, besteht darin, daß seine Existenz mit der Motivation der Staaten, die sich zu militärischen Maßnahmen entschließen, steht und fällt.“ 20

Aktuelle Gegebenheiten zeigen eine ähnliche Selektivität der Intervention aus humanitären Beweggründen. Würde die GUS unter russischer Führung gegen die Türkei wegen massiver Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten ein Ultimatum und militärische Zwangsmaßnahmen ähnlich wie die NATO gegen Serbien beschließen, dann würde das Moskauer Verhalten zu Recht als eklatanter Bruch völkerrechtlicher Bestimmungen und als völlig inakzeptabel charakterisiert, und es würden -ebenfalls völlig zu Recht -entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen werden. Auch stellt sich die Frage, warum die Groß-mächte nichts oder wenig getan haben, um eine humanitäre Katastrophe von noch ganz anderen Dimensionen -in Ruanda bei der ein Notfall aufgrund des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung vorlag, zu bewältigen

Vor dem Hintergrund der dargelegten historischen, politischen und völkerrechtlichen Gegebenheiten kann von einem „internationalen Gewohnheitsrecht“, das ein „Recht einseitiger Interventionen“ begründe nicht gesprochen werden.

Wie schon ausgeführt, verpflichtet das gegenwärtige Völkerrecht die Staaten, bestimmte grundlegende Menschenrechte zu achten (u. a. Art. 1, Ziff. 3 der UN-Charta). Einen bedeutenden Fortschritt im Sinne einer diesbezüglichen „Weltinnenpolitik“ stellt dar, daß die Weltgemeinschaft dem UN-Sicherheitsrat das Recht eingeräumt hat, schwerwiegende und massenhafte Menschenrechtsverletzungen als Friedensgefährdung zu ahnden. Festzustellen, daß es sich bei einem solchen Verhalten eines Staates um eine Friedensgefährdung, einen Friedensbruch oder eine militärische Aggression handelt, obliegt indes ebenfalls nur dem Sicherheitsrat. Aus gutem Grund gilt dies insbesondere für innerstaatliche Auseinandersetzungen bzw. Menschenrechtsverletzungen: Wenn jedes Mitglied der Staatengemeinschaft berechtigt wäre, festzustellen, ob oder daß es sich bei einem Konflikt innerhalb eines anderen Staates um eine Friedensgefährdung, einen Friedensbruch oder eine militärische Aggression handelt, und aufgrund dieser Feststellung (mit dem Hinweis auf humanitäre Beweggründe) Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen zu ergreifen das Recht hätte, dann würde in den internationalen Beziehungen rechtlich wieder jener Zustand der Anarchie herrschen, wie er bis zu Beginn dieses Jahrhunderts gegeben war. In der Konsequenz würde eine generelle Berechtigung zur „humanitären Intervention“ nichts anderes bedeuten als die Rückkehr zum Recht der Staaten auf Krieg.

Daß Probleme entstehen, wenn sich der Sicherheitsrat nicht auf eine einmütige Auffassung einigen und wirksame Aktionen beschließen kann, steht außer Frage. Doch kann eine beanspruchte Rechtmäßigkeit unilateraler „humanitärer Interventionen“ nicht von der „Funktionsfähigkeit“

kollektiver Mechanismen abhängig gemacht werden. In Wirklichkeit beeinträchtigt weder das Erfordernis einer bestimmten Mehrheit noch die Einlegung eines Vetos die rechtliche und politische Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates: Die Möglichkeit einer Blockade des Sicherheitsrates auf Grund des Vetorechts einer der fünf Mächte ist systembedingt und rechtlich geradezu eingeplant. Selbst der Generalversammlung steht auch im Falle der Anwendung der „Uniting for Peace" -

Resolution (welche der Generalversammlung ermöglicht, bei „Beschlußunfähigkeit“ des Sicherheitsrates mit Mehrheit ein Votum abzugeben) keine subsidiäre Befugnis zur Ergreifung militärischer Zwangsmaßnahmen im Fall einer „Friedensbedrohung“ zu. „Wo nicht einmal eine subsidiäre Befugnis der Generalversammlung nach deren eigener Überzeugung besteht, kann erst recht keine subsidiäre einzelstaatliche Befugnis angenommen werden.“ Davon abgesehen, ist eine Bewertung von Handlungsfähigkeit oder -Unfähigkeit äußerst anfällig gegenüber interessenbedingten Einschätzungen.

Der Wandel im Bewußtsein der Weltöffentlichkeit und eine entsprechende opi{iio juris der Mitglieder der Staatengemeinschaft dahingehend, daß humanitäre Katastrophenlagen den Tatbestand der „Friedensbedrohung“ erfüllen, mag zu erweiterten Zwangsbefugnissen des Sicherheitsrates führen; neue Befugnisse für einzelne Staaten oder auch Staatenkoalitionen ergeben sich daraus nicht

IV. Bedingungen militärischen Engagements für die NATO

Die für die NATO geforderte Ingenuität für eine von der jeweiligen Lage abhängig zu machende unilaterale Definition von Sicherheit und „präventiver Sicherheitspolitik“ ist negativ auf einen gerade im vergleichsweise anarchisch strukturierten internationalen System wesentlichen Wert gerichtet -den der Kalkulierbarkeit; vielmehr ist Ingenuität, die auf eine Vergrößerung des eigenen politischen Spielraums abzielt (und die, bezogen auf den hier verhandelten Sachverhalt, eine Erweiterung der Handlungsspielräume militärischer Art insbesondere für die großen NATO-Mitglieder, an erster Stelle die USA, bedeutet), gleichzeitig und automatisch mit einer Verminderung von Bere-chenbarkeit und Verläßlichkeit verbunden. Je weniger Selbstbeschränkung sich ein System auferlegt, je weniger deutlich die Grenzen sichtbar sind, innerhalb derer es sich bewegt, handelt und entwickelt, je diffuser sein Begriff von Sicherheit ist, desto weniger kalkulierbar ist es in den Augen Dritter. Ein solches System erhöht das „Sicherheitsdilemma“, das in dem Versuch begründet ist, sich wechselseitig nach Möglichkeit gegen Unwägbarkeiten abzusichern.

Ein zu hoher Grad an Ingenuität für die NATO konterkariert und unterminiert daher die bisher erreichte Festschreibung (völker-) rechtlicher Standards und Verbindlichkeiten der internationalen Politik. Der Fortschritt im internationalen System indes bestand und besteht nicht zuletzt in der Einhegung nationalstaatlicher bzw. gruppeninteressen-gebundener Handlungsspielräume, in der Verminderung von Unilateralität und in der Unterordnung der Akteure dieses Systems unter gemeinsam fixierte Standards. Ein Dilemma entsteht freilich dann, wenn die Funktionsfähigkeit eines solchen Systems nicht gewährleistet ist (oder erscheint).

Betrachtet man das Problem des Eingreifens in humanitären Katastrophenfällen unter dem Aspekt adäquaten und effizienten Reagierens, dann entsteht in vielen Fällen Frustration sowohl ob der politischen Entscheidungsstrukturen und -Prozeduren als auch der operativen Umsetzung getroffener Entscheidungen durch die qua UN-Charta vorgesehenen Mechanismen. Die Politik, die die Möglichkeiten militärischer Kapazitäten nutzen und zugleich das erreichte Niveau völkerrechtlicher Verbindlichkeit nicht in Frage stellen will, weist diverse Defizite auf. Eines besteht bezüglich der Klarheit über die Kriterien und Bedingungen militärischer Einsätze im multilateralen Kontext. Die Debatte hierüber ist bislang -wenn überhaupt -nur sporadisch und im Kontext aktuell auftretender Krisen geführt worden. Die Reaktionen in diesen Krisenfällen sind aber, wie sich vielfach in den neunziger Jahren gezeigt hat, von politischen Konjunkturen, von partikularen Interessen, von innenpolitischen Konstellationen, vom Druck der Medien und der Öffentlichkeit, von aktuellen finanziellen Umständen usw. abhängig. Insofern sind die darauf basierenden Entscheidungen über militärische (wie auch sonstige) Sanktionen vielfach willkürlich.

Zwar muß der UNO und damit den sie tragenden Kräften ein taktisches Ermessen im Hinblick darauf eingeräumt werden, ob sie im konkreten Fall einschreitet oder nicht. „Aber sie darf nicht völlig willkürlich darüber entscheiden, ob sie im konkreten Fall zu Hilfe kommt.“ Wenn nur selektive, von politischen Opportunitäten einzelstaatlicher Träger abhängige Maßnahmen möglich sind, wird die UNO zum Instrument einiger Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, und damit verliert sie zusätzlich an Legitimität bei jenen, denen nicht geholfen wird. Zudem ist undeutlich, wie die Ergebnisse dieser Debatte in völkerrechtliche Verbindlichkeiten umzusetzen sind. Schließlich besteht Unklarheit über die Verteilung der finanziellen Lasten für diese Art internationalen Krisenmanagements.

Werden diese Probleme nicht gelöst, setzen sich diejenigen, die militärische Mittel einzusetzen vermögen, um ihren Interessen und ihrer Definition von Sicherheit Nachdruck zu verleihen, ihre je eigenen Kriterien und verfolgen ihre je eigene Politik. Daß sich hieraus nicht nur Willkür und Ungerechtigkeit, sondern auch eine neue Form nationalstaatlicher militärischer Machtpolitik und bei anderen Akteuren neues Mißtrauen und neue Abgrenzungen sowie daraus resultierend neue Konflikte ergeben, ist evident. Außerdem erhöht dieser Zustand mangelnder rechtlicher und institutioneller Fundierung die Gefahr bzw.den Grad der Abhängigkeit und der Erpreßbarkeit kleinerer und mittlerer Staaten in der internationalen Politik.

In diesem Kontext ist anzumerken, daß die bisherige Politik ökonomischer, politischer und diplomatischer Sanktionen unzureichend überprüft ist. Der Einsatz von Krieg bei massenhaften Menschenrechtsverletzungen -um die These von Clausewitz abzuwandeln -hat die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu sein, nicht ihr Ersatz. Zuzuschauen, wie trotz klarer Beschlüsse der UNO Waffenembargos massiv durchbrochen werden, um dann dem Militär die Aufgabe zu erteilen, gegen den Gebrauch dieser Waffen vorzugehen, ist nicht nur politisch inakzeptabel, sondern stellt auch einen Mißbrauch der eigenen Streitkräfte dar Einiges wäre schon gewonnen, wenn es einemit Kontroll-und Durchsetzungskompetenz ausgestattete UN-Behörde für die Überwachung beschlossener Sanktionen gäbe. Voranzubringen ist also die Debatte über ein Sanktionsrecht und seine Kodifizierung in Form einer internationalen Konvention

Gerhard Zimmer diagnostiziert drei Gefahren für ein internationales Ordnungssystem Bei fehlender Problemlösungsfähigkeit durch eine internationale Ordnung sind Staaten nicht bereit zur Souveränitätseinschränkung; kann sich die Ordnung nicht gegenüber der Normabweichung durchsetzen, gerät sie in die Krise mit der Tendenz zur Unilateralität; werden schließlich Normen gegenüber Normabweichern ordnungswidrig durchgesetzt, dann wird die Ordnung in ihren Grundlagen erschüttert und verliert ihren Beachtungsanspruch. Damit korrespondiert die Anforderung an die internationale Politik (und damit an die Außenpolitik der Akteure im internationalen System), den Beachtungsanspruch der internationalen Ordnung zu festigen. Dies verlangt von der Politik eine bestimmte Qualität: Sie muß right sein (d. h. die bestehende Ordnung in die Lage versetzen, ihren Zielen gerecht zu werden), just (d. h. legal, also auf normabweichendes Verhalten verzichten) und moral (sie darf die zentralen und konstitutiven Werte und Normen der Ordnung nicht in Frage stellen).

Das Fazit lautet: Es wäre wenig produktiv, wenn Einzelstaaten oder Staatenkoalitionen in Fällen, in denen ihnen die Beschlüsse des Sicherheitsrates der UNO nicht passen oder nicht weit genug gehen, nunmehr unter Verzicht auf Konsensbildung in den Vereinten Nationen über militärische Sanktionen gegen einen souveränen Staat autonom entscheiden, also eine Selbstmandatierung vornehmen wollten. In der Konsequenz würde dies nichts anderes bedeuten, als daß diese Staaten oder Staatenkoalitionen sich die Kompetenz des Sicherheitsrates anmaßen und entscheiden, wer auf der Welt aufgrund interner oder zwischenstaatlicher Konflikte mit militärischen Sanktionen bedacht wird und wer nicht. Die Erosion des vor allem von den westlichen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zum Nutzen aller etablierten Systems UNO wäre damit vorprogrammiert.

Wenn ein Volk in einer Notsituation offenkundig die Solidarität der Völkergemeinschaft braucht -wenn etwa aufgrund des Zusammenbruchs jeglicher Ordnungsgewalt in einem Staat die dort lebende Bevölkerung von einer humanitären Katastrophe bedroht ist dann ist die entscheidende Frage nicht, ob militärische Zwangsmaßnahmen zulässig sind, sondern wer die Befugnis besitzt, sie zu beschließen und durchzuführen. Der unilateralen Gewaltanwendung im Interesse einer „humanitären Intervention" ist eine Eigendynamik inhärent, die kaum kontrollierbar ist. Sie ist in einem Geflecht geostrategischer, wirtschaftlicher oder sonstiger politischer Interessen der jeweiligen Intervenienten angesiedelt. Darüber hinaus besteht das „Dilemma des Interventionismus“ darin, „daß die tätige Interpretation den politischen Mächten überantwortet ist und daß der Handelnde, ungeachtet aller internationalen Kontrollorgane, praktisch das letzte Wort hat“

Insofern ist es problematisch genug, daß die Anordnung militärischer Zwangsmaßnahmen auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta von der Bereitschaft einzelner Staaten abhängt -an erster Stelle der USA -, der UNO entsprechende Truppenkontingente zur Verfügung zu stellen. Die Durchführung der militärischen Maßnahmen liegt so weitgehend nicht in der Hand der UNO, sondern der Staaten, die die stärksten Truppenkontingente stellen. Beschließt der Sicherheitsrat eine Intervention, werden seine darauf bezogenen Entscheidungen „maßgeblich von den Staaten bestimmt, die militärische Maßnahmen anschließend tragen“ Solcherart besteht eine zusätzliche Gefahr, daß der Sicherheitsrat zu einem Instrument partikularer Interessendurchsetzung wird Wie schon weiter oben ausgeführt, ist dies um so mehr der Fall, als die Bereitschaft der Staaten, in Konflikten zu intervenieren, bei denen ihre nationalen Interessen nicht oder kaum tangiert werden, generell nicht sehr hoch ist. Auch dieser Sachverhalt verlangt, daß die Nationalstaaten diesbezügliche Rechte (und Pflichten) an regionale oder globale Sicherheits-und Schiedsgerichtsbarkeitsinstitutionen übertragen

De facto wurde mit IFOR die Aufgabe der Friedenssicherung und -konsolidierung -im Grunde eine klassische Blauhelmaufgabe -weg von der UNO und hin zur NATO sowie deren Führungsmacht USA delegiert Mag man auch nicht zustimmen, daß sich die Allianz damit „endgültig zum Weltpolizisten“ entwickle, so stimmt freilich, daß die OSZE eine „weiche“ Institution bleibt, zuständig für Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung, wobei selbst auf diesen Gebieten eine Konkurrenz z. B. mit dem Transatlantischen Partnerschaftsrat der NATO gegeben ist. „Diese Entwicklung muß insofern beruhigen, als offen bleibt, was geschieht, wenn das exklusive Militärbündnis NATO nicht willens oder in der Lage ist zu handeln. Mit anderen Worten: Die Sicherung des Welt-friedens hängt künftig noch mehr als bisher vom guten Willen der wichtigsten NATO-Staaten ab, allen voran von dem der Vereinigten Staaten.“

Sollte es dem Sicherheitsrat nicht gelingen, eine konsistente Praxis zu entwickeln, nach der eine Regel ohne Rücksicht auf einseitige, opportunistische politische Erwägungen gilt und angewandt wird, so werden seine Entscheidungen über kurz oder lang keine Gefolgschaft beanspruchen können und auch keine Gefolgschaft mehr finden. Diese Forderung richtet sich indes in erster Linie an die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. „Wer im Interesse innerstaatlicher konstitutioneller Legalität interveniert (Haiti), muß sich auch an die eigene konstitutionelle Legalität halten, die von den Staaten auf der Grundlage der UN-Charta geschaffen wurde. Wer die territoriale Unversehrtheit Kuwaits mit der ultima ratio militärischer Gewaltanwendung verteidigt, darf vor massiven militärischen Übergriffen (durch die Türkei) auf das Gebiet eines Mitgliedstaates (Irak) nicht die Augen verschließen, insbesondere dann nicht, wenn dem betroffenen Staat die Möglichkeit, sich militärisch zu verteidigen, genommen wurde. Wer zum Schutz der Menschenrechte einschreitet, muß ein Minimum an Konsequenz und Unparteilichkeit beweisen.“

Solange und insoweit internationale Institutionen nur in unzureichendem Maße existieren, um Krisensituationen multilateral und auf der Grundlage transpartikularer und völkerrechtlich fundierter Kriterien zu bewältigen, und solange Sicherheit unzureichend durch kollektive Mechanismen garantiert wird, wird das Prinzip der Unilateralität nicht aufgegeben werden. Indes ist Unilateralität nicht nur Ergebnis fehlender funktionierender Multilateralität, sondern ebenso ist umgekehrt nicht vorhandene oder unzureichende Multilateralität auch Ausfluß des Unwillens, auf Unilateralität zu verzichten. Vielfach stellt der Hinweis auf das Nichtfunktionieren multilateraler Mechanismen den Versuch dar, Unilateralität zu legitimieren: Die Möglichkeit, unilateral zu handeln, schafft Handlungsspielräume und -Optionen, die unter „multilateralisierten“ Bedingungen nicht wahrgenommen werden könnten. Es kommt nicht von ungefähr, daß in der Regel die Großmächte (und die, die sich dafür halten) ihre unilateralen Möglichkeiten bewahren, teilweise ausweiten wollen, während die Kleinstaaten aufgrund ihrer Position, in der sie eher der Unilateralität der Großmächte ausgesetzt und deren Objekt sind, zur Multilateralität tendieren.

Das partielle Scheitern des internationalen Krisen-managements in Jugoslawien -UNO und NATO spielten vor allem beim Management der Kriegsfolgen eine Rolle, nachdem mehrere hunderttausend Menschen getötet und vertrieben worden waren -wie in einigen anderen relevanten Konflikten nach dem Ende des Kalten Krieges zeigt, daß die Staatengemeinschaft noch keine adäquaten Mittel gefunden hat, den heutigen Herausforderungen zu begegnen Die Analyse der Ursachen macht deutlich, daß es ungeachtet aller gegenwärtigen Schwächen zur Stärkung von Multilateralität, zur weiteren Verrechtlichung der Außenpolitik und der internationalen Politik sowie zur Institutionalisierung in Form kollektiver Sicherheitssysteme (u. a.der UNO) und internationaler Schiedsgerichtsbarkeit keine tragfähige Alternative gibt.

Dies ist auch deswegen der Fall, weil, wie bereits angemerkt, auch für die NATO und ihre Mitgliedstaaten gilt, daß peace- und law enforcement immer nur in Angriff genommen werden, wenn zentrale Interessen der für solche Maßnahmen in Frage kommenden Staaten tangiert sind. Deshalb sind Vorstellungen, die NATO würde ihr militärisches Potential permanent in den Dienst kollektiver Sicherheitsinstitutionen wie UNO oder OSZE stellen, ebenso abwegig wie eine Vision, die die NATO weltweit anstelle der genannten Institutionen Stabilität und Menschenrechte sichern sieht. „Eine NATO als System kollektiver Sicherheit würde nicht nur ihre Effizienz als handlungsfähiges Sicherheitsinstrument, sondern auch den Rückhalt der Mehrheit ihrer Bündnismitglieder verlieren -allen voran der USA.“

Die Konsequenz des Prozesses der globalen „Vergemeinschaftung“ zentraler Interessen von Staaten, Volksgruppen und Individuen kann nicht darin bestehen, daß daraus die unilaterale Berechtigung zur Durchsetzung dieser Interessen abgeleitet wird, sondern darin, daß nunmehr auch die zwangsweise Rechtsdurchsetzung in der Hand der Gemeinschaft -das heißt, der von ihr geschaffenen Gemeinschaftsorgane -liegt Die Konsequenz und der Fortschritt bestehen darin, daß der Staatengemeinschaft als solcher eine eigenständige Rechtsposition zuerkannt wird, die nur dann über den bisherigen Rechtszustand hinausführt, wenn ihr zugleich ein ausschließliches Durchsetzungsrecht zusteht. Solange dies nicht der Fall ist, wird sich der Kreis der Unilateralität, menschenrechtlicher Selektivität und der Schwäche internationaler Institutionen, Menschenrechtsverletzungen adäquat entgegenzutreten, nur schwer aufbrechen lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gerhard Zimmer, Rechtsdurchsetzung (Law Enforcement) zum Schutz humanitärer Gemeinschaftsgüter. Zu Theorie und Praxis der „Intervention“ im zeitgenössischen Völkerrecht. Aachen 1998, S. 7.

  2. Bei Lawrence Freedman wird zwischen „zwei Bedeutungsarten“ von „Intervention“ (guten und schlechten) unterschieden. Allerdings kommt in dem Sammelband die völkerrechtliche Dimension nur indirekt vor. Vgl.ders. (Hrsg.), Military Intervention in European Conflicts, Oxford 1994, S. 3 ff.

  3. Der Begriff unilateral wird in dem hier vorliegenden Kontext nicht nur für Aktivitäten von Einzelakteuren im internationalen System, sondern auch von Staatenkoalitionen angewendet, insofern von der Völkerrechtslage her nur der Sicherheitsrat der UNO befugt ist, Sanktionen gegen ein Mitglied der Staatengemeinschaft zu beschließen, wenn nicht der Verteidigungsfall vorliegt. Multilateralität bezeichnet also gemäß der Charta der Vereinten Nationen Überein-stimmung von mindestens neun Mitgliedern des Sicherheitsrates, darunter aller fünf ständigen Mitglieder.

  4. Mit dem Begriff Ingenuität ist hier der beabsichtigte Zustand mit Hilfe einer Politik gemeint, die auf eine Abwehr von Restriktionen für die eigene Handlungsfreiheit und auf die Erlangung einer möglichst großen Variationsbreite eigener Handlungsoptionen gerichtet ist.

  5. Diese Bewertung ausgenommen, fußt der nachfolgende Passus hinsichtlich der Entwicklung der Diskussion über eine Krisenmanagementrolle der NATO auf den Ausführungen von Michael Rühle, Krisenmanagement in der NATO, in: Dieter Farwick (Hrsg.), Krisen -die große Herausforderung unserer Zeit, Frankfurt a. M. -Bonn 1994, S. 145-188, hier S. 148 ff.

  6. Vgl. M. Rühle, ebd., S. 151.

  7. Ebd., S. 155 f.

  8. Eine pointierte Kritik dazu leistete bereits 1993 Reinhard Mutz, NATO und UNO auf schwankendem Grund, in: Sicherheit und Frieden, (1993) 4, S. 236-237.

  9. Vgl. Karl-Heinz Kamp, Die Nato und ihr neues Strategisches Konzept. Offene Fragen bei der Formulierung des Grundlagendokuments, in: Neue Zürcher Zeitung vom 1. 10. 1998.

  10. Einen Überblick gibt Ulrich Beyerlin, Humanitarian Intervention, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 3, Amsterdam u. a. 1982, S. 211 ff. Zur hier völlig außer acht gelassenen Problematik der Intervention zugunsten bedrohter eigener Staatsangehöriger im Ausland siehe Claudia Westerdiek, Humanitäre Intervention und Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland, in: Archiv für Völkerrecht, (1983) 21, S. 383-401.

  11. G. Zimmer (Anm. 1), S. 78. Soweit nicht anders vermerkt, folgen die nachstehenden Ausführungen über law enforcement und humanitäre Intervention dieser Studie.

  12. Christopher Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: Europa-Archiv, (1993) 4, S. 93-106, verdeutlicht dies an der „Interventionspraxis“ in diversen Fällen nach dem Ende des Kalten Krieges.

  13. Definition laut Greifeids Rechtswörterbuch, 12. Auflage, München 1994.

  14. Harald Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen. Ein Beitrag zum Recht der humanitären Intervention, Frankfurt a. M. 1997, S. 393.

  15. Zuletzt sind diesbezüglich auf der Weltmenschenrechtskonferenz von Wien im Juni 1993 erfolgreich universelle Festlegungen getroffen worden. Vgl. Rüdiger Wolfrum, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechts-schutzes. Perspektiven nach der Weltmenschenrechtskonferenz von Wien, in: Europa-Archiv, (1993) 23, S. 681-690.

  16. Einen prägnanten menschenrechtshistorischen Über-blick gibt Thomas Hoppe. Human Rights. in: Judith A. Dwyer (Ed.), The New Dictionary of Catholic Social Thought, Collegeville, Minn. 1994, S. 454-470; ders., Menschenrechte: international verpflichtende Minimalstandards oder Manifestationen säkularisierter Religiosität?, in: Andreas Fritzsche/Manfred Kwiran (Hrsg.), Der Mensch, München 1998, S. 26-36.

  17. G. Zimmer (Anm. 1), S. 103.

  18. Eine konzise Darlegung der Geschichte und des Wirkens der UNO im internationalen System findet sich bei Manfred Knapp, Die Rolle der Vereinten Nationen in den internationalen Beziehungen, in: ders. /Gert Krell (Hrsg.), Einführung in die Internationale Politik, München-Wien 1996, S. 476-504.

  19. H. Endemann (Anm. 14), S. 89.

  20. G. Zimmer (Anm. 1), S. 69.

  21. Vgl. dazu z. B. Alex de Waal/Rakiya Omaar, Ruanda: Humanitäre Hilfe und die Grenzen der Neutralität, in: Tobias Debiel/Franz Nuscheler (Hrsg.), Der neue Interventionismus. Humanitäre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bonn 1996, S. 229-250.

  22. Vgl. Chr. Greenwood (Anm. 12), S. 93, Allerdings warnt auch Greenwood davor, daß die „Möglichkeiten für einen Mißbrauch dieses Rechts auf humanitäre Intervention . . . heute so groß (bleiben) wie eh und je“ (S. 105 f.).

  23. G. Zimmer (Anm. 1), S. 61 und 61 f.

  24. Vgl. ebd„ S. 81 f.

  25. Dietrich Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention. Zu einigen neueren Tendenzen im Völkerrecht, in: Der Staat, (1996) 1-4, S. 43.

  26. Die unzureichende Kontrolle bzw. Durchsetzung beschlossener Waffenembargos ist in den vergangenen Jahren in vielen Konfliktherden mehr die Regel als die Ausnahme gewesen. Für den Fall Kosovo: Der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, kritisierte nach dem von der NATO im Juli 1998 ohne Mandat des Sicherheitsrates der UNO verfügten „Aktivierungsbeschluß“ und dem Ultimatum, bei Nichteinhaltung der Forderung nach Abzug serbischer Einheiten aus dem Kosovo mit militärischen Einsätzen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) vorzugehen, EU und NATO hätten nicht einmal zur Durchsetzung des gegen die BRJ verhängten Waffenembargos beigetragen. Zur Problematik militärischen Krisenmanagement im Kosovo vgl. August Pradetto. Konfliktmanagement durch militärische Intervention? Dilemmata westlicher Kosovo-Politik, Studien zur Internationalen Politik (Hamburg), (1998) 1.

  27. Vgl. Manfred Kulessa, Stumpfes Friedensinstrument? Zur Problematik der UN-Sanktionen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 16-17/98, S. 31 -38.

  28. Vgl. G. Zimmer (Anm. 1), Vorwort.

  29. Joseph Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte: Zur Wiederkehr der humanitären Intervention, in: Juristenzeitung, (1995) 50, S. 427.

  30. Robert Uerpmann. Grenzen zentraler Rechtsdurchsetzung im Rahmen der Vereinten Nationen, in: Archiv des Völkerrechts, (1995) 33, S. 126.

  31. Vgl. dazu die Ausführungen von Karädi/Klingenburg über das Krisenmanagement von UNO und NATO im ehemaligen Jugoslawien: Mathias Z. Karädi/Konrad Klingen-burg, Auf den Trümmern der „Neuen Weltordnung“. Das Scheitern von UNO und NATO im Balkankrieg, in: Sicherheit und Frieden, (1995) 11, S. 16-23.

  32. Diese Konsequenz aus dem Tatbestand der Selektivität und der Betrachtung des Ablaufs herausragender Fälle humanitärer Intervention zieht u. a. Ruth E. Gordon, Humanitarian Intervention by the United Nations: Iraq, Somalia, and Haiti, in: Texas International Law Journal, Vol. 31 (1996), S. 43-56.

  33. Vgl. Matthias Z. Karädi, Die Neue NATO?, in: Sicherheit und Frieden, (1996) 3, S. 138-144.

  34. Ebd.

  35. G. Zimmer (Anm. 1), S. 160 f.

  36. Vgl. Gerald Braun/Angelina Topan, Frieden als Abwesenheit von Krieg? Kritischer Vergleich einiger Blauhelmeinsätze in den neunziger Jahren, in: Aus Politik und Zeit-geschichte. B 16-17/98, S. 3-12.

  37. K. -H. Kamp (Anm. 9).

  38. Vgl. G. Zimmer (Anm. 1), S. 99.

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