Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der Islam und die Iranische Revolution von 1979 | APuZ 19/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 19/1999 Islamischer Internationalismus oder realpolitischer Pragmatismus? Zwei Jahrzehnte Außenpolitik der Islamischen Republik Iran Der Islam und die Iranische Revolution von 1979 Zur Entstehung und Veralltäglichung einer charismatischen Herrschaft im nachrevolutionären Iran Die Folgen der Iranischen Revolution von 1979 für die Wirtschaft

Der Islam und die Iranische Revolution von 1979

Mehdi Parvizi Amineh

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Islam in Iran langsam als politische Ideologie. Diese Entwicklung resultierte aus dem Zusammenstoß zwischen der orientalischen und der westlichen Welt. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Islamischen Revolution äußerte sich die islamische politische Ideologie in Iran in zwei verschiedenen nationalistischen Projekten: 1. in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die schnelle sozioökonomische Modernisierung und die Veränderungen, die von der Expansion des europäischen Kapitalismus und seiner Zivilisation in Iran hervorgerufen worden waren, und 2. in den sechziger und besonders in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts als Reaktion auf die ökonomischen und kulturellen Veränderungen, die Modernisierung von oben und als Reaktion auf den sozial repressiven Staat. In diesen zwei historischen Perioden entwickelten sich zwei nationalistisch-politisch-ideologische Alternativen. Die erste äußerte sich in der (liberalen) Ideologie der Konstitutionellen Revolution (1905-1911) und die zweite in der Revolutionsideologie der Islamischen Revolution. Die schnelle sozioökonomische Modernisierung und die extrem ungleiche Entwicklung unter dem autoritären Regime des Schah zwischen 1961 und 1977 -verkörpert in einer Bodenreform und in einer schnellen Industrialisierung -hatten demographische und soziale Spannungen zur Folge, was wiederum in einer strukturellen ökonomischen und politischen Krise gipfelte, die schließlich zur Iranischen Islamischen Revolution unter Ajatollah Khomeini und den ulama (Geistlichkeit) führte. Die islamische politische Ideologie wurde von verschiedenen Gruppen und Ideologen entwickelt, wie z. B. von Bazargan, von den , Mudschahedin Khalq‘, der militanten Pro-Khomeini-Gruppe der ulama und schließlich von der modernen Intelligenzia wie Shari’ati. Trotz ihrer fundamentalen ideologischen Unterschiede waren diese vier Strömungen in den drei Jahrzehnten vor der Revolution in der Lage, den Islam in eine neue politische Ideologie zu fassen. Die postrevolutionären sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Probleme und Hindernisse schufen besondere Umstände, die es einem Teil der ulama und der islamischen Intelligenzia ermöglichte, den islamischen Staat und seine politische Ideologie zu kritisieren. Kern dieser islamischen intellektuellen Bewegung war ein neuer Trend innerhalb der islamischen Bewegung in Iran und hin Versuch, den Islam als politische Ideologie neu zu durchdenken.

Revolutionen sind komplexe Phänomene. Sie sind gekennzeichnet von unerwarteten Veränderungen im revolutionären Prozeß selbst, und ihre Langzeitkonsequenzen können vielleicht erst nach Generationen in ihrer Vollständigkeit begriffen werden. Revolutionstheorien sind nicht umfassend genug, um die Totalität der Ursachen, Prozesse und die Folgen von Revolutionen in ein und dasselbe Modell zu integrieren.

Die Iranische Revolution war eine der komplexesten Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Niemals zuvor hatte eine Revolution von solcher Tiefgründigkeit in der islamischen Welt stattgefunden. Die Bewegung unter der Führerschaft der ulama (Geistliche) und ihrer islamischen Ideologie konnte sich mit Erfolg gegenüber einem der stärksten Regime der Dritten Welt, das über einen ausgezeichneten, aber repressiven Apparat verfügte (Geheimpolizei und Armee), durchsetzen. 1978 gingen Millionen von Menschen auf die Straßen, um der alten Ordnung ein Ende zu setzen.

Nach 20 Jahren Iranischer Revolution gibt es eine umfangreiche Literatur über die Ursachen und die Art und Weise der Revolution. Trotzdem sind eine Reihe kontroverser Themen bis heute nicht vollständig geklärt. Auch die Theoretisierung der sozialen Revolution im Iran muß noch aufgearbeitet werden.

Dieser Artikel konzentriert sich auf den wichtigsten Aspekt der multidimensionalen Faktoren, die die Iranische Revolution verursacht haben, nämlich auf die islamische politische Ideologie und den Prozeß, durch den sich die islamischen sozialen Kräfte zur Führerschaft der Iranischen Islamischen Revolution (1978/79) entwickeln konnten.

I. Der Ursprung des Islam als politische Ideologie im Iran

Die Desintegration traditioneller gesellschaftlicher Strukturen und die schnellen sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen, die mit der Expansion des europäischen Kapitalismus und seiner Zivilisation in die islamische Welt zusammenhingen, führten im Iran des 19. Jahrhunderts allmählich dazu, daß sich der Islam als eine politische Ideologie mit nationalistischem Charakter entwikkelte. Dieser Prozeß hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Iran zwei dialektische Effekte: Erstens führte er zu einer allmählichen Konvergenz zwischen der iranischen sozialen Struktur und dem europäischen Kapitalismus und seiner Zivilisation. Dies äußerte sich unter der Herrschaft der Qadjaren (1786-1921) in einem Reformprozeß (des Steuersystems, der Staatsinstitutionen und der Armee) von oben, in der Konsolidierung des Privatbesitzes, in der Entstehung einer modernen Intelligenzia und in einem allmählichen Transformationsprozeß des Imperiums zu einem modernen Nationalstaat, der von der Konstitutionellen Revolution (1905-1911) zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitet worden war.

Zweitens resultierte dieser Prozeß in einer allmählichen Divergenz auf kultureller Ebene. Das heißt, daß die Expansion des europäischen Kapitalismus und der europäischen Zivilisation sowie ihre ideologischen und kulturellen Folgen nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle (religiöse) Reaktion hervorriefen. Aus sozialer Sicht basierte diese Entwicklung auf dem traditionellen städtischen, ökonomischen Sektor des Bazars der von der westlichen ökonomischen Penetration bedroht wurde. Die ulama waren Vertreter der traditionellen Kultur und erhielten aufgrund dieser Wechselbeziehung eine wichtige Machtposition. Der Islam behauptete sich in dieser Zeit mit Hilfe des Nationalismus. Das religiöse Establishment, das die Macht an sich gerissen hatte, unterstützte diese Entwicklung. Damit stärkte es die lokale Kultur und das nationale Bewußtsein: Der Nationalismus wurde als Islam und der Islam wurde als Nationalismus ausgedrückt. Es war also eine Kombination aus ökonomischen (Bazar) und ideologischen (ulama) Kräften die mit der Intelligenzia zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Konstitutionelle Revolution mit einem nationalistischen, antidespotischen, gegen die ausländische Intervention gerichteten Charakter hervorriefen. Mit der Einführung einer Konstitution und eines Parlaments nach westlichem Modell wurde die absolute politische Macht des Schah zerstört, was dazu führte, daß die Autorität der ulama als Oberhoheit über das islamische Gesetz anerkannt wurde. Damit wurden die ulama zu Vertretern eines Segments der einheimischen nationalistischen Bewegung

Die Frage ist jedoch, unter welchen sozialökonomischen und politischen Bedingungen ein neuer Typus ulama und ein revolutionärer politischer Islam entstehen und sich schließlich zur dominanten Kraft und Führerschaft der Iranischen Islamischen Revolution von 1978/79 entwickeln konnten.

II. Der Staat und die ulama

Mohammed Reza Schah kam im Iran an die Macht, als sein Vater im Jahre 1941 von den alliierten Mächten gezwungen wurde, abzudanken. Obwohl das Land seine Neutralität erklärt hatte, wurde es zu dieser Zeit von den alliierten Kräften besetzt. Die Besetzung und Reza Schahs Abdankung führten zu einem Bruch mit dem autoritären Regime und dazu, daß die konstitutionelle Ordnung wiederhergestellt wurde. Eine freie Presse wurde wieder eingeführt, und es kamen viele neue politische Parteien auf. Doch politische Freiheit war nicht das einzige Ergebnis der Besetzung Irans und der Abdankung Reza Schahs. Der Zweite Weltkrieg und die Besetzung führten zu einem ökonomischen und sozialen Zusammenbruch. Die sozialökonomische Unruhe trug zu einer Intensivierung der politischen Aktivitäten und der politischen Krise bei, die charakteristisch für die Zeit zwischen 1941 und 1953 waren. Diese Periode endete mit einem militärischen Putsch im Jahre 1953 gegen die nationalistische Regierung von Mossadeq und die Unterdrückung oppositioneller gesellschaftlicher Kräfte. Erneut entstand ein autoritärer Staat unter der Herrschaft des Schah, der wirtschaftlich und finanziell von den Vereinigten Staaten unterstützt wurde.

Zu Beginn versuchte der Schah mit Hilfe einer Koalition aus Großgrundbesitzern und den ulama, seine Position zu konsolidieren. Strategisch betrachtet, hatte der Staat keinen Bedarf an den traditionellen sozialen Gruppen und Klassen, darunter die ulama, da die Modernisierung nach westlichem Modell die Bedürfnisse der traditionellen Gruppen bedrohte und den Staat früher oder später in Konfrontation mit diesen traditionellen Kräften bringen würde. Die Stabilisierung des Regimes und die Durchführung eines umfassenden Reformprogramms unter der Mithilfe der Vereinigten Staaten, das als Weiße Revolution und später als die Revolution des Schahs und des Volkes bekannt wurde und mit einer intensiven säkularen nationalistischen, antiislamischen Propaganda verbunden war, führte zu einem Antagonismus zwischen den ulama und dem Staat.

Die Doktrin der Weißen Revolution rief eine Reaktion verschiedener sozialer Kräfte hervor, besonders der großgrundbesitzenden Klasse, der ulama, des Bazars und der säkularen Oppositionsparteien, die sich in der Nationalen Front organisierten. Die Bodenreform und die gesamte Politik der Weißen Revolution stellten für die Großgrundbesitzer eine Bedrohung dar. Für die ulama bedeuteten das gesamte Modernisierungsprogramm und das Frauenwahlrecht eine Untergrabung ihrer Einflußsphäre. Für die bazaris waren diese Reformen ein Anzeichen für umfassende Interventionen in ihre geschäftlichen Aktivitäten, die die Autonomiedes Bazars einschränkten. Die Unzufriedenheit der religiösen Gemeinschaft war mit öffentlichen Mißständen verbunden, die das Ergebnis einer ökonomischen und politischen Krise waren und zu dem Aufstand von 1963 führten. Im Juni 1963 rief Ajatollah Khomeini zu einer Revolte auf, die sich gegen den Schah richtete; sie wurde von den Militärs blutig unterdrückt. Die Führer der Nationalen Front wurden gefangengenommen und Ajatollah Khomeini als populärer Führer in die Türkei verbannt. Später ging er in den Irak

Mit dem Aufstieg Ajatollah Khomeinis als unversöhnlicher Gegner des Schahregimes und Initiator der Revolte von 1963 entwickelte sich allmählich ein neuer Typus Pro-Khomeini-ulama und ein neuer Typus tulab (religiöse Studenten). Die Mitglieder dieser neuen Gruppe bildeten den Kern der militanten ulama und der zukünftigen Revolutionsführer und Initiatoren des islamischen Staates unter der Führung von Khomeini. Die Neuformulierung der schiitischen politischen Doktrin als revolutionäre Doktrin war ein allmählicher Prozeß, der nach dem Putsch von 1953 durch die Pro-Khomeini-ulama begann und in den sechziger und siebziger Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Dieser Prozeß, der als ehjaj-e fekr-e dini (die Wiederbelebung des religiösen Denkens) bekannt wurde, bildete den intellektuellen Ursprung der Iranischen Islamischen Revolution von 1978/79.

Es ist interessant, daß das soziale Phänomen, das im Iran als , islamischer Fundamentalismus'abgestempelt wurde, zustande kam, indem es von kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Werten des modernen Iran Gebrauch machte, die selbst Produkt eines langwierigen, vom Westen inspirierten Modernisierungsprozesses waren. Der Einfluß der modernen iranischen säkularen politischen Kultur und Sprache auf das Denken der religiösen Reformer war in dieser Periode besonders auffällig.

Die Entwicklung und Ausbreitung moderner Werte und säkularer kultureller und politischer Elemente, besonders nach der Konstitutionellen Revolution, hatten einen starken Einfluß auf das Programm und die Ziele der schiitischen Denker, die sich gezwungen sahen, die traditionellen scholastischen Denkbilder zu überarbeiten. Teil des Projektes . Wiederbelebung des religiösen Denkens waren die Reformierung traditioneller, religiöser Gedanken und des Wertesystems sowie deren Anpassung an die bestehende moderne iranische Politik und Kultur. Ein Großteil der Wissenschaftler und Medien, die die Iranische Islamische Revolution und die iranische islamische Bewegung als , Islamischen Fundamentalismus'konzeptionalisieren und diejenigen, die die Ideologie der Islamischen Revolution auf die eine oder andere Weise mit dem Prozeß der . Rückkehr zum ursprünglichen islamischen Zusammenleben'und der . Tradition'in Verbindung bringen wollen, wissen wenig von den Enstehungsmechanismen, die die , Wiederbelebung des religiösen Denkens', die Theorie der velajat-e faqih (Herrschaft der Islamischen Juristen) und der hokumat-e Islami (Islamischer Staat/Regierung) von Ajatollah Khomeini und die aufkommende radikale islamische politische Ideologie der Intelligenzia betreffen. Die Idee Ajatollah Khomeinis und anderer schiitischer modjteheds war tatsächlich eine Überarbeitung und Erneuerung des schiitischen politischen Denkens und muß als ein neues Phänomen angesehen werden. Gleichzeitig müssen die Ursachen dieser Erscheinung im Kontext der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Geschichte des modernen Iran betrachtet werden.

III. Der Schiismus und die politische Macht

Historisch betrachtet gibt es keine Trennung zwischen Staatsmacht und religiösem Denken im Islam. Der Islam macht keine grundlegende Unterscheidung zwischen der Politik in ihrer weltlichen Bedeutung und der spirituellen Macht Als spirituelle Macht legte Prophet Mohammed die essentiellen Prinzipien des Islam fest. Als weltlicher Führer schuf er die Basis für die islamische politische Macht, die er selbst innehatte. Nach dem Tod Mohammeds wurden in der weiteren Geschichte des Islam die Rolle der politischen Macht und die Legitimität der religiösen oder weltlichen Herrscher zu einem wichtigen zentralen Problem und zur Quelle der Polemik. Innerhalb des Schiismus stellte sich dies als ein noch komplizierteres Problem dar. Nach dem Tod von Imam Hossein, dem dritten schiitischen Imam, der verschiedene fehlgeschlagene militärische Aktionen angeführt hatte, um die Kontrolle über die islamische Gemeinschaft zu erlangen, distanzierten sich die ihm folgenden schiitischen imams von der Politik. Die Depolitisierung der schiitischen imams erreichte mit dem Verschwinden des Zwölften Imam (873-874) ihren Höhepunkt Die praktische Verborgenheitsdoktrin ermächtigte die schiitischen Führer dazu, ihren Anspruch auf die politische Macht auszusetzen. Dieses Phänomen unterstützte die Idee, daß die weltliche Herrschaft keine notwendige Aufgabe des imam sei. Damit strebten die weltliche und religiöse Funktion des imam noch weiter auseinander.

Im Schiismus besteht also ein grundsätzliches Übereinkommen darüber, daß es keine Führerschaft des schiitischen imam gibt, wohl aber die Führerschaft des Zwölften Imam. Gleichzeitig erkennt der Schiismus jedoch an, daß es notwendigerweise eine Art Führerschaft während der Verborgenheit des Zwölften Imam geben muß. Tatsächlich gibt es im Schiismus jedoch keine allgemeingültige Definition von Aufgabe und Praxis dieser Führerschaft. Es besteht keine Übereinkunft darüber, auf welche Art und Weise die politische Macht durch die ulama in der islamischen Gemeinschaft ausgeführt werden soll. Der historische scholastische Konflikt zwischen verschiedenen schiitischen Schulen war ein Indikator für die immerwährende Spaltung innerhalb der schiitischen Geistlichkeit über die politische Rolle der ulama in der islamischen Gemeinschaft Die fehlende Übereinstimmung über die Frage der Führerschaft führte zu Verwirrung und einem Macht-vakuum, das historisch die Tür für die ulama zu öffnen schien, um während der Verborgenheit des Zwölften Imam die spirituelle und politische Macht auszuüben.

Die zwei bedeutendsten neuen Ideen innerhalb der ulama bezüglich der schiitischen Definition der politischen Macht wurden im 20. Jahrhundert bis zur Iranischen Islamischen Revolution von Ajatollah Schaykh Mohammed Hossein Naini (1860-1936), der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Konstitutionelle Monarchie vom Standpunkt der schiitischen Rechtsprechung aus in seinem berühmten Buch tanbih al-umma va tanzih al mella (Die Führung und die Raffinesse des Menschen) akzeptierte und von Ajatollah Ruhollah Khomeini entwickelt, der der schiitischen politischen Theorie durch eine radikale Verschiebung der schiitischen Interpretation der Konstitution mit den Begriffen velajat-e faqih (Herrschaft des faqih) und der hokumat-e islami (Islamischer Staat/Regierung) einen völlig neuen Inhalt gab

Khomeini war der erste, der mit Hilfe des schiitischen juristischen Systems die Monarchie in Zweifel zog, indem er radikale Kritik an der Konstitutinellen Revolution und den prokonstitutionellen ulama übte. Wie wir gesehen haben, betrachtete der Schiismus alle weltliche und politische Macht zur Zeit des Verborgenen Zwölften Imams als ungesetzlich und nicht legitim. Die ulama waren die öffentlichen Vermittler des Verborgenen Imams, und ihre vermeintliche Abstammung vom Propheten legitimierte ihre Herrschaft. Mit der Entwicklung einer relativ neuen Idee (der velajat-e faqih) überholte Ajatollah Khomeini radikal das traditionelle schiitische Dogma über die weltliche politische Macht. Die Interpretation Ajatollah Khomeinis vom Verhältnis zwischen weltlichen und spirituellen Dingen im Zusammenhang mit der Theorie der velajat-e faqih gibt der ummat (islamische Gemeinschaft) also eine grundlegende Wächterfunktion, die der des Propheten und der des imam gleichkommt. Diese Funktion umfaßt folglich die Überwachung der ausführenden und rechtsprechenden Macht.

Die Bewegung, die mit der Junirevolte von 1963 begann, entwickelte sich theoretisch und praktisch in den sechziger und siebziger Jahren weiter. Der öffentliche Protest Ajatollah Khomeinis gegenüber dem Staat legitimierte seine Rolle als konkurrenzloser Führer innerhalb der ulama.

IV. Der neue Typus schiitischer ulama

In den sechziger und siebziger Jahren begann sich das Segment der ulama, das von Ajatollah Khomeini inspiriert worden war, zu organisieren. Es errichtete ein nationales Netzwerk, das die Ideen und die Politik Khomeinis propagierte Es war kein Zufall, daß es eine vorbereitete und organisierte Führung um Ajatollah Khomeini gab, die in der revolutionären Situation (1977-1978) die breiten sozialen Klassen und Gruppen gegen das Regime des Schahs mobilisieren konnte. Die wichtigsten Nachfolger der reformistischen ulama und der Anhänger Ajatollah Khomeinis waren junge Geistliche, darunter Mohammed Beheschti (Gründer der , Islamic Republic Party 4), Ali Akbar Rafsanjani (früherer Präsident), Ali Khamenei (heutiger religiöser Führer), Mortaza Motahhari und Ali Montazeri (früherer Nachfolger Ajatollah Khomeinis) etc. Diese Gruppe der ulama hatte eine positive Haltung gegenüber der modernen Wissenschaft. Ein Segment dieser ulama, darunter Beheschti, Motahhari, Bahonar (früherer Ministerpräsident) und Mofateh, waren Mitglieder der philosophischen Abteilung der theologischen Fakultät an der Universität Teheran. Sie kombinierten traditionellen mit modernem Unterricht und konnten so mit nichtreligiösen Intellektuellen Kontakt aufnehmen. Es bildeten sich außerdem verschiedene Diskussionsgruppen, die in Seminaren und Lesungen in den sechziger Jahren neue Ideen entwickelten, die die Grundlage für den islamischen Staat/Regierung bildeten und in Form von Beiträgen veröffentlicht wurden. Kern dieser Publikationen der reformistischen ulama war der Versuch, eine Ideologie zu entwickeln, die sich der zunehmenden Verbreitung säkularer kultureller Werte und den Einfluß des Westens, der sich im Modernisierungsprogramm des Schahregimes äußerte, widersetzte und gleichzeitig eine gesellschaftliche Alternative bieten konnte. Sprache und Stil dieser Publikationen waren sehr modern, literarisch und professionell. Die Neigung zur Neuformulierung der islamischen Gesetze als Ideologie mit Hilfe der modernen Wissenschaft und wissenschaftlichen Analyse war das wichtigste Kennzeichen dieser religiösen Kräfte

Die . Wiederbelebung des Islam war abhängig davon, inwieweit der Islam Antworten auf gesellschaftliche Probleme geben konnte. Die Neudefinition der Religion und des Islam waren von einer modernen politischen Ideologisierung der Religion gekennzeichnet. Es war ein Versuch, die neuen Ideen und Implikationen auf die islamischen Prinzipien zu projizieren, die so einen Beitrag zur Bildung eines dynamischen, sebstbewußten Systems sozialer, politischer und islamischer Werte leisten konnten.

Gemeinsam mit der Entwicklung und den Aktivitäten der militanten und reformistischen ulama kam auch eine neue Generation der modernen islamischen Intelligenzia auf, die einen großen Beitrag zur Entwicklung und Ausbreitung des revolutionären politischen Islam leistete. Dies versetzte sie in die Lage, den traditionellen Teil der Gesellschaft, breite moderne soziale Klassen und Gruppen -wie die städtische Mittelklasse, Studenten, Schüler und Frauen -zu mobilisieren. Im Gegensatz zur früheren iranischen Intelligenzia, die den säkularen Nationalismus, den Liberalismus und den Sozialismus verteidigte, strebte die aufkommende Intelligenzia nach einem Islam in Form einer revolutionären politischen Ideologie und eines sozialen und politischen Projektes.

V. Der Islam und die moderne Intelligenzia

Die moderne intellektuelle Geschichte Irans ist von zwei entgegengesetzten Perioden mit zwei unterschiedlichen dominanten politischen Kulturen gekennzeichnet: Die dominanten Ideen der ersten Periode schufen den intellektuellen Hintergrund für die Konstitutionelle Revolution und können im allgemeinen als säkulare, von der westlichen Zivilisation und modernen Ideen, wie dem ökonomischen Liberalismus, dem Rationalismus und dem Konstitutionalismus, inspirierte Richtungen unter der iranischen Intelligenzia konzeptionalisiert werden. Die zweite Periode war von einer radikalen Kritik an der westlichen Zivilisation seitens der meisten Intellektuellen gekennzeichnet. Die Intellektuellen suchten damit ihre Zuflucht in den traditionellen heimischen Werten (Islam), was sich in von ihnen entwickelten Begriffen wie qarbzadegi (Verwestlichung) und bazgascht beh khischtan (zurück zu sich selbst) als Front gegen den westlichen Imperialismus äußerte. Diese intellektuelle Auseinandersetzung bildete den Hintergrund für die Entwicklung einer Ideologie der Iranischen Islamischen Revolution.

Das wichtigste Kennzeichen aller intellektuellen Bewegungen und auch der mit ihnen verbundenen politischen Organisationen seit der Konstitutionellen Revolution im Iran bis zum Putsch 1953 waren ihre säkulare Denkweise und ihre säkularen Programme. Der Säkularismus bildete zu dieser Zeit die dominante politische Kultur der verschiedenen sozialen Bewegungen im Iran, die liberal, sozialistisch oder marxistisch orientiert waren. Islamische Denker und Aktivisten wie Ajatollah Behbahani, Ajatollah Tabatabai, Ajatollah Zanjani, Ajatollah Kashani, Mehdi Bazargan oder Yadollah Sahabi standen seit der Konstitutionellen Revolution bis zum Putsch von 1953 hinter der säkularen iranischen Konstitution. Bis zum Beginn der siebziger Jahre war selbst Ajatollah Khomeinis wichtigstes politisches Ziel die Durchsetzung der iranischen Konstitution.

Obwohl die islamische Bewegung heterogen war und aus verschiedenen Ideologien mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund, unterschiedlichen Interessen und politischen Programmen bestand, gab es doch eine Übereinstimmung: Der Islam wurde als eine revolutionäre politische Ideologie oder als ein soziales Projekt gegen den gemeinschaftlichen Feind (den Staat), aber auch als Alternative zu den konkurrierenden Ideologien, dem Liberalismus und dem Marxismus, betrachtet. Warum wurde jedoch das säkulare intellektuelle soziale Denken und seine Praxis (liberal oder sozialistisch) nach einer in einem langwierigen Prozeß aufgebauten Erfahrung vom islamischen sozialen Projekt und Denken ersetzt?

Die Denkbilder und Aktivitäten der iranischen Intelligenz der sechziger und siebziger Jahre hingen mit einer Reihe von strukturellen Faktoren zusammen. Nach dem Sturz des starken und autoritären Regimes von Reza Schah durch die anglosowjetische militärische Intervention im Jahre 1941 bis zum anglo-amerikanisch unterstützen Putsch von 1953 gegen die nationalistische Regierung Mosaddeqs war der Iran politisch gesehen relativ demokratisch in der Entwicklung und Ausbreitung demokratischer Institutionen wie politischer Parteien, Gewerkschaften, Vereinigungen und der Pressefreiheit. In der Periode nach dem Putsch von 1953 wurden systematisch alle demokratischen Institutionen, vor allem politische Parteien (darunter die Nationale Front und die kommunistische Tudeh-Partei), Gewerkschaften und verschiedene unabhängige zivile Institutionen unterdrückt. Zur gleichen Zeit entwickelte sich unter der Mitwirkung des Militärs und der Mithilfe der Vereinigten Staaten ein repressiver autoritärer Staat, der sich auch das steigende Erdöl-einkommen zu Nutze machte. Die umfassende sozialökonomische Modernisierung und kapitalistische Entwicklung von oben der sechziger und siebziger Jahre, die zu einer drastischen Veränderung der iranischen sozialen Struktur geführt hatte bildete gleichzeitig den Hintergrund für die Entwicklung neuer Vorstellungen innerhalb der neuen Generation der modernen Intelligenzia. Der Trend zur Verteidigung der traditionellen Kultur äußerte sich hier in der Schaffung einer populistischen revolutionären islamischen politischen Ideologie.

Die iranische moderne Intelligenzia, die sich als Vorreiter der Modernität und des Modernismus sah und sich nach dem Putsch als Opfer des repressiven (modernen) Staates betrachtete, konnte die Modernisierung des Regimes nicht legitimierenund akzeptieren. Auch verlief die kapitalistische Entwicklung und Modernisierung im Iran nicht ohne Probleme Die Entstehung großer städtischer Institutionen, moderner und komplexer sozialer Beziehungen, die mit den radikalen Veränderungen in der Lebensweise und dem Werte-system der städtischen Gebiete zusammenfielen, verursachte bei vielen Bürgern ein Gefühl der Entfremdung und der fehlenden Kontrolle über ihr eigenes Leben. Viel wichtiger war jedoch noch, daß ein Teil der städtischen Bewohner sein soziales Leben oder seine kulturelle und religiöse Identität als einen Antagonismus zur täglichen Wirklichkeit erfuhr. Zu diesem Teil der Gesellschaft gehörten die schiitischen ulama, der traditionelle Teil der Gesellschaft und die Migranten aus den ländlichen Gebieten. Gleichzeitig fühlte sich ein großer Teil der gesellschaftlichen Intellektuellen politisch in die Irre geführt, und die aufkommenden modernen Klassen fühlten sich wegen mangelnder Möglichkeiten der politischen Beteiligung sowie der schnellen gesellschaftlichen Entwicklung und Modernisierung dem System entfremdet. Ohne Zweifel stellte die wichtigste Veränderung der sechziger und siebziger Jahre der schnelle Urbanisierungsprozeß dar, der eine Folge der Modernisierung war. Die Ausbreitung der Städte führte zu einer neuen Schichtung der städtischen Bevölkerung. Gleichzeitig hatte die unausgeglichene kapitalistische Entwicklung einen direkten Einfluß auf das städtische Leben und die Struktur der Urbanisierung im Iran. Auf der einen Seite standen die reichen städtischen Gruppen, die sich von der Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Sprache, ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise unterschieden und sich von der Gesellschaft und deren täglichen Problemen entfremdet hatten. Auf der anderen Seite standen die untergeordneten städtischen Klassen und Gruppen, die mit dem primitiven täglichen Lebensverhältnissen konfrontiert wurden und nicht in der Lage waren, sich den dynamischen, sich schnell verändernden und fremden neuen sozialen Umständen anzupassen. Das städtische Leben wurde also zum Schauplatz großer Widersprüche. Die städtischen Armen spiegelten die Dualität des iranischen gesellschaftlichen Lebens wider und waren Kennzeichen der kulturellen Probleme und Widersprüche einer Übergangsgesellschaft, einer Gesellschaft, die kontinuierlich unter Spannung stand.

Es ist darum auch nicht erstaunlich, daß die aufkommenden städtischen Kräfte ihre eigenen Werte behielten, indem sie Institutionen schufen, die ihrem eigenen Weltbild entsprachen. Der wichtigste Mechanismus zur Mobilisierung dieser armen städtischen Bevölkerung waren die traditionellen religiösen Werte und Gewohnheiten, die ihnen von den idama in Moscheen, religiösen Stiftungen etc. übermittelt wurden. Diese religiösen Institutionen waren ein Treffpunkt für Migranten, die traditionellen städtischen Kräfte und die ulama. Die städtischen Armen und die traditionellen sozialen Kräften waren also über religiöse Institutionen miteinander verbunden, die unter der Kontrolle der aufkommenden militanten ulama standen. Dieser Verband stärkte die Opposition der islamischen Kräfte gegenüber dem Staat.

Die soziale Wertekrise war jedoch nicht nur ein Problem der städtischen Armen. Die anderen städtischen sozialen Kräfte und Gruppen -wie Jugendliche, Frauen, die Mittelklasse und besonders die Intelligenzia und Künstler -wurden ebenfalls mit individueller und sozialer Entfremdung konfrontiert. Die unausgeglichene sozioökonomische Modernisierung, Veränderung und Transformation waren zu dieser Zeit darum auch die wichtigsten Themen der intellektuellen kritischen Literatur. Am meisten beschäftigte sich die iranische Intelligenzia mit der Desintegration der präkapitalistischen Agrarstruktur und der Konfrontation zwischen der traditionellen Gesellschaft und der modernen Kultur. Dies führte zu einer radikalen Kritik am Modernismus und an der Verwestlichung. Die wichtigsten modernen islamischen Intellektuellen dieser Periode (vor allem Jalal Al-e Ahmad und Shari’ati) romantisierten mit der Einführung von Konzepten wie Verwestlichung und Zurück zum Islam die heimischen Traditionen des Islam und versuchten, so auf Konfrontationskurs mit der Modernisierung zu gehen. Diese neue Generation der Intelligenzia verurteilte nicht nur den repressiven Staat, sondern auch seine soziolökonomische Modernisierung. Sie repräsentierte die neue politische Kultur und das neue Werte-system. In den fünfziger und sechziger Jahren entwickelte sich ein neuer Typus säkularer Intelligenzia mit einer politischen neuen Ideologie und neuen Ideen. Die Ideen dieses neuen Typus Intelligenzia müssen im Kontext der eher umfassenden populistischen Ideologie des Third Worldism betrachtet werden.

Politisch betonte die Gruppe, wie auch die islamischen Intellektuellen, Konzepte wie den Neokolonialismus, den antiimperialistischen Kampf und die Dritte Welt. Sie veröffentlichte viele Artikel, die in Zusammenhang mit den Revolutionen in Algerien, Kuba, Vietnam, China und in afrikanischen Ländern standen, und viele Werke kritischer westlicher Intellektueller und Schriftsteller wurden übersetzt. Dabei ist interessant anzumerken, daß innerhalb dieser Intelligenzia die Arbeiten von Rene Guenon besonders populär waren. Guenon stellte den Osten dem Westen gegenüber. Er meinte, daß die Desintegration der westlichen Zivilisation nicht das Ende der Welt sei, daß sich jedoch eine Welt, die nur auf materiellen Werten basierte, ihrem Ende nähern würde. Die Anhänger Guenons betrachteten den Westen als Ursprung teuflischer Kräfte und den Osten als den Platz des Lichtes und der Blüte der Menschheit. Auch stellten sie den Szientismus und den Rationalismus den traditionellen östlichen Werten und die westliche Wissenschaft der östlichen Einsicht gegenüber. Viele iranische Schriftsteller der sechziger und siebziger Jahre haben zu diesem Thema Bücher und Essays geschrieben. In der Gesellschaft fanden diese Vorstellungen viele Anhänger. Auch wurden zu dieser Zeit innerhalb eines Teils der Intelligenzia die Arbeiten von Martin Heidegger populär, was sich in einem intellektuellen Kampf gegen die Modernität und das städtische Leben äußerte.

Obwohl diese neue säkulare Intelligenzia verschiedene politische und soziale Standpunkte vertrat, stimmte sie doch in ihrer Kritik am , Westen 1 und der potentiellen Rolle des Islam als kulturelle Identität überein. Anstatt den Modernismus, Futurismus und Optimismus der alten Generation der iranischen Intelligenzia zu vertreten, übte die neue Generation der Intelligenzia radikale Kritik an der modernen Lebensweise. Als Drohung gegen und Reaktion auf die Expansion der westlichen Kultur romantisierte sie das frühere einfache Leben in Form einer nostalgischen Rückkehr zur islamisch-iranischen Kultur sowie einer Rück- kehr zu sich selbst. Die universellen Ideen der alten Generation der Intelligenzia wurden durch die Kritik an qarbzadegi (Verwestlichung) und dem nostalgischen islamischen Iran sowie dem djedal-e Scharq va Qarb (dem Ost-West Konflikt) ersetzt

Im folgenden Abschnitt sollen die zwei wichtigsten Intellektuellen, die als Repräsentanten der neuen politischen Kultur betrachtet werden können, vorgestellt werden: Jalal Al-e Ahmad und Ali Shari’ati. Sie trugen in großem Maße zu der Formulierung einer neuen islamischen politischen Ideologie bei, die Ende der siebziger Jahre die Basis zur Mobilisierung und zur Iranischen Revolution bildete.

VI. Jalal Al-e Ahmad: Revolte gegen Verwestlichung

Al-e Ahmad (1923-1969) war nicht direkt an der Entwicklung einer neuen radikalen islamischen politischen Ideologie beteiligt. Die Emanzipation der iranischen Geschichte und Kultur und das Motto: . Zurück zur einheimischen Kultur/Islam’ waren in den sechziger Jahren das alternative soziale Projekt von Al-e Ahmad, das später die Grundlage für andere islamische politische Ideologen, besonders Ali Shari’ati, bildete. Tatsächlich waren die Werke von Al-e Ahmad das erste wichtige Glied in einer Kette ideologischer Erklärungen, die sich später zur islamischen politischen Ideologie entwickelten.

Al-e Ahmad wollte die Ursachen aufzeigen, die dazu geführt hatten, daß einerseits die iranischen nationalistischen Bewegungen erfolglos waren und es andererseits zu einer unterentwickelten Position Irans und der Dominanz des Westens gekommen war. Gleichzeitig trachtete er danach, die säkular-ideologische Alternative der iranischen Intellektuellen zu überdenken und zu kritisieren. Er schrieb mehr als 45 Bücher und Artikel, in denen er sein politisches Denken entwickelte, darunter qarbzadegi (Verwestlichung) und dar khedmat va khianat-e ruschanfekr (Über den Dienst und Verrat der Intellektuellen). Schwerpunktmäßig beschäftigen sich diese zwei Arbeiten mit der einheimischen Kultur (Islam) als einer traditionellen Grundlage gegen den Angriff des Westens (Säkularisierung und Modernismus).Für Al-e Ahmad stellte der Schiismus den iranischen Nationalgeist dar. Dieser wurde jedoch durch die Bedrohung des Westens zerstört. Er beschrieb den iranischen Nationalismus oder die schiitische Ideologie mit dem Begriff Verwestlichung. Die gleichnamige Schrift gilt als eine der wichtigsten Essays in der modernen Geschichte Irans. Dieser Beitrag übte eine enorme Anziehungskraft auf die Generation sozialer Aktivisten und die Intelligenzia aus. Er wird als das intellektuelle Manifest der sechziger und siebziger Jahre betrachtet. Der Begriff qarbzadegi wurde somit in das iranische politische Vokabular dieser Jahre aufgenommen. Selbst Ajatollah Khomeini benutzte den Begriff in seinem Unterricht, in Schriften und Predigten. Der Erfolg von Verwestlichung zeichnete sich dadurch aus, daß es die Vorstellungskraft einer Generation eroberte, die auf der Suche nach einer revolutionären Identität und Sprache der Revolte war.

Verwestlichung versuchte mittels einer radikalen Kritik, die Probleme des modernen gesellschaftlichen Lebens offenzulegen. Im Mittelpunkt des Konzeptes Verwestlichung stand die Kritik an der historischen und kulturell-psychologischen Dominanz des Westens. Die historische Dominanz geht aus den Synonymen für das Konzept Verwestlichung hervor: Abhängigkeit, Unterwerfung, Kolonialismus und Neokolonialismus. Al-e Ahmad schrieb: „Qarbzadegi hat zwei Pole (den Osten und den Westen). Im Westen stellen wir uns . . . die entwickelten oder die industrialisierten Länder vor . . . und (im Osten) die unterentwickelten oder die nicht industrialisierten Länder . . . Ein Pol (die Metropole) steht unter der Kontrolle der Reichen, der Autoritäten, Produzenten und Exporteure, ein anderer Pol (ist) den Armen, Konsumenten und Importeuren (zuzuweisen). (Es sind somit) zwei (antagonistische) Pole.“

Diese Interpretation von Verwestlichung als Dichotomie der Metropole gegen die Peripherie zeigt uns, daß Al-e Ahmad, genauso wie die meisten anderen Mitglieder der säkularen oder islamischen Intelligenzia zu dieser Zeit, unter dem Einfluß der populären Dependenztheorien stand. Dieser Interpretation zufolge war Al-e Ahmads Idee über Verwestlichung eine „kulturelle Variante der (sozioökonomischen) Dependenztheorie. Diese Variante ist tatsächlich ein-iranisches Produkt.“ Al-e Ahmad bezog sich hierbei nicht nur auf den Westen und die Verwestlichung im materiellen Sinn ökonomischer Produktion, sondern auch, und das war noch wichtiger, auf die kulturell-psychologische Dimension der Verwestlichung.

In seiner konkreten Kritik am Westen ging es Al-e Ahmad -wie auch Ajatollah Khomeini -vor allem um die Konstitutionelle Revolution und die , säkulare Intelligenzia, die ihm zufolge den Triumph der Verwestlichung verkörperten. Er behauptete, daß diese säkulare Intelligenzia dafür verantwortlich sei, daß die iranische traditionelle kulturelle Identität und das Zusammenleben geschwächt worden seien. Hiermit griff er die säkulare Intelligenz an, den Träger westlicher Kultur im Iran, und betonte, daß der Islam der einzige Verteidigungsmechanismus der Befreiung und Entwicklung sei.

Das zunehmende politische Interesse Al-e Ahmads am islamischen politischen Diskurs galt nicht nur den rivalisierenden säkularen oppositionellen Kräften, sondern auch der staatsorientierten prä-islamischen nationalen Identität. Er beschuldigte den modernen Staat unter Reza Schah, das heutige Verständnis von der islamischen Identität zu zerstören, indem er, als Teil der westlichen Verschwörung, die prä-islamische Geschichte instrumentalisierte Im allgemeinen betrachtete Al-e Ahmad die Zeit Reza Schahs als eine Periode massiver Verwestlichung, die auf einer kalkulierten Verneinung des iranisch-islamischen Erbes basierte.

Das Bewußtsein für die kulturelle Verwestlichung führte bei Al-e Ahmad zu der Schlußfolgerung, daß der Schiismus als Element nationaler Identität und materieller Kraft gegen den Westen eingesetzt werden müsse. Vom Kommunismus und Sozialismus frustriert, kehrte er zur Religion zurück. Er war jedoch nicht dazu in der Lage, den Schiismus als eine politische ideologische Doktrin auszuformulieren. Nichtsdestoweniger legte Al-e Ahmad den Grundstein für die aufkommende moderne Intelligenzia, die daraufhin eine neue radikale islamisch-politische Ideologie entwikkelte. In den beiden oben genannten Büchern, Qarbzadegi (Verwestlichung) und Über den Dienst und Verrat der Intellektuellen, schrieb Al-e Ahmad über die Notwendigkeit und Lebensfähigkeit einer geistigen Ordnung, die zu einer revolutionären Massenmobilisierung führen könnte. Zwischen diesem Ziel und dem, was schließlich durch einen kollektiven Versuch aller Ideologen und der radikalen islamischen politischen Ideologie wirklich erreicht wurde, besteht ein großer Unterschied, den Al-e Ahmad nicht voraussehen konnte.

Den Schritt in diese Richtung ging Shari'ati, der bedeutendste Vertreter der islamischen radikalen politischen Ideologie. Andere Ideologen (darunter Mehdi Bazargan, Abulhasan Banisader, Habibol-Iah Payman, Kazim Sami, Ideologen der islamischen Organisation der Volksmudschahedin, wie Mohammed Hanifzejad, Ahmad und Reza Rezai’i etc.) fügten bewußt oder unbewußt Substanz, Antriebskaft, neue Dimensionen und Gesichtspunkte zu der ideologischen Struktur hinzu, die von Al-e Ahmad und später von Shari’ati entwikkelt wurde. Das, was letztendlich für das Aufkommen der Revolution notwendig war, war die Verbindung einer ungefähr drei Jahrzehnte langen Entwicklung der islamischen Ideologie als einer höherstehenden revolutionären Doktrin.

VII. Ali Shari’ati: Ideologe der Iranischen Islamischen Revolution

Der intellektuelle Hauptexponent der Iranischen Islamischen Revolution, der einen großen Beitrag zur Entwicklung der islamischen Revolutionsideologie leistete, war Ali Shari’ati (1933-1977). Er kann als der Hauptideologe eines der größten politischen Trends sowohl im modernen Iran als auch in anderen islamischen Gesellschaften betrachtet werden. In seinem kurzen Leben veröffentlichte Shari’ati mehr als 300 Bücher, Artikel und Essays mit einer großen Auflage Seine Arbeiten standen unter dem Einfluß sowohl von westlichen als auch von sozialen und philosophischen Denkern der Dritten Welt. Ein fünfjähriger Aufenthalt in Paris (1959-1964) gab ihm die Möglichkeit, mit radikalen linken Intellektuellen Bekanntschaft zu machen: Er hatte vor allem Kontakt zu dem Soziologen George Gurvitch, zu Jean-Paul Sartre, dem katholischen Islamologen Louis Massignon und auch Frantz Fanon. In dieser Periode wurde er stark von der Philosophie Hegels, den Ideen von Max Weber, Karl Marx, Emile Durkheim, Sören Kierkegaard, Arnold Toynbee, Max Planck, Albert Einstein, Sigmund Freud und der Frankfurter Schule beeinflußt.

Was Shari’ati im Vergleich zu anderen reformistischen islamischen Denkern einzigartig machte, waren nicht seine Orginalität oder neuen Ideen, sondern seine Fähigkeit, übernommene moderne westliche Ideen tief in die islamische Kultur und besonders in den Schiismus zu pflanzen, um damit eine neue Synthese zu bilden. Seine Fähigkeit, die Vergangenheit und die Zukunft miteinander zu verbinden, war sein wichtigster Beitrag zur Schaffung einer revolutionären islamischen politischen Ideologie.

Wie auch Al-e Ahmad und die meisten anderen Intellektuellen der neuen Generation machte sich Shari’ati Sorgen über die moralische, ökonomische und politische Dominanz des Westens in der islamischen Welt. Auf diesem Hintergrund versuchte er, den Islam als eine moderne revolutionäre Ideologie zu rekonsturieren. Nach Shari’ati hatte es der , Imperialismus, der westliche Ideologien, den Humanismus, den Liberalismus und den Marxismus propagierte, geschafft, tief die verschiedenen Dimensionen der islamischen Welt zu penetrieren. Shari’ati war der Meinung, daß der einzige Weg, die islamische Gemeinschaft vom Imperialismus und seinen Trägern innerhalb der Gemeinschaft zu befreien, die Formulierung und Anwendung einer . islamischen Ideologie sei Diese ideologischen Vorstellungen mußten, im Gegensatz zu den dominanten westlichen Ideologien, an die dominanten Werte und das Glaubenssystem der iranischen Gesellschaft angepaßt werden. Shari'ati kritisierte die , liberale Ideologie, da sie die Religion als Gegensatz zur Wissenschaft betrachtete, sowie den Marxismus, der Religion als , Opium des Volkes ansah.

Shari’ati versuchte, sein revolutionäres Projekt auf zwei Arten zu formulieren. Erstens, indem er eine neue Interpretation dessen gab, was als , wirkliche Religion der Masse der Bevölkerung bekannt wurde. Zweitens, indem er die modernen wissenschaftlichen, sozialen und philosophischen Theorien in einer religiösen Sprache formulierte, die der Masse vertraut war. Das wichtigste Ziel der Bildung einer . neuen radikalen und kohärenten national-islamischen politischen Ideologie (oder die Ideologisierung der Religion in ihrer Gesamtheit) war es, die Masse gegen die gefestigte Ordnung zu mobilisieren. Interessant ist dabei, daß Shari’ati zu dieser Zeit große Teile der säkularen und nichtmoslemischen Intelligenzia vom progressiven Charakter des Islam überzeugen konnte, indem er moderne und radikale westliche Ideen in den Islam inkorporierte. Nach Shari’ati war das prä-islamische Erbe glorios, aber auch seit langer Zeit vorüber und von der Masse vergessen. Wie zuvor Al-e Ahmad war er der Meinung, daß die , iranische Identität'islamisch und schiitisch sei und bleiben müsse. Nach Shari’ati sind die erfolgreichen militanten Intellektuellen dazu verpflichtet, , die Sprache, , Symbole, , Codes, . Helden und schließlich den Islam in der ideologischen Sprache zu gebrauchen, die das wichtigste Kommunikations-und Mobilisierungsmittel sei.

Unter den islamischen Kräften machte sich auch der Einfluß des Third Worldism bemerkbar, und zwar sowohl bei den konservativen Strömungen als auch in der Partei der Moslemmudschahedin, der Partei der Hezb-e mellal-e islami (islamische Nation) und der progressiven Strömung JAMA und der Modjahedin-e Khalq-e Iran (Volksmudschahedin Irans). Sie waren alle in unterschiedlichem Maße von der Ideologie des Third Worldism beeinflußt und zeigten dies auch in ihren politischen Standpunkten Shari’ati strebte also nach der Schaffung einer universellen revolutionären Ideologie, die auf den einheimischen traditionellen kulturellen Normen und Werten oder den , schiitschen Symbolen basieren mußte. Nur eine angeborene Ideologie, eine Ideologie, die in der eigenen politischen Kultur ihre Wurzeln hat, sei dazu in der Lage, den Westen zu bekämpfen und zu besiegen. Die islamische Ideologie liefere also das einzig mögliche Dach von . kollektivem politischem Bewußtsein, unter dem die Iraner ihre revolutionären Ideen realisieren könnten. Hier sprach Shari’ati von einer , islamischen Renaissance". Das heißt von einer . Transformation und , Säuberung des vorherrschenden . islamischen Quietismus , von . passiv und . konservativ zu einer . militanten, . aktiven und . revolutionären politischen Ideologie , die die arme unterdrückte Masse gegen die westliche Kultur und ökonomische Dominanz, das Schahregime und sein Modernisierungsprogramm als Symbol des Imperialismus (westliche Dominanz) mobilisieren konnte Dies war von 1965 bis 1977 der Kern von Shari'atis Zielen.

Die Neuformulierung und Artikulation der islamischen politischen Ideologie als eine moderne und revolutionäre Tendenz verwandelte sich also in eine materielle Kraft, die die Masse in der Revolte gegen den Status quo mobilisieren konnte. Im folgenden Abschnitt soll noch ein Denker des post-revolutionären Iran vorgestellt werden.

VIII. Post-revolutionäre islamische intellektuelle Ideen

Die Umstrukturierung des politischen Systems im postrevolutionären Iran zum islamischen Staat war für die iranischen Intellektuellen eine ernsthafte theoretische Herausforderung. Die unglückliche Folge von Ereignissen, die im Iran seit 1979 ihren Lauf nahmen (die Geiselkrise, der Iran-Irak-Krieg, die Hinrichtung politischer Oppositioneller), hat vorzeitig jeden ernsthaften Versuch einer neuen, postrevolutionären intellektuellen Auseinandersetzung unterbunden. Doch die Islamische Revolution hatte noch konsequentere Folgen als einzig und allein den Fall des alten Regimes. Das neue Regime war im Gegensatz zum vorherigen sehr stark von seiner Propaganda und den ideologischen Staatsapparaten abhängig. Seine Ideologie konnte gegen die Auswirkungen einer sich ändernden Zeit und die neuen Ideen nicht abgeschottet werden. Gleichzeitig konfrontierte der Staat mit seiner islamischen Ideologie die neue herrschende Elite mit neuen Fragen und Herausforderungen, die sich damit beschäftigten, wie mit einer revolutionären politischen Kultur regiert werden sollte und was überhaupt ihre Bestandteile seien.

Im Zusammenhang mit der Revolution als Alternative zum westlichen Modell stellten sich viele ernsthafte Fragen für die islamische Elite und die Unterstützer der islamischen Gesellschaft. Kann die islamische Rechtsprechung (Jeqh) die modernen sozialen und wissenschaftlichen Probleme lösen? In welchem Verhältnis müssen der Islam und moderne Phänomene wie die Technologie, der Nationalismus und die Demokratie gesehen werden? Was ist neu am iranischen sozialen, politischen und ökonomischen System im Vergleich zum bestehenden säkularen System der westlichen Welt? In welchem Verhältnis stehen die islamische Philosophie und Gedanken zu verschiedenen westlichen philosophischen Schulen? Diese Fragen und Hunderte andere waren eine Widerspiegelung des ideologischen Mißlingens der Islamischen Republik und forderten die islamischen Intellektuellen heraus, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Schon kurz nach ihrem Triumph zeigte die politische Revolutionskultur Anzeichen der Desintegration. Sehr schnell begann das islamische Regime einen Krieg gegen intellektuelle Dissidenten, vor allem gegen liberale und linke Oppositionelle, zu führen. Es denunzierte die säkularen Intellektuellen und Literaten als verwestlichte, entfremdete, nachahmende und nichtverpflichtete Individuen, ohne die die Revolution gut auskommen könne. Nur den religiösen Intellektuellen außerhalb des Establishments, die bereit waren, die Vorherrschaft der Geistlichen zu akzeptieren, wurde es erlaubt, weiter mitzumachen. Der frühzeitige Tod oder die Ermordung von solchen aufstrebenden politischen und intellektuellen Figuren wie Ajatollah Taleqani, Ajatollah Beheshti, Ajatollah Motahhari und Ajatollah Bahonar schufen in den Reihen der Geistlichen ein großes intellektuelles Vakuum. Diese Lage gab einigen wenigen religiösen Intellektuellen außerhalb des religiösen Establishments die Möglichkeit, sich langsam als inoffizielle führende Ideologen des neuen Regimes zu entwickeln. Einer der Hauptideologen unter ihnen ist der Universitätsprofessor und frühere Angehörige der islamischen politischen Elite, Abdolkarim Soroush.

Soroush und seine Kollegen beschäftigen sich in der Hauptsache mit der Frage, wie die Shari’a mit den Bedürfnissen und den Einschränkungen eines theokratischen Staates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Einklang zu bringen ist. Wie bereits erwähnt, war die revolutionäre islamische Elite mit einer ganzen Reihe sozialer, ökonomischer, politischer, kultureller und philosophischer Themen konfrontiert, auf die es keine eindeutigen Antworten gab. Zur Beantwortung dieser Fragen, und um mit den gegenwärtigen, öffentlichen und nicht-esoterischen Herausforderungen, mit denen die islamische Gesellschaft konfrontiert war, umgehen zu können, teilten sich die ulama in zwei Lager: diejenigen, die die traditionelle Rechtsprechung unterstützten (feqh-e sonnati), und diejenigen, die die Notwendigkeit einer eher dynamischen Rechtsprechung sahen (feqh-e puya). Dieser Streit begann mit sozialpolitischen und ökonomischen Anliegen und entwickelte sich langsam zu einer philosophischen Polemik

Nach dem Tod von Ajatollah Khomeini veröffentlichte Soroush eine erste Serie von Artikeln unter dem Titel Qabz va Bast-e Theorik-e Shari’at (Die theoretische Konstruktion und Expansion der Shari' ah). Die allgemeine Zugänglichkeit der Artikel rief großen Widerstand und Ablehnung bei den ulama und den Intellektuellen hervor. Soroushs Hauptanliegen war es, zu verdeutlichen, daß sich jede Wissenschaft in einem Prozeß kontinuierlicher Transformation befindet und daß Veränderungen auf jedem Wissensgebiet auch Veränderungen auf anderen Gebieten mit sich bringen, die Rechtsprechung eingeschlossen. Als Geschichtswissenschaftler wies er darauf hin, daß wissenschaftliche Entdeckungen ihren Einfluß auf die Erkenntnistheorie haben und damit wiederum ein neues philosophisches Verständnis hervorrufen können. Dieses neue Verständnis, so Soroush, muß folglich menschliches Wissen über sich selbst und seine Umgebung beeinflussen und führt schließlich zu einer Transformation religiösen Wissens. Um dies historisch zu illustrieren, bezog er sich auf den wissenschaftlichen Durchbruch in der Mathematik, der die Disziplin der Logik transformiert und der Menschheit das Verständnis von Philosophie und Theologie nähergebracht habe.

Einer der Hauptkritikpunkte von Soroush bezieht sich auf Khomeinis Konzept von der velayat-e faqih als Fundament des gegenwärtigen islamischen Regimes. Er kritisiert das vorherrschende Konzept von velayat-e faqih, das besonders den Aspekt der . Verpflichtung'betone, was bedeutet, daß das Volk dem Herrscher religiöse Ehrerbietung entgegenbringen muß. Er sagt, daß das heutige Konzept von velayat-e faqih sogar Wahlen eher als eine . Verpflichtung'denn als ein . Recht'betrachtet. Das Hauptproblem einer religiösen Regierung liegt für Soroush darin, daß eine solche Regierung nur sehr schwierig bestimmen kann, ob sie die Naturrechte des Menschen akzeptiert. „Wenn wir den Herrscher als einen valy (Hüter) betrachten, dann sprechen wir von Verpflichtung, wenn wir ihn jedoch als einen vakil (Vertreter) sehen, dann sprechen wir von den Rechten der Menschen.“

Das Problem der Islamischen Republik ist es, daß sie sich bis heute zu sehr auf die allgemeine Unterstützung für die Religion und die religiösen Führer wie den späten Ajatollah Khomeini verlassen hat. Gleichzeitig werden im Namen der religiösen Verpflichtung, dem velayat-e faqih zu gehorchen, die Rechte der Menschen unterdrückt, um so Kontrolle über die politische Macht ausüben zu können.

Solange derjenige, der die Position des velayat-e faqih innehatte, eine so populäre Persönlichkeit wie Ajatollah Khomeini war, stellte sich dieses Problem nicht. Heute jedoch -in einer Zeit, in der diese Position von jemandem besetzt ist, der nicht vom Volke gewählt wurde -ist der Widerspruch der velayat-e faqih mehr denn je zum Vorschein gekommen. Dieses Problem ist noch akuter geworden, seitdem bei den kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen eine Person, die nicht von der velayat-e faqih gutgeheißen wurde, mit überwältigender Mehrheit der Bevölkerung gewählt worden ist. Die Widersprüche werden also in der gegenwärtigen Struktur der Regierungsinstitutionen offenbar. Nach der Konstitution kann der majiles (das Parlament), eine vom Volke gewählte gesetzgebende Versammlung, zum Beispiel von einem einfachen Einspruch des velayat-e faqih überstimmt werden.

IX. Schlußfolgerung

Der Islam als eine revolutionäre politische Ideologie wurde von verschiedenen Gruppen und Ideologen entwickelt, besonders durch die liberale Ideologie von Bazargan, die radikale Ideologie der , Mudschahedin Khalq’, die militante Pro-Khomeini-Gruppe der ulama und schließlich die moderne Intelligenzia, besonders Shari’ati. Trotz ihrer fundamentalen ideologischen Unterschiede waren diese vier Strömungen in den drei Jahrzehnten vor der Revolution in der Lage, den Islam in eine neue politische Ideologie zu fassen. Das wichtigste Charakteristikum all dieser Bewegungen war die Entwicklung des Islam sowohl in revolutionären Begriffen als auch in der Terminologie einer populistischen politischen Ideologie. Mit Hilfe einer modernen Sprache und Wissenschaft, die progressive, revolutionäre und militante Formen hatte, stellten diese Strömungen das Gesicht des Islam dar. Sie propagierten den Islam als eine politische Ideologie mit einer eigenen Politik, einem Rechtssystem und einem eigenen Ökonomie-und Verwaltungsmodell; einen Islam, der in der Lage war, die Klassenunterschiede zu eliminieren und eine egalitäre Gesellschaft zu schaffen; einen Islam, der die Unterdrückung, die Diktatur und den Despotismus beenden konnte und statt dessen Freiheit, freie Meinungsäußerung, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte garantierte; einen Islam, der in der Lage war, das Eindringen des Kapitalismus und des Imperialismus in den Iran zu behindern und statt dessen einen unabhängigen Iran zu schaffen. Mit diesem populistischen Bild konnten die aufkommenden islamischen Kräfte mit ihrer islamischen politischen Ideologie die verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen, von den armen städtischen Klassen bis zur Arbeiterklasse und von traditionellen bis zu modernen Klassen, mobilisieren und somit die Revolution realisieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich bedanke mich bei Angelika Scheuer und Eva Rakelfür die sprachlichen Korrekturen. Seit dem Safawidischen Reich spielte der Bazar eine Schlüsselrolle in der städtischen Ökonomie. Der Bazar ist ein Sammelbegriff für die städtische Kleinwarenproduktion, die traditionellen Handwerksleute, das traditionelle Bank-und Handelswesen sowie den Großhandel. Der Bazar war nicht nur Marktplatz für ökonomische Transaktionen, sondern auch Zentrum der Gemeinschaft. Im Bazar gab es Moscheen, öffentliche Badeplätze, religiöse Schulen und viele Tee-häuser.

  2. Der Bazar war von den ulama für seine politische Unterstützung und seinen Schutz abhängig, und die ulama waren ihrerseits vom Bazar für ihre finanzielle Unterstützung abhängig. die notwendig war, um die Moscheen, Seminare und andere religiöse Institute finanzieren zu können. Die bazaris waren mit den ulama auch über Familienbande verbunden. Diese gegenseitige Abhängigkeit der ulama und des Bazars war ein entscheidender Aspekt in der politischen Entwicklung Irans zum Ende des 19. und im 20. Jahrhundert.

  3. Vgl. M. P. Amineh, World Order, State/Society Complex and Social Forces: Capitalist Expansion, Peripheralization and Passive Revolution in Iran (1500-1980), Maastricht 1998, Kapitel IV; ders., Die Globale Kapitalistische Expansion und Iran. Eine Studie der iranischen politischen Ökonomie (1998-1999), Frankfurt a. M. 1999; E. Browne, The Persian Revolution (1905-1909), Cambridge 1910; H. Enayat, Modern Islamic Political Thought, Austin 1982; N. R. Keddie, Religion and Rebellion in Iran: The Tobacco Protest of 1981 -1982, London 1981.

  4. Das revolutionäre Projekt bestand zu Anfang aus sechs grundlegenden Punkten: Die Verteilung von Bauland (die erste Phase, die unter Amini begann); die Nationalisierung von Wäldern und Hainen; die Wahlreformen (vor allem das Frauenwahlrecht); die Privatisierung der Staatsmonopole, um das Bodenreformprogramm zu finanzieren; Gewinnbeteiligung für Industriearbeiter sowie die Schaffung eines Alphabetisierungscorps, um etwas gegen den Analphabetismus auf dem Lande zu unternehmen. Diese Prinzipien wurden später auf 21 Punkte erweitert.

  5. Vgl. N. R. Keddie (Anm. 3), S. 149-59; H. Katouzian, The political Economy of Modern Iran: despotism and Pseudo-Modernism, 1926-1979, London 1981, S. 226-228.

  6. Vgl. A. K. S. Lambton, Theory and Practice in Medieval Persian Government, London 1980, S. 404.

  7. Die islamische Welt teilt sich in zwei grundlegende theologische Schulen: Den Sunnismus und den Schiismus. Das Aufkommen des Schiismus ist auf die Zeit nach dem Tod von Mohammed im Jahre 637 A. D. zurückzuführen, als eine Meinungsverschiedenheit darüber entstand, wer berechtigt sei, Nachfolger des Propheten zu werden. Der Sunnismus erkennt die ersten vier Kalifen (Abubakre, Omar, Osman und Ali) als die dem richtigen Kurs folgenden an und gründet seine Sunna auf den Koran und die Hadith oder auf die Traditionen des Propheten. Der Sunnismus basiert auf vier Rechtsschulen (Hanafi, Shafi’i, Hanbali, Maliki), die alle den gleichen Rechtsanspruch haben. Während die Mehrheit der Sunni-Moslems seit dem Tod des Propheten einen Modus vivendi mit der Herrschaft eines Nachfolgers des Kalifen gefunden hat, legitimierten die Schiiten keinen einzigen der dem Propheten folgenden Herrscher. Sie akzeptieren nur den vierten Kalifen Ali ibn-e Abu Talib, der Mohammads Cousin und Schwiegersohn war und der erste schiitische imam wurde. Der schiitische Islam und besonders sein größter Zweig, der ithna ashari = Zwölfer, setzten ihren Glauben in den göttlichen Charakter der hierarchischen Linie der unfehlbaren imams (von Gott auserwählte Führer des Islam), die durch die Heirat seiner einzigen Tochter Fatimeh mit seinem Neffen Ali direkt vom Propheten Mohammed abstammten. Die Schiiten sind der Meinung, daß Ali persönlich vom Propheten auserwählt worden war, um die islamische Bewegung fortzusetzen. Nach der schiitischen Doktrin der Zwölfer war Ali der erste imam, gefolgt von seinen zwei Söhnen Imam Hassan und Imam Hussein. Ihnen folgten neun weitere imams, bis zum Verschwinden (oder der Verborgenheit) des Zwölften Imam 873-874.

  8. Vgl. S. A. Arjomand, The Turban for the Crown: Islamic Revolution in Iran, New York-Oxford 1988; H. Enayat (Anm. 3), Kapitel I; A. K. S. Lambton (Anm. 6).

  9. Vgl. Encyclopaedia of Shi’a, Vol. I, hrsg. von A. Fadr/K. Fani/B. Khorramshahi, Teheran 1988.

  10. Vgl. M. P. Amineh, World Order (Anm. 3), Kapitel IV.

  11. Von 1990 an entwickelte sich im Iran innerhalb der islamischen intellektuellen Bewegung ein neuer Trend. Dieser Trend ist einer der wichtigsten inländischen intellektuellen Gegenbewegungen, die versuchen, die herrschenden ulama und die dominante politische Ideologie der velajat-e faqih (die Staatstheorie Ajatollah Khomeinis) zu kritisieren. Dieser neue intellektuelle Trend der heutigen islamischen Intelligenzia und eines Segments der ulama ist ein Versuch, den Islam als Ideologie zu interpretieren.

  12. Khomeini unterrichtete während seiner langen Dozentenschaft mehr als 500 mudjtehads und mehr als 12 000 talabeh (religiöse Studenten).

  13. Der Einfluß des säkularen Denkens geht deutlich aus den verschiedenen Themen dieser Publikationen hervor. Der erste Teil, maktab-e taschayoh, bespricht z. B. die Frauen-problematik, Polemiken über den Marxismus, die neue Wissenschaft und die neue Welt an. Diese Themen geben ein Bild davon, wie die reformistischen ulama versuchten, manche Denkbilder und traditionelle religiöse Elemente neu zu formulieren.

  14. Trotz des enormen wirtschaftlichen Fortschritts und des steigenden BSP pro Kopf gab es große Einkommensunterschiede. Vgl. F. Kazemi, Poverty and Revolution in Iran, New York 1980; H. Azimi, Der unterentwickelte Kreis der iranischen Ökonomie, Teheran 1990. Die schnellen ökonomischen Entwicklungen vergrößerten die Kluft zwischen Reich und Arm. Im Iran war die Kluft zwischen den sehr Reichen und der Mittelklasse sehr groß. Zwischen 1959 und 1977 nahm der Anteil am städtischen Gesamtkonsum der ärmsten 40 Prozent der städtischen Bevölkerung von 13, 8 auf 11, 5 Prozent ab. Der Anteil der mittleren 40 Prozent der städtischen Bevölkerung ging von 27, 6 auf 25, 6 Prozent zurück. Dagegen nahm der Anteil der oberen 20 Prozent der städtischen Bevölkerung am Gesamtkonsum von 52, 1 auf 57, 1 Prozent zu. Diese Zahlen zeichnen nur ein ungefähres Bild von der relativen Armut im Iran zu dieser Zeit. Sie sind jedoch keine exakte Wiedergabe des Lebensstandards der unteren städtischen und ländlichen Bevölkerung.

  15. Der jährliche Migrationsstrom in die Städte variierte im Zeitraum von 1966 bis 1978 zwischen 300 000 und 320 000 Menschen. Ein Großteil der Migranten wurde in die Bau-industrie die zwischen 1972 1977 mit einer inkorporiert, und starken Zunahme an Arbeitsplätzen und einem jährlichen Wachstum von durchschnittlich 6, 7 Prozent expandierte.

  16. Auch innerhalb der islamischen Kräfte machte sich der Einfluß des Third Worldism bemerkbar, und zwar sowohl bei den konservativen Strömungen als auch in der Partei der Moslemmudschahedin, der Partei der islamischen Nation (Hezb-e mellal-e islami) und der progressiven Strömung JAMA und der Modjahedin-e Khalq-e Iran (Volksmudschahedin Irans). Sie waren alle in unterschiedlichem Maße von der Ideologie des Third Worldism beeinflußt und zeigten dies auch in ihren politischen Standpunkten.

  17. Vgl. D. Shaigan, Asien gegenüber dem Westen (in Persisch), Teheran 1992.

  18. J. Al-e Ahmad, Verwestlichung (in Persisch), Teheran 1962.

  19. L. Baeck, Shifts in Concepts and Goals of Development, Paris 1988, S. 37-53.

  20. Vgl. J. Al-e Ahmad (Anm. 18). S. 327-328.

  21. Nach einer Untersuchung wurden allein in den Jahren 1979/1980 acht Millionen Exemplare von Ali Shari’atis Arbeiten im Iran verkauft.

  22. Vgl. A. Shari’ati, Gesammelte Arbeiten, VW 23.

  23. Vgl. M. P. Amineh, World Order (Anm. 3).

  24. Vgl. A. Shari’ati (Anm. 22).

  25. Vgl. A. Soroush, Die theoretische Konstruktion und Expansion der Shari’ah, Teheran 1991; ders., The Cultural Foundation of Sarat, Teheran 1997, S. 175-178.

  26. Ders., The Cultural Fondation, ebd., S. 10.

Weitere Inhalte

Mehdi Parvizi Amineh, Ph. D., geb. 1961 in Shiraz; Studium der Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität von Amsterdam; seit 1998 Fellowship am Research Centre for International Political Economy (RECIPE) für Internationale Beziehungen ebenda. Veröffentlichungen u. a.: World Order, State/Society Complexes and Social Forces: The Capitalist Expansion, Peripheralization and the Passive Revolution in Iran (1500-1980), Maastricht 1998; Die Globale Kapitalistische Expansion und Iran: Eine Studie der Iranischen Politischen Ökonomie (1500-1980), Frankfurt a. M. 1999 (i. E.); Global Change: Towards the Control of Oil Resources of the Caspian Region, Utrecht 1999 (i. E.).