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Artikel 6 | APuZ 24/1976 | bpb.de

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Artikel 6

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fertigen Rahmen auszufüllen, den Staat Lubauen -„die-Zerstreuten sammeln";

ächlich eine ungeheure Aufgabe, historisch der Übergang von der Dynamik zum Statischen. Israel, im Besitz von nur einem Teil der historischen Heimat, war in seinem Selbstbild von einem ungesättigten zu einem gesättigten Faktor geworden. Die Palästinenser— wiederum in eigener Sicht, auf die es zu ihrem Verstehen ankommt — sahen sich zu Enteigneten und Entrechteten degradiert. Die „nakbah-, die unfaßbare Katastrophe, die sie als Volk ereilt hatte, hatte sie auch ihres Selbstvertrauens und des Vertrauens zu ihrer Führung beraubt und sie fürs erste hilflos der Fürsorge und Vormundschaft der arabischen Staaten ausgeliefert. Aber die arabischen Staaten hatten ihre ureignen und näheren Probleme, die gemeinhin ihr Handeln bestimmten.

Zu gleicher Zeit entstand politisch ein gewisses Gleichgewicht, das nicht untragbar war. Es gab während dieser Jahre wenige im Jischuw, die nicht glaubten, daß die Waffenstillstandsgrenzen von 1949 eine entwicklungsfähige Zukunft ermöglichen könnten, durchaus auch im zionistischen Sinne. Auf der anderen Seite entwickelte sich spätestens anfangs der sechziger Jahre der Eindruck, daß die überwiegende Mehrheit der Palästinenser im Königreich Jordanien, dessen Bürger sie geworden waren, sich in einem Maße assimilierten, das eine nicht unwürdige Lösung ihrer Identitätsfrage versprach.

Es war die Strategie des Fateh, auf bereits bestehenden ideologischen Grundlagen 1965 aktiv geworden, eben diese Assimilation durch Terroraktionen in Israel und mit den zu berechenbaren Reflexen gewordenen Vergeltungsschlägen Israels zu sabotieren.

In der Vorgeschichte des Sechstagekrieges hat diese Strategie ihren Platz, neben der syrischen Strategie, seine eigene Front mit Israel nicht zur Ruhe kommen zu lassen, und neben Abdel Nassers übernommener Verpflichtung, einen arabischen Bruderstaat zu decken, auf dessen Gebaren er den entscheidenden Einfluß verloren hatte. In der Grundhaltung Israels gegenüber, wie sie von der palästinensischen Sicht diktiert war, trat während dieser Epoche keine Änderung ein. (Bourgibas Rat, sich mit einem — verkleinerten — Israel abzufinden, blieb eine Randerscheinung; auch Bourgiba sprach vom Zwang der Umstände, nicht von einem Daseinsrecht Israels.)

Soweit diese kurze Retrospektive eine historische Beurteilung zuläßt, liegt die Bedeutung der letzten Epoche — derjenigen seit 1967 — in dem Primat, das der Palästina-Konflikt im Nahen Osten erlangt hat. Die umfassende Niederlage von 1967 beraubte die arabischen Staaten ihrer Glaubwürdigkeit als Hüter der palästinensischen Sache. Die PLO übernahm die Interessenvertretung des palästinensischen Volkes. Welche Zweifel auch gehegt wurden und werden, in der Öffentlichkeit hat sich dieser Anspruch durchgesetzt. Der Prozeß reifte Jahre hindurch; der Oktoberkrieg von 1973 trieb ihn voran; die Rabat-Beschlüsse vom Oktober 1974, die die PLO als alleinige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannten, schlossen ihn logisch ab. Wieweit eine rückläufige Bewegung zu erwarten ist, fällt außerhalb dieser Betrachtung. Innerhalb ihres Rahmens dagegen liegt die Wahrnahme, daß die effektiven Kampfmittel weiterhin bei den arabischen Staaten konzentriert sind und nicht bei der PLO: das Geld, das Ol, die Waffen, die Heeresorganisationen, die Diplomatie und die Massenkommunikationsmittel.

IV.

Es ist müßig, die Zukunft lesen zu wollen oder papierne Ausgleiche vorzuschlagen. Aber nach dem bisher Gesagten ist eine Auf-gliederung der möglichen „Lösungen" am Platz. -Der Palästina-Konflikt kann gelöst wer-den indem das jüdisch-nationale GemeinweSen in Palästina verschwindet. Es kann ver-schwinden, indem der Staat Israel zerschlaSM wird. Die Geschichte kennt Beispiele der Vernichtung von Nationalstaaten. In dieser Abhandlung genügt es festzustellen, daß Israel sich einem Versuch seiner Vernichtung mit absolut allen Mitteln widersetzen wird; diese Extrapolierung seiner Vergangenheit ist mit Sicherheit zulässig. Zweitens kann das jüdisch-nationale Gemeinwesen verschwinden, indem es von innen zerfällt. Diese Möglichkeit wird heute viel im arabischen Lager besprochen und ist auch in Israel nicht ohne Widerhall. Aber es handelt sich wohl mehr um Wunschträume — oder Alpträume —, je nach der Perspektive. Korruptionsaffären und Moralkrisen haben mit der Auflösung eines Volkes nichts gemeinsam, auch, oder gerade, nicht unter Druck von außen. — Der Palästina-Konflikt kann gelöst werden, indem die arabischen Staaten, oder wenigstens die „Konfrontationsstaaten" unter ihnen, den verhängnisvollen Zusammenhang brechen, demzufolge sie moralisch jede Forderung decken, die „die Palästinenser" stellen, auch die extremste, und ihrerseits eine Konzeption der Koexistenz erzwingen. Solch radikaler Bruch mit einer zum Ritual gewordenen Vergangenheit setzt allerdings ein seltenes Maß von politischem Mut, Engagement und intellektueller Unabhängigkeit voraus. — Das Palästina-Problem kann gelöst werden, wenn sich innerhalb der palästinensischen Öffentlichkeit das politische Schwergewicht verlagert. Eine Führerschicht der seit 1967 von Israel besetzten West-Bank könnte zum politischen Träger des palästinensischen Volkstums werden. Es sind Anzeichen vorhanden, daß sich hier, dem Kernland des palästinensischen Volkes, in den acht Jahren menschlicher Verquickung die Erkenntnis verbreitet hat, daß der israelische Nationalstaat nicht nur eine politische Tatsache ist, sondern sein Daseinsrecht hat. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die Führerschicht der West-Bank lokal und nicht national gruppiert ist: die erweiterte Familie, das Dorf, die Stadt, der Stamm. (Auch der kürzlich verstorbene Exmufti von Jerusalem, Hajj Amin alHusseini, blieb zeit seines Wirkens in Palästina nur der Chef eines Clans; seine quasi-nationale Position verdankt er britischer Initiative, und sein Image als Führer des palästinensischenVolkes war außerpalästinensisch). Diese Tradition ist tief in der Vergangenheit verwurzelt und es sind keine eindeutigen Zeichen vorhanden, daß sie durch neue Strukturen abgelöst wird. Der oft verlautende Vorwurf, daß die israelische Verwaltung das Entstehen einer neuen Führung verhindert, oder zumindest nicht fördert, übersieht, daß solch eine Entwicklung nicht durch direktes Einwirken von außen veranlaßt werden kann; außerdem wäre unter den bestehenden Umständen jede derartige beinflußte Führung als Quislingsystem gebrandmarkt. — König Hussein könnte sein nie aufgegebenes Ziel erreichen und wieder als legitimer Vertreter der Palästinenser anerkannt werden, oder zumindest als einer ihrer, legitimen Vertreter. Sein Ansehen auf der West-Bant steigt uhd fällt mit jedem Wechsel des pois sehen Windes. Aber bis heute hat sich die gesellschaftspolitische Ordnung, die er zwangs läufig vertritt, nicht annehmbar machen können. Außerdem darf nicht als sicher vorausge.setzt werden, daß Hussein fähig ist, eine friedliche „Lösung" durchzusetzen. Er und sein Haus haben eine über fünfzig Jahre alte Tradition von Fühlungnahmen mit dem Jischuw. Israel hinter sich. Es ist nie zu einem faßbaren Abschluß gekommen. Ein letztes Zögern der Haschemiten, die Schwelle zu überschreiten ist wahrscheinlich für diese Sterilität nicht weniger verantwortlich als Uneinigkeit über definierte Paragraphen.

Beide zuletzt genannten Möglichkeiten setzen voraus, daß die anderen arabischen Staaten sie zumindest schweigend dulden werden, und daß Israel dem Prinzip der Teilung des ehemaligen Mandatspalästina treu bleibt -alles keine Selbstverständlichkeiten. — Schließlich: die PLO selbst könnte ein „agonizing reappraisal" erleben, eine zutiefst schmerzhafte Umwertung, die einer ideologischen Wiedergeburt gleichkäme. Sie könnte die historisch-ideelle Daseinsberechtigung eines jüdisch-israelischen Staatsvolkes neben der eines arabisch-palästinensischen Staats-volkes anerkennen — nicht als Sprachregelung oder double-thinking, sondern aus Verständnis und Empathie. Aus dem schroffen und haßerfüllten Chor totaler Ablehnung klingt ein einzelner abweichender Ton. Naif Hawatmeh, der Chef der „Demokratischen Volksfront zur Befreiung Palästinas“ innerhalb der PLO hat seiner Meinung in Interviews Ausdruck gegeben, daß eine Lösung des Palästinaproblems auch „die nationalen Rechte der Israelis" berücksichtigen muß. Aber bei allem Interesse, das diese Abweichung verdient, ist es unrealistisch, außer acht zu lassen, daß „Israelis" nicht „Israel ist; daß die PDFLP doktrinär marxistisch-leninistisch ist — daher das Eingehen auf . nationale Rechte" innerhalb eines palästinensischen Staates — und eine Konfliktlösung in ihrem Sinne schon deshalb nicht im Bereich des Realen liegt; daß ferner der PDFLP kaum mehr als marginale Bedeutung in der PLO zukommt; und letzten Endes, daß Hawatmeh selbst sich bis jetzt nicht unumwunden z seiner vor Fremden geäußerten Meinung 6 kannt hat, wenn er im eigenen Lager heraus gefordert wurde. Das klingt alles recht hoffnungslos. Dem Historiker gibt seine Erfahrung einen schwachen Lichtblick. Die Geschichte kennt Haßkomplexe wie den, der dem Palästina-Konflikt zugrunde liegt. Eines Tages waren sie aufgelöst, ohne daß der Historiker im Rückblick befriedigende Aufschlüsse darüber geben kann, warum sie sich auflösten. Es ist mehr als bloßes Wunschdenken, daß auch die emotionelle Basis des Palästina-Konfliktes einen soldien Umbruch erleben kann. Wieweit Grenzregulierungen und Entschädigungsabkommen diesen Umbruch vorbereiten können oder ihm zwangsläufig folgen, ist nicht vorauszusagen. So wie ich die Geschichte des Konfliktes lese, glaube ich nicht, daß vernunftmäßig fundierte und vertretbare Konzessionen eine Mauer durchbrechen können, in die abgründige Emotionen so unentflechtbar eingebaut sind. Dem Politiker obliegt es jedenfalls, in unablässiger Tagesarbeit ein neues Blutvergießen hinauszuschieben; uns anderen, ihm dabei den Rükken zu stärken.

Fussnoten

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