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Intersektionalität und Antisemitismus | Antisemitismus | bpb.de

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Intersektionalität und Antisemitismus

Karin Stögner

/ 9 Minuten zu lesen

In den für Intersektionalität zentralen Kategorien – race, class, gender – wird Antisemitismus häufig übersehen. Woran liegt das? Und wie kann eine intersektionale Ideologiekritik aussehen, die ihren Ausgangspunkt beim Antisemitismus nimmt?

(© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Joel Goodman)

In den letzten Jahren hat das Konzept der Intersektionalität einen beispiellosen Aufschwung erlebt und wurde neben der klassischen Trias race, class, gender auf eine Vielzahl von Diskriminierungsformen angewandt, sei es Behindertenfeindlichkeit, Altersdiskriminierung oder Ausgrenzung aufgrund von Religionszugehörigkeit. Der Grundgedanke von Intersektionalität ist, Diskriminierungs-, Unterdrückungs- und Herrschaftsformen nicht isoliert voneinander, sondern in einer gegenseitigen Verschränkung und Durchdringung zu sehen (vgl. Combahee River Collective [1978]2014; Crenshaw 1989).

Seit den 2010er Jahren ist im intersektionalen Paradigma ein Schwenk von einer strukturanalytischen hin zu einer identitätspolitischen Perspektive zu beobachten. Dies hat einschneidende Auswirkungen auf die Analyse und Kritik von Herrschaft und Diskriminierung. Denn während die strukturanalytische Perspektive Herrschaft als überpersonelle und anonyme gesellschaftliche Struktur versteht, personalisiert eine identitätspolitische Perspektive Herrschaft und Diskriminierung weitgehend als Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere. Wie Christine Achinger (2022, 77) kritisiert, "geht es vielen intersektionalen Ansätzen nicht in erster Linie um die Frage nach den Verbindungen zwischen verschiedenen Formen von Feinderklärung und Diskriminierung am Ort ihrer Entstehung, einer spezifischen Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern um ihre Beziehung gewissermaßen am Ort des Einschlags, in ihren Auswirkungen auf Individuen, die von mehreren solchen Zuschreibungen betroffen sind." Diese Herangehensweise begünstigt geradewegs Hierarchien von Viktimisierung und führt derart zu einer Verengung von Herrschaftskritik auf eine Kritik von Privilegien. Im Gegensatz zum strukturanalytischen Zugang ist im identitätspolitischen ein "Überschuss an Subjektivismus" (Marz 2022, 335) gelegen, demgegenüber die Kritik an objektiven und strukturellen Bedingungen, unter denen Diskriminierung stattfindet, in den Hintergrund tritt.

Zudem ist auffällig, dass in identitätspolitisch ausgerichteten intersektionalen Analysen der globale Antisemitismus nur selten diskutiert wird. Solcher Ausschluss geht nicht selten mit einem ideologischen Interner Link: Antizionismus einher, verbunden mit Pinkwashing- und Interner Link: Homonationalismus-Vorwürfen. So wird etwa Israels Interner Link: LGBTIQ*-freundliche Politik delegitimiert, indem behauptet wird, der Schutz individueller Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung sei eine Farce mit dem Ziel, von der Besatzung der palästinensischen Gebiete abzulenken (Schulman 2012; zur Kritik vgl. Blackmer 2019). Entsprechend stellen zahlreiche feministische und queere Unterstützer:innen der Interner Link: Boycott, Divestment, Sanctions-Kampagne die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung Palästinas über die Forderung individueller Rechte nach sexueller Selbstbestimmung (Davis 2018; Puar 2012). In den letzten Jahren schlossen zudem queere, antirassistische und feministische Initiativen wie Women’s March on Washington, Chicago Dyke March oder Akteur:innen innerhalb der Interner Link: Black Lives Matter-Bewegung jüdische Erfahrungen mit globalem Antisemitismus aus. So behauptete etwa die ehemalige Organisatorin des Women’s March, Linda Sarsour, dass Zionismus und Feminismus sich widersprechen würden (vgl. Meyerson 2017).

Die intersektionale Kategorie race

Zum Teil resultieren solche Ausschlüsse aus blankem Antisemitismus der Akteur:innen, missverstanden oder gar maskiert als Opposition zu Interner Link: Kolonialismus und Imperialismus. Das Problem, das Intersektionalität mit Antisemitismus hat, hängt aber auch ursächlich mit einem in intersektionalen Zusammenhängen weitgehend ungeklärten Verhältnis von Antisemitismus und Interner Link: Rassismus zusammen. Wird Antisemitismus in intersektionalen Analysen deshalb wenig berücksichtigt, weil er zu strikt mit Rassismus zusammengedacht wird, oder vielleicht, weil er das zu wenig wird? Wir können die Komplexität des Antisemitismus nicht verstehen, wenn wir ihn nur als eine Form des Rassismus sehen, aber ebenso wenig, wenn wir ihn nicht auch als eine Form des Rassismus erkennen. Deshalb ist es notwendig, dieses Verhältnis zu klären.

Sowohl der koloniale als auch der Apartheid-Rassismus beruhen auf der hierarchischen Konstruktion von vermeintlich überlegenen und minderwertigen "Rassen" – ein Verhältnis, in dem sich Rassist:innen als Vertreter:innen der Zivilisation sehen, während sie rassifizierte Menschen für primitiv und zurückgeblieben halten. Im Rassismus legitimiert sich derart die (Über)Ausbeutung rassifizierter Menschen: ein minderwertiger Status und ökonomische Ausbeutung hängen im Rassismus untrennbar miteinander zusammen (Marz 2022; Schmitt-Egner 1976). In dieser Ideologie spielen Interner Link: Verschwörungsmythen keine Rolle, die besagen würden, rassifizierte Menschen und kolonisierte Völker beherrschten heimlich die Welt, kontrollierten die Medien und Finanzen und beschleunigten die Prozesse der Modernisierung und Globalisierung. Interner Link: Solche Verschwörungsmythen sind jedoch ein wesentliches Merkmal des Antisemitismus, der eine nicht greifbare, allgegenwärtige jüdische Macht unterstellt. Im Antisemitismus werden Jüdinnen:Juden als minderwertig und überlegen zugleich angesehen: minderwertig in ihrem Körper, was sich in zahlreichen, auch vergeschlechtlichten Stereotypen defizitärer Körperlichkeit manifestiert; überlegen in ihrem Geist und ihrer Macht. Diese widersprüchlichen Vorstellungen verschmelzen in den Stereotypen jüdischer Verschlagenheit und Verschwörung. Gleichzeitig besagt diese Verschmelzung widersprüchlicher Zuschreibungen von Stärke und Schwäche, dass Juden:Jüdinnen ihre vorgebliche Macht nicht quasi naturwüchsig innehätten, sondern sie sich durch Täuschung erschleichen würden.

Dass die Komplexität des Antisemitismus im intersektionalen Feminismus immer wieder übersehen wird, hängt damit zusammen, dass Antisemitismus als eine Form des Rassismus aufgefasst wird, die zwar historisch von Bedeutung war, in den gegenwärtigen globalen Machtverhältnissen jedoch kaum noch Relevanz hätte. Grund für diese Fehleinschätzung ist, dass Rassismus auf die herrschaftliche Dichotomie von Weiß und Schwarz reduziert wird. Der Schwarze US-amerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois (1868-1963) hatte Anfang des 20. Jahrhunderts die Color Line als die zentrale Konfliktlinie des 20. Jahrhunderts ausgemacht (Du Bois 2022). Zwar schrieb er nach seinem fünfmonatigen Aufenthalt in Nazi-Deutschland 1936 mit Blick auf die Verfolgung der Juden:Jüdinnen, sie übertreffe "an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich je erlebt habe" – doch für viele Vertreter:innen des Postkolonialismus galt die Color Line fortan als die zentrale Konfliktlinie. Was für die historische Situation in den USA durchaus Sinn macht, ist weder auf den Nationalsozialismus noch auf die postnazistischen Gesellschaften spiegelbildlich anwendbar. Denn der Antisemitismus, auch wo er rassistisch operiert, läuft nicht entlang der Color Line, sondern folgt eigenen Konstruktionsprinzipien, die Juden:Jüdinnen nicht so sehr als eine fremde "Rasse" unter anderen markieren, sondern als "Gegenrasse" schlechthin. Im Interner Link: nationalsozialistischen Antisemitismus repräsentieren Juden:Jüdinnen das "negative Prinzip als solches", von dessen "Ausrottung das Glück der Welt abhängen" sollte (Horkheimer/Adorno 1997, 192). Aus dieser Besonderheit des Antisemitismus ergibt sich die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, ihn im Rahmen der gängigen Rassismus-Modelle zu analysieren. Ein gegenwärtig vieldiskutiertes Analysemodell findet sich in der Forschungsrichtung Critical Whiteness: Dabei wird zur Analyse des Rassismus an den rassistischen Strukturen der Gesellschaft angesetzt und herausgestrichen, dass "Weißsein" mit bewussten oder unbewussten Privilegien einhergeht: etwa die Norm zu repräsentieren, unsichtbar zu sein und/oder bessere Chancen, mehr Ressourcen, Macht und Sicherheit zu haben. Sobald dieser Rahmen von Whiteness aber auf Juden:Jüdinnen angewandt wird, Juden:Jüdinnen also als "Weiße" gesehen werden, impliziert das eine Bestätigung antisemitischer Stereotype, wie z. B. dem vom übermäßigen jüdischen Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Medien. Jüdinnen:Juden erscheinen dann als "Super-Weiße" (Schraub 2019). Das führt dazu, dass der globale Antisemitismus aus den antirassistischen intersektionalen Analysen und Praktiken ausgeklammert wird.

Die intersektionale Kategorie gender

Zu den Schwierigkeiten, Antisemitismus in den Intersektionalitätsrahmen adäquat zu analysieren, trägt auch bei, dass der Antisemitismus nicht nur im Hinblick auf die Kategorie race ambivalent ist, sondern auch hinsichtlich anderer für Intersektionalität zentrale Kategorien: etwa die Kategorie Geschlecht. Das Besondere am Antisemitismus ist, dass er Juden:Jüdinnen als umfassend nicht zuordenbar behandelt und sie jenseits von Identitätskategorien ansiedelt. So wurde ihnen schon im 19. Jahrhundert unterstellt, die klar gezogenen Grenzen zwischen den Geschlechtern zu verwischen, die eindeutige Geschlechterbinarität nach männlich-weiblich aufzulösen, sowie die Geschlechterrollen und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung umzukehren. Auch die Frauenemanzipation wurde im Antisemitismus seit ihrem Beginn als jüdische Intrige gedeutet, deren Ziel es sei, die Einheit des Volkes von innen her zu zersetzen (Mosse 1985, Volkov 2001). Diese Zuschreibung ist noch heute von Bedeutung, etwa für das Geschlechterapartheidsystem des iranischen Regimes. Der oberste geistliche Führer des Iran, Ali Khamenei, sieht in der "Versachlichung von Frauen" in der westlichen Welt und in "Konzepten wie gender justice" eine "zionistische Machenschaft zur Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft". 2022 verurteilte er die feministischen Proteste gegen das iranische Regime, die Interner Link: auf die Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die iranische Sittenpolizei folgten, als von Israel und den USA gesteuert. Und auch Interner Link: im rechtsradikalen Spektrum findet sich die antisemitische Abwehr von Frauenemanzipation, auch hier wird sie codiert als ein Schutz der Frauen vor der Ausbeutung durch internationale Finanzjongleure – dies findet sich bei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ Bildungsinstitut 2013) ebenso wie bei Giorgia Meloni von der rechts-nationalistischen Partei Fratelli d'Italia.

Über gegensätzliche politische Lager hinweg wurde Jüdinnen:Juden traditionell unterstellt, dass sie die als natürlich aufgefassten Geschlechterverhältnisse auf den Kopf stellen und eine Zwischenstellung in Bezug auf die Geschlechterbinarität und heteronormative Sexualität einnehmen würden (Gilman 1994). Auch deshalb gelten sie bis heute als künstlich und unauthentisch. Das Verdikt der Künstlichkeit lässt sich schließlich auch beim Interner Link: israelbezogenen Antisemitismus beobachten: so sei Israel ein künstlicher Staat unter vorgeblich natürlichen arabischen Nationen und führe einen homonationalistischen Geschlechter- und Sexualitätskrieg gegen die Araber:innen, deren vorgeblich authentische Sexualität durch das westliche Konzept der Homosexualität kolonialisiert würde (Puar 2007; Massad 2007).

Die intersektionale Kategorie class

Auch in Bezug auf die dritte Kategorie im klassischen Intersektionalitätsschema – Klasse – ist der Antisemitismus uneindeutig. Er identifiziert Juden:Jüdinnen mit der vermittelnden ökonomischen Zirkulationssphäre, d.h. mit Handel, Bank- und Geldgeschäften. Diese zugeschriebene ökonomische Zwischenposition lässt ihre Klassenlage mehrdeutig und unklar erscheinen: Schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert traf sie als Bourgeois das Klischee, dass ihnen als "Finanzjongleuren" vorgeblich echtes und aufrichtiges Unternehmertum fehle – sie repräsentierten so nur die negativen Auswirkungen des Interner Link: Kapitalismus. Jüdischen Stimmen der Arbeiterklasse wiederum wurde unterstellt, sie würden sich einschleichen und seien von körperlicher Arbeit entfremdet (Virdee/McGeever 2017; Stögner/Wodak 2016). Die Identifikation von Jüdinnen:Juden mit der Zirkulation impliziert, "nur das Geschäft der Vermittlung zu kennen: weder die Arbeit der Naturbeherrschung noch der Menschenbeherrschung, weder Herr noch Knecht" (Claussen 1994, 58f.) – und damit jenseits der Klassenstruktur angesiedelt zu sein.

Aufgrund dieses antikategorialen Charakters des Antisemitismus ist er durch dominante intersektionale Ansätze, die von der Interdependenz stabiler Kategorien wie race, class, gender ausgehen, kaum zu fassen. Der Antisemitismus zeichnet Jüdinnen:Juden als umfassend nicht zugehörig zu jedweden Identitätskriterien, die in der Theorie der Intersektionalität zentral sind. Jüdinnen:Juden repräsentieren eine Art Anti-Identität und damit die Gefahr der Auflösung von Identität überhaupt. Deshalb gehen intersektionale Identitätspolitiken am Antisemitismus vorbei.

Plädoyer für eine intersektionale Ideologiekritik

Angesichts des schwierigen Verhältnisses von Antisemitismus und Intersektionalität verwerfen viele Intersektionalität heute als in erster Linie antizionistischen politischen Slogan. Im Gegensatz dazu plädiere ich für eine kritische Rückgewinnung des Ansatzes für eine intersektionale Ideologiekritik, die ihren Ausgang beim Antisemitismus nimmt. Ein neues Verständnis von Intersektionalität soll nicht nur die Fallstricke in Bezug auf Antisemitismus vermeiden, sondern Intersektionalität zu einem Instrument der Analyse und Kritik von Antisemitismus selbst machen. Denn die Struktur des Antisemitismus ist intersektional. In dieser Einschätzung folge ich der frühen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die Ideologien als miteinander verbunden erkannt hat. In den breit angelegten empirischen Studien Authoritarian Personality – durchgeführt in den 1940er Jahren in den USA mit dem Ziel, das autoritär-faschistische Potenzial in der amerikanischen Bevölkerung zu untersuchen – wurde das erst in den 1970er Jahren formulierte Intersektionalitätskonzept auf gewisse Weise vorweggenommen: Die Studien kamen zu dem Schluss, dass sich Ideologien innerhalb eines breiteren Rahmens entwickeln – dem autoritär-antidemokratischen ideologischen Einstellungssyndrom, in dem sie sich überlagern, gegenseitig verstärken und eine spezifische Mischform annehmen, aus der sie ihre zähe und flexible Wirksamkeit beziehen. Dieser bahnbrechenden Erkenntnis folgend sind Ideologien in der Tat intersektional: Sie durchdringen und verstärken sich gegenseitig und reformulieren und reaktivieren sich in diesem Prozess beständig neu.

Vor diesem Hintergrund lassen sich folgende Fragen stellen: Wie operiert Antisemitismus mit sexistischen, rassistischen und nationalistischen Momenten? Wie schimmern antisemitische Motive im Interner Link: Antifeminismus durch? Wie überdecken Interner Link: Nationalismus oder Antigenderismus (als spezifische Form des Antifeminismus) latenten Antisemitismus? Entlang solcher Fragen habe ich das Konzept der Intersektionalität von Ideologien entwickelt (Stögner 2014; 2017).

Als Beispiel für eine intersektionale Ideologiekritik, die für ein angemessenes Verständnis von Antisemitismus hilfreich ist, sei auf die Interner Link: Documenta 15 in Kassel verwiesen, die im Sommer 2022 für einen veritablen Antisemitismusskandal sorgte. Mehrere Gemälde und Videos wiesen eindeutig antisemitische Inhalte auf. Eines davon war "People's Justice" des indonesischen Kollektivs Taring Padi, das auf der einen Seite die dekadente westliche kolonialistische Moderne und auf der anderen Seite die authentische Welt unterdrückter Völker zeigt. Das allein ist schon eben jenes manichäische Weltbild – hier das Gute, dort das Böse –, das für den Antisemitismus von zentraler Bedeutung ist. Nun finden sich auf der Seite des Bösen offen antisemitische Darstellungen von Juden, insbesondere eine Figur mit blutunterlaufenen Augen, Hakennase, Vampirzähnen, dicker Brille und Schläfenlocken. Auf seiner Melone ist das doppelte Runenzeichen der Interner Link: SS zu sehen. Die Figur steht im Zentrum des Gemäldes, das im Allgemeinen mit massiven sexuellen Fantasien von Unterwerfung, Freizügigkeit und Dekadenz operiert.

In der öffentlichen Kritik an diesem Wandbild und der sich daran anschließenden Debatte fiel auf, wie wenig in der Kritik des Bildes auf den Sexismus eingegangen wurde, der in dem Bild ebenfalls wirksam ist: Neben der antisemitischen Figur erscheint eine böse, sexuell verschlingende Frau, barbusig, mit lüstern heraushängender Zunge, halb Tier halb Mensch, mit vollem Einkaufswagen. Das Bild zeigt die zentrale Bedeutung von Sexualitätsregimen für den Antisemitismus: Eine auf Lust ausgerichtete Sexualität, eine freie Sexualität, gilt als böse und abscheulich, als verhurt und unrettbar mit Geld und Konsum verbunden. Die lüsterne Frau kann hier also als Partnerin des Juden als Blutsauger und Verführer gedeutet werden. "Geldjude" und die "sexuelle Frau" – beide Figuren stehen für dekadente Gier und naturentfremdete Lüsternheit.

Antisemitismus funktioniert also nicht nur über eindeutig antisemitische Bilder, sondern über das gesamte Imaginäre der lustvollen Sexualität, des Konsumismus, der Modernität und der Emanzipation, die in dieser Ideologie alle heimlich von den Juden kontrolliert und gesteuert werden. Um dies zu erkennen, ist es notwendig, Antisemitismus auch im Zusammenhang mit Antifeminismus und Sexismus zu sehen, also eine intersektionale Sicht auf Ideologien zu entwickeln.

Sodann wird deutlich, dass der Antisemitismus eine selbst durch und durch intersektionale Ideologie ist: er integriert und operiert durch Momente, die an sich nicht antisemitisch erscheinen mögen, sondern antifeministisch, sexistisch, homophob, rassistisch oder nationalistisch. Obendrein spiegelt er Klassenverhältnisse in absolut verzerrter Weise wider und maskiert sich zuweilen als Kritik am Kapitalismus und/oder Imperialismus – sichtbar an der Personalisierung von kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen in der Figur des jüdischen Finanzkapitalisten oder israelischen Imperialisten. Der Antisemitismus drückt damit eine gesamte Weltsicht aus und fungiert als umfassende Welterklärung. Das macht ihn zu einer integrierenden Ideologie, die quer durch entgegengesetzte politische Lager wirkt: Bei Rechtsextremen und Islamist:innen ebenso wie bei Antiimperialist:innen oder queeren Feminist:innen.

Es ist dringend notwendig, auf diese ideologischen Überschneidungen hinweisen, um den aktuellen Trend der Fragmentierung, Entsolidarisierung und des repressiven Partikularismus entgegenzuwirken. Darin unterscheidet sich eine intersektionale Ideologiekritik deutlich vom heute gängigen Verständnis von Intersektionalität, sofern es zuvorderst auf die Anerkennung von kulturellen und religiösen Identitäten abstellt und in der Konsequenz zu selektiver Empathie und restriktiver Identitätspolitik führt. Intersektionale Ideologiekritik dagegen setzt am Antisemitismus an und öffnet die Perspektive auf das kritische Potenzial von Intersektionalität für die Analyse größerer Zusammenhänge, die in unserer Gesellschaft wirken. Sie gibt so einen Rahmen, der erkennt, wie Ideologien und Ungleichheiten miteinander verwoben sind. Eine intersektionale Analyse von Ideologien kann auch die Praxis der Koalitionsbildung voranbringen, so dass Interner Link: Antirassismus und der Kampf gegen Antisemitismus nicht mehr als Gegensätze gesehen, sondern als gemeinsamer Kampf anerkannt werden. Dazu ist es jedoch notwendig, den manchmal latenten, manchmal ganz offenen Antisemitismus in einigen intersektionalen Kontexten anzusprechen und zu kritisieren.

Quellen / Literatur

Achinger, Christine 2022: Bilder von Geschlecht, Judentum und Nation als Konstellation. Intersektionalität und Kritische Theorie, in: Karin Stögner, Alexandra Colligs (Hg.): Kritische Theorie und Feminismus, Berlin 2022, S. 75-96.

Blackmer, Corinne 2019: Pinkwashing, in: Israel Studies 24 (2), S. 171-181.

Combahee River Collective 2014: ‘A Black Feminist Statement’, Women Studies Quarterly, 42 (3-4), S. 271–80.

Claussen, Detlev 1994: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des Antisemitismus, Frankfurt am Main.

Crenshaw, Kimberlé 1989: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum 1, S. 139–67.

Davis, Angela 2018: What Is Queer BDS? Pinkwashing, Intersections, Struggles, Politics. Externer Link: https://vimeo.com/55886232 [letzter Zugriff 3. März 2022].

Du Bois, W.E.B. 2022: "Along the Color Line". Eine Reise durch Deutschland 1936, München.

FPÖ-Bildungsinstitut 2013: Handbuch freiheitlicher Politik. Ein Leitfaden für Führungsfunktionäre und Mandatsträger der Freiheitlichen Partei Österreichs, Wien.

Gilman, Sander L. 1994: Freud, Identität und Geschlecht, Frankfurt am Main.

Horkheimer Max und Theodor W. Adorno 1997: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main.

Marz, Ulrike 2022: Perspektiven einer Kritischen Theorie des Rassismus, Habilitationsschrift, Universität Rostock.

Massad, Joseph A. 2007: Desiring Arabs, Chicago.

Meyerson, Collier 2017: Can You Be A Zionist Feminist? Linda Sarsour Says No, in: The Nation, 13. März 2017.

Mosse, George L. 1985: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, München.

Puar, Jasbir K. 2008: Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times, Durham.

Puar, Jasbir K. 2012: The Golden Handcuffs of Gay Rights: How Pinkwashing Distorts both LGBTIQ and Anti-Occupation Activism, in: Jadaliyya, 7. Februar 2012.

Schmitt-Egner, Peter 1976: Wertgesetz und Rassismus. Zur begrifflichen Genese kolonialer und faschistischer Bewusstseinsformen, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Band 8/ 9, Frankfurt am Main 1976, S. 350-405.

Schraub, David 2019: White Jews: An Intersectional Reproach, in: American Jewish Studies Review 43 (2), S. 379–407.

Schulman, Sarah 2012: Israel/Palestine and the Queer International, Durham/London.

Stögner, Karin 2014: Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen, Baden-Baden.

Stögner, Karin 2017: Intersektionalität von Ideologien – Antisemitismus, Sexismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 41 (2), S. 25–45.

Stögner, Karin und Ruth Wodak 2016: “The Man Who Hated Britain” – The Discursive Construction of National Unity in the Daily Mail, in: Critical Discourse Studies 13 (2), S. 193–209.

Virdee, Satnamm und Brendan McGeever 2018: Racism, Crisis, Brexit, in: Ethnic and Racial Studies 41 (10), S. 1802–1819.

Volkov, Shulamit 2001: Antisemitismus und Antifeminismus. Soziale Norm oder kultureller Code, in: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 62–81.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im März 2017 twitterte Khamenei u.a.: "Designating women as goods & means of pleasure in western world, most probably, is among Zionists’ plots to destroy human community." Siehe: https://twitter.com/khamenei_ir/status/843423686963183620; vgl. https://twitter.com/khamenei_ir/status/843430656826916864.

  2. https://www.aljazeera.com/news/2022/10/3/irans-khamenei-blames-israel-us-in-first-comments-on-protests; https://www.bbc.com/news/world-middle-east-63118637.

  3. https://www.youtube.com/watch?v=jMad7nLO3OM

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Karin Stögner ist Professorin für Soziologie an der Universität Passau. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in Kritischer und feministischer Theorie, Antisemitismus- und Rassismuskritik sowie in Gender-Forschung. Sie ist Autorin von „Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen“ (Nomos 2014) und hat zuletzt gemeinsam mit Alexandra Colligs den Band „Kritische Theorie und Feminismus“ (Suhrkamp 2022) herausgegeben.