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Die lokale Kultur der europäischen Hafenstadt Gemeinsames Erbe Europas

Günter Warsewa

/ 14 Minuten zu lesen

Die europäische Hafenstadt repräsentiert eine Tradition des Austauschs und der Balance von Kooperation und Konkurrenz. Obwohl viele Hafenindustrien inzwischen verschwunden sind, wird die hafenstädtische lokale Kultur auf vielfältige Weise fortgeschrieben.

Von der Wirtschaft bis zur Ausbildung spezifischer Mentalitäten und Kulturformen spiegeln gesellschaftliche Strukturen und ihre Funktionen die Auseinandersetzung mit natürlichen, geografischen und klimatischen Bedingungen wider. Um die Chancen von Küstenlagen zu nutzen und deren Risiken zu minimieren, haben sich dort spezifische Siedlungs-, Wirtschafts- und soziale Organisationsformen herausgebildet: Hafenstädte, Kaufmannsgesellschaften, spezialisierte Produktions- und Verarbeitungsindustrien, Dienstleistungsfunktionen oder Institutionen wie Hafenverwaltungen, spezialisierte Börsen, Fischmärkte, Seeversicherer, Seenotrettungs- oder Deichverbände und viele andere mehr. In der Antike vor allem im Mittelmeerraum, ab dem Mittelalter verstärkt in Nord- und Westeuropa setzte sich die funktionale Spezialisierung von Hafenstädten fort.

Bereits Max Weber wies darauf hin, dass auf der Grundlage ihrer jeweiligen Wirtschafts- und Sozialstrukturen unterschiedliche Typen von Städten – Residenz-, Konsumenten-, Produzenten-, Händlerstädte – zu identifizieren seien. Daneben beschrieb Weber aber auch die Gemeinsamkeiten, die ein zentrales Charakteristikum der abendländischen Stadt ausmachen würden: Hier hätten sich jene typischen Institutionen entwickelt, die – wie der Markt mit spezifischen Zugangs- und Funktionsregeln, Gerichtsbarkeit, Verbandscharakter und Selbstverwaltung sowie Bürgerstatus – eine der historischen Vorbedingungen des modernen Kapitalismus gewesen seien.

Gestalt und Entwicklung von Städten werden in dieser Perspektive durch das Zusammenwirken von Institutionen und Wirtschafts- und Sozialstrukturen bestimmt. Immer werden aber die Entwicklungspotenziale dieses Zusammenwirkens begrenzt, verstärkt, korrigiert, ergänzt oder kompensiert durch einen Rahmen geteilter Normen, Werte, Bedeutungen, durch "Culture, Informal Rules and History". Das bedeutet, dass lokale Wirtschafts- und Sozialstrukturen, lokales Institutionenarrangement und lokale Kultur ineinandergreifen, sich gegenseitig stützen und reproduzieren und so dafür sorgen, dass typische Charakteristika entstehen und eine enorme Stabilität und Prägekraft entfalten.

"Lokale Kultur" in diesem Sinne ist das Ensemble gemeinsamer Praktiken, Symbole und Bedeutungen, Sprachformen und Einstellungen, in denen sich kollektiv geteilte Erwartungen, Normen und Konventionen gleichermaßen ausdrücken und reproduzieren. Sie umfasst materielle Artefakte, etwa typische Kunstgegenstände, Gebäudeformen oder Trachten, ebenso wie kollektive Werte und gemeinsame Grundüberzeugungen, die sich ihrerseits in alltäglichen oder besonderen Praktiken widerspiegeln. Die soziale Einbettung in diesen Rahmen bedeutet, dass jenseits von subkulturellen Differenzen und sozialen und ökonomischen Interessengegensätzen

  • erstens Zugehörigkeit hergestellt wird und mit wechselseitigem Vertrauen und Verlässlichkeit einhergeht,

  • zweitens Kooperationen auf gemeinsamen Handlungsorientierungen und Konventionen aufbauen können und

  • drittens Entscheidungen über wirtschaftlich oder politisch bedeutsame Alternativen in der Regel innerhalb eines kollektiv akzeptierten Rahmens getroffen werden.

Insofern ist davon auszugehen, dass lokale Kultur das Handeln individueller und kollektiver Akteure in gewissem Umfang lenkt, in einen lokal begrenzten, aber gemeinsam gültigen Rahmen stellt und so als ein Steuerungs- und Koordinationsmechanismus funktioniert, der die Entwicklung der Städte beeinflusst. Im Falle der europäischen Hafenstädte kann gezeigt werden, dass die historische Entwicklung nicht nur besondere Ausprägungen einer "hafenstädtischen" Kultur hervorgebracht hat, sondern dass die lokalen hafenstädtischen Kulturen auch einen Prozess der Angleichung durchlaufen haben, durch den sie sich insgesamt von der Kultur binnenländischer Städte unterscheiden. Die kulturelle Konvergenz der Hafenstädte in Europa beruht zum einen auf dem jahrhundertelangen Austausch zwischen diesen Städten, der Übernahme beziehungsweise Adaption von Wissen, Techniken und Praktiken und zum anderen auf institutionalisierten Formen der Kooperation in Seehandelsgesellschaften, Städtebünden und Netzwerken wie der Hanse.

Funktionale Spezialisierung

Solange der Seetransport die einzig mögliche, sicherste oder schnellste Art der Überwindung großer Distanzen war, war ihre Funktion als Knotenpunkt verschiedener Ströme ein zentrales Charakteristikum von Hafenstädten. Hier traf eine Vielfalt an Gütern, Kapital, Informationen, Menschen und kulturellen Einflüssen zusammen, und es entwickelten sich spezifische Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang damit. Von der Begutachtung und Qualitätsbewertung exotischer Waren über die Funktion von Hafenärzten und Quarantänebehörden bis zu den diversen Amüsierangeboten in den hafennahen Rotlichtvierteln war der Umgang mit Fremdheit ein selbstverständlicher Teil der Alltagspraxis in den Hafenstädten. Was anderswo als Ausnahme wahrgenommen wurde, gehörte mit dem ständigen Wechsel von Ankommen und Wegfahren in den Hafenstädten zu einer Normalität, die das Handeln nach innen wie nach außen prägte. Sowohl für das Gelingen von Seefahrt und Fernhandel als auch für das erfolgreiche Funktionieren des Knotenpunktes und Umschlagplatzes selbst besitzt bis heute die Fähigkeit zum profitablen kulturellen Austausch mit fremden Menschen ein besonderes Gewicht.

Gleichwohl waren und sind mit Seefahrt und Fernhandel immer auch beträchtliche Risiken für Mensch und Material, für die getätigten Investitionen, die physische und soziale Existenz und den sozialen Status verbunden. Die Folgen von Risikoereignissen – Schiffs- und Ladungsverluste, Wertverluste durch die Veränderung von Märkten oder politische Interventionen – konzentrierten sich wie auch die erzielten Gewinne in den Hafenstädten. Die daraus resultierenden Unsicherheiten waren und sind kaum individuell und nie vollständig beherrschbar. Daher haben sich in den Hafenstädten im Verlauf der Jahrhunderte vielfältige Strategien zur Reduzierung und zum rationalen Umgang mit unvermeidlichen Gefahren entwickelt – etwa durch die politische Absicherung von Handelsprivilegien oder durch Versicherungen und die Verteilung von Risiken auf möglichst viele Schultern. Daher ist es kein Zufall, dass die modernen Formen von Bank- und Versicherungswesen in Hafenstädten teils "erfunden", teils erheblich weiterentwickelt wurden, um "bis dahin unbestimmte und unwägbare Gefahren einzugrenzen, zu benennen und gewissermaßen rechenhaft – berechenbar – zu machen".

Vielfältige Formen der Risikoteilung und gegenseitigen Risikoabsicherung haben zur Herausbildung einer gemeinsamen Wertebasis beigetragen, in der ausgeprägter Gemeinsinn sowie kalkulierte Risiko- und Kooperationsbereitschaft eine wichtige Rolle spielen. Der Zusammenschluss regional verteilter Kaufleute zur ursprünglichen Kaufmanns- und späteren Städtehanse ist als ein solcher Mechanismus der Risikoteilung zu interpretieren. Kaufleute und Städte bildeten ein außerordentlich modernes und flexibles Netzwerk, das in der Lage war, über Jahrhunderte eine mächtige politische Rolle in Europa einzunehmen. Gleichzeitig war das sich ständig verändernde Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz zwischen den beteiligten Akteuren, die "Kooperation der Egoisten", aber auch ein Grund dafür, dass die beteiligten Städte niemals das Zustandekommen einer dauerhaften und verbindlichen politischen Institutionalisierung der Hanse zuließen.

Für Hafenstädte galt ferner schon seit Jahrhunderten, was für andere Städte erst mit den Globalisierungsprozessen der zurückliegenden Jahrzehnte virulent wurde: Physische Erreichbarkeit (accessibility) sowie informationelle Zugänglichkeit und globale Verbindungen (connectivity) sind bestimmende Variablen für die lokale Entwicklung. Hier war man sich dieses Zusammenhangs schon früher bewusst, und deshalb beruht ein zentraler Bestandteil kollektiver Identität auf der existenziellen Bedeutung, die die Sicherung von Zugänglichkeit und Erreichbarkeit für sie besitzt.

Die dafür erforderlichen Kompetenzen und Kapazitäten – differenzierte Funktionssysteme wie zum Beispiel Wasserbau, Gewährleistung von Sicherheit der Schifffahrt, Schiffbau, Umgang mit Transport- und Logistiktechnologien bis hin zur hoheitlichen Regelung von Zoll- und Steuerangelegenheiten oder der Bewältigung der komplexen rechtlichen Probleme des internationalen Seehandels – versammelten sich in der Regel am Ort des Geschehens, und nur hier konnte das reibungslose Zusammenspiel dieser Kompetenzen und Funktionsbereiche organisiert werden. Bis heute ist dieser Umstand Grundlage dafür, dass Hafenstädte vielfach gegenüber zentralen, (national)staatlichen Kontroll- und Regulierungsansprüchen einen besonderen Status geltend machen und behaupten können.

Ein spezifisches "hafenstädtisches" Selbstbewusstsein beruht mithin auf dem Wissen um die besondere Bedeutung des Hafens und die spezifische Funktion der Stadt als Kompetenzzentrum für reibungslosen Hafen- und Handelsbetrieb. Diese Funktion ermöglichte es vielen Hafenstädten, über lange Perioden erfolgreich auf relative Autonomie und eigenständige Regelung innerer und äußerer Angelegenheiten zu beharren. Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit verstärkten wiederum das ausgeprägte Selbstbewusstsein, das sich schichtübergreifend, gleichsam als Eigenschaft des Ortes, in vielen Hafenstädten ausbildete. Ausdruck dieses besonderen Selbstbewusstseins sind beispielsweise die formellen Titel der deutschen Stadtstaaten Bremen und Hamburg als Freie beziehungsweise Freie und Hansestadt, die auf deren nach wie vor bestehenden Sonderstatus innerhalb des Nationalstaates verweisen. Einen ähnlichen Status konnte sich lange auch die Hansestadt Danzig bewahren, die sich nach dem Aufstand gegen den Deutschen Orden im 15. Jahrhundert nur deshalb unter den Schutz der polnischen Krone stellte, um sich vielfache Privilegien und im Vergleich zu den anderen polnischen Städten weitgehende politische Unabhängigkeit zu sichern.

Optimale Bedingungen für Handhabung, Lagerung, Verkauf und Transport von Waren aller Art zu schaffen, ist eine weitere Zweckbestimmung der Hafenstadt, die spezifische, aber überall ähnliche räumliche und physische Strukturen hervorgebracht hat. Aus baulichen Formen, technischen Vorkehrungen und verkehrlichen Infrastrukturen setzte sich in jeder historischen Epoche ein typisches Bild zusammen: "Lagerhäuser gab es über das ganze Amsterdamer Stadtgebiet verstreut, aber am stärksten konzentrierten sie sich auf den künstlichen Inseln, die im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert an der Hafenseite angelegt wurden. Sie waren (und sind es in gewissem Maß noch heute) eine merkwürdige Welt im Kleinen, ein Gemisch aus Speichern, Werfthöfen, Holzplätzen, Seilerbahnen und Schuppen zum Trocknen und Räuchern von Heringen."

Unmittelbar an die Hafenanlagen schließen sich die typischen Hafenviertel, Märkte, Lagerhallen sowie die Wohngegenden von Hafen- und Werftarbeitern an. Die Struktur von Straßen und später Eisenbahnanlagen ist auf die Funktion des Hafens ausgerichtet. In den Hafenstädten entwickelten sich eigene Gebäudetypen, die für die Kombination von Wohnen, Lager- und Handelsbetrieb optimiert waren. Der Eindruck eines besonderen Stadtcharakters wird schließlich durch die unterschiedlichen in der Stadt verstreuten Symbole – von den üblichen Schiffsdarstellungen über die architektonischen Formen der Speicher und Lagerhäuser bis zur typischen Skyline der Masten, Schornsteine, Kräne und Werftanlagen – bei der Gestaltung von privaten wie öffentlichen Orten unterstrichen.

Lokale Kultur als Erneuerungsressource

All jene Gegenstände und Symbole, die die Stadtgestalt dauerhaft prägen und in denen sich die spezialisierten Funktionen der Hafenstadt widerspiegeln, tragen zur Herstellung und Verselbstständigung einer typischen lokalen Kultur bei. Doch viele dieser kulturellen Ausdrucksformen funktionaler Spezialisierung verlieren mit aktuellen Entwicklungen ihren ursprünglichen Sinngehalt – weil die soziale Trägerschaft bestimmter kultureller Praktiken und ihrer Symbolisierungen sich auflöst; weil der Rahmen geteilter Bedeutungen, Konventionen und Praktiken seinerseits durch neue kulturelle Einflüsse und Dynamiken – etwa die global wirksamen Prozesse der "McDonaldisierung" oder "Disneyfizierung" – gesprengt wird; oder weil der ökonomische Strukturwandel dessen Grundlage zerstört hat. Tatsächlich wurden viele Hafenfunktionen aus den Städten ausgelagert, typische Industrien verschwanden, und ehemals stabile Hafenquartiere gerieten in eine Abwärtsspirale.

Dennoch wird die Entwicklung hafenstädtischer lokaler Kultur in dem Maße fortgeschrieben, in dem die Inszenierung von Besonderheit zum Bestandteil einer postindustriellen Kultur- und Geschichtsindustrie wird. Lokale Kultur ist zum einträglichen Wirtschaftsfaktor geworden und der Ort ihrer Verwertung zur "ausgestellten Stadt", die sich ihren dauerhaften und temporären Nutzern als Ort des Erlebens vermeintlich unverfälschter hafenstädtischer Kultur anbietet. Im Zuge von Modernisierungs- und Revitalisierungsprozessen werden Fischmärkte zu Touristenattraktionen; "gläserne" Werften laden zum Besichtigen oder zur Beteiligung am Schiffsbau ein; Schiffsparaden, Hafenfeste, maritime Wochen werden gefeiert; traditionelle Symbole hafenstädtischer Kultur werden im Stadtbild besonders hervorgehoben; und vom Guggenheim-Museum in Bilbao bis zur Elbphilharmonie in Hamburg werden ikonenhafte Architektur und (hoch)kulturelle Funktionen durch exponierte Lage am Wasser und maritime Symbolik in ihrer Wirkung bestärkt. Spektakuläre Kulturproduktionen nutzen die maritime Atmosphäre, um eine besondere Erlebnisqualität zu erzeugen.

Deutlich wird an diesen wie an vielen anderen Beispielen, dass die heutigen Prozesse des "Placemaking" und des "Imagebuilding" auf die Indienstnahme der lokalen Kultur angewiesen sind. Großprojekte wie die Docklands in London oder in Dublin, der Port Vell in Barcelona oder der Porto Antico in Genua, die Überseestadt in Bremen oder die Hafencity in Hamburg schaffen dort neue Orte, wo ehemals der working port die ökonomische Basis der Stadt war und ihre Identität prägte. Indem an diesen Stellen eine neue, der globalisierten Informations-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft angepasste Basis – der living port – etabliert wird, symbolisieren die zahlreichen Revitalisierungsprojekte Modernität und Zukunftsorientierung. Unverwechselbarkeit und eine ortstypische Aufenthalts- und Erlebnisqualität erlangt die entstehende Mischung aus Marinas, Bürolofts, Wohnanlagen, Shopping Malls, Multiplex-Kinos, Food Courts, Kongresszentren, Museen, Großaquarien aber nur dadurch, dass sich all dies in den restaurierten Schuppen und Hafenanlagen abspielt oder sich die Formen zeitgenössischer Architektur maritimer und lokaler Symbolik bedienen. So soll der maritime Charakter des Ortes wahrnehmbar bleiben.

Die Erneuerungs- und Revitalisierungsprojekte müssen nicht zuletzt der Tatsache Rechnung tragen, dass den Hafenstädten die Exklusivität ihrer Knotenfunktion abhandengekommen ist. Neuere Transport- und Kommunikationsmittel haben ihre eigenen Netze und Knoten ausgebildet und bewirkt, dass sich die weltweiten Ströme von Gütern, Kapital, Menschen und Informationen voneinander entkoppeln und nicht mehr zwangsläufig an den Hafenstandorten zusammentreffen. Damit wird das, was einst selbstverständlich war, nun zum Gegenstand besonderer Anstrengungen: In Konkurrenz mit allen anderen (Groß-)Städten müssen sich Hafenstädte um die Knotenfunktionen stärker bemühen, zum Beispiel indem sie sich in Umfang und Qualität von Infrastrukturen, Dienstleistungen und sonstigen Angeboten auf wachsende zeitweilige Besucher- und Nutzergruppen einstellen und deren Nutzungsinteressen entgegenkommen.

Was früher Pilger, Kaufleute, Ein- und Auswanderer, Soldaten oder Seefahrer in den Hafenstädten waren, sind heute die Arbeitspendler und Migranten, Businesspeople, Studierenden, Städtetouristen, Fußballfans, Festival- und Kulturbesucher, Kongress- und Wissenschaftsnomaden. Damit scheint die Differenz zwischen "Fremdheit" und "Zugehörigkeit" auch in den binnenländischen Städten zusehends zu verschwimmen, aber Vielfalt und Verschiedenheit werden hier kaum als gemeinsamer und geteilter Erfahrungshintergrund wahrnehmbar. Die lokale Kultur der Hafenstadt, die schon immer eine "globalisierte" war, schließt dagegen eine verbreitete Vertrautheit mit Rollen- und Perspektivwechseln ein, die es verschiedenen Typen von Fremden und Zuwanderern ermöglicht, sich relativ schnell und unkompliziert in das soziale Gefüge einzufinden und zur Herausbildung einer ortstypischen Kultur beizutragen. Im Unterschied zu anderen Gemeinwesen scheint die Hafenstadt somit noch immer ein wirksameres Identifikations- und Integrationsangebot zu eröffnen.

Im Selbstbild wie in der Außenwahrnehmung wird zudem eine typische Mischung aus ausgeprägtem Selbstbewusstsein, republikanischer Gesinnung und "freiem Geist" als Element der lokalen Kultur der Hafenstädte betrachtet. Das Handeln in selbstbewusster Unabhängigkeit entspricht dabei nicht nur der Attitüde lokaler Eliten; auf eine klassenübergreifende Eigenschaft des Ortes, den "freien Geist einer alten seit Langem selbständigen und auch selbstbewussten Hansestadt" führte der Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz etwa zurück, dass die polnische Solidarność-Bewegung ihren Ursprung gerade in der Hafenstadt hatte: "Diese Bewegungen der Solidarność haben hier ihre Wurzeln – nicht in Stettin, Breslau oder Warschau. Es ist ein Freiheitsgeist in Danzig, der sich in einem traditionell tiefen Misstrauen zu den Regierenden ausdrückt, und diesen Freiheitsgeist gibt es in Danzig schon seit vielen Jahrhunderten."

Ihre lokale Kultur scheint den Hafenstädten auch eine Reihe weiterer immaterieller Ressourcen bereitzustellen, die im postindustriellen Standortwettbewerb von Nutzen sein können: Liverpool ist es gelungen, als europäische Kulturhauptstadt 2008 seine herausragende Bedeutung für die Entwicklung der Popmusik, die sich nur auf der Grundlage seiner spezifischen lokalen Kultur ausbilden konnte, zu einem international anerkannten Markenzeichen zu machen. Barcelona, Bilbao und Genua präsentieren sich als zeitgemäße Zentren eines weltweiten Kultur-, Kongress- und Städtetourismus. In Hamburg hat sich St. Pauli zu einem weit überregional bekannten vielfältigen Amüsier- und Kulturstandort entwickelt, der einerseits mit dem alten Image des "verruchten" Rotlichtviertels wirbt und andererseits längst passende Angebote für alle sozialen Milieus und Unterhaltungsansprüche bereithält.

Nachdem sie bis dahin nur wenige Abweichungen von historischer Routine zugelassen hatten, bemühten sich viele Hafenstädte seit dem Niedergang ihrer traditionellen ökonomischen Basis verstärkt um außerordentliche "Events" wie Olympiaden, Weltausstellungen oder die Ernennung zur europäischen Kulturhauptstadt. Neben den erhofften Image- und Marketingeffekten geht es dabei vor allem darum, neue Ressourcen für ihre eigene Handlungsfähigkeit zu mobilisieren und eine eigenständige Modernisierungs- und Strukturwandelstrategie zu entwickeln. Eine dieser Ressourcen war und ist die Konzentration der relevanten Akteure auf ein gemeinsames Ziel und die Bündelung von Kräften zur Erreichung dieses Ziels. Dabei zeigt sich, dass solche großen Anstrengungen immer noch auf die lokale Kultur der Kooperation und des Gemeinsinns zurückgreifen können. Eine wichtige Ressource, die im Rahmen dieser Festivalisierung des Strukturwandels überdies mobilisiert wird, sind die vielfachen finanziellen Unterstützungen, die aus unterschiedlichen Quellen kombiniert werden. Die hafenstädtische Tradition der vielfachen Außenbeziehungen als Grundlage für relative Unabhängigkeit und innere Handlungsfähigkeit mag sich dabei als hilfreich erwiesen haben.

Träger kultureller Konvergenz in Europa

Selbstverständlich stimmen die lokalen Kulturen der europäischen Hafenstädte nicht in allen beschriebenen Charakteristika überein und manche dieser Charakteristika bedürften einer präziseren empirischen Überprüfung. Dennoch zeichnet sich ein idealtypisches Bild ab, das sich in spezifischer Ausprägung von Außenbeziehungen ebenso wie in besonderen inneren Strukturen ausdrückt. Die europäische Hafenstadt repräsentiert eine jahrhundertelang gewachsene Tradition des Austauschs, des wechselseitigen Voneinander-Lernens und der pragmatischen Balance von Kooperation und Konkurrenz. Nach innen wirkt die in der maritimen Tradition verankerte Fähigkeit zum Konsens und zur sozialen und kulturellen Integration als ein Mechanismus, der bis heute eine Gemeinsamkeit von Interessen herstellt, reproduziert und zu ihrer Durchsetzung beiträgt. So wird etwa für Hamburg festgestellt, dass hier "eine politische Kultur, die zum Konsens fähig ist und die große Vergangenheit in die Gegenwart integriert", Teil eines "über Jahrhunderte stabilen Selbstverständnisses von der Stadt" sei.

Während der vergangenen Jahrzehnte hatte dieses nach wie vor lebendige maritime kulturelle Erbe als Ressource der Erneuerung eine wichtige Funktion für die Bewältigung der Strukturwandelkrise in den Hafenstädten. Gleichzeitig repräsentiert die lokale Kultur der Hafenstadt aber auch einen wesentlichen Bestandteil gemeinsamer europäischer Kultur und Identität, und insofern könnte die Rückbesinnung darauf geeignet sein, das Bewusstsein für die historischen Prozesse der kulturellen Konvergenz in Europa zu stärken und den aktuell sich krisenhaft verschärfenden Tendenzen der Divergenz in Europa zu begegnen.

Das Motto "Einheit in Vielfalt", das sich die Europäische Union auf die Fahnen geschrieben hat, ist historisch am ehesten in und zwischen den europäischen Hafenstädten realisiert worden. Kulturelle Ressourcen spielen dabei insofern eine wesentliche Rolle, als sie nach wie vor dazu beitragen, die Handlungsfähigkeit einer Stadt nach innen wie nach außen zu erhalten oder zu stärken und damit gleichzeitig die Basis für produktive Kooperationsbeziehungen zu schaffen. Gleiches gilt für die Staaten, die sich zu einem Verbund wie der EU zusammenschließen. Aus der Entwicklung der europäischen Hafenstadt ließe sich vor diesem Hintergrund unter anderem lernen, dass selbstbewusstes Beharren auf Eigenständigkeit und die pragmatische "Kooperation der Egoisten" keinen Gegensatz darstellen müssen, sofern die wechselseitigen Beziehungen nicht durch einseitiges Dominanzstreben geprägt werden und gemeinsame Institutionen tatsächlich als Träger gemeinsamer Interessen funktionieren und anerkannt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 19805 (1921/22), S. 727–741.

  2. Peter A. Hall/David Soskice, An Introduction to Varieties of Capitalism, in: dies. (Hrsg.), Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, S. 1–70, hier S. 12f.

  3. Vgl. Florence R. Kluckhohn/Fred L. Strodtbeck, Variations in Value Orientations, Evanston 1961; Edgar H. Schein, Organizational Culture and Leadership, San Francisco 1992²; Günter Warsewa, The Culture of the Port City, in: ders. (Hrsg.), City on Water. Lectures and Studies from the European Urban Summer School, September 2015 at the University of Bremen, Breslau 2016, S. 18–35.

  4. Siehe hierzu und für ausführliche empirische Belege Günter Warsewa, Lokale Kultur und die Neuerfindung der Hafenstadt, in: Raumforschung und Raumordnung 5/2010, S. 373–387.

  5. Adalbert Evers/Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 34.

  6. Angelo Pichierri, Die Hanse – Staat der Städte, Opladen 2000, S. 117.

  7. Vgl. ebd., S. 63ff.

  8. Vgl. Robert L. Fishman, Die befreite Megalopolis. Amerikas neue Stadt, in: Arch+ 109–110/1991, S. 73–83, hier S. 80ff.

  9. Vgl. Mark Girouard, Die Stadt, Frankfurt/M.–New York 1987, S. 146.

  10. Ebd., S. 158f.

  11. Michael Müller/Franz Dröge, Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Basel–Boston–Berlin 2005.

  12. Vgl. Eugene J. McCann, The Cultural Politics of Local Economic Development. Meaning-Making, Place-Making, and the Urban Policy Process, in: Geoforum 33/2002, S. 385–398; Tim Richardson/Ole B. Jensen, Linking Discourse and Space. Towards a Cultural Sociology of Space in Analysing Spatial Policy Discourses, in: Urban Studies 40/2003, S. 7–22; Gunila Jivén/Peter J. Lackham, Sense of Place, Authenticity and Character. A Commentary, in: Journal of Urban Design 1/2003, S. 67–81.

  13. Vgl. Guido Martinotti, Four Populations. Human Settlements and Social Morphology in the Contemporary Metropolis, in: European Review 1/1996, S. 3–23.

  14. "Es gibt Ressentiments gegenüber Deutschland", Interview von Bettina Röhl mit Pawel Adamowicz, in: Cicero 11/2004, S. 56ff., hier S. 56.

  15. Marianne Rodenstein, Die Eigenart der Städte – Frankfurt und Hamburg im Vergleich, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hrsg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt/M.–New York 2008, S. 261–311, hier S. 299.

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ist promovierter Soziologe und Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (iaw) der Universität Bremen. Seine aktuellen Arbeitsgebiete sind die Stadt- und Regionalsoziologie, Arbeits- und Industriesoziologie sowie Governance und der Wandel von Institutionen. E-Mail Link: gwarsewa@iaw.uni-bremen.de