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Die Opfer der RAF

Anne Siemens

/ 17 Minuten zu lesen

Wer waren die Menschen, die zu Opfern der Terroristen wurden? Wie dachten sie über Politik und Gesellschaft, über die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit?

Einleitung

In der Nacht zum 14. Oktober 1977 erfährt Gabriele von Lutzau, dass im Austausch gegen sie und die übrigen 90 Geiseln an Bord der Lufthansa-Maschine "Landshut" inhaftierte Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) freigepresst werden sollen. Sie ist Stewardess, damals 23 Jahre alt. Das Flugzeug steht auf dem Flughafen von Bahrain, an Bord verängstigte, verzweifelte Menschen. Es ist heiß in der Maschine. Die Toiletten sind verstopft, es stinkt nach Fäkalien. Der Geruch dringt in Kleidung, Haare, Nase - und wird ein Leben lang in Erinnerung bleiben, so wie die Angst.



Bis heute, sagt Gabriele von Lutzau (52), sei der bleibende Eindruck der Entführung die Hilflosigkeit: "Das Lamm auf der Schlachtbank zu sein, dem gleich die Kehle durchgeschnitten wird - und man sieht, wie die Messer schon gewetzt werden." Die Stewardess, die in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 schließlich von der GSG 9 im somalischen Mogadischu befreit wird, ist eines von zahlreichen Opfern der RAF. Auch wenn die Taten Jahrzehnte zurückliegen, wirken sie nach - bei den überlebenden Opfern wie bei den Angehörigen der Toten.

Durch die RAF wurden in den 28 Jahren ihres "bewaffneten Kampfes" 34 Menschen getötet: Norbert Schmid, Herbert Schoner, Hans Eckhardt, Paul A. Bloomquist, Clyde R. Bonner, Ronald A. Woodward, Charles L. Peck, Andreas Baron von Mirbach, Dr. Heinz Hillegaart, Fritz Sippel, Siegfried Buback, Wolfgang Göbel, Georg Wurster, Jürgen Ponto, Heinz Marcisz, Reinhold Brändle, Helmut Ulmer, Roland Pieler, Arie Kranenburg, Dr. Hanns Martin Schleyer, Hans-Wilhelm Hansen, Dionysius de Jong, Johannes Goemans, Edith Kletzhändler, Dr. Ernst Zimmermann, Edward Pimental, Becky Jo Bristol, Frank H. Scarton, Prof. Dr. Karl-Heinz Beckurts, Eckhard Groppler, Dr. Gerold von Braunmühl, Dr. Alfred Herrhausen, Dr. Detlev Carsten Rohwedder und Michael Newrzella.

Die Terroristen ermordeten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Finanzwelt, deren Fahrer sowie Polizisten, Personenschützer und Soldaten. Edith Kletzhändler etwa wurde nach einem Banküberfall in Zürich zufällig zum Opfer. Zum Zeitpunkt der Tat war aus dem, was als studentische Rebellion gegen überholte Universitätsstrukturen und den Vietnamkrieg begonnen hatte, ein gnadenloser Kampf gegen die Bundesrepublik und ihre Institutionen geworden. Bedingungslos glaubten die Mitglieder der RAF daran, revolutionäre Avantgarde zu sein. Gewaltsam wollten sie die Verhältnisse im Land, ja, der ganzen Welt verändern. Es ist ein dunkles Kapitel bundesdeutscher Geschichte, dessen Ereignisse bis heute präsent sind und Politik und Gesellschaft immer wieder beschäftigen.

Über die Biographien der Täter und ihre Überzeugungen ist vieles bekannt. Die Frage nach den Opfern ist dagegen meist im Hintergrund geblieben. Wer waren die Menschen, die zu Opfern der Terroristen wurden? Wie dachten sie über Politik und Gesellschaft, über die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit?

Selbstverklärung und Verharmlosung

Die "Landshut"-Stewardess Gabriele von Lutzau erinnert sich: "Die Gefangenen aus der RAF in Stammheim waren Leute in meinem Alter oder nur unwesentlich älter als ich. Ihre Wurzeln hatten sie in der Bewegung, die ich vor wenigen Jahren noch von ganzem Herzen bewundert hatte." Dem Protest gegen den Vietnamkrieg, der Forderung, die Täter für die Verbrechen im "Dritten Reich" zur Rechenschaft zu ziehen - diesen Zielen der Studentenbewegung hatte Gabriele von Lutzau zugestimmt. Der Bruch kam für sie mit der zunehmenden Gewalt.

Diese Sicht und Kritik teilten viele der Menschen, die zu Opfern der RAF wurden. Der Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft in Stockholm, Andreas von Mirbach, den die RAF 1975 ermordete, hatte Verständnis für die Forderung der Studenten nach Aufarbeitung. Seine Witwe, Christa von Mirbach, sagt: "Ab Mitte der 1960er Jahre hatten sich an den Universitäten die ersten Stimmen geregt, das Verschweigen der Taten und der persönlichen Verantwortungen im Dritten Reich müsse ein Ende haben. Diese Forderung begrüßte Andreas. (...) Es war in seinen Augen ein wichtiger Schritt für die Gesellschaft, sich ehrlich und tiefgehend mit der eigenen Verantwortung auseinander zu setzen - daraus zu lernen und neu zu beginnen."

Auch der Botschaftsrat für Wirtschaft in Stockholm, Heinz Hillegaart, der am 24. April 1975 während des Überfalls und der Geiselnahme nach Andreas von Mirbach zum zweiten Opfer der RAF wurde, hatte Verständnis für die Forderung der Studenten nach Aufarbeitung, für ihren Protest gegen den Vietnamkrieg und ihren Einsatz für Veränderungen der Universitätsstrukturen. Seine Tochter Claudia Hillegaart: "Unser Vater war zwar im Krieg gewesen, aber nie Mitglied der NSDAP. Daher brach für ihn nach dem Ende des Dritten Reichs kein ideologisches Glaubensgerüst zusammen. Das machte es ihm leichter als anderen seiner Generation, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Er erkannte, dass ein Großteil seiner Generation verdrängte und so tat, als hätte es die zwölf Jahre unter Hitler nicht gegeben. Die Menschen richteten sich gemütlich in ihren bürgerlichen Moralvorstellungen ein und blendeten die Frage nach Mitschuld aus. Es verblüffte unseren Vater nicht, dass manche der Jüngeren sich mit diesen in ihren Augen verlogenen Vorstellungen von Moral nicht anfreunden konnten. (...) Den Formen ihres Protests stand er allerdings teils kritisch gegenüber, doch er akzeptierte ihr Recht darauf, ihre Meinung frei äußern zu dürfen."

Noch wenige Tage vor seiner Ermordung hatte Hillegaart mit Studenten aus der Bundesrepublik diskutiert, die sich vor der Botschaft zum Protest versammelt hatten, sagt seine Tochter. Abends sei er zufrieden nach Hause gekommen: Er habe sich mit den jungen Leuten unterhalten können, es sei nach anfänglichen Schwierigkeiten ein guter Austausch gewesen - und man müsse mit dieser Generation mehr reden. Drei Tage später nehmen Siegfried Hausner, Lutz Taufer, Hanna Krabbe, Ulrich Wessel, Karl-Heinz Dellwo und Bernhard Rössner, mit Pistolen und Sprengstoff bewaffnet, elf Geiseln in der deutschen Botschaft. Sie fordern die Freilassung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und 23 weiteren Terroristen. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre waren die führenden Köpfe der RAF in der Bundesrepublik festgenommen worden - so wie die Mehrzahl der Mitglieder der ersten Generation. Die Spirale der Gewalt drehte sich dennoch weiter. Denn in der "zweiten Generation" der RAF, die in dieser Zeit nachrückte, hatte sich die Überzeugung gefestigt, ihre inhaftierten Genossen befreien zu müssen. Das wurde in den folgenden Jahren zum Hauptziel.

24. April 1975, mittags: Um die schwedischen Polizeibeamten, die sich in den unteren Etagen des Gebäudes aufhalten, zum Rückzug aus der Botschaft zu zwingen, droht das RAF-Kommando, Andreas von Mirbach zu erschießen. Seit Herbst 1974 hatte er ernstzunehmende Warnungen erhalten, das Leben der Botschaftsangehörigen in Stockholm sei bedroht. Das Bundeskriminalamt hatte die Sicherheitsmaßnahmen in der Botschaft trotz dieser Anzeichen der Bedrohung nicht erhöht. Nachdem sich die schwedische Polizei auch nach erneuter Aufforderung nicht zurückgezogen hat, feuern zwei Terroristen mehrere Schüsse auf Andreas von Mirbach ab. Er stirbt am späten Nachmittag in der Stockholmer Universitätsklinik. Heinz Hillegaart wird, nachdem der Krisenstab unter Bundeskanzler Helmut Schmidt die Forderungen der RAF ablehnt, von den Terroristen an ein Fenster der Botschaft geführt und erschossen. Wenige Stunden später explodiert der von dem RAF-Kommando in der Botschaft installierte Sprengstoff. Ulrich Wessel kommt bei der Explosion ums Leben. Bis heute ist nicht geklärt, wer sie ausgelöst hat. Eine der Thesen lautet, die Täter hätten es versehentlich selbst getan. Siegfried Hausner erliegt einige Wochen nach der Explosion seinen Verletzungen. Die überlebenden Terroristen Dellwo, Rössner, Krabbe und Taufer werden wegen gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen sowie Geiselnahme und versuchter Nötigung eines Verfassungsorgans zu zweimal lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt. Ungeklärt ist bis heute - wie in vielen Mordfällen der RAF -, wer von den Tätern geschossen hat. Rössner wird 1994 von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt. Taufer und Dellwo kommen 1995 vorzeitig aus der Haft; Krabbe wird 1996 vorzeitig entlassen.

In dem 2003 gedrehten Dokumentarfilm des schwedischen Regisseurs David Aronowitsch schildert Dellwo seine Version der Geschichte. Er spricht von den Idealen, mit denen er nach Stockholm gereist sei, und von der Gerechtigkeit, für die er kämpfen wollte. Zur Ermordung der beiden Botschaftsangehörigen gibt er an, es sei ein politischer und moralischer Fehler gewesen, dass die Diplomaten Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart erschossen wurden. Clais von Mirbach, der Sohn, sagt dazu: "Ganz so 'harmlos', wie es der Begriff 'erschießen' nahe legen möchte, war es aber nicht. Zwar ist jeder Mord bereits an sich grausam, doch macht es auch einen Unterschied, wie er geschieht. Meinem Vater haben die Mörder Kugeln in Kopf und Rücken, Arme und Beine geschossen, ihn kopfüber eine Steintreppe hinuntergeworfen und dort halbtot liegen und leiden lassen. Heinz Hillegaart haben sie theatralisch zum Fenster marschieren lassen, um ihn in Todesangst angeblich eine Botschaft ausrichten zu lassen, während sie ihn kaltblütig von hinten in den Kopf schossen. Diese Fakten führen die Selbstdarstellung der Terroristen als menschenfreundliche Idealisten, die höherer Ideale zuliebe gegen ihren eigenen Willen geradezu zum Kampf gezwungen wurden, ad absurdum."

Zu einer Äußerung Rössners während eines Fernsehinterviews im ZDF im Jahr 1994, er empfinde keine Reue und kein Bedauern gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen - "Krieg ist Krieg und vorbei ist vorbei", und wer seien überhaupt die Opfer? Die Opfer seien die Armen und die Vernachlässigten dieser Gesellschaft, heute sei Gewaltanwendung allerdings die falsche Methode, politische Ziele zu erreichen -, erklärt Clais von Mirbach: "Ich bin sehr dafür, dass jeder seine Meinung öffentlich sagen darf, auch wenn sie abwegig ist. Das soll für jeden gelten, auch für die Mörder meines Vaters. Ich wünschte mir aber, dass die Öffentlichkeit solchen Selbstverklärungen und Verharmlosungen entschiedener entgegenträte. Rechtsradikalen Tätern ließe man derlei aus gutem Grund nicht durchgehen, Linksradikale umweht eine nicht gerechtfertigte Aura der Nachsicht und des Verständnisses. Auch rechtsradikale Täter versuchen, sich als Opfer zu gerieren; gleichwohl sind die Opfer andere, und sie sollten bei aller Täterfixiertheit nicht vergessen werden. Für meinen Vater war das Leben mit dem Überfall auf die Botschaft für immer zu Ende. Seine Angehörigen erhielten auf ihre Weise 'lebenslang', nicht im rechtlichen Sinne wie die Mörder, sondern im buchstäblichen Sinne. Auslöser war der Mordentschluss von Menschen, die meinen Vater nicht einmal kannten. Es reichte, in ihm einen 'Repräsentanten des Schweinesystems' zu sehen. Er war aber kein 'Schwein', er hatte nie in seinem Leben jemandem etwas zuleide getan, schon gar nicht den Tätern selber. Er hatte es sich im Gegenteil zur Aufgabe gemacht, auch ihre Freiheitsrechte notfalls mit der Waffe in der Hand zu verteidigen."

Dagegen hätten alle überlebenden Mörder seines Vaters die Möglichkeit, nach der Haft noch einmal neu anzufangen, so von Mirbach: "Die Mörder zeigen dies selber ganz offensiv. Im Film Stockholm '75' gewährt Karl-Heinz Dellwo dem Zuschauer auch Einblick in seinen Alltag. Er zeigt seine Lebensgefährtin, die aus dem gleichen Umfeld kommt wie er. Das Signet der RAF ist während des Interviews minutenlang in seiner Küche zu sehen. Man stelle sich einen rechtsradikalen Mörder vor, der in seiner Wohnung einschlägige Zeichen aus der Naziszene vorzeigt. Diese plakative Verklärung des Revolutionären wird bekräftigt durch seine aktuellen öffentlichen Äußerungen zu politischen Ereignissen. Dellwo stellt sich nicht nur in Fernsehinterviews und Filmen dar, er gibt Radiointerviews zu allgemeinen Themen, hält Vorträge über politischen Widerstand in der Nachkriegszeit' und diskutiert öffentlich über Hartz IV. Dellwo sieht sich offenbar immer noch auf einer moralisch höheren Stufe als den Großteil der Gesellschaft, als einer, der Ungerechtigkeiten aufdeckt und diese von seiner überlegenen Warte herab kommentiert. In jedem Moment profitiert er dabei von den rechtsstaatlichen Grundsätzen unseres Landes, die er zwar vor rund dreißig Jahren noch zerstören wollte, die aber seine vorzeitige Haftentlassung ermöglichten und die ihm Unterstützung durch öffentliche Gelder gewähren. Ich will nicht missverstanden werden: Ich gönne Karl-Heinz Dellwo seinen Neuanfang. Ich bekomme meinen Vater nicht dadurch zurück, dass es den Tätern schlecht geht. Doch mich wundert, dass ehemalige oder Noch-Mitglieder der RAF auf diese Weise Selbstdarstellung betreiben können, ohne dass die Gesellschaft sie in ihre Schranken weist."

Die Verantwortung der Intellektuellen

Corinna Ponto, die Tochter des am 30. Juli 1977 ermordeten Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Jürgen Ponto, sagt: "Wer einmal Opfer wurde, kann nie Ex-Opfer sein. Bei den Tätern wird heute doch vielfach von 'ehemaligen' Terroristen gesprochen. Dieses 'Ex' ist ein Privileg. Ich kenne keinen Ex-Mörder, auch keinen Ex-Kindesentführer. Ex-Terroristen nennen sie sich aber alle, die in der RAF waren und heute wieder in unserer Gesellschaft leben. Das Ex verwandelt sozusagen ein Minusvorzeichen in ein mir unbekanntes, diffuses Plus. Hat denn ein ehemaliger Terrorist einen klugen Appell an die nächste Generation gerichtet? Oder hat irgendein Ex-Terrorist wahrnehmbar eine Antiterrorismus-Bewegung in Gang gebracht?"

Jürgen Ponto wurde erschossen, als ein Kommando der RAF am 30. Juli 1977 versuchte, ihn zu entführen. Er hatte sich gewehrt. Dem Kommando gehörten Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Susanne Albrecht an. Es war die Perfektion der Heimtücke: Albrecht ist die Tochter eines alten Schulfreundes von Jürgen Ponto. Dass sie Mitglied der RAF war, ahnte er nicht. So konnten sich die Terroristen unverdächtig Eintritt zum Hause Ponto verschaffen. Sie setzten nach der Ermordung Pontos und dem verfehlten Ziel seiner Entführung weiter alles daran, die inhaftierten Mitglieder der ersten Generation der RAF, darunter Ensslin und Baader - Ulrike Meinhof hatte im Mai 1976 Selbstmord begangen -, freizupressen.

Wenig später, am 5. September 1977, wird der Arbeitgeberpräsident, Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) und Vorstandsmitglied von Daimler Benz, Hanns Martin Schleyer, entführt. Im Austausch gegen ihn verlangt das RAF-Kommando "Siegfried Hausner" die Freilassung der inhaftierten RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Verena Becker, Werner Hoppe, Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Ingrid Schubert, Irmgard Möller und Günter Sonnenberg. Der Krisenstab im Bundeskanzleramt spielt in den Verhandlungen mit den Entführern auf Zeit und hofft, dass in der Zwischenzeit das Versteck Schleyers entdeckt und die Geisel befreit werden kann. Die Ereignisse eskalieren und zwingen zum Handeln, als ein vierköpfiges arabisches Entführerkommando zur Unterstützung der Forderungen am 13. Oktober 1977 das Lufthansa-Passagierflugzeug "Landshut" auf dem Weg von Mallorca nach Frankfurt am Main entführt. In Aden erschießt der Anführer der Terroristen den Flugkapitän Jürgen Schumann. Die Flugzeugentführung endet am 18. Oktober 1977 in Mogadischu. Es gelingt Beamten der GSG 9, die Geiseln zu befreien. Bis auf ein Mitglied des Entführerkommandos werden die Terroristen während der Flugzeugerstürmung erschossen.

Die in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder Baader, Ensslin und Raspe begehen nach Bekanntwerden der Nachricht von der Geiselbefreiung in Mogadischu noch in derselben Nacht Selbstmord. Im Umfeld der RAF verbreitet sich die These von der staatlichen Hinrichtung. Am Abend des 19. Oktober 1977 wird die Leiche des erschossenen Hanns Martin Schleyer im französischen Mühlhausen im Kofferraum eines Autos gefunden. Über Wochen hat die Entführung Schleyers, haben die Fotos seiner Geiselhaft, mit denen die RAF belegt, dass er noch am Leben ist, die Titelseiten der Zeitungen gefüllt: Die Bilder dokumentierten, wie leidvoll es für Schleyer war, auf eine Entscheidung der Bundesregierung zu warten. Am 19. Oktober 1977 gibt die RAF eine Erklärung ab: "Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Péguy in Mühlhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen (...)."

Hanns-Eberhard Schleyer, der älteste Sohn, sagt heute: "Es gibt die ganz persönliche Bewältigung von Verlust, eine emotionale Aufarbeitung der Geschehnisse, die für die Öffentlichkeit verborgen in einem selbst und mit der Familie stattfindet. Sicht- und hörbar wollte ich mich allerdings mit den Intellektuellen auseinandersetzen, die in den Jahren vor der Ermordung meines Vaters zur zunehmenden Radikalisierung der Studentenbewegung beigetragen hatten. Auch das war neben dem Persönlichen ein wichtiger Schritt der Aufarbeitung für mich. Ich sprach nach dem Herbst 1977 mit vielen Literaten und Universitätsprofessoren, die sicher keine klammheimliche Sympathie für die Ermordung meines Vaters empfanden, aber für sich immer in Anspruch genommen hatten, man könne nur aus einer radikalen Position heraus Veränderungen herbeiführen. Das war mein Vorwurf an die Intellektuellen: nicht erkannt zu haben oder erkennen zu wollen, dass sie - die Intellektuellen und geistigen Führer der Studentenbewegung - mit ihren plakativen Positionen auch einen erheblichen Einfluss auf Teile der studentischen Jugend ausgeübt und damit eine besondere Verantwortung hatten. Was sie gesagt und geschrieben hatten, war Baustein des ideologischen Fundaments der RAF geworden, die sich als revolutionäre Avantgarde sah - legitimiert, mit allen Mitteln das bestehende System anzugreifen. Eines meiner Argumente in all diesen Erörterungen mit Intellektuellen war immer wieder: 'Wie reagiert ihr denn, wenn Menschen aus dem rechtsextremen Umfeld für sich in Anspruch nehmen würden: Dieser Staat ist so repressiv - wir können ihn gar nicht mehr auf einem demokratischen Wege zu ändern versuchen. Wir können es nur noch mit Gewalt. Würdet ihr sie auch in ihrer Position unterstützen?' Mit dem Publizisten Jean Améry hatte ich einmal eine öffentliche Diskussion, und gegen Ende räumte er ein, er sei sich nicht bewusst gewesen, welchen Einfluss er auf die jungen Leute gehabt habe: 'Ich hätte wissen müssen, dass bestimmte Thesen und Aussagen in ihrer plakativen Form so ernst genommen werden würden, dass daraus bestimmte Handlungen entstehen. Und das bedauere ich zutiefst', sagte er mir. Auch mit Heinrich Böll gab es ein Gespräch, auch er änderte seine Haltung."

Diese Form der intellektuellen Auseinandersetzung habe es vor 1977 nicht gegeben, so Schleyer - und vor allem seien die geistigen Väter der Studentenbewegung nicht bereit gewesen, Verantwortung zu übernehmen: "Man hatte sich vor dem Deutschen Herbst theoretisch mit den Mitscherlichs, mit Marcuse und Adorno beschäftigt, es gab auch die eine oder andere Debatte im Feuilleton, aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Meinungsbildnern der Studentenbewegung war ausgeblieben. Sie begann erst nach den Morden des Jahres 1977. Bei vielen - ich nenne sie Multiplikatoren - haben erst diese Gewalttaten dazu geführt, dass auf ihrer Seite überhaupt eine Diskussionsbereitschaft aufkeimte. Es hatte für mich etwas Versöhnliches und Sinngebendes, dass Bewegung in die gesellschaftliche Debatte kam. Nun wurde das Phänomen Terrorismus und politisch motivierte Gewalt auf einer viel breiteren Basis diskutiert, und viele der Intellektuellen, die sich über die 1950er bis 1970er Jahre nicht nur für eine Aufarbeitung des Dritten Reichs eingesetzt hatten, sondern auch für eine nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland, trennten sich im Zuge dieser Debatte von einer bestimmten Radikalisierung ihrer Positionen und räumten ein: 'Nein, so kann das nicht funktionieren. Wir müssen akzeptieren, dass Demokratie nach Mehrheiten funktioniert.' Der Deutsche Herbst war eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Denn ich bin davon überzeugt, dass sich nach dem Herbst 1977 die Art, wie die RAF, die Bewegung 2. Juni oder die Revolutionären Zellen wahrgenommen wurden, veränderte. Die öffentliche Aufmerksamkeit und vor allem die Bereitschaft junger Menschen im Sympathisantenfeld, zuzuhören und Solidarität mit Baader-Meinhof zu demonstrieren und zu praktizieren, schwanden. Auch im linken Umfeld wurde erkannt, dass die behauptete Logik revolutionärer Gewalt ein Irrweg war. Und es wurde bis ins Sympathisantenfeld hinein erkannt, dass mit Schüssen oder Bomben auf jemand wie Gerold von Braunmühl oder Alfred Herrhausen allein die Angehörigen und Freunde der Ermordeten getroffen wurden, nicht aber der Staat."

Moral und Heldennimbus

Das RAF-Grundsatzpapier "Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front" leitete zu Beginn der 1980er Jahre eine neue Phase des Terrors ein. Eine "dritte Generation" hatte sich gebildet. Die meisten Mitglieder der zweiten Generation waren mittlerweile in Haft. Fortan sollte sich der behauptete Befreiungskampf der RAF "gegen den Imperialismus in Europa" richten. Ziel der Terroristen war die Bildung einer antiimperialistischen Front - grenzüberschreitend in ganz Europa.

Am 10. Oktober 1986 wird Gerold von Braunmühl, Politischer Direktor im Auswärtigen Amt in Bonn, von zwei vermummten Personen vor seinem Haus erschossen. Das RAF-Kommando "Ingrid Schubert" bekennt sich zu dem Attentat und begründet den Mord unter anderem damit, von Braunmühl sei ein "Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes" gewesen. Einen Monat nach dem Mord veröffentlicht die Familie von Braunmühl den von den Brüdern unterzeichneten offenen Brief "An die Mörder unseres Bruders." Die "tageszeitung" druckt den Brief.

"Dort war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Brief von den Tätern und von Menschen aus dem Sympathisantenfeld gelesen wird," erklärt der Sohn des Ermordeten, Patrick von Braunmühl. Über das Motiv seiner Familie sagt er: "Da es kein natürlicher Tod war, den mein Vater gestorben ist, ist automatisch auch das Bedürfnis da, sich mit den Tätern und den Motiven - der Frage des Warum' auseinander zu setzen. Aus diesem Bedürfnis wuchs der Wunsch, das auch öffentlich zu tun. Wir wollten die Terroristen zur Rede stellen und ihren Argumenten im Bekennerschreiben etwas entgegensetzen, ihnen aufzeigen: Euer Weltbild ist absurd.' Wir wollten die Argumente der Täter, ihre avantgardistische Moral und ihren Heldennimbus entlarven. Die Art, in der sie meinen Vater im Bekennerschreiben dargestellt hatten - als Geheimdiplomat im Zentrum des militärisch-industriellen Komplexes des imperialistischen Gesamtsystems -, hatte nichts mit seiner Person gemein. (...) Wir wollten den Tätern auch klar sagen: Ihr habt jemandem das Leben genommen, der eine Familie hat, und damit habt ihr auch im persönlichen Umkreis des Opfers Schlimmes angerichtet' - es war uns wichtig, auch diese Dimension der Tat aufzuzeigen."

Sein Vater, sagt Patrick von Braunmühl, sei ein Mensch gewesen, bei dem Meinung und Handeln stets übereinstimmten. "Er war ein sehr integrer Mensch, mit analytischem Scharfsinn und großer Gesprächsbereitschaft. Für mich war und ist es unglaublich, dass die RAF, die angeblich für eine gerechtere Welt kämpfte, einen Mord begeht an meinem Vater, den ich stets als politischen Idealisten gesehen habe. Die Berufswahl meines Vaters hatte sehr viel mit seinem eigenen Schicksal zu tun - dem Erleben des Zweiten Weltkriegs als Kind und der Zeit danach. Die Familie lebte damals in Schlesien im heutigen Polen. Die Gräuel der Deutschen während des Kriegs und die Hass- und Rachegefühle der Polen in der Folgezeit, die die deutsche Zivilbevölkerung während der Vertreibung zu spüren bekamen, prägten ihn. Er wollte daran arbeiten, dass ein solcher Krieg nie wieder vorkommt, und sich für den Dialog zwischen den Völkern einsetzen. Da lag der Wunsch nahe, im Auswärtigen Dienst zu arbeiten. Dieser Wunsch hatte sich bei ihm schon zu Schulzeiten entwickelt. Er war ein sehr politisch denkender Mensch, dem die Aufarbeitung der Nazivergangenheit ein wichtiges Anliegen war. Er hat sich oft über das Großmachtgehabe der USA geärgert und deren Militäreinsätze damals in Grenada und Libyen sehr verurteilt. In seinem Beruf hat sich mein Vater sehr engagiert. Sein Leben hat er ganz der politischen Arbeit gewidmet. Das war kein Karrierestreben. Es ging meinem Vater wirklich um die Sache, und er hat sich mit jedem politisch Andersdenkenden auch gern und intensiv auseinandergesetzt. Er hätte vielleicht sogar mit den Terroristen diskutiert, wenn sie nicht gleich geschossen hätten."

Am 20. April 1998 erklärt die RAF ihre Auflösung. "Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte (...). Ab jetzt sind wir (...) ehemalige Militante der RAF", steht in dem bei der Nachrichtenagentur Reuters eingegangenen Schreiben. Es wird von Experten als authentisch bewertet. Die Bilanz von 28 Jahren bewaffnetem Kampf: viele Tote und Verletzte. 500 Millionen Mark Sachschaden. 31 Banküberfälle, Beute: sieben Millionen Mark. 104 von der Polizei entdeckte konspirative Wohnungen. 180 gestohlene PKW, dazu über eine Million Asservate - Geld, Waffen, Sprengstoff, Ausweise.

Zu den Folgen des Terrorismus zählen weit reichende Eingriffe in das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland und eine Veränderung des innenpolitischen Klimas. Die Auflösungserklärung der RAF enthält das Eingeständnis der Terroristen, keinen Weg zur Befreiung aufgezeigt zu haben - den Toten aus den eigenen Reihen wird gedacht und Helfern und Sympathisanten gedankt. Für die RAF endet die Geschichte hier. Auch zum Zeitpunkt der Auflösung beruft sie sich darauf, in der Bundesrepublik gewalttätige Verhältnisse vorgefunden zu haben, die nur mit der Gewalt der Revolte zu beantworten gewesen seien.

Über die RAF und ihre behauptete Legitimation sagt Patrick von Braunmühl: "Wie man in einen solch weltfremden politischen Mikrokosmos hineingeraten kann wie die RAF, das ist für mich nicht nachvollziehbar. (...) Es ist absurd, wie die Bundesrepublik, die im Vergleich zu vielen anderen Staaten doch eine relativ gut funktionierende Demokratie ist, derart verteufelt werden konnte - und das sich daraus die Idee, in den Widerstand gehen zu müssen, entwickelt hat. (...) Die einzige wirkliche Konsequenz sind der Schmerz und der Verlust für die Angehörigen."

Dr. phil., geb. 1974; Politikwissenschaftlerin und Journalistin, c/o Piper Verlag, Georgenstraße4, 80799 München.
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