Aktuelle Situation
Mit der Verabschiedung eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes und der Aufhebung des Sonderstatus Kaschmirs hat die regierende hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premierminister Narendra Modi im Jahr 2019 weitere Schritte unternommen, Indiens säkular-pluralistisches Staatsmodell auszuhöhlen. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz, das den Status von illegalen Einwanderern aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan regelt, ist das erste Gesetz, das Religion zum Kriterium für die indische Staatsbürgerschaft erhebt und so muslimische Einwanderer ausschließt. Daraufhin kam es landesweit zu massiven Protesten. Während der Proteste, die meist friedlich verliefen, ist es wiederholt zu Zusammenstößen zwischen Gegnern und Befürwortern des neuen Gesetzes sowie mit der Polizei gekommen. Allein im Dezember 2019 starben rund 30 Menschen und knapp tausend wurden verletzt. Insbesondere militante hindu-nationalistische Gruppierungen haben die Proteste für Angriffe auf politische Gegner genutzt. So haben im Januar 2020 ca. 60 Mitglieder der BJP-Studentenorganisation, bewaffnet mit Schlagwerkzeugen und Säure, den Campus der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi gestürmt und über 40 vermeintlich linke Studierende und Lehrkräfte verletzt. Im Februar 2020 kam es zu Straßenschlachten zwischen Gegnern und Befürwortern des Staatsbürgerschaftsgesetzes, nachdem ein BJP-Politiker damit gedroht hatte, eine friedliche Straßenblockade im Nordosten Delhis notfalls mithilfe von BJP-Anhängern gewaltsam zu räumen. Ein Mob aus Hindu-Nationalisten ist daraufhin in ein mehrheitlich von Muslimen bewohntes Stadtviertel eingedrungen und hat die Bewohner angegriffen sowie Häuser, Geschäfte und eine Moschee in Brand gesetzt. Ebenso verübten Muslime Angriffe auf Hindus. Während der mehrtägigen Unruhen sind über 50 Menschen getötet und hunderte verletzt worden. Fast 1.000 Muslime wurden zumindest vorübergehend aus ihren Vierteln vertrieben.
Im Jahr 2018 ist es Indiens schwerstem innerstaatlichen Konflikt – dem maoistischen "Volksbefreiungskrieg" – wieder zu einem leichten Anstieg der Gewalt gekommen, der vor allem auf einen Führungswechsel bei den Maoisten und verstärkte Operationen der Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Die als Naxaliten bezeichneten maoistischen Rebellen kontrollieren kleine Teile des indischen Territoriums und verüben regelmäßig Anschläge auf Sicherheitskräfte, politische Gegner und die öffentliche Infrastruktur. Betroffen sind vor allem die Bundestaaten im Osten des Landes. In den letzten drei Jahren sind dem Konflikt über 1.000 Menschen zum Opfer gefallen. Obwohl die indischen Sicherheitskräfte den Konflikt in den letzten Jahren weitestgehend unter Kontrolle bringen konnten und die Zahl der Rebellen rückläufig ist, ist es den Naxaliten wiederholt gelungen, den paramilitärischen Polizeieinheiten erhebliche Schläge zuzufügen.
Der dritte Konfliktherd befindet sich in den nordöstlichen Bundesstaaten, vor allem in Assam, Manipur und Nagaland. Hier schwelen seit Jahrzehnten Konflikte sowohl zwischen der Zentralregierung und militanten Unabhängigkeits-/Sezessions-Bewegungen als auch zwischen den in der Region lebenden Ethnien und Stämmen. Das Gewaltniveau ist in den letzten Jahren jedoch rückläufig, und es kommt nur noch relativ selten zu Kampfhandlungen und Terroranschlägen, da der indische Staat mit vielen militanten Gruppierungen Waffenstillstands- oder Friedensabkommen schließen konnte. Im Januar 2020 hat die indische Regierung ein Abkommen mit den Rebellen und Parteien der Bodo-Ethnie unterzeichnet, das die Entwaffnung und gesellschaftliche Wiedereingliederung der rund 1.600 Mann starken Rebellengruppe sowie ein neues Modell der politischen Machtteilung im Bundestaat Assam vorsieht. Ebenfalls im Januar verkündete die indische Regierung einen Durchbruch in den Verhandlungen mit Vertretern der Naga-Ethnien im Nachbarstaat Nagaland über eine politische Lösung des Konflikts. Diese Erfolge werden jedoch durch die Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes überschattet, das in der Region für Massenproteste und Unruhen gesorgt hat. Während sich die Proteste im restlichen Indien gegen die Diskriminierung von Muslimen richten, stößt die im Gesetz vorgesehene Legalisierung des Status illegaler Einwanderer im Nordosten Indiens auf Widerstand. Die in der Region lebenden Stämme und Ethnien sehen die (illegalen) Einwanderer aus Bangladesch vielerorts als Bedrohung für ihre kulturelle Identität und Erwerbsmöglichkeiten an.
Ursachen und Hintergründe
Die religiösen Konflikte haben ihren Ursprung vor allem im Unabhängigkeitskampf. Damals setzte sich die 1906 gegründete Muslimliga unter Führung von Mohammed Ali Jinnah (1876-1948) für die Schaffung eines unabhängigen Staates der Muslime ein. Grundlage für diese Forderung war die "Zwei-Nationen-Theorie", wonach Hindus und Muslime nicht friedlich und gleichberechtigt in einem von Hindus dominierten Staat zusammenleben können. Mit der gewaltsamen Teilung Britisch-Indiens und der Gründung Pakistans im Jahr 1947 ist hieraus ein zwischenstaatlicher, militärischer Konflikt erwachsen, der bis heute fortwirkt und sich primär um die Zugehörigkeit Kaschmirs dreht.
Mit dem machtpolitischen Aufstieg der hindu-nationalistischen BJP, für die der Hinduismus das kulturelle und identitätsstiftende Fundament der indischen Nation bildet, hat sich der Konflikt in den letzten Jahren verschärft. Religiöse Minderheiten, wie Muslime und Christen, deren Religionen ihren Ursprung außerhalb des indischen Subkontinents haben, stellen für die Hindu-Nationalisten eine potenzielle Gefahr für die Nation dar und werden mit der Unterdrückung Indiens durch muslimische Sultanate im Mittelalter einerseits und der Zeit der britischen Kolonialmacht andererseits assoziiert. In Indien leben heute fast 200 Millionen Muslime. Der Hindu-Nationalismus, der sich als Gegenentwurf zum säkularen Nationalismus des indischen Staatsgründers Jawaharlal Nehru (1889-1964) versteht, hat das Ziel, Indien zu einer hinduistischen Nation zu machen. Befördert wird der Konflikt auch durch die anhaltende wirtschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung vieler Muslime sowie die Existenz einiger weniger islamistisch-fundamentalistischer Gruppierungen in Indien, welche von Hindu-Nationalisten oft als vermeintlicher Beweis für eine von allen Muslimen ausgehende Gefahr angeführt werden.
Die maoistischen Naxaliten streben die gewaltsame Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung an. Ihre Guerilla-Strategie zielt auf die Kontrolle über die ländliche Bevölkerung und die Zerstörung der zentralen Institutionen des Staates. Die Maoisten behaupten, im Namen der von Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung betroffenen Teile der indischen Bevölkerung zu kämpfen. Der Konflikt hat mithin eine starke sozio-ökonomische Komponente und ist eng verknüpft mit der Parallelität von Modernisierungsprozessen und dem Fortbestehen patriarchal-feudaler Strukturen, welche sich vor allem in der ungleichen Verteilung von Ackerland manifestieren.
Diese Probleme bestehen bereits seit der britischen Kolonialherrschaft und sind bis heute kaum gelöst. Noch immer hat ein Großteil der Bewohner in den betroffenen Gebieten, die zu den ärmsten und rückständigsten Indiens zählen, keine Landnutzungsrechte und damit keinen direkten Zugang zur Haupteinnahmequelle. Gleichzeitig bedrohen Modernisierungsprozesse die traditionelle Lebensweise der Stammes- und Landbevölkerung. Durch den Abbau von Rohstoffen, die Ansiedelung von Industrien und die Schaffung von Sonderwirtschaftszonen sind diese Bevölkerungsgruppen vielerorts gezwungen, ihre Siedlungsgebiete zu verlassen. Im Widerstand gegen die soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Ausgrenzung haben die Naxaliten viele Unterstützer unter den Unterkastigen (Dalits), verarmten Bauern und indischen Ureinwohnern (Adivasi). Angesichts der anhaltenden und im Zuge neoliberaler Wirtschaftsreformen, wachsenden Ungleichheit in der indischen Gesellschaft verfügen die Maoisten aber auch über eine kleine Unterstützerbasis und Rekrutierungspotenzial in urbanen Zentren.
Beim dritten Konfliktschwerpunkt Indiens, dem Nordosten des Landes, sind die Auseinandersetzungen um den Zugang zu Land und die Verteilung der Erträge vor allem ethno-politischer Natur. Die Hauptursachen, die auf die britische Kolonialzeit zurückgehen, liegen zum einen in der wirtschaftlichen Abhängigkeit, Rückständigkeit und politischen Marginalisierung der Region und zum anderen in den Konflikten zwischen den kulturell und ethnisch sehr unterschiedlichen Stammes- und Bevölkerungsgruppen. Die Nordostregion unterscheidet sich kulturell und ethnisch erheblich vom restlichen Indien, mit dem sie nur durch den 23 km schmalen Shiliguri-Korridor verbunden ist. Während der Kolonialherrschaft war die Region nicht vollständig in den Staats- und Verwaltungsapparat Britisch-Indiens integriert und damit von Entwicklungs- und Modernisierungsprozessen weitestgehend ausgeschlossen. Sie diente primär als Pufferzone gegen mögliche Invasionen sowie als wichtige Rohstoffquelle. Da die britische Kolonialmacht vielerorts nicht auf traditionelle Autoritäten und Verwaltungsstrukturen zurückgreifen konnte, übernahmen Beamte und Experten aus Bengalen, dem damaligen Herrschaftszentrum Britisch-Indiens, zentrale Positionen in der lokalen Kolonialadministration und Wirtschaft.
Bis heute fühlt sich die lokale Bevölkerung um ihren Anteil an der wirtschaftlichen und politischen Macht betrogen. Dies erklärt auch den Widerstand gegen (illegale) Einwanderung aus Bangladesch und das neue Staatsbürgerschaftsgesetz. Auch bei der Schaffung der indischen Bundesstaaten wurden die Interessen der lokalen Bevölkerung sowie die Siedlungsgebiete der unterschiedlichen Stämme und Ethnien nur unzureichend berücksichtigt. Die indische Regierung reagierte auf die Aufstände zunächst mit massiver Militärpräsenz. Vor diesem Hintergrund hat sich der Nordosten zum Nährboden für separatistische Bestrebungen und Konflikte entwickelt.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Während traditionell vor allem Truppenkontingente zur Niederschlagung der Aufstände in die Konfliktgebiete entsandt wurden, wird seit den 1980er Jahren meist eine zweigleisige Strategie verfolgt. Sie besteht in der Kombination aus Maßnahmen der zivilen Konfliktbearbeitung und dem Einsatz (para-)militärischer Einheiten. So wurden mit zahlreichen militanten Gruppierungen Friedensverhandlungen begonnen. Durch die Schaffung neuer Bundesstaaten und die Gewährung größerer Autonomie konnten separatistische Bestrebungen abgeschwächt werden. Flankierend dazu sollen entwicklungspolitische Reformen und Rehabilitierungsmaßnahmen für ehemalige Kämpfer die Konflikte beruhigen und überwinden. Gleichzeitig hat die indische Zentralregierung die Modernisierung der Polizei und den Aufbau eines paramilitärischen Kommandos auf Bundesebene forciert. Die aktuell regierende BJP hat diese Strategie weitgehend fortgesetzt und vor allem die geheimdienstliche Koordination zwischen Bund und Ländern in der Konfliktbearbeitung gestärkt.
Trotz der Fortschritte in der Aufstandsbekämpfung und des Rückgangs der Gewalt bestehen erhebliche Defizite und Probleme fort:
mangelhafte Ausbildung und Ausstattung der paramilitärischen Einheiten,
unzureichende Koordination der Sicherheitskräfte,
Defizite bei der Grenzsicherung und Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten, die von Rebellen als Lager und Rückzugsorte genutzt werden,
Misshandlungen und willkürliche Erschießungen und Verhaftungen, die durch Sondergesetze für die betroffenen Regionen begünstigt werden, sowie
die Ineffektivität von Entwicklungsprogrammen.
Negativ ausgewirkt haben sich zuletzt das neue Staatsbürgerschaftsgesetz und die Aufhebung von Interner Link: Kaschmirs Sonderstatus in der Indischen Union. In den Konfliktgebieten im Nordosten Indiens wurde die Migration aus Bangladesch zu einem zentralen politischen Mobilisierungsthema. Zudem galt Kaschmirs Sonderstatus vielen Rebellengruppen als Vorbild für die eigenen Autonomie-Bestrebungen, und es besteht die Sorge, dass die BJP-Regierung nun noch weniger Kompromissbereitschaft gegenüber Forderungen nach mehr Eigenständigkeit zeigen wird.
Geschichte des Konflikts
Nach dem friedlichen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft zeigte bereits die blutige Teilung Britisch-Indiens, die mit einer Massenflucht, schweren Gewaltausbrüchen und Pogromen einherging, wie schwierig es sein wird, die ethnisch, religiös, sprachlich und sozioökonomisch extrem heterogene Gesellschaft in einem Nationalstaat zusammenzuhalten. Die interreligiöse Gewalt setzte sich auch nach der Teilung zwischen Indien und Pakistan fort. Zu besonders schweren, pogromartigen Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen kam es 2002 im Bundestaat Gujarat.
In den 1950er Jahren starteten die Unabhängigkeitskämpfe in Nagaland, die sich in den folgenden Jahrzehnten auf den gesamten Nordosten Indiens ausbreiteten. Die zahlreichen Konfliktlinien und militanten Gruppierungen, die sich mitunter auch untereinander bekämpfen, in letzter Zeit jedoch auch vermehrt kooperieren, erschweren eine nachhaltige Konfliktbewältigung.
Der Naxaliten-Konflikt begann in den späten 1960er Jahren als bewaffneter, von indischen Kommunisten unterstützter Bauernaufstand in den Unionstaaten Andhra Pradesh und Westbengalen. Die Bewegung hat sich nach dem Ort Naxalbari im Distrikt Darjeeling in Westbengalen benannt, wo 1967 ein Bauernaufstand von der Polizei niedergeschlagen wurde.
Zwar konnte die Naxaliten-Bewegung zwischen 1972 und 1977 von indischen Sicherheitskräften zerschlagen werden. Langfristig hat sich ihre Unterstützerbasis infolge des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte jedoch vergrößert. Mit dem Zusammenschluss unterschiedlicher militanter Gruppen setzte 1998 dann erneut eine Intensivierung und Militarisierung des Konflikts ein, die ihren Höhepunkt zwischen 2005 und 2009 erreichte. Daraufhin beschloss die indische Zentralregierung einen nationalen sicherheits- und entwicklungspolitischen Aktionsplan zur Eindämmung der Gewalt. Zwar wurden die Naxaliten vielerorts zurückgedrängt und durch die Verhaftung, Tötung oder Kapitulation führender Kader erheblich geschwächt. Die Ursachen des Konflikts wurden jedoch bislang nur unzureichend adressiert.