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Aspekte der postsowjetischen Gesellschaft

Heiko Pleines / Alexander Trunk / Brigitta Godel /Hans-Henning Schröder

/ 31 Minuten zu lesen

Demonstranten versammeln sich auf der Sacharow-Straße in Moskau, um gegen den vermeintlichen Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen zu protestieren, Dezember 2011. (© AP)

Sozialer Wandel

Heiko Pleines

Als Präsident Putin im Jahre 2000 seine erste Rede an die Nation hielt, sprach er davon, dass "das Überleben der Nation" bedroht sei. Bezug nahm er dabei nicht auf äußere Gefährdungen, sondern auf die "alarmierende" demographische Situation. Nach russischen Prognosen wird die Bevölkerungszahl des Landes bis 2015 um 15 Prozent sinken. Zentral sind hierfür zwei Ursachen: Geburtenrückgang und geringe Lebenserwartung.

Die Geburtenrate war in Russland seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wie auch in anderen Industriestaaten rückläufig. Mit der postsowjetischen Wirtschaftskrise kam es in den neunziger Jahren aber zu einem weiteren dramatischen Rückgang. Die Nettoreproduktionsrate, das heißt das Verhältnis von Geburten zu Sterbefällen, die Ende der achtziger Jahre noch bei etwa eins gelegen hatte, sank zur Jahrtausendwende auf gut 0,5. Dabei ist die Zahl der offiziell registrierten Abtreibungen fast doppelt so hoch wie die Geburtenzahl.

Die Lebensbedingungen der Mütter haben sich ebenfalls gewandelt. So hat sich die Anzahl der unehelich Geborenen im Laufe der neunziger Jahre verdoppelt und liegt mit knapp 30 Prozent Anfang des 21. Jahrhunderts auf dem Niveau westeuropäischer Länder. Russische Mütter sind aber mit durchschnittlich 23 Jahren zum Zeitpunkt der ersten Geburt immer noch vergleichsweise jung.

Folge des Geburtenrückgangs ist eine deutliche Zunahme des Seniorenanteils an der Bevölkerung. 2000 gab es erstmals mehr Männer über 60 und Frauen über 55 Jahre als Kinder und Jugendliche unter 15 Jahre. Der Anteil dieser Altersrentnerinnen und -rentner an der Bevölkerung dürfte bis 2015 auf ein Viertel steigen und wird aufgrund der veränderten Altersstruktur die russische Rentenversicherung vor erhebliche Probleme stellen.

Neben dem Geburtenrückgang trägt insbesondere die gesunkene Lebenserwartung zu den zentralen demographischen Problemen Russlands bei. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist ein wichtiger Hinweis auf die medizinische und soziale Lage eines Landes. Während westliche Industriestaaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Anstieg der Lebenserwartung verzeichnen konnten, stagnierte sie in Russland seit den sechziger Jahren und ging im Verlauf der postsowjetischen Wirtschaftskrise sogar deutlich zurück. Sie sank in der ersten Hälfte der neunziger Jahre von knapp 70 auf nur noch 64 Jahre. Im Jahre 2001 lag sie in Russland bei 66,6 Jahren (Männer 60,6 und Frauen 72,9), während sie in Deutschland 78 Jahre (74,9 für Männer und 81,0 für Frauen) betrug. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern ist dabei im russischen Fall mit über zwölf Jahren ungewöhnlich groß.

Die Ursachen für die geringe Lebenserwartung sind umstritten. Als zentrale Faktoren werden genannt: schlechte medizinische Versorgung, dramatische Zunahme von Infektionskrankheiten wie Syphilis, Tuberkulose und AIDS, schlechte Ernährung aufgrund von Armut und weit verbreiteter Alkoholismus.

Zuwanderung - vor allem von Russen und Russinnen aus anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion - hat in den neunziger Jahren den durch Geburtenrückgang und sinkende Lebenserwartung verursachten Bevölkerungsschwund zu etwa der Hälfte kompensiert. Mittlerweile ist die Anzahl der Zuwanderungen aber deutlich zurückgegangen. In den kommenden Jahren wird sie kaum noch Einfluss auf die Entwicklung der Bevölkerungszahl haben.

Steigendes Armutsrisiko

Noch dramatischer als die Veränderungen in der Bevölkerungszahl war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der soziale Wandel. Der Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft mit Regulierungsdefiziten verschaffte einigen wenigen die Traumkarriere "vom Tellerwäscher zum Millionär" und stürzte viele in soziale Unsicherheit und Armut. Während das reichste Fünftel der Bevölkerung im Jahre 2001 einen Anteil von 47 Prozent an den gesamten Einnahmen hatte, war das ärmste Fünftel nur mit sechs Prozent beteiligt. Zehn Jahre zuvor hatten die entsprechenden Zahlen noch bei 31 bzw. elf Prozent gelegen.

Ausgelöst wurde der soziale Wandel durch die Hyperinflation und die Privatisierung, beides wesentliche Elemente der marktwirtschaftlichen Reformen. Die hohen Preissteigerungsraten zwischen 1992 und 1995 vernichteten die Ersparnisse der Bevölkerung und verminderten die Gehälter und die Renten. Gleichzeitig boten die Hyperinflation und die Privatisierung Geschäftsleuten, Unternehmern und Managern die Gelegenheit, zu großen Vermögen zu kommen.

Benachteiligt durch diese Entwicklungen war eindeutig die traditionelle "sowjetische Mittelschicht" im Funktionärs-, Lehr- und Ingenieursbereich sowie im mittleren Management. Soweit ihre Mitglieder - etwa als Lehrende und Verwaltungsangestellte - im Staatsdienst blieben, mussten sie erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Auch die Industriearbeiterschaft sah sich mit sinkenden Löhnen konfrontiert. Etliche verloren ihren Arbeitsplatz oder erhielten ihre Löhne nicht mehr regelmäßig ausgezahlt. Der monatliche Durchschnittslohn der Beschäftigten lag Mitte der neunziger Jahre bei umgerechnet etwa 100 US-Dollar. Nach einer kurzen Erholung fiel er im Zuge der Finanzkrise von 1998 auf 60 US-Dollar. Noch stärker betroffen waren die Rentnerinnen und Rentner, da die Höhe der Rentenzahlungen nicht an die Inflation angepasst wurde. Die durchschnittliche Rente halbierte sich so (inflationsbereinigt) von 1991 bis 1995. Nach der Finanzkrise von 1998 kam es zu einem weiteren Rückgang um ein Drittel, so dass die durchschnittliche Monatsrente 1999 umgerechnet weniger als 20 US-Dollar betrug.

Demgegenüber war die Zahl derjenigen, die den sozialen Aufstieg schafften, verhältnismäßig gering. Ein "Mittelstand", etwa in Form von kleinen und mittelständischen Unternehmern, entstand nur langsam. "Bürgertum" in westlichem Verständnis, das einerseits über ein stabiles Einkommen verfügt, andererseits einen eigenen sozialen und politischen Habitus entwickelt, hat sich in Russland bisher noch nicht herausbilden können.

QuellentextNeues Unternehmertum

[...] Die Hoffnung Russlands sind langfristig sicher nicht die gewandelten (oder gewendeten) Oligarchen, sondern die Vertreter einer neuen Unternehmergeneration. Eher trotz als wegen irgendwelcher staatlichen Initiativen suchen sie ihren Weg - und helfen dabei, ein ganzes Land zu verändern. [...]

Sergej Plastinin, 33, ist so einer, dem sie nacheifern. Der Mitbegründer und Chef eines 14 Firmen umfassenden Konzerns machte mit Milch und Fruchtsäften letztes Jahr (2001 - Anm. d. Red.) 675 Millionen Dollar Umsatz. [...] Der Lehrersohn studierte noch am Moskauer Institut für Elektronik, als er einmal für seine schwangere Frau einen Orangensaft kaufen wollte. Lange hat er vergebens gesucht, dann ein teures ausländisches Produkt gefunden - so etwas herzustellen kann doch nicht so schwer sein, dachte Plastinin. Gemeinsam mit seinem Freund Michail Dubinin, der damals als langmähniger Rockmusiker durch die U-Bahn zog, machte er sich auf die Jagd nach dem Rohstoff und geeigneten Produktionsanlagen. Sie stießen auf die stillgelegte Fabrik eines Milchkombinats außerhalb von Moskau, konnten 1992 die Maschinen, vom ehemaligen Direktor unterstützt, mit dem Kredit einer Bank leasen sowie eine Quelle für Fruchtsaftkonzentrat erschließen. [...]

Natalja Kasperskaja, 36, Absolventin des Moskauer Instituts für Elektronik, gründete 1997 mit ihrem Mann das "Kaspersky Lab". Mit über 200 Mitarbeitern erforschen die beiden Schutzprogramme gegen Computerviren. "Weltweit gehören wir zu den Führenden in der Branche", sagt die Dame stolz. [...] Kürzlich schlossen die Kasperskis auch einen Vertrag mit einem wichtigen heimischen Klienten: dem russischen Verteidigungsministerium. [...]

Auch Igor Lissinenko, 40, hat sich mit seiner Firma schon erfolgreich am Markt behauptet. Er baute "Mai-Tee" auf, eine der bekanntesten Marken auf dem Markt. Heute ist der ehemalige Afghanistan-Kämpfer an einer anderen Front tätig. Er koordiniert als Duma-Abgeordneter eine überparteiliche Interessengemeinschaft mittelständischer Geschäftsleute: "Delowaja Rossija" - "Unternehmer in Russland". Schon über 500 Firmen haben sich angeschlossen, der rührige Lissinenko will für ein neues Image seines Landes werben. "Es sind eben nicht mehr die Oligarchen, die bei uns das Geschäftsleben ausmachen", sagt er. "Es sind junge Leute mit ungewöhnlichen Ideen, mit dem Blick für Marktlücken - fast schon wie bei Ihnen. Sie sind die Zukunft, obwohl sie noch mit der Bürokratie von gestern kämpfen müssen." [...]

Erich Follath, Uwe Klussmann, "Die zweite Chance", in: Der Spiegel Nr. 34 vom 19. August 2002.

Während es in der Sowjetunion eine soziale Verteilung ähnlich der in westlichen Industriestaaten gegeben hatte - eine kleine Oberschicht, eine kleine Unterschicht und eine breite Mittelschicht, verstand sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung bereits Mitte der neunziger Jahre als "Unterschicht". Neben eine kleine Personengruppe, die von der Transformation profitierte, trat eine große Zahl von Reform verlierern.

Die Mehrheit der Bevölkerung verlor in der Jelzin-Ära ihre gesicherte soziale Position. Armut charakterisierte die neu entstehende Gesellschaft. Dabei war der Anteil der Menschen, deren Einkommen unter dem Existenzminimum lag, sehr hoch. Auch wenn die Ergebnisse unterschiedlicher Studien zu diesem Thema deutlich voneinander abweichen, ist davon auszugehen, dass Mitte der neunziger Jahre mindestens ein Viertel der russischen Bevölkerung von Armut betroffen war.

Das soziale Sicherungssystem konnte diese Probleme nicht lösen. In der Sowjetunion war ein großer Teil der Sozialleistungen über die Betriebe verteilt worden. Mit der Privatisierung und der Wirtschaftskrise brach dieses System in großen Teilen zusammen, und dem Staat gelang es nicht, eine funktionierende Alternative zu etablieren. Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung waren so gering, dass viele Arbeitslose auf eine Registrierung verzichteten. Auch die Rentenversicherung war nicht in der Lage, den Rentnerinnen und Rentnern ein Leben über dem Existenzminimum zu ermöglichen.

Der 1999 einsetzende Wirtschaftsaufschwung führte zu einer allmählichen Verbesserung der sozialen Lage. Der Durchschnittslohn stieg von 60 US-Dollar 1999 auf über 150 US-Dollar 2003. Gleichzeitig wurden die Rentenzahlungen von 1999 bis 2003 fast verdreifacht, so dass die durchschnittliche Monatsrente 2003 bei über 50 US-Dollar lag. Es ist aber noch zu früh, um von einer neuen Etappe des sozialen Wandels hin zur Entstehung einer neuen post-sowjetischen Mittelschicht zu sprechen. Nur wenn das wirtschaftliche Wachstum über mehrere Jahre anhält, kann es zu einer durchgreifenden Änderung der Einkommensstruktur führen.

"Überlebensstrategien"

Die Feststellung, dass das reguläre Einkommen nicht mehr für ein Leben über der Armutsgrenze reichte, war eine zentrale Erfahrung zahlreicher Menschen in Russland in den neunziger Jahren. Dass es trotzdem nicht zu massenhaften Protesten der Bevölkerung gegen die marktwirtschaftlichen Reformen kam, ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass viele Russinnen und Russen alternative Überlebensstrategien entwickelten.

Unterscheiden lassen sich dabei drei Strategien: die

  • Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln aus dem eigenen Garten bzw. der Datscha (russ.; Wochenend-, Sommerhaus);

  • Aufnahme einer Beschäftigung in der Schattenwirtschaft, häufig als Zweit- oder teilweise auch Drittjob;

  • Inanspruchnahme von Hilfe durch Familienmitglieder.

Die Bedeutung der privaten Nahrungsmittelproduktion für die russische Bevölkerung verdeutlichen einige Zahlen: 1996 erklärten in einer Umfrage über ein Drittel aller Haushalte, dass sie ausschließlich selbst produzierte Kartoffeln und selbst geerntetes Gemüse essen. Etwa die Hälfte aller Haushalte besitzt ein Stück Land, auf dem Nahrungsmittel zur eigenen Versorgung angepflanzt werden. Diese individuellen Nebenwirtschaften erreichten in den neunziger Jahren einen Anteil von fast 50 Prozent an der gesamten russischen Nahrungsmittelproduktion.

Auch die Aufnahme eines Zweit- oder sogar noch Drittjobs war in Russland weit verbreitet. Zu erklären ist dies damit, dass in den neunziger Jahren ein großer Teil der Betriebe keine Gehälter mehr zahlte. So erklärte über die Hälfte der befragten Personen kurz nach der Finanzkrise vom August 1998, dass sie an ihrem Arbeitsplatz nicht bezahlt werden. Da ein großer Teil der Sozialleistungen über die Betriebe verteilt wird, verzichteten die betroffenen Angestellten aber auf eine Kündigung, behielten also formal ihren Erstjob und suchten sich zum Geldverdienen eine zweite Beschäftigung, die oft nicht angemeldet wurde. Ein großer Teil arbeitete so zumindest teilweise in der Schattenwirtschaft, deren Umfang auf 30 bis 50 Prozent der russischen Wirtschaft geschätzt wurde. Viele Russinnen und Russen waren dabei auf eigene Rechnung tätig, etwa als Taxifahrer oder als Kleinhändler auf den vielen Märkten und Basaren.

Vor allem Personengruppen mit schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt stützten sich häufig auf die Hilfe von Familienmitgliedern. Dazu gehörten Rentnerinnen und Rentner sowie Jugendliche nach Ende ihrer Ausbildung an Schule und Universität. Unterstützungsleistungen bestanden dabei vor allem in der Unterbringung in der eigenen Wohnung und in der Versorgung mit Nahrungsmitteln von der eigenen Datscha. Jugendliche blieben beispielsweise bei ihren Eltern wohnen, alte Menschen zogen zu ihren Kindern. Häufig wurde die Wohnung der Großeltern verkauft, um ein Einkommen zu erzielen. Insgesamt 14 Prozent der Bevölkerung Russlands erklärten 1998, dass "Familie, Nachbarn und Freunde" ihnen helfen würden, "die Krise durchzustehen".

Diese "Überlebensstrategien" standen nur einem Teil der russischen Bevölkerung zur Verfügung. Als Ergebnis einer umfassenden Untersuchung zum Thema fasst Simon Clarke von der britischen University of Warwick zusammen: "Unser Forschungsprojekt hat sich insgesamt auf die Überlebensstrategien von Haushalten konzentriert. [...] Alter, Geschlecht und Ausbildung sind zentrale Bestimmungsfaktoren für Motivation und Fähigkeit zur Überwindung der Probleme. Soziale Netzwerke sind eine der wichtigsten Ressourcen, die den Russen helfen, nicht nur zu überleben, sondern auch neue Möglichkeiten zu finden." (Zitat nach Simon Clarke, New forms of employment and household survival strategies in Russia, Coventry 1999, S. 185-186, Übersetzung H. P.)

Anstieg der Kriminalität

Für viele Menschen - sowohl in Russland als auch im Westen - sind Korruption und Kriminalität zu Synonymen für die postsowjetische Transformation Russlands geworden. Anstelle von "Demokratie und Marktwirtschaft", den ursprünglich unterstellten Zielen der russischen Reformen, sprechen viele Medien seit Mitte der neunziger Jahre zunehmend von "Räuberkapitalismus" und "Systemmafia". Zahlreiche Darstellungen zum Thema basieren jedoch vorrangig auf einer unkritischen Wiedergabe der Berichterstattung russischer Boulevardpresse.

Russland hatte nach dem Ende der Sowjetunion mit einer Explosion der Kriminalität zu kämpfen. Aus den russischen Kriminalitätsstatistiken lassen sich einige grundlegende Trends erkennen: Die Zahl der registrierten Morde hat sich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre etwa verdoppelt und verharrt seitdem auf hohem Niveau. Moskau gehört zu den Städten mit der höchsten Mordrate weltweit. Die Zahl der Einbrüche stieg um etwa 50 Prozent. Die Drogenkriminalität ist durch den Wegfall der drakonischen sowjetischen Kontrollen und das Auftreten der Drogenmafia dramatisch angestiegen, und die Zahl der Delikte hat sich in den neunziger Jahren in Russland mehr als verzehnfacht. Anlass zur Sorge gibt auch die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller überführten Straftäter unter 30 Jahre alt waren.

In den osteuropäischen Transformationsländern schufen vor allem der schleppende Übergang zu einer postkommunistischen Rechtsordnung und die weit verbreitete Korruption die Voraussetzungen für ein Anwachsen der organisierten Kriminalität. Ihre wesentlichen Einnahmequellen sind:

  • Schutzgelderpressung: Diese klassische Aktivität der Mafia wird in Russland durch das Fehlen eines verlässlichen Rahmens für unternehmerische Aktivitäten und die daraus resultierende umfangreiche Schattenwirtschaft erleichtert.

  • Prostitution: Aufmerksamkeit hat hier insbesondere die Verschleppung russischer Prostituierter ins Ausland hervorgerufen.

  • Video- und CD-Piraterie: Die späte Einführung und mangelhafte Durchsetzung des Urheberrechts haben den Vertrieb illegaler Kopien von Videofilmen, aber auch von Musikträgern und Computer-Software zu einem Geschäft mit einem geschätzten Jahresumsatz von mehr als 500 Millionen Euro gemacht.

  • Schmuggel: Mit der schrittweisen Liberalisierung des russischen Außenhandels wurde vor allem der Schmuggel von im Inland subventionierten Rohstoffen profitabel. Gleichzeitig entwickelte sich Russland durch das Ende der strengen Grenzkontrollen zu einem Haupttransitland für Drogen aus dem Mittleren Osten.

Die Drogenmafia hat sich in Russland besonders dynamisch entwickelt. Die traditionelle Route für Drogen aus dem "Goldenen Halbmond", so die Bezeichnung für die Länder Pakistan, Afghanistan und Iran, nach Westeuropa verlief über die Türkei. Da die bewaffneten Konflikte auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien und die darauf folgenden UN-Sanktionen den Drogenschmuggel über den Balkan aber erheblich erschwerten, bot sich seit der Öffnung der Grenzen die ehemalige Sowjetunion als neuer Transitweg an. Die Drogenmafia in Russland, der Ukraine und Polen erzielt dadurch geschätzte Einnahmen von jährlich etwa acht Milliarden Euro.

Sie operiert dabei aber nicht als einheitliche Organisation, vielmehr bestehen etliche unabhängige Gruppen, die für die Verarbeitung bzw. jeweils für einen Teil der Transportstrecke zuständig sind. Gleichzeitig sind viele Gruppen nicht nur auf das Drogengeschäft spezialisiert. Die Moskauer Solnzewo-Bande zum Beispiel, eine der größten bekannten Gruppen der russischen organisierten Kriminalität, war ursprünglich im Bereich der Schutzgelderpressung und Geldwäsche aktiv und erschloss erst später den Drogenschmuggel als lukrative Einnahmequelle.

Die Ausbreitung der Drogenmafia in Russland hat gleichzeitig dazu geführt, dass viele Russinnen und Russen erstmals in Kontakt mit illegalen Drogen gekommen sind. Nach einer UNO-Schätzung liegt die Zahl der Drogenkonsumenten in Russland derzeit bereits bei über drei Millionen. Weit verbreitete Unkenntnis und schlechte hygienische Bedingungen führen außerdem dazu, dass Drogenabhängige stark von Infektionskrankheiten wie Hepatitis und Aids betroffen sind.

Korruption in Alltag und Politik

Bereits in der Sowjetunion war Alltagskorruption weit verbreitet. Informelle Kontakte, im Russischen als blat bezeichnet, dienten vor allem dazu, zusätzliche Konsumgüter zu erhalten und die eigene berufliche Karriere zu fördern. Seit mit dem Ende der Planwirtschaft die Waren auf dem freien Markt gehandelt werden, ist blat zunehmend zu einer Überlebensstrategie russischer Kleinunternehmer geworden.

Unabhängige Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass große Teile der russischen Staatsbürokratie nur gegen Bestechungsgelder bereit sind, ihre Aufgaben wahrzunehmen. In Umfragen der Weltbank unter russischen Unternehmen (1994 und 1996) erklärte fast die Hälfte, dass sie für wesentliche Geschäftstätigkeiten "inoffizielle" Zahlungen leiste. Im Schnitt kostete beispielsweise die Registrierung des Unternehmens "zusätzlich" 300 US-Dollar, jede Importlizenz 130 US-Dollar und jede Exportlizenz sogar 650 US-Dollar. 1997 und 1998 durchgeführte repräsentative Umfragen ergaben, dass 20 Prozent der russischen Unternehmer regelmäßig und weitere 45 Prozent von Zeit zu Zeit von Staatsbediensteten zu Bestechungszahlungen aufgefordert werden. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass in Russland Alltagskorruption ein etabliertes System ist, mit dem viele, aber bei weitem nicht alle Unternehmen deutlich reibungsloser arbeiten können als mit der regulären Staatsverwaltung.

Politische Korruption beschreibt die Bestechung von Politikern durch Wirtschaftsunternehmen, um auf diese Weise Vorteile für ihre Geschäftstätigkeit zu erhalten. Die Politiker wollen sich entweder persönlich bereichern oder die Gelder zur Finanzierung ihres Machterhalts verwenden. Vielfach wurden die Beziehungen zwischen den Oligarchen und der politischen Führung um Präsident Jelzin als klassischer Fall von politischer Korruption interpretiert.

In den Jahren 2000 und 2001, aber auch noch 2003 mit der Aktion gegen den Ölmilliardär Michail Chodorkowskij, ging der Staat mit Zwangsmaßnahmen gegen Oligarchen vor. Inwieweit dadurch politische Korruption eingedämmt wurde und ob nicht vielleicht nur die beteiligten Personen ausgetauscht wurden, ist unter denjenigen, die dies beobachten, allerdings umstritten.

Rechtsentwicklung und Rechtsbewusstsein

Alexander Trunk

Ehemaliger Schachweltmeister Garry Kasparov wird nach einer Kundgebung bei einem nicht genehmigtem Protestmarsch verhaftet. (© AP)

Die Bedeutung des Rechts in Russland wird sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes kontrovers beurteilt. Neben sehr kritischen Stimmen, die von einem "Rechtsnihilismus" sprechen, mehren sich in jüngerer Zeit, insbesondere seit der Wahl Präsident Putins, positivere Bewertungen, die zum Beispiel eine verbesserte Rechtssicherheit für ausländische Investitionen konstatieren.

Das russische Recht ist Teil der kontinentaleuropäischen Rechtsfamilie. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass wesentliche Bereiche der Rechtsordnung in umfassenden, systematisch geschlossenen Gesetzeswerken kodifiziert sind. Zu den weiteren Merkmalen gehören - im Zivilrecht - die Prägung durch die historische Tradition des römischen Rechts sowie die bedeutsame, aber nicht dem Gesetzgeber gleichgestellte Funktion der Rechtsprechung. Innerhalb der kontinentaleuropäischen Rechtsfamilie weist das russische Recht Besonderheiten auf, die sich aus dem Übergang von einem totalitären System mit Einparteiherrschaft und zentraler Wirtschaftsverwaltung zu einer Demokratie mit marktwirtschaftlicher Ordnung ergeben. Hinzu treten rechtliche Besonderheiten aufgrund der Größe und der historisch gewachsenen Struktur des Landes.

Verschiedene Rechtsgebiete

Verfassungsrecht:

Das bedeutendste Rechtsdokument Russlands ist die Verfassung vom 12. Dezember 1993, die nach einem Volksreferendum an die Stelle der sowjetrussischen Verfassung von 1978 bzw. der UdSSR-Verfassung von 1977 getreten ist und eine Präsidialrepublik mit bundesstaatlicher Struktur begründet. Damit nimmt Russland unter den meist einheitsstaatlich ausgerichteten Reformstaaten Osteuropas eine Sonderstellung ein. Die Verfassung enthält einen modernen Grundrechtekatalog. Zur Auslegung der Verfassung, insbesondere auch zum Schutz der Grundrechte, ist das bereits 1978 gegründete Verfassungsgericht der Russländischen Föderation in Moskau berufen. Es hat seit seiner Einrichtung im Jahr 1991 über 190 Urteile gefällt, die zum Teil erhebliche politische Bedeutung haben, etwa zur Verfassungsmäßigkeit der Auflösung der KPdSU im Jahr 1993 oder zur Entsendung von Föderationstruppen nach Tschetschenien 1995. Für die Alltagspraxis noch bedeutsamer ist die Kette von Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, etwa aus den Bereichen des Steuer- und Zivilrechts oder des Straf- und Strafverfahrensrechts. Neben dem Verfassungsgericht der Föderation bestehen auch in einigen Regionen Verfassungsgerichte, die die Vereinbarkeit von Rechtsakten der Föderationssubjekte mit der jeweiligen Regionalverfassung überprüfen. Besondere Bedeutung hat in jüngster Zeit das Verfassungsgericht von St. Petersburg erlangt, das unter anderem eine Entscheidung über die Unzulässigkeit einer dritten Amtsperiode des regierenden Gouverneurs fällte.

Verwaltungsrecht:

Im Verwaltungsrecht ist die Rechtsentwicklung in Russland weniger fortgeschritten als in anderen Rechtsbereichen. Zwar wurde eine Vielzahl von zum Teil weit tragenden Einzelgesetzen erlassen, zum Beispiel ein Steuergesetzbuch (in zwei Teilen von 1998 und 2000), ein Zollgesetzbuch von 1993 (mit umfassender Novellierung im Jahr 2003), ein Städtebaugesetzbuch von 1998, Gesetze über die kommunale Selbstverwaltung, über den öffentlichen Dienst, über die Miliz oder über die Sozialversicherung.

Es fehlt jedoch noch ein allgemeines Gesetz über das Verwaltungsverfahren, das die divergierenden und lückenhaften Verfahrensregelungen der Einzelgesetze ablösen würde. Der russische Gesetzgeber hat bislang, vor allem aus Kostengründen, auch noch keine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit eingerichtet. Verwaltungsstreitigkeiten werden von den allgemeinen Gerichten bzw. von den so genannten Arbitragegerichten (staatliche Wirtschaftsgerichte) mit entschieden. Die russische Regierung arbeitet zur Zeit die Konzeption einer allgemeinen Verwaltungsreform aus, die die Verwaltung verschlanken soll. Deren Hauptprobleme, Bürokratismus und grassierende Korruption, sind aber weniger durch eine neue Gesetzgebung als durch organisatorische und finanzielle Maßnahmen zu verbessern.

Privatrecht:

Das dominierende Gesetzeswerk im Bereich des russischen Zivilrechts ist das in drei Teilen (1994-2000) erlassene Zivilgesetzbuch (ZGB). Dieses steht zwar noch in der Tradition des sowjetrussischen Zivilgesetzbuchs von 1964, enthält aber eine Vielzahl moderner, auf die marktwirtschaftliche Ordnung zugeschnittener Vorschriften, zum Beispiel zum Gesellschaftsrecht, zu Kreditsicherheiten und zu neuen Vertragstypen. Im Unterschied zum deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch erfasst das russische Zivilgesetzbuch sowohl das bürgerliche Recht als auch das Handelsrecht. Inhaltlich lassen sich viele Parallelen zwischen dem deutschen und dem russischen Recht feststellen.

In der Normhierarchie auf gleicher Ebene wie das Zivilgesetzbuch stehen - für die sowjetische Gesetzgebungstradition typische - "Gesetzbücher" für besondere Lebensbereiche, zum Beispiel ein Wohnungsmietgesetzbuch aus dem Jahr 1983, ein Familiengesetzbuch von 1995, ein Arbeitsgesetzbuch oder ein Bodengesetzbuch jeweils aus dem Jahr 2001. Hinzu treten Spezialgesetze außerhalb der großen Gesetzbücher, zum Beispiel Gesetze zum Aktien- und GmbH-Recht, zum Wettbewerb oder Verbraucherschutz. Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Überschneidungen und Widersprüchen, die mit erheblicher Rechtsunsicherheit verbunden sind.

Grundlegend erneuert wurde vor kurzem das russische Zivilverfahrensrecht. In Russland bestehen zwei Gerichtszweige: die allgemeinen Gerichte mit dreistufigem Instanzenzug (Kreisgerichte - Bezirksgerichte - Oberster Gerichtshof) und die Arbitragegerichte mit vierstufigem Instanzenzug bis zum Obersten Arbitragegericht. Die allgemeinen Gerichte sind im Zivilrecht zuständig für Streitigkeiten zwischen Privatpersonen sowie zwischen Privatpersonen und Unternehmen, die Arbitragegerichte sind zivilrechtlich zuständig für Streitigkeiten zwischen Unternehmen. Für beide Gerichte gelten unterschiedliche Verfahrensordnungen. Nach langjähriger Diskussion wurden im Jahr 2002 eine neue Zivilprozessordnung für die allgemeinen Gerichte sowie eine neue Arbitrageprozessordnung (anstelle der Vorgängerregelung von 1995) verabschiedet. Das Arbitrageprozessrecht hat sich in den letzten Jahren als Motor zur Reform des Verfahrensrechts erwiesen und insbesondere die Befugnisse der Prozessparteien im Vergleich zu früherem Recht deutlich gestärkt.

Strafrecht:

Auch das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht Russlands haben in den vergangenen Jahren grundlegende Änderungen erfahren. Im Jahr 1996 erließ der russische Gesetzgeber ein neues Strafgesetzbuch, das einerseits bestimmte sowjetspezifische Straftatbestände wie beispielsweise "antisowjetische Propaganda" oder "Parasitentum" abschaffte, andererseits aber zahlreiche mit den gewandelten wirtschaftlichen Verhältnissen verbundene neue Straftatbestände einführte, zum Beispiel Konkurs- oder Computerstraftaten. Ebenfalls im Jahr 1996 erging ein neues Strafvollstreckungsgesetz, und 2001 folgte eine neue Strafprozessordnung. Eine Leittendenz beider Neuregelungen war die Humanisierung und Verstärkung rechtsstaatlicher Garantien in Strafprozess und Strafvollzug. Wie in anderen Bereichen des russischen Rechts klaffen freilich auch hier Anspruch und Wirklichkeit auseinander. So setzt eine Modernisierung des Strafvollzugs unter anderem den Bau neuer Gefängnisse voraus, für die der russische Gesetzgeber nur in beschränktem Maß Geld einzusetzen bereit ist. Ähnlichen Tendenzen folgt das neue Ordnungswidrigkeitengesetz (Gesetz über administrative Rechtsverletzungen) von 2001.

QuellentextAnwalt der Gefangenen

[...] Anatolij Pristawkin, 71, [...] arbeitet als Putins Berater für Begnadigungen, und er hat sich für diesen Job qualifiziert, weil er als einer der intimsten Kenner der russischen Justiz und ihres Straflagerunwesens gilt. Schon 1992 erhielt er eines der umstrittensten Ämter in der postsowjetischen Aufbruch-Ära: Er wurde Chef der Begnadigungskommission beim russischen Präsidenten Boris Jelzin. [...]

Mit Gestrauchelten und Gestrandeten weiß der Autor umzugehen - er hat einst selbst zu ihnen gehört. Zu Kriegsbeginn 1941, gerade zehn und elternlos, vagabundierte er fünf Jahre durchs Land. Er wurde zum Gauner, geriet ins Kinderheim, in Verwahranstalten mit Polizeiaufsicht, in den Kinder-Gulag. [...]

Pristawkins Aufgabenbereich ist riesig: Mehr als die Hälfte aller Häftlinge Europas sind Russen, etwa eine Million seiner Landsleute sitzt in Gefängnissen. In Japan, sagt er, einem Land mit ähnlicher Bevölkerungszahl, gebe es 40000 Häftlinge.

Die Erklärung für solche Wegsperrwut fand der Schriftsteller in überfüllten Knästen, psychiatrischen Anstalten und Arbeitslagern: Bereits 14-Jährige werden für Nichtigkeiten eingesperrt. Um drei, vier Jahre hinter Gittern zu landen - die für Russland durchschnittliche Haftdauer -, reicht schon der Diebstahl eines Ferkels, eines Fernsehers oder auch nur eines Stromzählers, der 280 Rubel gekostet hat, rund 9 Euro.

Mit "faschistisch-stalinistischen Verhörmethoden", so Pristawkin, fabriziere die Polizei zudem willkürlich Fälle, Ungerechtigkeiten und Fehlurteile. Was später in den Lagern als "Besserungsarbeit" angegeben werde, sei in Wirklichkeit "Erniedrigung, Willkür, Zertrampeln der Individualität", wie ein Gefangener schrieb.

Die größte Gefahr für Russlands sittlichen Bestand sieht der Autor nicht etwa in den spektakulären Auftragsmorden russischer Mafiosi. Ihn ängstigt die gewaltige Kriminalität im privaten Bereich. Jährlich würden allein 600000 Verbrechen "im Suff begangen", rechnet der Putin-Helfer vor. [...]

In den Jahren der Stalin-Herrschaft kamen nach Pristawkins Angaben 643000 Menschen durch Genickschuss um [...]. Selbst zwischen 1962 und 1990 traf es insgesamt noch 24000 Delinquenten; sogar unter Reformer Jelzin starben bis zu 100 Häftlinge pro Jahr [...].

Dass Russland auf Druck des Europarats die Hinrichtungsmaschine stoppte, hat die Öffentlichkeit nie als Fortschritt angesehen: Die Mehrheit befürwortet noch immer die Höchststrafe und verhindert, dass sie endgültig aus dem Gesetzbuch gestrichen wird. [...]

Christian Neef, "Lebendige Leichname", in: Der Spiegel Nr. 6 vom 3. Februar 2003.

Internationales Recht:

Der Überblick über das russische Recht wäre nicht vollständig ohne Hinweis auf internationales Recht. Die meisten russischen Gesetze enthalten eine ausdrückliche Bestimmung, nach der Regelungen in internationalen Abkommen Vorrang vor dem nationalen Gesetz haben. Dies entspricht einer allgemeinen Regel, die in der russischen Verfassung von 1993 festgelegt ist. Besonders große praktische Bedeutung hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), der Russland im Jahr 1998 beigetreten ist. Auf sie bezieht sich etwa das Russische Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung häufig und nutzt sie als Argumentationshilfe zur Auslegung der russischen Verfassung. Ein (leider bedauerlicher) Ausdruck der Bedeutung der EMRK für Russland ist die Zahl von über 10000 gegen die Russländische Föderation schwebenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Erhebliches Potenzial für künftige Entwicklungen des russischen Rechts enthält das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten, in dem Russland unter anderem eine Annäherung seines Rechts an das EG-Recht zugesagt hat. Auswirkungen dieser Zusicherung sind in einigen Bereichen nachweisbar, zum Beispiel im Gesellschafts-, Kartell- oder Zollrecht, sie sind aber weit weniger intensiv als die Übernahme von EG-Recht durch die mittelosteuropäischen EU-Beitrittskandidaten.

Der Schwerpunkt der russischen Vertragspraxis liegt auf bilateralen Abkommen. Eine für die russische Rechtspolitik bedeutsame multilaterale Dimension ergibt sich aus der Mitgliedschaft des Landes in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), deren Interparlamentarische Versammlung eine Vielzahl von Modellgesetzen entwickelt hat, die in der Regel vom russischen Recht inspiriert sind, andererseits aber auch auf es zurückwirken. Ein weiterer Reformschub zur Angleichung an die internationale Rechtspraxis ergibt sich aus der von Russland angestrebten Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO). Zu diesem Zweck wurden in letzter Zeit mehrere Gesetze im Bereich des Wirtschaftsrechts novelliert wie das Zollgesetzbuch im Jahr 2003. Weitere Anpassungen sind geplant.

Rechtswirklichkeit

Das Rechtsbewusstsein der russischen Bevölkerung im Allgemeinen wie auch einzelner Bevölkerungsgruppen oder Individuen steht in einer Wechselbeziehung zur Rechtswirklichkeit. Diese wiederum ist in vielen Lebensbereichen durch ein starkes Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität gekennzeichnet. Rechtsvorschriften des Privatisierungsrechts wurden von wirtschaftlich mächtigen Beteiligten in weitem Umfang missachtet. Umweltschutzvorschriften werden in der Praxis nur ansatzweise umgesetzt. Die Verfolgung von Straftaten scheint häufig eher von politischen Opportunitätsgesichtspunkten als vom Bestreben nach gleichmäßiger Rechtsdurchsetzung geprägt. Bei der Erbringung öffentlicher Leistungen hat sich ein System paralleler Anreize entwickelt, das von noch legalen Vermittlungs- und Servicediensten bis zu eindeutiger Korruption oder Erpressung reicht. In der Stadt Moskau wurden seit 1993 rund 250 Auftragsmorde registriert, von denen die meisten unaufgeklärt blieben. In weiten Teilen der russischen Bevölkerung hat sich daraus ein Gefühl von Desillusionierung und Sarkasmus entwickelt: Macht gehe vor Recht, persönliche Beziehungen gälten mehr als rechtliche Garantien.

Dem stehen allerdings auch gegenläufige Strömungen gegenüber. Die russische Rechtsphilosophie kann bereits seit dem 19. Jahrhundert viele international bekannte Namen vorweisen. In jüngerer Zeit haben auch Rechtspsychologie und Rechtssoziologie neuen Aufschwung genommen. Das Ziel des (damals noch "sozialistischen") Rechtsstaats war ein Hauptschlagwort der Perestrojka-Zeit. Der russische Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Vielzahl wichtiger Gesetze verabschiedet, die die Rechtssicherheit erhöhen, und Präsident Putin erklärte die Justizreform zu einem Kernelement seiner Politik. Die Zahl der Gerichtsverfahren, etwa vor den staatlichen Arbitragegerichten, nimmt seit Jahren kontinuierlich und erheblich zu. Beispielsweise erhöhte sich im Jahr 2002 die Zahl der Klagen vor Arbitragegerichten um 14,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr (von 745625 auf 854748) und setzte einen bestehenden Trend fort. Die zunehmende Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ist ein Zeichen wachsenden Vertrauens in das Gerichtssystem.

Die Aufgabe, in einem Land, das in den vergangenen 15 Jahren revolutionäre Änderungen und eine tiefe politische und wirtschaftliche Krise durchschritten hat, Vertrauen in das Recht und den Rechtsstaat zu schaffen, wird mehr als eine Generation beschäftigen, aber dieses Ziel kann erreicht werden.

Stellenwert der Menschenrechte

Heiko Pleines

Der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte ist in der russischen Verfassung verankert. In Artikel 2 heißt es: "Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten bilden die höchsten Werte. Anerkennung, Wahrung und Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers sind Verpflichtung des Staates." In Kapitel 2 werden die einzelnen Rechte formuliert: Gleichheit, Recht auf Leben, Verbot der Folter, Recht auf Freiheit, Schutz der Privatsphäre, Recht auf Freizügigkeit, Gewissens- und Glaubensfreiheit, Rede- und Informationsfreiheit sowie Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Neben diesen politischen Rechten sieht die Verfassung auch wirtschaftliche und soziale Rechte als Grundrechte vor. Im einzelnen sind dies: Recht auf Eigentum, Streikrecht, Schutz der Familie, Recht auf Wohnung und Gesundheitsschutz, Umweltschutz, Recht auf Bildung sowie Schutz geistigen Eigentums.

Ähnlich wie im deutschen Grundgesetz sind auch im russischen Fall entsprechende Artikel von einer Verfassungsänderung ausgenommen. Russland hat den Schutz der Menschenrechte zusätzlich in einer ganzen Reihe internationaler Abkommen akzeptiert, so etwa in den UN-Menschenrechtskonventionen und in der vom Europarat erstellten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Nach russischem Recht sind völkerrechtliche Verträge höherwertig als nationale Gesetze.

Die Menschen- und Bürgerrechte können in Russland vor Gericht eingeklagt werden. Zusätzlich sieht die russische Verfassung das Amt eines Menschenrechtsbeauftragten vor, an den alle in Russland lebenden Personen Beschwerden richten können. Gleichzeitig überprüft er die russische Gesetzgebung und Rechtsprechung auf dem Gebiet der Menschenrechte, berichtet dem Parlament und kann Gerichte, bis hin zum Verfassungsgericht, anrufen. Erster nationaler russischer Menschenrechtsbeauftragter wurde der ehemalige Dissident und Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Nach seiner heftigen Kritik an Menschenrechtsverletzungen im ersten Tschetschenienkrieg wurde er 1995 abberufen. Nach langen Diskussionen um eine Neuregelung wurde 1998 Oleg Mironow sein Nachfolger. Von russischen Menschenrechtsorganisationen wurde ihm zunächst immer wieder Untätigkeit vorgeworfen, inzwischen absolviert er seine zweite Amtszeit und wurde parteiübergreifend für seine Arbeit gewürdigt.

Verletzungen in der Praxis

Obwohl die Menschenrechte in Russland formal gesichert sind, werden sie in der Praxis häufig verletzt. In etlichen Fällen haben diese Verletzungen keine juristischen Konsequenzen. Zentrale Probleme sind dabei das Verhalten der russischen Armee im zweiten Tschetschenienkrieg, der im Sommer 1999 begann, sowie die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen. Obwohl das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der russischen Verfassung von 1993 verankert ist, gab es in der Praxis immer wieder Zwangsmaßnahmen gegen Verweigerer. Erst im Juli 2003 ordnete Präsident Putin die landesweite Organisation eines alternativen Zivildienstes an.

Im Jahresbericht 2002 von Amnesty International wird die aktuelle Menschenrechtssituation in Russland folgendermaßen zusammengefasst: "Während des andauernden Konfliktes in der Tschetschenischen Republik (Tschetschenien) machten sich die russischen Streitkräfte wie auch tschetschenische Truppen erneut schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht schuldig. [...] Die strafrechtlichen Ermittlungen, die von den Behörden der Russischen Föderation im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige des Militärs und der Polizei eingeleitet worden sind, erwiesen sich als unangemessen und unwirksam. [...] Aus anderen Gebieten der Russischen Föderation trafen weiterhin Berichte über Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam und über grausame, unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen ein. [...]"

Zu einem gewissen Grad spiegelt die Menschenrechtssituation in Russland auch die Haltung der Bevölkerung wider. In einer Ende 2001 durchgeführten repräsentativen Umfrage erklärten nur elf Prozent ihre "starke Unterstützung" für Bürgerrechte. Bei persönlichen Rechten lag dieser Wert schon bei 50 Prozent, und für Wirtschafts- und Sozialrechte stieg er auf über 60 Prozent. Während so mehr als drei Viertel der Befragten das Recht auf ein Leben über der Armutsgrenze und das Recht auf Arbeit als "unverzichtbar" bezeichneten, wählten diese Einschätzungen für den Schutz vor gesetzwidriger Verhaftung rund 60 Prozent, für die Freiheit des Wortes weniger als 40 Prozent und für Gewissensfreiheit und Versammlungsfreiheit jeweils weniger als ein Viertel. Bei der Umfrage war kein relevanter Unterschied zwischen den Generationen erkennbar.

Situation der Frauen

Brigitta Godel

Umfassende Partizipation und Gleichberechtigung bzw. Gleichstellung von Frauen werden in Russland bisher noch nicht als elementare Bausteine einer funktionierenden Demokratie begriffen. Insbesondere Politiker und hochrangige Staatsmänner schenken dieser Frage kaum Aufmerksamkeit. Ohne den Druck der an einer Erweiterung der Rechte der russischen Frauen Interessierten könnten sie das Problem der Gleichberechtigung als sozial wenig bedeutsam einfach "beerdigen", war die bittere Quintessenz eines Aufsatzes der Politikwissenschaftlerin Swetlana Ajwasowa aus dem Jahre 2002 zur Geschlechterasymmetrie in Russland.

Sie mag angesichts der zahlreichen, auf vielen Ebenen durchgeführten sowie anhaltenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Transformationsprozess Russlands seit 1989 überraschen. Schließlich haben Frauen und zügig gegründete Frauenorganisationen, die sich zur Zeit auf circa 1500 registrierte Gruppierungen unterschiedlichster Ausrichtung beziffern lassen, den demokratischen Aufbruch von Anfang an mitgetragen.

QuellentextFrauenorganisationen

In Russland ergriffen Frauen in stärkerem Maße als Männer die neuen Möglichkeiten zur Partizipation, die sich durch den Systemwechsel boten. Frauen dominieren in NGOs nicht nur zahlenmäßig. Mehr als die Hälfte wird auch von Frauen geführt. Frauendominierte NGOs und Frauenorganisationen sind jedoch nicht gleichermaßen der Frauenbewegung zuzuordnen. [...]

Bis Mitte der neunziger Jahre war [...]die Ablehnung feministischer Zugänge in Russland weit verbreitet. Seitdem ist jedoch eine Trendwende zu konstatieren, die nicht zuletzt auf die Erfahrung von zunehmender Diskriminierung sowie die Auseinandersetzung mit westlichen feministischen Theorien zurückgeht. [...]

Das Spektrum der Frauenorganisationen umfasst Berufsvereinigungen, Organisationen gegen Frauenarbeitslosigkeit, Selbsthilfeorganisationen für sozial schwache Bevölkerungsgruppen wie allein erziehende Mütter oder kinderreiche Familien, Frauenkrisenzentren und NGOs zur Förderung weiblicher politischer Repräsentanz ebenso wie Gender-Studies-Zentren und Lesbenorganisationen. Längst sind sie über Moskau und St. Petersburg hinaus im ganzen Land vertreten. [...]

Auch das gesamte politische Spektrum wird abgedeckt. Einige Frauenorganisationen gehen auf die zu Zeiten der UdSSR bestehenden schensowjety (Frauenräte) zurück, andere, die so genannten autonomen Frauenorganisationen, haben sich nicht zuletzt in Abgrenzung zu jenen nach dem Systemwechsel gegründet. Unter den NGO-Aktivistinnen überwiegen Frauen mittleren Alters. Der Großteil der Frauen arbeitet auf ehrenamtlicher Basis. Die Motive für ihr Engagement reichen von der Verbesserung der materiellen Lebenssituation bis zum Bedürfnis nach politischer Teilhabe. Eine zentrale Strategie der russischen Frauenorganisationen ist die Bezugnahme auf nationales und internationales Recht: Den Forderungen an die institutionalisierte Politik wird zum Beispiel mit dem Verweis auf internationale Abkommen wie die Konvention über die Eliminierung aller Formen der Diskriminierung von Frauen ([...] CEDAW) Nachdruck verliehen.

Charakteristisch für die feministischen wie für die meisten anderen Nichtregierungsorganisationen ist ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber dem Staat, der aber weiterhin als primärer Adressat zur Problemlösung bestehen bleibt. Das eigene Engagement verstehen nicht nur die feministischen Organisationen als Beitrag zur Entstehung einer Zivilgesellschaft, deren Existenz den Rückfall in eine Diktatur verhindern soll.

Gesine Fuchs/Eva Maria Hinterhuber, "Demokratie von unten?", in: Osteuropa, 53. Jg., 5/2003, S. 714 f.

Sie gingen damals und gehen verstärkt heute, beispielhaft in einem von Frauenorganisationen unterbreiteten "Nationalen Programm zur Erlangung von Gendergleichheit", davon aus, "dass nur die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an gesellschaftlichen Belangen und ihre gemeinsame zivile Verantwortung ein Unterpfand für die Demokratisierung Russlands und seine dauerhafte Entwicklung sein können".

Untermauert wird die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit durch die Vorlage eines Gesetzes "über staatliche Garantien gleicher Rechte und Freiheiten sowie gleicher Möglichkeiten von Frauen und Männern in der Russländischen Föderation". Der Entwurf wurde in erster Lesung im Mai 2003 verabschiedet, die beiden ausstehenden Lesungen bleiben der neuen Duma nach den Parlamentswahlen im Dezember 2003 vorbehalten.

Ausgrenzungen

Gegenwärtig sind die Frauen nur sehr limitiert in die Gestaltung des allgemeinen Wandels eingebunden. Von wesentlichen Bereichen und Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bleiben sie weiterhin ausgegrenzt, obwohl sie 53 Prozent der russländischen Bevölkerung ausmachen. Die vorwiegend marginale Rolle von Frauen im öffentlichen Leben lässt das historische, vor allem aber sowjetische politische und mentale Erbe deutlich erkennen. Denn in den Jahrzehnten nach der angeblichen Lösung der "Frauenfrage" im Jahre 1930 stand diese unter den Bedingungen der kommunistischen Einparteiherrschaft nicht mehr auf der politischen Tagesordnung und wurde folglich nicht länger diskutiert.

Die Lage der Frauen verbesserte sich nicht wesentlich. Diese Faktoren hatten negative, bis zur Demokratisierungspolitik der Perestrojka-Periode (1985-1989) spürbare Konsequenzen für die frauenpolitische Bewusstseinsentwicklung sowie Artikulations- und Handlungsbereitschaft bzw. -fähigkeit der Frauen. Heute kämpfen viele in offener Konkurrenz um wichtige Posten im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich.

Nicht zuletzt basieren die mangelnde Integration und Repräsentation von Frauen auf ihrem geringen gesellschaftlichen Ansehen als "Wesen zweiter Sorte" (suschtschestwo wtorogo sorta) sowie auf rollenfixierten Vorstellungen von der Frau im Öffentlichen und Privaten. Wird ihnen eine Beteiligung zugestanden, so ist sie daher nur selten von gleichberechtigtem Denken bestimmt, wie es in Russlands Verfassung von 1993 verankert ist. Dabei wurde dieser Gleichberechtigungsparagraph (Art. 19, Teil 3) allein dank der Hartnäckigkeit der neuen Frauenorganisationen aufgenommen.

Asymmetrie in Politik und Arbeit

Zwei Felder sind es vor allem, die die Asymmetrie deutlich vor Augen führen: Politik und Beschäftigung. Der Anteil der Frauen in der Staatsduma sank von 13,6 Prozent (1993-1995) über zehn Prozent (1995-1999) auf nur noch 7,7 Prozent im Dezember 1999. Dieser beunruhigend rückläufigen Teilhabe am demokratisierten politischen Prozess versuchen die russischen Frauenorganisationen, etwa mit dem erwähnten "Nationalen Programm", entgegenzuwirken.

Auch in der Exekutive nehmen Frauen vorrangig nur solche Positionen ein, in denen keine maßgeblichen Entscheidungen zu treffen sind. So liegt ihr Anteil im Staatsdienst zwar bei 70,6 Prozent, der der Männer bei 29,4 Prozent. In den höchsten Ämtern ist das Verhältnis aber fast umgekehrt: 76,7 Prozent Männer stehen 23,3 Prozent Frauen gegenüber. In der Regierung befindet sich gegenwärtig mit Galina Karelowa, seit Juni 2003 stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für Soziales, eine Frau. Sie ist die Nachfolgerin von Walentina Matwijenko, die im Oktober 2003 zur Gouverneurin von St. Petersburg gewählt wurde und damit als erste und bislang einzige Politikerin an der Spitze eines der 89 Subjekte der Russländischen Föderation steht.

In den höchsten Ämtern der Rechtsprechung sind drei Frauen anzutreffen gegenüber einem Frauenanteil von 72 Prozent in den nachgeordneten Aufgabenbereichen der Judikative.

Abgesehen von der demokratischen Partei Jabloko mit ihren programmatischen Forderungen nach einer Politik der Gleichberechtigung kümmern sich politische Parteien und Vereinigungen kaum um einen Ausgleich der Möglichkeiten von Frauen und Männern. Das entsprechende Problembewusstsein ist bei ihnen nur schwach entwickelt. So erschienen etwa in den Kandidatenlisten bei den Parlamentswahlen 1999 nur rund zehn bis zwölf Prozent Frauen (Ausnahme: die "Union der rechten Kräfte" mit 17 Prozent). Hierin spiegelt sich auch die noch geringe gesellschaftliche Akzeptanz politisch engagierter Frauen.

Charakteristisch für Ungleichgewichte im Bereich der Beschäftigung ist insbesondere der hohe Anteil der Frauen an den offiziell registrierten Arbeitslosen. Er betrug seit Beginn der neunziger Jahre relativ unverändert rund zwei Drittel, so dass von einer Arbeitslosigkeit mit "weiblichem Gesicht" gesprochen werden kann. Denn Frauen waren von den Wirtschaftsreformen durch zunehmende Entlassungen und Rationalisierungsmaßnahmen am ehesten und härtesten betroffen. Eine Ursache für ihre Nichtkonkurrenzfähigkeit auf dem transformierten Arbeitsmarkt ist beispielsweise in den für Arbeitgeber "unattraktiven" sozialen Kosten etwa durch Schwangerschaften und Fehlzeiten aufgrund kranker Kinder zu suchen.

Machten die Durchschnittslöhne der Frauen vor dem Übergang zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen rund 70 Prozent derjenigen der Männer aus, so liegen sie heute bei circa 50 Prozent. Dabei haben 64 Prozent der arbeitenden Frauen Hoch- und Fachschulbildung; bei den Männern liegt dieser Anteil bei 47 Prozent. Wichtige Gründe für ihre niedrigen Löhne sind, dass Frauen familienbedingt keine ihrer Ausbildung entsprechende Tätigkeit aufnehmen und sich auch durch die Belastungen in Haus- und Familienarbeit kaum beruflich weiterbilden können. In erster Linie aber ist die Beschäftigung in den traditionell benachteiligten, schlecht bezahlten "Frauendomänen" wie beispielsweise Erziehungs- und Gesundheitswesen sowie Leichtindustrie schuld daran. Die Beteiligung von Frauen an den neuen, "männlichen" Wirtschaftsstrukturen ist daher nicht zuletzt aufgrund ihrer rollenbedingten geringeren Flexibilität begrenzt.

Ursachen und Perspektiven

Insgesamt sind die Ursachen für eingeschränkte Partizipation und weitgehend formaljuristische, faktisch nur zögerlich gelebte Gleichberechtigung vielfältig. So haben die Prägungen der patriarchalen, repressiv-autoritären politischen Kultur im zaristischen Russland wie in der Sowjetunion und der damit nicht überwundene Geschlechtertraditionalismus einen realen Durchbruch in Richtung einer Anerkennung und Teilhabe der Frauen als Gleichgestellte bisher vereitelt. Verinnerlichte Stereotype von Weiblichkeit und Männlichkeit, die auch in weithin akzeptierten, geschlechtshierarchischen Rollenzuweisungen sichtbar sind, wirken fort. Das Wiederaufleben zurückgestauter Machtansprüche der Männer ("Renaissance des Patriarchats"), nachdem mit dem Ende der Sowjetunion 1991 auch das ideologisch verordnete Gleichheitspostulat beseitigt wurde, und die Überflutung der Gesellschaft mit pornografischen Darstellungen jeder Art trugen zu anhaltender Diskriminierung der Frauen bei.

Schließlich kommen der vorwiegend auf der Ebene der Institutionen, in geringerem Maße jedoch bei den Werten, Denk- und Verhaltensweisen vollzogene demokratische Wandel sowie die im Transformationsverlauf offenkundig gewordenen strukturellen wie politischen Hindernisse für die weibliche Bevölkerung hinzu.

Um eine Veränderung herbeizuführen, ist es daher erforderlich, die Genderproblematik in den politischen wie gesellschaftlichen Diskurs und Alltag kontinuierlich einzubringen. Damit kommt, neben der politischen Elite, der Frauenbewegung und ihrem Bemühen um eine Verwirklichung der Rechte der russländischen Frauen sowie um vermehrten gesellschaftlichen und politischen Einfluss eine hohe Verantwortung zu. Abschließend sei die "wichtigste Erfahrung des 20. Jahrhunderts in Osteuropa erwähnt: Die soziale und geschlechtliche Gleichberechtigung als Verordnung 'von oben' hat keine bedeutenden Mentalitätsänderungen in Richtung einer sozialen Gerechtigkeit bewirkt, wovon die nach der Wende aufgekommenen Probleme der Frauen zeugen", so die polnische Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Bozena Choluj. Oder russlandspezifisch ausgedrückt: Über siebzig Jahre sowjetischer politischer Theorie und Praxis haben es offenbar nicht vermocht, wirkliche Gleichwertigkeitsvorstellungen zu entwickeln.

Verbände und Interessengruppen

Heiko Pleines

Der Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern in Organisationen, die versuchen, auf die Politik Einfluss zu nehmen, ermöglicht es den Mitgliedern, ihre Interessen und Vorstellungen in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Diesem Ideal der Bürger- oder Zivilgesellschaft halten kritische Stimmen entgegen, dass nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich gut organisiert sind und dadurch das Risiko besteht, dass nicht alle gesellschaftlichen Interessen Gehör finden. Genau dies scheint ein zentrales Problem Russlands zu sein.

Wirtschaftsverbände

Mit dem Ende der Sowjetunion entstanden in Russland unabhängige Wirtschaftsverbände. Zum größten Zusammenschluss russischer Unternehmer wurde der Russische Verband Industrieller und Unternehmer (RSPP). Daneben bildeten sich Interessengruppen wie etwa der Landwirtschaft, der Öl- und Gasindustrie, der Banken, des Mittelstandes und der Exportwirtschaft. Der einzige Verband, der mit der Unterstützung seiner Mitglieder kontinuierlich politische Entscheidungen beeinflusste, war jedoch die Agrarlobby.

Ansonsten betrieben in Russland einzelne Großunternehmer, so genannte Oligarchen, im Bereich der Wirtschaft erfolgreich Lobbyismus für ihre eigenen Unternehmen. Durch die geringe Zahl der Beteiligten und fehlende Kontrollen konnten diese Oligarchen in informellen Verhandlungen - teilweise durch Korruption - von der Politik erhebliche Zugeständnisse erhalten, ohne dass eine öffentliche Kontrolle möglich war.

Gewerkschaften

In der traditionellen sowjetischen Planwirtschaft dienten die Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit den Betriebsleitungen der sozialen Betreuung der Arbeiter und ihrer Familien, nicht aber der Artikulation von Arbeiterinteressen gegenüber Betriebsleitungen oder Politik. Auch nach dem Ende der Sowjetunion blieb dieses Verständnis von Gewerkschaften vorherrschend. Die Führung der aus dem sowjetischen Gewerkschaftsbund hervorgegangenen Gewerkschaftsvereinigung FNPR (Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Russlands) kooperierte in der Regel sowohl mit den Betriebsleitungen als auch mit der Politik.

Dort wo die Arbeiterschaft ihre Interessen gegen die Unternehmen oder die Politik durchsetzen wollte, musste sie sich eigene Gewerkschaften schaffen. Am erfolgreichsten gelang dies den Bergleuten der Kohleindustrie, die sich in der NPG (Unabhängige Gewerkschaft der Bergleute) zusammenschlossen. Diese organisierte bis 1998 regelmäßig Streiks, um die finanzielle Situation ihrer Mitglieder zu verbessern. Obwohl die Proteste der Bergleute immer radikaler wurden und 1998 in der tagelangen Blockade zentraler Eisenbahnstrecken gipfelten, war ihr Erfolg sehr begrenzt. Insgesamt ist es den russischen Gewerkschaften bisher nicht gelungen, sich als politische Kraft zu etablieren.

Nichtregierungsorganisationen

Nach dem Ende der Sowjetunion entstand eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen, die versuchen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Zu nennen sind etwa Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen oder Organisationen im sozialen Bereich. Die Mitgliederzahl dieser NRO ist aber im Vergleich zu denen westlicher Demokratien sehr gering, und ein nennenswerter Einfluss auf die Politik oder die öffentliche Diskussion ist praktisch nicht erkennbar.

Quellentext"Memorial" - Spurensuche nach Stalins Opfern

[...] Noch immer liegen Hunderttausende Opfer des Stalinismus, Erschossene und im Gefängnis zu Tode Gefolterte, an unbekannten Orten unter Russlands Erde. Den meisten der Angehörigen ist bis heute eine Stätte der Trauer und des Andenkens verwehrt.

Irina Fliege gehört als Vorsitzende der privaten Organisation Memorial in St. Petersburg zu der winzigen Minderheit, die seit mehr als einem Jahrzehnt an dem Schutzwall aus Verdrängung, Gleichgültigkeit und Ablehnung kratzt, den die russische Gesellschaft um sich errichtet hat. In einem Land, in dem das Schwarzbuch des Kommunismus selbst als Ramschexemplar kaum Käufer fand, kann Memorial nur dank des Geldes ausländischer Stiftungen überleben. Grauhaarige Exdissidenten und jugendliche Aktivisten mühen sich hier, mit der Publikation von Erschießungslisten und Gedenkbüchern den Opfern ihren Namen zurückzugeben. Womöglich finden sie in den zumeist fensterlosen Räumen der Organisation auch ein wenig Erlösung von der Leugnungs- und Beschönigungskultur, die draußen herrscht. Nur: "Ohne die notwendige Selbsterkenntnis kann es in Russland keine demokratische Entwicklung geben", klagt Irina Fliege. Deshalb gräbt sie weiter nach der historischen Wahrheit, notfalls mit Georadar und Spaten.

Im Sommer vergangenen Jahres stieß die Memorial-Suchgruppe auf einem Truppenübungsplatz bei Toksowo nördlich von St. Petersburg auf menschliche Überreste. Bisher war in der Stadt der Oktoberrevolution nur der Friedhof von Lewaschowo als Gebeinstätte für die Opfer des stalinistischen Terrors bekannt. [...] Etwa 24000 Tote wurden nach Lewaschowo gekarrt, doch allein der "Säuberung" 1937 und 1938 fielen im damaligen Leningrad und in der Umgebung 40000 Menschen zum Opfer. Grund genug, die Existenz eines weiteren Massengrabes zu vermuten. Die Suche dauerte fünf Jahre.

"Wir haben die Indizien wie ein Puzzle zusammengesetzt", berichtet Irina Fliege. Ein früherer Fahrer der Todeswagen, im Volk "schwarze Raben" genannt, sank vor einer Lichtung auf die Knie und brach in Tränen aus. Doch den Hinrichtungsort konnte er nicht mehr finden. Die Aktivisten studierten Luftbilder, die deutsche Aufklärungsflugzeuge im Zweiten Weltkrieg gemacht hatten. Auf Landkarten von 1924, deren Siegel "Nur für den Dienstgebrauch" noch heute gültig ist, ermittelten sie den Verlauf der Waldstraßen; sie untersuchten Bodenveränderungen und den Grundwasserspiegel. Im August vergangenen Jahres hatten sie endlich 50 Gruben ausfindig gemacht. Eine davon öffnete die Suchgruppe und stieß auf menschliche Überreste. Die Schädel hatten Einschusslöcher im Scheitelbein. Die ballistische Untersuchung einer Patronenhülse ergab, dass sie aus einem großkalibrigen Revolver stammte, wie er damals beim sowjetischen Geheimdienst NKWD viel benutzt wurde. "Bis zu 30000 Leichen könnten in den Massengräbern liegen", schätzt Fliege. [...]

Memorial möchte Stalins Totenfeld in diesem Jahr mit Georadar und Bodenproben untersuchen und als Gedenkstätte abgrenzen. "Die Toten sollen ihre Würde wiedererhalten", fordert Irina Fliege. Doch der Fund stößt bisher auf Desinteresse. [...]

Die Arbeit von Memorial stört viele im heutigen Russland. Breites Interesse an der eigenen Geschichte schien nur zum Ende der Perestrojka auf. Unter Staatschef Michail Gorbatschow öffneten sich damals die Kellertüren der Staatsarchive und gaben einen sensationellen Blick auf die Leichen des Sowjetregimes frei. Doch die Protagonisten der alten und der neuen Politikerschar wichen jeder aufrichtigen Beschäftigung mit den kommunistischen Verbrechen aus. Forderungen aus der Bevölkerung nach einer Wahrheitskommission und einem "Nürnberger Prozess" für Moskaus Unrechtstaten verstummten vor der Springflut der freigegebenen Preise und der Angst ums Überleben. Im Chaos des Zerfalls wollte sich kaum jemand den vermeintlichen Glanz der Vergangenheit blind reden lassen. Die Archive, die den Historikern ein paar Knochen freigegeben hatten, reglementierten wieder den Zugang zum Gesamtskelett.

Was Wunder: Die Deutungshoheit über die Geschichte ist schließlich eine Machtfrage. Die Enthüllungen über sowjetische Verbrechen dienten den Antikommunisten zur Diskreditierung der ehemaligen Staatspartei. Zehn Jahre später begründete der frühere KGB-Oberstleutnant Wladimir Putin einen retrospektiven Staatsmythos, der die Kontinuität zwischen dem neuen Russland und der alten Sowjetunion wiederherstellt. Putin enthüllte eine Gedenktafel für den KGB-Chef Jurij Andropow, rehabilitierte die Stalinsche Staatshymne und gab der Armee ihr Wahrzeichen zurück, den roten Stern. Die patriotische Verklärung des alten Großreichs findet ihre Gipfelpunkte im Sieg über Hitler und in der Eroberung des Kosmos. Das Gedenken an die kollektiven Helden und Opfer befreit von der lästigen Frage nach den individuellen Henkerstaten. Die Namen derer, die Erschießungsbefehle unterschrieben, sind wieder Staatsgeheimnis. [...]

Die offiziöse Geschichtsschreibung Russlands bleibt die des Staates, der den Menschen bis in den Tod in Besitz hält. Das Ausbleiben der Vergangenheitsbewältigung nährt das Unwissen und alte Stereotype. In Meinungsumfragen sehen mehr als die Hälfte der Russen Stalin ambivalent oder positiv. [...]

Johannes Voswinkel, "Archäologen des Verbrechens", in: Die Zeit Nr. 10 vom 27. Februar 2003.

Diese Schwäche der NRO wird in der Regel auf vier zentrale Ursachen zurückgeführt:

  • Alle NRO mussten sich nach dem Ende der Sowjetunion neu bilden. Für den Aufbau effizienter Organisationen und die Gewinnung eines treuen Mitgliederstamms ist dieser Zeitraum noch vergleichsweise kurz.

  • Die Mehrheit der russischen Bevölkerung kümmerte sich aufgrund der schweren postsowjetischen Wirtschaftskrise vor allem um das persönliche Wohlergehen und das Schicksal der eigenen Familie.

  • Die sowjetische Erfahrung veranlasste viele Russinnen und Russen zu einer apolitischen Haltung.

  • Die russische Regierung in Moskau wie in den Regionen erschwert die Arbeit von NRO immer wieder durch Diskreditierungen und Repressionen.

Militär und Sicherheitsdienste

Hans-Henning Schröder

Russland ist heute nur noch bedingt eine Militärmacht ersten Ranges. Die Position der Sowjetunion als "die andere Supermacht" beruhte vor allem auf ihrer militärischen Stärke - ihren Nuklearwaffen, deren Vernichtungspotenzial sie auf eine Stufe mit den USA stellte, und den unverhältnismäßig großen konventionellen Streitkräften, die denen der Nato in Europa zahlenmäßig weit überlegen waren.

Die Situation hat sich seit der Auflösung der UdSSR beträchtlich verändert. Gewiss verfügt die Russländische Föderation mit weit über 3000 Nuklearsprengköpfen auf land- und seegestützten Trägersystemen nach wie vor über ein atomares Waffenarsenal von ungeheurer Vernichtungskraft. Angesichts der veränderten Bedrohungssituation, die durch Bürgerkriege, lokale Konflikte und Terrorismus bestimmt wird, haben diese Waffen jedoch an strategischer Bedeutung eingebüßt, denn Atomwaffen sind in diesem neuen Typ von Krieg kein wirksamer Faktor. Das Vorhandensein des nuklearen Arsenals garantiert aber immerhin Russlands Rolle in der internationalen Politik. Zudem sichert es den Staat gegen Angriffe von außen und gegen Versuche, militärischen Druck auf das Land auszuüben.

Um im Angesicht der neuen Bedrohungen zu bestehen, benötigt Russland eine leistungsfähige, flexible, hoch technisierte, konventionelle Militärmacht. Deren Aufbau geht aber nicht voran. Die Auflösung der UdSSR Ende 1991 führte im Laufe des Frühjahrs 1992 zur Aufteilung der sowjetischen Streitkräfte auf die Nachfolgestaaten. Auch Russland gründete aus dem sowjetischen Erbe eine eigene Armee. Die militärische Führung unter Verteidigungsminister Pawel Gratschow (1992-1996) ignorierte allerdings zunächst die katastrophale Finanzlage des Landes und die veränderten internationalen Bedingungen und nahm die notwendigen Kürzungs- und Restrukturierungsmaßnahmen nicht in Angriff. Ohne ausreichende Finanzierung begann der überdimensionierte sowjetische Streitkräfteapparat sich rasch zu zersetzen. Erst Gratschows Nachfolger wie Sergej Iwanow (seit März 2001) unternahmen Anstrengungen, eine Reform in Gang zu bringen. Doch die Pläne, die Streitkräfte von Grund auf zu restrukturieren und an die Stelle einer für einen konventionellen Krieg in Europa optimierten Streitmacht eine kleine, gut ausgerüstete und ausgebildete Armee zu stellen, die in lokalen Konflikten und gegen Guerillas erfolgreich eingesetzt werden kann, sind angesichts knapper Finanzen nur schrittweise umsetzbar.

Reformbedarf der Streitkräfte

Praktisch haben die russischen Streitkräfte seit 1992 fortgesetzt an Umfang und Leistungsfähigkeit eingebüßt. Die Personalstärke ist zwischen 1992 und 2002 von 2,8 Millionen auf 988000 gesunken. Heute sind etwa ein Drittel der Militärangehörigen Wehrpflichtige, die übrigen sind Berufs- und Zeitsoldaten. Circa 100000 der kontraktniki (Zeitsoldaten) sind Frauen, die meist im Verwaltungs- und Sanitätsdienst eingesetzt werden. Neben den regulären Streitkräften, die dem Verteidigungsminister unterstehen, verfügen auch der Föderale Grenzdienst (FPS, dem Präsidenten unterstellt, 140000 Personen), die Inneren Truppen (dem Innenministerium angehörend, 151100 Personen), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB, zur Inlandsaufklärung gehörend, 4000 Mann in paramilitärischen Einheiten), der Föderale Wachdienst (FSO, 10-30000 Personen), die Föderale Agentur für Regierungskommunikation und Information (FAPSI, 54000 Personen) und die Eisenbahntruppen (50000 Personen) über militärisch organisierte Verbände. Auch bei diesen "anderen Truppen" sind die Personalstärken seit 1992 zurückgegangen.

Der innere Zustand der Streitkräfte ist kritisch. Moral, Ausbildungsstand, Ausrüstung und Kampfbereitschaft der meisten Truppenteile sind mangelhaft. Die Verhältnisse in vielen Einheiten, in denen Schikanen durch Kameraden oder durch Vorgesetzte gang und gäbe sind, wirken sich auf den inneren Zusammenhalt wie das äußere Ansehen der Streitkräfte negativ aus. Die Zahl der Desertionen ist hoch. In dieser Situation ist die Bereitschaft, Wehrdienst zu leisten, gering. Etwa zwei Drittel der Jugendlichen im wehrpflichtigen Alter entziehen sich legal oder illegal der Einberufung. Sie beginnen beispielsweise ein Studium, legen ärztliche Atteste vor oder zahlen Bestechungsgelder in der Einberufungsbehörde. Führende Militärs plädieren für eine umfassende Militärreform mit Übergang zu einer Berufsarmee, doch fehlen die Mittel, um solche Pläne in naher Zukunft umzusetzen.

QuellentextSoldatenmütter

[...] Als die Bewegung der Soldatenmütter entstand, gab es die Sowjetunion noch, und im Zeichen von "Glasnost" und "Perestrojka" waren unzählige Menschenrechtsverletzungen in den sowjetischen Streitkräften bekannt geworden: Gewalt und Willkür als Mittel der Disziplinierung waren an der Tagesordnung. [...] Die Sowjetarmee, ein Staat im Staate, entzog sich jeglicher zivilen Kontrolle. Um das zu ändern, gründeten zehn Petersburger Bürgerrechtler am 10. November 1991 die "Gesellschaftliche Rechtsschutzorganisation Soldatenmütter von St. Petersburg". [...]

Noch immer kommen unzählige Soldaten während des Wehrdienstes durch Prügel, Totschlag, Folter, Selbstmord und Amoklauf von Kameraden zu Tode. Rund 1200 Tote waren es nach offiziellen Angaben allein im vorigen Jahr (2002 - Anm. d. Red.). [...] Kein Wunder daher, dass mittlerweile neun von zehn Wehrpflichtigen jede Möglichkeit nutzen, den Wehrdienst zu umgehen oder sich zurückstellen zu lassen. Um ihr Soll dennoch zu erfüllen, zieht die Armee jeden ein, den sie kriegen kann, auch Alkoholiker, Drogenabhängige, Aids-Infizierte, Vorbestrafte, Analphabeten, psychisch Kranke, Waisen und Alleinernährer ihrer Familien. Sie verstößt damit permanent gegen geltendes Gesetz. [...]

Den "Drückebergern", wie sie offiziell heißen, kommt zugute, dass die allgemeine Wehrpflicht in der Verfassung von 1993 nicht mehr vorkommt und im Gesetz über die Wehrpflicht und den Wehrdienst festgelegt ist, wer nicht zu dienen braucht und wer zurückgestellt werden kann. Aber das wissen viele Menschen nicht, und genau hier setzen die Soldatenmütter an. [...]

Wer in Petersburg nicht dienen will oder wer kein Geld hat, um sich freizukaufen, erscheint mittwochs und samstags in der "Schule der Menschenrechte ,Schützen wir unsere Söhne" der Soldatenmütter in der Rasesschaja 9, erhält Unterricht in Staatsbürgerkunde und erfährt, was getan werden muss, um sich freistellen zu lassen. [...]

Einen Wehrbeauftragten gibt es nicht. Dessen Aufgaben nehmen praktisch die Soldatenmütter wahr [...]. Die Petersburger Organisation [...] hat in den zwölf Jahren ihrer Existenz 150000 Personen beraten. Mehr als 100000 Wehrpflichtige konnten mit ihrer Hilfe das gesetzlich verbriefte Recht, nicht zu dienen, durchsetzen, und mehr als 5000 Deserteure [...] wurden dank ihrer Unterstützung vorzeitig aus der Armee entlassen. [...]

Folgt man der Logik der Soldatenmütter, erübrigt sich auch der Zivildienst. Den sieht die Verfassung zwar schon seit 1993 vor, doch ein Ausführungsgesetz tritt erst am 1. Januar 2004 in Kraft. [...]

Marianna Butenschön, "Großväterherrschaft und Staatsbürgerkunde", in: Das Parlament Nr. 42 vom 13. Oktober 2003.

Infolge der kritischen inneren Verfassung der Armee ist nur ein Teil der Verbände in den laufenden bewaffneten Konflikten einsetzbar. Der erste Tschetschenienkrieg 1994-1996 mit den hohen Verlusten bei den Kämpfen um die tschetschenische Hauptstadt Grosny im Winter 1994/1995 zeigte, dass die russischen Einheiten in der Mehrheit schlecht geführt, unzureichend ausgebildet und falsch ausgerüstet waren. Als die Putinsche Führung im September 1999 abermals Militär gegen Tschetschenien einsetzte, vermied sie die Fehler von 1994. Doch obwohl russische Truppen bald das ganze tschetschenische Territorium besetzt hatten, ist ein militärischer Sieg in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Der Konflikt hat die Formen eines Guerillakriegs angenommen, der auf russischer Seite von russischer und tschetschenischer Polizei, Truppen des Innenministeriums, Kräften des FSB und Verbänden der regulären Armee mit großer Härte geführt wird.

QuellentextKrieg in Tschetschenien

[...] Noch bevor sich die Sowjetunion im Dezember 1991 selbst auflöst, nutzen die Tschetschenen die sich plötzlich bietenden politischen Spielräume und erklären einseitig ihre Unabhängigkeit von der Russischen Föderation. Dschohar Dudajew, ein ehemaliger Fliegergeneral der Sowjetarmee, lässt sich im Herbst des gleichen Jahres zum Präsidenten wählen. [...] In den folgenden Jahren gelingt es Dudajew allerdings nicht, im Land eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, ökonomische Reformen durchzusetzen und einen Ausgleich mit der teilweise islamistisch intendierten Opposition herbeizuführen. [...] Zum Ausbruch direkter Kampfhandlungen kommt es im Dezember 1994, als 40000 russische Soldaten in das Land vorrücken, um die Rückkehr der abtrünnigen Republik in den Verbund der Föderation zu erzwingen. [...] Die militärischen Formationen der wenig homogenen Unabhängigkeitsbewegung leisten heftigen Widerstand und verwickeln die russische Armee in einen erbarmungslosen, opferreichen und langwierigen Krieg. [...]

Um seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 1996 nicht zu gefährden, lässt Boris Jelzin die Kämpfe stoppen und im August des gleichen Jahres [...] das "Abkommen von Chasawjurt" aushandeln. Demnach sollen die Kampfhandlungen zunächst für 20 Monate unterbrochen und bis Ende 2001 eine Einigung über den künftigen Status Tschetscheniens und eine Rückkehr der Flüchtlinge erreicht werden. Jelzin zieht seine Truppen daraufhin tatsächlich zurück. [...]

Im Sommer 1999 eskaliert die Situation erneut. Nach Überfällen auf Miliz- und Grenzposten gehen russische Armee-Einheiten wieder massiv gegen tschetschenische Rebellen vor. [...]

Als [...] in Moskau zwei Wohnblöcke durch Bombenanschläge völlig zerstört werden und dabei 228 Menschen sterben, ist das "Abkommen von Chasawjurt" nur noch Makulatur und der zweite Tschetschenien-Krieg nicht mehr aufzuhalten. Politik und Medien Russlands weisen einhellig auf tschetschenische Terroristen als Urheber der Anschläge, die bis heute nicht restlos aufgeklärt sind. [...]

Um die Verluste in den eigenen Reihen möglichst gering zu halten, setzt die russische Armee vermutete Guerillastellungen oft aus beträchtlicher Entfernung massiv unter Feuer. Die Zerstörung des Landes wird bewusst in Kauf genommen. Gleiches gilt für gravierende Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten.

Nach massiven Bombardements und heftigen Straßen- und Häuserkämpfen [...] kann Präsident Putin im Februar 2000 die Einnahme der Hauptstadt Grosny verkünden, um kurze Zeit später Tschetschenien insgesamt der direkten Verwaltung durch die Moskauer Zentralregierung zu unterstellen und den muslimischen Geistlichen Ahmed Kadyrow zum neuen Regierungschef der Kaukasusrepublik zu ernennen, der unter den gegebenen Umständen lange Zeit als verlängerter Arm Moskaus gilt.

In den folgenden Jahren kann die russische Armee Tschetschenien nie vollständig unter ihre Kontrolle bringen, im Gegenteil - seit dem Frühjahr 2003 gibt es fast täglich Anschläge auf russische Soldaten und pro-russische tschetschenische Beamte.

Über die Anzahl der Kriegsopfer seit 1994 existieren keine verlässlichen Angaben. Nach Schätzungen sind 150000 bis 200000 Menschen ums Leben gekommen, mindestens 500000 Flüchtlinge leben in provisorischen Camps in den Nachbarrepubliken, vorzugsweise in Inguschetien. Die Zahl der gefallenen russischen Soldaten wird offiziell mit über 3000 angegeben.

Nach dem 11. September 2001 bezeichnet die russische Führung unter Hinweis auf Verbindungen zwischen den tschetschenischen Rebellen und dem Al Qaida-Netzwerk den Krieg im Kaukasus als Teil des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus und somit als legitim. Der Erfolg dieser Bemühungen bleibt nicht aus, die zuvor teilweise heftige Kritik aus dem Ausland, besonders aus Westeuropa, an der russischen Tschetschenien-Politik verstummt zusehends. [...]

Attentate auf ein Open-Air-Konzert in Moskau und ein russisches Militärhospital in Nordossetien vom Sommer 2003 lassen inzwischen auf eine veränderte Taktik der Guerilla schließen - durch Terror- und Selbstmordanschläge soll der asymmetrische Krieg mit asymmetrischen Mitteln in das russische Kernland getragen werden, um Präsident Putin zum Einlenken, vor allem zum Abzug seiner Truppen, zu zwingen.

Der setzt auf eine politische Regulierung unter russischer Federführung - so findet im März 2003 ein von Moskau initiiertes Referendum über eine tschetschenische Verfassung und ein neues Wahlgesetz statt. Nach offiziellen Angaben stimmen etwa 95 Prozent der an diesem Votum Beteiligten dafür. Menschenrechtsorganisationen kritisieren jedoch die Androhung von Gewalt und Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung.

Auf der Basis dieses Referendums hat es am 5. Oktober in Tschetschenien Wahlen gegeben. [...] Gewonnen hat Ahmed Kadyrow mit rund 80 Prozent aller Stimmen. [...]

Malte Heidemann, "Die offene Wunde Russlands, in: Das Parlament Nr. 42 vom 13. Oktober 2003.

Reorganisation der Sicherheitskräfte

Ebenso wie die Streitkräfte wurde auch die sowjetische Geheimpolizei, der KGB (Komitee für Staatssicherheit), nach 1992 vom allgemeinen Umbruch erfasst. Die Behörde wurde mehrfach reorganisiert und umgegliedert. Schließlich erfolgte die Teilung nach Funktion in mehrere Dienste: SVR (Dienst für Auslandsaufklärung), FSB (Inlandsaufklärung), FSO (Schutz des Kreml und der Regierung), aus dem der Sicherheitsdienst des Präsidenten (PSB) ausgegliedert wurde, und FAPSI (Kommunikation und elektronische Überwachung). In der Umbruchphase verließen viele Mitarbeiter den KGB und wechselten zum Teil in die neu entstehenden privaten Sicherheitsdienste. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begannen die Sicherheitsorgane wieder Tritt zu fassen. Die Auslandsaufklärung (mit dem Schwerpunkt Industriespionage) wurde aktiver, und im Innern suchte der FSB seinen Zugriff auf die Gesellschaft wieder zu festigen, etwa durch Kontrollen von Websites und elektronischen Kommunikationskanälen.

Der politische Einfluss der Dienste ist dennoch begrenzt. In der Jelzin-Ära erlangte zwar der Chef des PSB, Alexander Korschakow, großen Einfluss auf den Präsidenten, doch zeigte seine Entfernung aus dem Amt im Juli 1996, dass er seine Position dem Wohlwollen des Präsidenten, nicht der Macht seines Apparates verdankte. Erst unter Putin, der eine Reihe ehemaliger Geheimdienstler in politische und administrative Führungspositionen schob, gewannen Seilschaften aus den "Organen" an Einfluss. Doch auch sie verdanken ihre Macht eher persönlichen Beziehungen zum Staatsoberhaupt und nicht der Machtressource Geheimdienst.