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Menschen mit Behinderungen, Sozialrecht und Sozialpolitik

Felix Welti

/ 10 Minuten zu lesen

Wie sind Menschen mit Behinderung sozial abgesichert in Deutschland? Felix Welti skizziert die Grundlagen von Sozialrecht und Sozialpolitik.

Ein Aktenstapel und ein Sozialgesetzbuch im Sozialgericht Karlsruhe. (© picture-alliance/dpa)

1. Menschen mit Behinderungen in Sozialrecht und Sozialpolitik

Mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft wurde Behinderung als Lebenslage und soziales Risiko sichtbar. Beeinträchtigungen und Barrieren schließen aus zentralen Institutionen der Vergesellschaftung wie Schule, Erwerbsarbeit und Wohnen in der Gemeinde aus. Sozialpolitik und Sozialrecht haben darauf reagiert, indem das Risiko von Behinderung für einzelne Menschen und aus den Lebenszusammenhängen herausgenommen wurde. Dazu wurden besondere Einrichtungen geschaffen. So wurde Behinderung aus der allgemeinen Armenfürsorge gelöst und es wurden große Wohneinrichtungen geschaffen. Die Rentenversicherung (als Invalidenversicherung) versicherte seit 1889 behinderungsbedingten Einkommensausfall. Mit Rehabilitation wurde schon bald versucht, der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben und der Gesellschaft entgegenzuwirken („Rehabilitation vor Rente“), wozu gesonderte Einrichtungen der Gesundheitsversorgung geschaffen wurden. Für die vielen Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs waren neue Regelungen erforderlich. Dazu gehörten die Beschäftigungspflicht und Unterstützung in den Betrieben. Die nationalsozialistische Entrechtung und Tötung von hunderttausenden Menschen mit Behinderungen pervertierte Sozialpolitik, indem sie sich nicht gegen Behinderung, sondern gegen Menschen mit Behinderungen richtete. Nach dem zweiten Weltkrieg reagierte Behindertenpolitik zeitgebunden auf Arbeitskräftemangel oder Arbeitslosigkeit, indem Menschen in Arbeit rehabilitiert oder in frühzeitige Verrentung gebracht wurden, sie bearbeitete Abstimmungsprobleme zwischen verschiedenen Institutionen und erhielt neue Impulse durch eine politische Behindertenbewegung sowie durch die Grund- und Menschenrechte.

2. Diskriminierungsverbot und Sozialpolitik

Seit 1994, in Folge der Deutschen Einheit, ist das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung im Grundgesetz verankert. Die Neuregelung war in der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgeschlagen worden und knüpfte an die Verfassungen der neuen Länder und die Diskussionen am „Runden Tisch“ an. Seit 1997 ist die Nichtdiskriminierung Teil des EU-Rechts. 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland in Kraft getreten, die Selbstbestimmung, Teilhabe, Inklusion und Zugänglichkeit (Barrierefreiheit) für die sozialen Menschenrechte auf Leben in der Gemeinde, Mobilität, Bildung, Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit für Menschen mit Behinderungen entfaltet. Mit dem SGB IX, dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und weiteren Reformen wird versucht, diese Grundsätze zu konkretisieren.

3. Sozialrechtliche Grundsätze

Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ist ein soziales Recht, an dessen benachteiligungsfreier und barrierefreier Konkretisierung fast alle Sozialleistungsträger in Deutschland beteiligt sind. Dazu gehört, dass ihre Gebäude, Internetangebote und Verwaltungsabläufe sowie die Leistungserbringung barrierefrei sein müssen. So sind Gebärdensprachdolmetscher und Kommunikationshilfen zu stellen und Leichte Sprache ist zu benutzen. In der Praxis gibt es noch erhebliche Defizite in der Umsetzung, weil die Normen nicht bekannt sind oder es an Impulsen für die Umsetzung fehlt.

Die Sozialleistungsträger müssen die Individualität und das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen achten. Sie müssen bei den Antragsverfahren und der Bedarfsfeststellung miteinander zusammenarbeiten und die Teilhabe gemeinsam planen. Dazu arbeiten sie in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zusammen.

Die Anerkennung als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) ab 50 erfolgt durch die Versorgungsämter, die Gleichstellung mit Schwerbehinderten ab GdB 30 durch die Bundesagentur für Arbeit. Sie hat verschiedene Funktionen im Arbeitsleben und darüber hinaus. Durch Merkzeichen werden spezifische Beeinträchtigungen nachgewiesen. Aktuell sind fast 8 Millionen Menschen als schwerbehindert anerkannt.

4. Lebensunterhalt, Rente, Grundsicherung

Wenn behinderungsbedingt die Möglichkeit eingeschränkt ist, Erwerbseinkommen zu erzielen, besteht ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente von der gesetzlichen Rentenversicherung für aktuell ca. 1,8 Millionen Menschen. Versicherungsrechtliche Voraussetzungen (Zeiten mit Beitragszahlung) müssen erfüllt sein. Die Rentenhöhe ergibt sich aus einer Hochrechnung der bisher gezahlten Beiträge auf den Rest des Erwerbslebens (Zurechnungszeit). In den letzten Jahrzehnten waren viele Renten niedrig. Der Gesetzgeber hat nun nachgebessert. Besteht kein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente oder reicht diese nicht zum Existenzminimum, so kann Grundsicherung bei dauerhafter Erwerbsminderung vom Sozialamt beansprucht werden. Diese hat die gleichen Regelsätze wie die Grundsicherung für Arbeitssuchende (Bürgergeld), unterscheidet sich jedoch in der Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Bei Arbeitsunfällen (Verletztenrente), für Kriegs- und Verbrechensopfer und während einer Rehabilitation gibt es andere, teils höhere Sozialleistungen. Behinderungsbedingte Mehrbelastungen werden bei Menschen, die Steuern zahlen, durch Steuerfreibeträge berücksichtigt, die vom GdB abhängen.

5. Soziale Teilhabe und Wohnen

Für Menschen mit Behinderungen, die für ihre soziale Teilhabe und das Wohnen auf Unterstützung angewiesen sind, soll selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde außerhalb von besonderen Wohnformen (Heimen) möglich werden. Um die bisherigen Einrichtungen in diesem Sinne zu transformieren, wurde durch das Bundesteilhabegesetz die Unterstützung zum Wohnen (Kosten der Unterkunft) von den Fachleistungen (Assistenz) getrennt. Die Kosten der Unterkunft trägt, wenn erforderlich, die Sozialhilfe, für die Leistungen zur sozialen Teilhabe wie Assistenz ist die Eingliederungshilfe zuständig. Beide Träger sind bei den Städten und Kreisen oder bei Kommunalverbänden (z.B. Landschaftsverbände) angesiedelt. Es soll in einem längeren Transformationsprozess erreicht werden, dass mehr Menschen mit Behinderungen Unterstützung außerhalb von besonderen Wohnformen ambulant erhalten können. In besonderen Wohnformen gelten besondere Verbraucherschutzgesetze und Aufsichtsgesetze.

6. Mobilität

Menschen, die in der Mobilität beeinträchtigt sind, haben Ansprüche auf Freifahrt im öffentlichen Nahverkehr, zum Teil auf Mitnahme von Begleitpersonen, Nutzung von Behindertenparkplätzen sowie auf Hilfsmittel wie Prothesen und Rollstühle. Weitergehende Hilfen, einschließlich Zuschüsse zur Anschaffung und dem Umbau von Autos, werden geleistet, wenn sie zur Fahrt zur Arbeit erforderlich sind. Barrierefreiheit und Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel sind noch nicht hinreichend umgesetzt.

7. Langzeitpflege

Die soziale Pflegeversicherung und die Hilfe zur Pflege stehen außerhalb des im SGB IX koordinierten Behindertenrechts. Sie sind jedoch sehr wichtig für Menschen mit Behinderungen. Bei anhaltender Pflegebedürftigkeit werden von der Pflegeversicherung Leistungen in Pflegeheimen und durch ambulante Pflegedienste übernommen oder es wird bei selbst sichergestellter Pflege Pflegegeld gezahlt. Diese Leistungen sind jedoch nicht kostendeckend. Bei Bedürftigkeit kommt ergänzend die Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe auf. In besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderungen übernimmt die Pflegeversicherung nur einen geringeren Teil der pflegebedingten Aufwendungen.

8. Kinder mit Behinderungen

Für die Leistungen zur sozialen Teilhabe und Teilhabe an Bildung für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen sind die Träger der Eingliederungshilfe zuständig, für die Leistungen für Kinder mit seelischen Behinderungen die Träger der Kinder- und Jugendhilfe. In Sozialpädiatrischen Zentren und Interdisziplinären Frühförderstellen arbeiten Medizin und Heilpädagogik zusammen. Diese Leistungen der Früherkennung und Frühförderung werden gemeinsam von Krankenkassen und Eingliederungshilfe finanziert. Für die stationäre Kinderrehabilitation ist die Rentenversicherung zuständig, für Rehabilitation von Müttern und Vätern und gemeinsame Rehabilitation von Eltern und Kindern die Krankenkasse. Es ist geplant, dass die Zuständigkeit für Leistungen der sozialen Teilhabe und Teilhabe an Bildung bis 2028 bei den Jugendämtern zusammengeführt wird. Diese sind auch heute schon dafür zuständig, dass Kindertageseinrichtungen inklusiv und barrierefrei verfügbar sind.

9. Teilhabe an Bildung

Die primäre Verantwortung für die Teilhabe an Bildung von Menschen mit Behinderungen liegt bei den Bildungseinrichtungen und in der Bildungspolitik. Allerdings werden notwendige unterstützende Leistungen zur Teilhabe an Bildung, z.B. Schulbegleitung, durch die Träger der Eingliederungshilfe und der Jugendhilfe finanziert. Das gilt auch für die Unterstützung eines Studiums mit Behinderung, wobei bei berufsqualifizierenden Studiengängen auch die Bundesagentur zuständig sein kann.

10. Teilhabe am Arbeitsleben

Alle Betriebe, die mindestens 20 Arbeitsplätze haben, sind verpflichtet, mindestens 5 % schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Tun sie das nicht, müssen sie Ausgleichsabgabe bezahlen. Aus dieser Abgabe werden insbesondere Leistungen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben der Integrationsämter finanziert, um die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu erleichtern. Schwerbehinderte Menschen haben besonders konkretisierte Rechte auf behinderungsbedingte Beschäftigung, besonderen Kündigungsschutz, über den die Integrationsämter wachen, sowie mit der Schwerbehindertenvertretung eine spezifische betriebliche Interessenvertretung. Behinderte Menschen, die nicht als schwerbehindert anerkannt sind, werden durch das AGG – noch nicht genug – vor Diskriminierung im Arbeitsleben geschützt.

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) werden hauptsächlich in Zuständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung für Personen erbracht, die bereits im Arbeitsleben stehen. Für andere und für die Berufsausbildung ist vor allem die Bundesagentur für Arbeit (BA) zuständig. Dies gilt auch für Personen, die Bürgergeld erhalten. Hier ist die BA der Rehabilitationsträger für das Jobcenter. LTA können Leistungen wie Ausbildung und Weiterbildung in Berufsbildungswerken und Berufsförderungswerken und im Betrieb erforderliche Eingliederungszuschüsse, Hilfsmittel, technische Arbeitshilfen oder Mobilitätshilfen sein.

Für Menschen, die keine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden können, sind die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) als Arbeitsstätten und Teilhabeeinrichtungen vorgesehen. Hier arbeiten aktuell mehr als 300.000 Menschen. Einen Schritt näher am allgemeinen Arbeitsmarkt sind Inklusionsbetriebe. Der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt dienen auch Integrationsfachdienste und Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber, die von den Integrationsämtern finanziert werden. Die WfbM sind umstritten, da sie eine abgeschlossene Arbeitswelt darstellen. Verbände und der Fachausschuss der Vereinten Nationen fordern einen Übergang von der geschützten zur unterstützten Beschäftigung. Kritisiert wird auch, dass aktuell in den WfbM kein Mindestlohn gilt, sondern die Beschäftigten nur mit ergänzender Grundsicherung oder Erwerbsminderungsrente das Existenzminimum erreichen. Immerhin vermittelt die Beschäftigung in WfbM den Schutz der Krankenversicherung, Rentenversicherung und Unfallversicherung, allerdings nicht der Arbeitslosenversicherung. Eine Alternative zur WfbM soll das Budget für Arbeit darstellen, ein Lohnkostenzuschuss der Eingliederungshilfe für Menschen des gleichen Personenkreises, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden.

11. Medizinische Rehabilitation und Krankenbehandlung

Der Rehabilitation zum Ausgleich, zur Minderung und Prävention von Behinderung dienen Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Sie werden in Deutschland traditionell vor allem in stationären Einrichtungen in Kurorten erbracht. Ambulante und betriebsnahe Formen gewinnen an Bedeutung. Wichtigster Träger der medizinischen Rehabilitation ist die Rentenversicherung für Erwerbstätige, zuständig sind außerdem die Krankenkassen, die Unfallversicherung und die Versorgungsämter. Die Medizinische Rehabilitation kann mit einer stufenweisen Wiedereingliederung verbunden werden, mit der Menschen an den Arbeitsplatz zurückgebracht werden sollen. Zur medizinischen Rehabilitation gehören auch die meisten Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich. Wichtig für den Erfolg der medizinischen Rehabilitation ist auch eine länger anhaltende Nachsorge und oft die organisierte Selbsthilfe. Selbsthilfegruppen und Organisationen werden von den Rehabilitationsträgern unterstützt.

Für Menschen mit Behinderungen ist auch eine an die Behinderung angepasste barrierefreie Krankenbehandlung notwendig. Dazu sind die Krankenkassen und Leistungserbringer dem Grunde nach verpflichtet, es gibt jedoch noch erhebliche Defizite. Für eine spezialisierte Versorgung sind insbesondere die Sozialpädiatrischen Zentren und die Medizinischen Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung (MZEB) eingerichtet.

12. Ausblick

Die Weiterentwicklung von Sozialpolitik und Sozialrecht für Menschen mit Behinderungen ist eine dauernde Aufgabe, die im Lichte der UN-BRK und des gesellschaftlichen Wandels erhebliche Transformationen von Sondereinrichtungen und eine wachsende Inklusivität des Arbeitsmarkts und des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen fordert. Die Beteiligung der Menschen mit Behinderungen durch ihre Interessenvertretungen und Verbände ist dabei wichtig.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Felix Welti (*1967) leitet seit 2010 das Fachgebiet Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung der Universität Kassel und ist Sprecher des Forschungsverbunds Sozialrecht und Sozialpolitik (FoSS). Er ist ehrenamtlicher Richter am Bundessozialgericht (BSG).