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Das Deutschlandbild der Franzosen | APuZ 41/1954 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 41/1954 Das Deutschlandbild der Franzosen Getarnte Sowjetpropaganda Das Vermächtnis des 20. Juli 1944

Das Deutschlandbild der Franzosen

Joseph Folliet

Mit Genehmigung des Verlages entnehmen wir der Zeitschrift im Dienst übernationaler Zusammenarbeit . „DOKUMENTE", August 1954, 4. Heft, den folgenden Artikel von Joseph Folliet:

Michel und Jacques Bonhomme sind Nachbarn. Ihre Nachbarschaftsstreitigkeiten, ihr Gezänk und ihre Schlägereien erfüllen die zeitgenössische Geschichte mit Lärm und Getöse.

Es fehlt bei aller Streitlust nicht am Willen zum verständigen Gespräch. Aber das scheint wahrlich ein Gespräch zwischen Tauben zu sein. Wenn Michel, manchmal mit etwas dick aufgetragenem Wohlwollen, seine Annäherungsversuche macht, hat Jacques Bonhomme die Ohren verstopft oder stopft sie sich zu. Wenn Jacques, gelegentlich mit etwas übertriebener Beredtsamkeit versöhnliche Absichten äußert, wendet Michel seine Aufmerksamkeit anderswohin. Die Szene wäre komisch, eine regelrechte Zirkus-szene, wenn sie nicht schon so oft tragisch geendet und die Arena mit Blut — dem Blut von Michel und dem Blut von Jacques — befleckt hätte.

Man könnte die deutsch-französischen Beziehungen auch mit einem Streit von Verliebten vergleichen, wo Ärger, Eitelkeiten und Empfindlichkeiten zum Bruch zwischen zwei Wesen führen, die allen Grund hätten, einander zu verstehen: einer jener absurden und sinnlosen Streitereien, die niemand begreift, am Ende die

Verliebten selbst nicht, die sich plötzlich wütend in den Haaren liegen. Die Liebeserklärungen kommen vor allem von Deutschland, das — ewige Lockung des Südens für den Norden! — Frankreich mehr zugewandt ist als Frankreich einem Deutschland, das es kaum kennt. Ein Gedicht Heinrich Heines besingt die Liebe einer nordischen Fichte zu einer Palme. Die Palme beachtet die Fichte nicht. Wenn Deutschland Frankreich seine Liebe erklärt, wird dieses mißtrauisch. Es denkt an den Vers in Carmen: „Wenn du mich auch nicht liebst, ich liebe dich, und wenn ich dich liebe, dann sieh dich vor!" Freilich gibt es auch Stunden, in denen Frankreich sich Deutschland zuwendet; aber wenn es sich schon dazu entschließt, dann sehmollt Deutschland und sucht sich andere Partner.

Woher kommt diese ständige Kluft zwischen Deutschen und Franzosen? Sie hat zahlreiche Gründe, aber der wichtigste sind die Vorstellungen, welche die Mehrheit der Franzosen sich von Deutschland macht. Diese Vorstellungen, diese Kollektivurteile und Kollektivgefühle, die daraus erwachsenden Komplexe und zwangsläufigen Reaktionen will ich hier zu analysieren versuchen.

Abstraktionen von der Wirklichkeit

INHALT DIESER BEILAGE: Joseph Folliet: Das Deutschlandbild der Franzosen Roland Klaus: Getarnte Sowjetpropaganda Graf Yorck von Wartenburg: (S. 532) Das Vermächtnis des 20. Juli 1944 (S'. 538)

Man wird in der französischen Einstellung natürlich Unterschiede zu machen haben. Es gibt Franzosen, die Deutschland auf Grund persönlicher Kontakte, und solche, die es nur durch die unpersönlichen Eindrücke der Kriegs-und Besatzungszeit kennen. Die letzteren bilden die Mehrheit, vor allem unter den älteren Bevölkerungsschichten, die noch der Epoche angehören, wo der Franzose wenig reiste und nicht viel auf das Studium fremder Sprachen gab. Für diese Art von Geistern ist Deutschland eine Fläche auf der Landkarte und eine unverständliche, bedrohliche Abstraktion. Die Zufälle des Krieges haben — ein unerwarteter Segen! — ihre Zahl verringert; viele ehemalige Gefangene, Zwangsarbeiter und Besatzungssoldaten kennen heute, wenn auch nicht Deutschland, so doch Deutsche: sie sind vom Abstrakten zum Konkreten gelangt.

Bei der Minderheit von Franzosen, die eine persönliche Kenntnis von Deutschland besitzen, trifft man auf alle Grade und Arten der Kenntnis, angefangen von der des Geschäftsmannes und . Nachrichtenoffiziers bis zu der des Berufs-germanisten und pazifistischen Veterans. Das bedeutet, daß viele dieser Franzosen an Deutschland mit einer vorgefaßten Hypothese herangehen, die sie durch ihre Erfahrungen zu verifizieren suchen. Diese Hypothese ist aber nichts anderes als die Summe der Kollektivvorstellungen von Menschen, die Deutschland nur als politische Größe kennen. Ein Historiker wie Jacques Bainville zum Beispiel wußte etwas über Deutschland, er hat sogar versucht, es zu'verstehen; aber er kannte und verstand es nur unter dem Blickwinkel des Nationalismus, zu dessen hervorragendsten Vertretern in der Action Francaise er selbst gehörte. Maurice Barrs hat — obwohl Nationalist — besser gesehen und besser verstanden; aber seine Vorurteile engten seinen Horizont ein und verfälschten seine Schlußfolgerungen. Wie die Nationalisten, so haben auch viele französische Pazifisten nicht die deutsche Wirklichkeit erfaßt: das Deutschland, mit dem sie eine Annäherung suchten, war auch für sie nur eine mehr oder weniger cartesianische Abstraktion, ein Glied in ihrem politischen System. „Sind die Deutschen nicht Menschen wie wir?“, proklamieren sie unaufhörlich. Damit war die eigentliche Frage verfehlt. Nur ein xenophober Chauvinismus oder Rassismus konnte leugnen, daß die Deutschen genau so Menschen seien wie wir. Worauf es ankam, war die Frage, ob der deutsche Mensch w i e der französische, dem französischen Menschen ähnlich, oder ob er, wenngleich ebenso menschlich, nicht eben a n -ders sei: die andersartige Verwirklichung eines gemeinsamen Wesens. Es genügt der ge-ringste psychologische Umschwung, die leichteste Enttäuschung, und schon gehen die Freunde Deutschlands von pazifistischen zu nationalistischen Abstraktionen über. Wir haben das 1914 (man denke an den typischen Fall Gustav Herve) und 1940 sattsam erlebt.

Kollaboration und Resistance

Hier wäre ein interessanter Exkurs über die Psychologie der Kollaborateure am Platze, die während der Besetzung mehr oder weniger aktiv und direkt für den Sieg Hitlers arbeiteten. Einige von ihnen waren „Germanophile“, die Deutschland kannten Und liebten, es aber nicht von seinem augenblicklichen Regime auseinanderzuhalten vermochten. Sie bildeten nur eine winzige Minderheit. Die meisten der Franzosen, die wirklich die Seele Deutschlands liebten, optierten für die Resistance, überzeugt, daß sie damit Deutschland von seinen bösen Geistern befreien und vor der Todsünde bewahren könnten. Andere Kollaborateure kamen vom Pazifismus her; sie integrierten die Abstraktion Deutschland in ein Gebäude von Abstraktionen, dessen Krönung die Abstraktion Friede war. Aber die meisten Kollaborateure — und unter ihnen einige der dümmsten und niedrigsten Lakaien — kamen aus den sogenannten „nationalen" Kreisen: sie haßten Deutschland, dessen Sieg sie gleichwohl wünschten. Sie waren bereit, ihrer Liebe zu der Abstraktion Ordnung, die der Nazismus für sie verkörperte, ihren Haß auf die Abstraktion Deutschland zu opfern.

Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, daß in bestimmten Augenblicken die Vorstellungen der wenigen, die Deutschland kennen, von den Kollektivvorstellungen derer, die es nicht kennen, überwältigt werden. Es gibt sogar Umstände, wo der Franzose, der Deutschland kennt und es mit Sympathie betrachtet, sich alle Mühe geben muß, seine Begriffe, seine Erinnerungen und seine Erfahrungen von den allgemeinen Vorstellungen freizuhalten. Das war, wie ich gestehen muß, bei mir persönlich während der Gefangenschaft und der Resistance der Fall. Als die Leichen zweier Freunde aus der Resistance von den Henkern der Sicherheitspolizei in Lyon öffentlich zur Schau gestellt wurden, konnte ich nur mit Hilfe einer ungewöhnlichen und sehr schmerzlichen geistigen Gymnastik und Askese dieser Versuchung widerstehen.

Enttäuschungen

Den Kollektivvorstellungen liegt eine Enttäuschung zugrunde: die Enttäuschung des neunzehnten Jahrhunderts. Das Frankreich der Romantik, einer Madame de Stael, eines Viktor Hugo, das Frankreich des Positivismus und Renans hat Deutschland geliebt — ein im übrigen irreales oder mindestens unvollständiges Deutschland: das Land der alten Burgen, der Legenden und der Einfalt, später das Land der Wissenschaft, der Kritik und der Intelligenz. Es liebte die „guten Deutschen“, wie Balzacs Roman VETTER PONS sie schildert: einfach, dienst-fertig und umgänglich, voller Gutmütigkeit Und „Gemütlichkeit“; es liebte die schönen deutschen Frauen mit den blonden Locken und sanften blauen Augen, wie Werthers Lotte. Der Krieg von 1870 brachte ein brutales Erwachen; die Niederlage demütigte den gallischen Stolz; die Annektierung von Elsaß-Lothringen — einer der größten Fehler Bismarcks vor der Geschichte und letztlich auch vor dem Deutschen Reich, dem er dienen wollte — riß zwischen Deutschland und Frankreich eine unüberbrückbare Kluft auf. Die Idee der „Revanche" sollte von nun an das französische Bewußtsein verfolgen und die Politik Frankreichs bestimmen. Sie spricht aus den Versen des Nationalisten Paul Droulde: „Denn wir werden uns als Sieger mit gerechtem Herzen erweisen, und wir werden nur zurückholen, was uns genommen wurde“.

Der Mythos vom guten Deutschland wurde durch den Mythos von der „Raubnation“ abgelöst; das Bild des guten Deutschen, der vor einem Krug schäumenden Bieres seine Meerschaumpfeife raucht, von dem Bild des „Sauerkrautessers“ und des „Uhrendiebes".

Aber um die Jahrhundertwende schaut trotz des Grolls der Volksseele und trotz der Triumphe des Nationalismus ein großer Teil des französischen Volkes mit Sympathie auf Deutschland: die französische „Linke“. Sie lehnt den Nationalismus der Rechten ab, verteidigt Dreyfus, ist pazifistisch und sozial-fortschrittlich; zu ihr gehören viele sozialistische Arbeiter und von germanischer Kultur beeindruckte Akademiker, die Kreise um Jaures und Gustave Lanson. Für sie ist Deutschland das Land der großen und schönen Universitäten, der historischen Kritik, der Kantschen Philosophie, der Wagnerschen Musik, des bayrischen Bieres, der mächtigen Industrie und der Sozialdemokratie. Der Krieg von 1914 zerstörte ihren Traum. Manche „bekehren“ sich, desillusioniert, endgültig, zu den Theorien eines antipreußischen und antideutschen Nationalismus.

Und wieder dreht sich das Rad. Nach 1919 erleben wir eine deutsch-französische Annäherung, als deren vornehmster Repräsentant in Frankreich ohne Frage Marc Sangnier zu gelten hat. Die ehemaligen Kriegsteilnehmer, die paradoxerweise einander durch die gemeinsamen Leiden nähergekommen waren, und die junge Generation mit ihrem Ruf „Nie wieder Krieg!“ begegnen sich. Briand und Stresemann tauschen Versprechungen und Höflichkeiten aus. Locarno, Thoiry: Flitterwochen mit dem Duft blühenden Flieders. Dann kommt der Aufstieg Hitlers, die Vorbereitung des Krieges und schließlich die Katastrophe, Besetzung, Resistance. Gewisse Franzosen, die gestern noch aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigert hatten — ich könnte einige sehr bekannte Namen nennen — werden Kollaborateure oder, das Gegenteil, erbitterte Widerstandskämpfer. Andere, die gestern noch zu einem Einvernehmen „sogar mit Hitler“ bereit waren, werden „Deutschenfresser". So groß ist die Macht der Enttäuschung und der von ihr erzeugten Ressentiments! . . .

Antigermanische Mythen

Von solchen Ressentiments kommt es im Kollektivbewußtsein schließlich zur Bildung von Mythen und Komplexen, um mit der Sprache der Psychiater zu reden.

Von 1870 bis 1940 hat Frankreich drei deut-sehe Invasionen erlebt. Der reine Politiker findet in dieser Tatsache hinreichenden Anlaß zu bitteren Überlegungen. Die Phantasie des Volkes begnügt sich nicht mit diesen unangenehmen Erfahrungen. Sie „fabuliert“, unterstützt von einer großen Zahl von Intellektuellen und im besonderen von Historikern. Der Deutsche wird der Erbfeind, der seit der Entstehung unseres Vaterlandes Frankreich auslöschen möchte. Man rekonstruiert die ganze Geschichte in diesem Sinne und wirft heterogene Dinge wie das moderne Deutschland und das Preußen Friedrichs II. in einen Topf, wobei man den Imperialismus Ludwigs XIV. und Napoleons, den Dreißigjährigen Krieg und die Zerstörung der Pfalz geflissentlich vergißt, nicht aber selbst noch Ariovist, die Cimbern und Teutonen auszugraben . . . Mit einer solchen Geschichtsauffassung kann die französische Politik nur eine ständige Verteidigung gegen Deutschland sein mit zwei Hauptzielen: der Besetzung des Vorfeldes am Rhein durch französische Truppen und der Rückkehr zum Europa des Westfälischen Friedens.

So stellt sich der französische Nationalismus wesentlich als Antigermanismus dar. Man kann sich fragen — das ist kein Paradox —, ob es jemals einen echten französischen Nationalismus außerhalb der Epoche gegeben hat, in der er gelebt und nicht reflex war: zu den Zeiten Ludwigs XIV., der Französischen Revolution und Napoleons. Der reflexe und doktrinäre Nationalismus der Action Francaise hat sich weitgehend im Gegensatz und als Ablehnung des Germanismus herausgebildet. Er ist mehr das Ergebnis der Enttäuschung, des Ressentiments und der Angst als einer logischen und zusammenhängenden Überlegung. Er ist mehr antigermanisch als französisch.

Das erklärt die ständige Versuchung für eine Partei oder einen Politiker, die Franzosen um den Antigermanismus zu sammeln, so wie Hitler die Deutschen um den Antisemitismus gesammelt hat. Das macht Eindrude und lohnt sich immer. Die Kommunisten, die dieses rentable Verfahren bei den geschwächten „Nationalen" entliehen haben, wissen das sehr wohl. Lind diejenigen „Nationalen", welche die öffentliche Meinung zurückerobern wollen, wissen es ebenfalls. Man braucht nur zu hören, wie. sie mit den Kommunisten zusammen loslegen, wenn es sich zum Beispiel um die-EVG handelt — während sie andererseits den „Sozialen" die schlimmsten Vorhaltungen machen, sobald deren Forderungen nur die geringste Ähnlichkeit mit den Zielen der kommunistischen Gewerkschaften aufweisen. Dieses politische Spiel, bei dem Parteien und Tendenzen versuchen, das Wahlinstrument des Antigermanismus an sich zu reißen, kompliziert ohne Frage die französische Situation gegenüber Deutschland. Abwechselnd werfen die Rechte und die Linke einander vor, das Spiel Deutschlands zu betreiben und durch ihre ideologische Mittäterschaft den nächsten Krieg und die nächste Invasion vorzubereiten, die man geradezu als unvermeidliche Naturkatastrophen zu betrachten scheint. Lind so erhalten die Gefühle, die sie benutzen und mißbrauchen, natürlich stets neue Nahrung.

Mißtrauen und Angst

Ist damit gesagt, daß der Durchschnittsfranzose Deutschland haßt? Nein. Er will nichts lieber, als im Frieden mit Deutschland leben. Er hat Angst vor ihm, aber das ist etwas anderes.

Er hat kein Vertrauen zu ihm. Er mißtraut seinem Imperialismus, seinem Willen zur Macht -und seiner sogenannten Dynamik. Diese Dynamik erscheint der französischen Kritik als eine kraftvolle Fähigkeit, zu vergessen, und als eine außerordentliche Begabung, mit jenem guten Gewissen, das die Gewissenslosigkeit verleiht, von einem Extrem ins andere zu fallen. Ich frage alle loyalen und nachdenklichen Deutschen: hat der Durchschnittsfranzose so ganz unrecht nach der Erfahrung von drei Invasionen und vor allem nach der letzten, der Hitlerschen?

Sein Mißtrauen ist wahrscheinlich übertrieben.

Es lähmt ihn geradezu, wie der Schrecken lähmt.

Die Angst vor Deutschland bewirkt, daß Frankreich keine realistische und vernünftige Deutschlandpolitik zustande bringt, die sich nicht auf das Deutschland von gestern oder übermorgen, sondern auf das von heute gründet. Aber sie fasziniert es auch und macht es blind für aktuellere und drohendere Gefahren, etwa die des Verschlungenwerdens vom Kommunismus oder der Aushöhlung durch den „American way of life“ — welche Parallele übrigens nicht bedeutet, daß ich beide Gefahren auf die gleiche Ebene stellen möchte.

So spricht die politische Vernunft. Aber das Gefühl, das ich analysiere, liegt diesseits der Vernunft; es wurzelt im LInterbewußtsein, in einer innersten Erfahrung. Es erklärt zu einem guten Teil das Zaudern und die Unsicherheit der Franzosen gegenüber der EVG. Die Franzosen fürchten eine neue deutsche Armee. Manche halten es für möglich, daß das wiederbewaffnete Deutschland Europa in einen Krieg gegen die Sowjetunion verwickeln könnte; andere haben, im Gegenteil, Angst vor einem neuen Rapallo und einem Bündnis der neuen Wehrmacht mit der Roten Armee. Die Frage ist: Wird die EVG die alte deutsche Armee wiederaufstehen lassen? Manche Franzosen bestreiten das, andere sind davon überzeugt. Das ist im Grunde die ganze Debatte — abgesehen von den Kommunisten, deren Entscheidung von vornherein feststand, die aber selbstverständlich gern Oel ins Feuer gießen und die Brandfackel des Antigermanismus schwingen.

Komplexe

Angst, Mißtrauen und Unsicherheit erzeugen Komplexe in der französischen Psyche.

Auch der Durchschnittsdeutsche hat gegenüber den Franzosen gewisse Minderwertigkeitskomplexe, vor allem den „Barbarenkomplex“, wie ich ihn nennen möchte. Er fürchtet stets, daß der Franzose ihn für einen Barbaren hält. „Sehen Sie, wir sind doch keine Barbaren“, sagten die Sonderführer unserer Gefangenenlager, wenn sie uns irgendwie entgegenkamen. Wir antworteten darauf, nicht ohne eine gewisse Bosheit: „Wer hat Ihnen denn je gesagt, daß Sie Barbaren sind?“.

Aber was die Komplexe angeht, steht der Franzose dem Deutschen nicht nach. Seine Minderwertigkeitskomplexe äußern sich in einer kritiklosen Bewunderung für gewisse Eigenschaften, die er im Deutschen ausgeprägt sieht oder die er ihm zuschreibt. „Was Organisation und Disziplin betrifft, können wir uns nicht mit diesen Leuten messen!" — Deutschland ist stark und tüchtig, der Deutsche fleißig, gewissenhaft, arbeitsam, diszipliniert . . . Na ja, w i r haben als Kriegsgefangene die Bürokratie und den Papierkrieg in den Lagern kennengelernt, wir verdanken als Widerstandskämpfer unser Leben oft nur der übertriebenen Organisation der deutschen Polizei und einer zuweilen schönen administrativen Unordnung: w i r urteilen nuancierter. Aber wir sind nicht das ganze Frankreich.

Die naive Bewunderung führt zum Mißtrauen. „Mit diesen Leuten ist nichts zu machen; sie werden uns immer übers Ohr hauen; sie sind stärker als wir . . . Gegen sie hilft nur ein Mittel: die Gewalt ... Ja, aber sie sind zahlreicher, besser organisiert, besser ausgerüstet . . .“ Also? --------Bleibt nur eine Gebärde der Ohnmacht und der Resignation. Frankreich wird immer das Opfer Deutschlands sein. Es bleibt ihm nur, sich so gut wie möglich oder so wenig schlecht wie möglich zu verteidigen. Also keine EVG, denn „sie“ werden sie nur benutzen, um uns hereinzulegen. Schließlich würde man, denken manche, bei einer echten Wehrmacht klarer sehen . . .

Natürlich sind die Minderwertigkeitskomplexe schmerzlich. Man kann sich nur mit Hilfe von Überwertigkeitskomplexen davon befreien. Wenn Frankreich ständig von Deutschland hereingelegt wird, dann liegt das an seinen eigenen, den angeborenen guten Eigenschaften: an seinem übergroßen Vertrauen, an seiner Uneigennützig-keit, an seiner Fähigkeit, zu verzeihen. Frankreich, die edelmütige und idealistische Nation, im Gegensatz zur „Raubnation". Wenn Frankreich schlechter organisiert und weniger mächtig ist als Deutschland, so deshalb, weil es weniger materiellen Wirklichkeiten größere Bedeutung beimißt: der Kultur, der Kunst zu leben, angenehm zu leben. Die Deutschen verstehen nicht zu leben. Um das zu erkennen, braucht man nur ihre Küche zu kosten. Leute, die Kaninchen kochen und Kartoffelbrei mit Apfelmus mischen! . . . Noch einmal gesagt: in diesen unnuancierten Urteilen, in diesen Verallgemeinerungen und Abstraktionen verbindet sich Wahres mit Falschem.

Jacques fürchtet sich vor Michel. Jacques verachtet Michel. Furcht und Verachtung sind nur die zwei Seiten ein und desselben Gefühls.

Temperament, Tradition

Zu den Kollektivvorstellungen kommen die wirklichen Unterschiede der Temperamente und Traditionen. Das Vaterland ist für den Franzosen, den Menschen der genauen Grenzen, der Meilensteine und quadratischen Wiesen, vor allem ein geographischer, bodengebundener Begriff — für den Deutschen, den Menschen der großen Räume und der „Gemeinschaft“, vor allem ein linguistischer. Dieser unterschiedliche Vaterlandsbegriff erklärt viele deutsch-französische Mißverständnisse, im besonderen das Mißverständnis über das Elsaß und das Mißverständnis zwischen Deutschen und Elsässern. Der Elsässer bleibt dem territorialen Vaterland Frankreich und dem linguistischen Vaterland Deutschland treu. Weder die eigentlichen Franzosen noch die Deutschen verstehen diese widerspruchsvolle und geteilte Treue.

Und dann die Formen des Denkens. Das französische Denken ist gern abstrakt und theoretisch; aber ein richtiges Gefühl für die Dinge der Erde bewahrt es vor den Übertreibungen der Abstraktion. Es hat, analytisch und juridisch, eine Schwäche für Klarheit, für Präzision und für scharfe, lichtvolle Pointen. Das deutsche Denken, ebenfalls abstrakt, wird leicht idealistisch, ja solipsistisch; es verfolgt eine Theorie oder Abstraktion bis zum Ende, um dann mit plötzlicher Brutalität wieder umzukehren; es ist dynamisch, musikalisch, polyphonisch: das genaue Gegenteil von juridisch und gesetzmäßig.

Die Trägheit der öffentlichen Meinung

Diese Kollektivvorstellungen, diese Unterschiede des Denkens sind die letzte Ursache für die Kluft, von der wir am Anfang dieses Artikels sprachen.

Gegenüber der pazifistischen und harmlosen Weimarer Republik blieb die Mehrheit der Franzosen ebenso mißtrauisch wie gegenüber dem Deutschland Wilhelms II., dem Deutschland des „trockenen Pulvers“ und des „frisch-fröhlichen Krieges“. Der offizielle Pazifismus, der Flirt Briand-Stresemann, beeindruckte die öffentliche

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jacques Bonhomme ist der Spitzname für den Durchschnittsfranzosen, wie Michel für den Durchschnittsdeutschen. 1358 gebrauchten ihn die Adeligen zur Bezeichnung der aufständischen französischen Bauern.

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