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Kultur und Politik | APuZ 51/1960 | bpb.de

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APuZ 51/1960 Kultur und Politik Das Gesicht unseres Jahrhunderts -heute Wort aus Berlin

Kultur und Politik

Pietro Quaroni

Festvortrag aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens des Deutschen Akademischen Austauschdienstes am 26. November 1960 in Bonn.

Alexander der Große und Attila haben in wenigen Jahren ein enormes Kaiserreich erobert. Keines der beiden Reiche hat jedoch, wenigstens in seiner einheitlichen Form, seine Begründer lange überdauert. Aber neben der makedonischen Phalanx von Alexander dem Großen marschierte die hellenische Kultur. Und es ist diese Kultur, die den Eroberungen Alexanders des Großen einen jahrhundertelangen Bestand gegeben hat. Im 5. Jahrhundert sind die Weißen Hunnen, die Hephtaliten der Byzantiner, durch Zentralasien in das heutige Afghanistan und Nordindien eingedrungen. Ihre Sprache ist nie geschrieben worden. Um sie in die Schrift umzusetzen, haben sie eine korrupte griechische Schrift angenommen, trotz ihrer Verstümmelung aber klar erkennbar. Es war mehr als 400 Jahre her, daß aus Baktrien, dem Afghanistan von heute, der letzte König griechischer Herkunft verschwunden war: die griechische Schrift aber lebte noch weiter.

Attila hat mit seinen Reitern keine Kultur mitgebracht. Sein Kaiserreich ist verschwunden ohne kaum andere Spuren als Zerstörungen zu hinterlassen. So gänzlich verschwunden, daß es noch heutzutage nicht leicht ist, festzustellen, wo die Grenzen, besonders die östlichen Grenzen seines Reiches gewesen sind.

Das bedeutet, daß das Schwert wohl erobern kann, immer und auch sehr viel; aber es ist nur die Kultur, die den Eroberungen des Schwertes einen bleibenden Bestand geben kann.

Das Schwert ist auch Politik; nicht jede Politik aber ist Schwert.

Schon vor tausend Jahren hat man Konfuzius gefragt, was er als erstes tun würde, sollte er Premierminister eines Königreiches werden: „Ordnung unter den Wörtern schaffen" — war seine Antwort. Ich bin kein Konfuzius, aber ich bin auch der Meinung, daß es doch nötig ist, vorerst wenigstens zu erklären versuchen, was ich meine, wenn ich von Kultur oder Politik spreche. Wir leben in einer Epoche, wo man, wie zur Zeit Konfuzius'-, demselben Wort verschiedene, auch gegensätzliche, Deutungen geben kann. Unordnung — würde Konfuzius sagen. Zweifellos Unordnung, aber diese Unordnung ist da, und sie macht es uns nicht leichter.

Kultur zu definieren ist nicht einfach. Meiner Meinung nach ist Kultur nicht etwas Vereinzeltes — ein Bild, eine Dichtung, eine Philosophie allein ist roch keine Kultur: Kultur ist ein Ganzes, das das Leben des einzelnen und das der Gesellschaft umfaßt. Kultur ist so wie eine alles umgebende Atmosphäre, die eine Gesellschaft von oben bis unten erfaßt, die eine geistige, tiefe Einheit gibt und einen gewissen Menschentypus erzeugen kann; einen Typus, den man leicht zu definieren und klar zu erkennen vermag. Wenn mir von jemanden der Renaissance oder des Hellenismus sprechen, so wissen wir, wovon die Rede ist.

Politik ist die Kunst des Regierens. Ich habe absichtlich Kunst gesagt, denn dies ist für uns ein gründlicher Gegensatz zum Kommunismus. Für den Kommunisten ist Politik, auf Grund einer exakten Analyse der Dialektik, keine Kunst sondern Wissenschaft. Wie alle Wissenshaften, so kann man auch Theorien oder Tatsahen bis zu einem gewissen Grad shleht interpretieren: aber Wissenshaft ist und bleibt es doh. Das ist ein wesentliher Unterschied; das erklärt die vershiedenartige Einstellung der Kommunisten und Nihtkommunisten der Politik gegenüber.

Politik ist innere Politik und äußere Politik. Innere Politik ist von Kultur niht zu trennen. Innere Politik heißt, daß die innere Ordnung der Gesellschaft und des Staates den Kulturerfordernissen der Epohe entsprehen muß. Wenn das niht der Fall ist, sind wir am Rande der Revolution.

Die äußere Politik ist niht so unbedingt mit der Kultur verbunden. Außenpolitik ist Ausdehnung, Expansion. Eine Außenpolitik kann nur auf kurze Zeit rein defensiv bleiben. Aber diese Expansion kann mit Kultur verbunden sein oder auh niht. Wohl ist eine Außenpolitik, die niht von einer Kultur unterstützt ist, denkbar — in der Geshihte ist es shon vorgekommen —, aber noh nie von Dauer gewesen, sie ist trotzdem auh äußere Politik. Eine Kulturexpansion oder Kultur-eroberung ist aber auh möglih ohne Waffen. Die hristlihe Religion, die niht nur eine Religion ist, sondern eine Kultur, hat eine ganze Welt erobert, ohne Waffen, weit über den Limes des Römishen Reihes hinaus. Man könnte auh hinzufügen, daß die dauerhaftesten Eroberungen ohne Waffen gemäht wurden: das Römishe Reih — Legion und Kultur — hat vier Jahrhunderte gedauert. Die Eroberungen der hristlihen Kultur dauern shon beinahe zwei Jahrtausende.

Ludwig der Vierzehnte hat versuht, Europa unter die französishe Herrshaft zu bringen. Es ist ihm niht gelungen: aber die französishe Kultur hat beinahe drei Jahrhunderte lang in Europa dominiert.

Gefahr der Erstarrung

INHALT DIESER BEILAGE Pietro Quaroni:

Kultur und Politik Frank Thiess:

Das Gesicht unseres Jahrhunderts — heute Julius Döpfner:

Wort aus Berlin

Wie steht es jetzt mit unserer Kultur? Es ist schon bezeichnend, daß man sich eine solche Frage stellen kann. Vor 60 Jahren hätte sich keiner gefragt, wie es mit der westlichen Kultur stehe, weder in der westlichen Welt noch in der übrigen Welt.

Oswald Spengler hat versucht, die Gesetze der inneren Entwicklung eines Kulturzyklus, vom Urvolk durch Kultur zur Zivilisation, festzustellen. Man könnte sagen, daß, nach Spengler, die Kulturperiode dann da ist, wenn die lebenden Kräfte des Urvolkes oder der Urrasse als Bannerträger einer gewissen geschichtlichen Form noch in Schwung und Entwicklung sind. Wenn die schöpferischen Quellen verarmen, und nichts Neues mehr erzeugt wird — nur noch horizontale Ausdehnung und Erstarrung —, dann ist das Zivilisation.

Die Spengler’sche Theorie ist zweifellos brillant, aber nicht ohne gewisse Vorbehalte: die Dinge in der Welt sind nicht so einfach und endgültig. Aber nehmen wir für einen Moment seine Theorie an über den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation. Haben wir noch Kultur oder haben wir schon Zivilisation? Ich glaube, es ist nicht leicht, mit ja oder nein zu antworten. Wir leben inmitten dieser Welt, und vieles können wir nicht sehen: erst die Geschichte wird sagen können, wie und was mit uns war. Etwas kann man, glaube ich, jedoch annehmen: unserer heutigen Kultur oder Kulturentwicklung mangelt es an Gleichgewicht. Vom technischen, wissenschaftlichen Standpunkt gesehen, kann man zweifellos sagen, daß die Entwicklung dieser letzten 50 Jahre die kühnsten Erwartungen weit übertroffen hat. Man braucht nur an die Erschließung einer neuen Welt durch die Atomphysik zu denken.

Kann man dasselbe über Kunst sagen? Ich werde hier nicht die Frage berühren, ob moderne Kunst, alte Kunst, abstrakte Kunst, nicht abstrakte Kunst. Eins möchte ich nur sagen: heuzutage ist die Kunst in allen ihren Erscheinungen — Malerei, Skulptur, Musik, Dichtung — volksfremd: man schafft nur für eine kleine, erlesene Sondergruppe von Eingeweihten. Das ist immer gefährlich. Wenn Giotto malte, waren Genie und Tat in vollem Einklang mit seinem Volk: er fühlte, dachte und reagierte wie seine Zeitgenossen: seine Kunst war ein Ereignis für alle, auch für die einfachsten Leute. Michelangelo war ein einsamer Titan: vom Volk nicht verstanden, vom Volk entfernt; er haßte das Volk; Liebe hat er nicht gefunden; aber das war schon das Ende der großen Kunstepoche Italiens.

Was kann man von unserer Staats-und Gesellschaftsform sagen? Ohne Zweifel kann man eine Gefahr der Erstarrung nicht verneinen; oder, wenn man es milder ausdrücken will, könnte man von einer den Erfordernissen unserer Epoche nicht immer gerecht werdenden Anpassung unserer Staats-und Gesellschaftsform sprechen. Die Technik hat unsere ganze soziale Struktur stark beeinflußt: die Technik hat das, was man die zweite industrielle Revolution nennt, herbeigeführt: die Massenproduktion. Die Massenprodukte haben allmählich das erzeugt, was Galbraight „the affluent Society“ nennt; andere nennen es „Konsumentengesellschaft". Wir vermögen die Tiefe dieser Revolution dort zu schätzen, wo sie sich, wie in Amerika und Deutschland, schon vollzogen hat, und noch mehr in Ländern, wie Frankreich und Italien, die mitten in der Übergangsperiode stecken. Die ökonomische Struktur paßt sich den Erfordernissen der Massenproduktion an: nicht immer ohne Widerstand; aber die Alternative ist doch Anpassung oder Eliminierung; die soziale Struktur kommt nicht überall im gleichen Tempo mit, aber sie folgt doch: wir können schon die Umrisse der Konsumenten-Gesellschaft sich abzeichnen sehen. Aber kann man sagen, daß unsere Staatsform, unser Staatsgedanke, sich den Erfordernissen dieser Gesellschaftsform im Werden angepaßt haben? Ich bin nicht sicher, daß man mit ja antworten könnte. Wenn der Schein nicht trügt, so wäre das ein ziemlich gefährlicher Zustand, dann wären wir vor der Gefahr einer Entartung der Essenz der Demokratie.

Demokratie, ihrer griechischen Wurzel nach, heißt regieren durch das Volk. Als solche ist sie sehr alt. Die Formen der Regierung durch das Volk sind mannigfaltig gewesen. Ohne Zustimmung der öffentlichen Meinung kann man nicht lange regieren: nur in Perioden, wo man von Öffentlichkeit ohne Meinung sprechen kann: aber das ist schon das Ende einer Zivilisation. Neu an unserer modernen Form der Demokratie, die wir wahrscheinlich die liberale, repräsentative Demokratie nennen können, ist, daß sie eine Form der Regierung, eine Form des Staatswesens ins Leben rufen will, die sich leicht und ständig den jeweiligen Umständen anpassen kann. Schumpeter hat gesagt, die Demokratie sei die Einführung des Wettbewerbs im politischen Leben. Jemand anders hat gesagt — und ich muß sägen, das gefällt mir besser — die Demokratie sei nicht ein Mittel, um an die Macht zu kommen, sondern ein Mittel, um leicht aus der Macht zu scheiden, ohne notwendigerweise dabei seinen Kopf zu riskieren.

Die liberale Form der Regierung ist ein Mittel, um zumindest verhältnismäßig leicht die erforderlichen Reformen ohne Revolution durchzusetzen. Reformen sind immer nötig, es gibt keine perfekte Staats-oder Gesellschaftsform. Es ist nur dieses ständige Reformieren, das ständige Anpassen, das einer Staatsform und Gesellschaftsordnung die Möglichkeit gibt, Jahrhunderte zu überleben; und wenn sich die Technik, die Wirtschaft und alles in einem solchen Tempo entwickelt, wie bei uns, so werden die Reformbedürfnisse immer größer. Wäre jemand aus dem 11. Jahrhundert zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiedergeboren worden, so hätte er doch noch seine eigene Welt erkennen können. Ich weiß nicht, ob jemand nur aus dem vorigen Jahrhundert noch seine Welt in unserer heutigen Welt wiedererkennen würde.

Wenn aber die liberale Demokratie zu einem Mittel des starren Konservatismus wird, wenn sie nicht die Reformen erleichtert sondern erschwert, dann ist sie eigentlich keine Demokratie mehr. Und diese Erstarrungsgefahr unserer Staatsform ist eine Gefahr, die man nicht übersehen darf. Der moderne demokratische Staat — Parlament, Regierung, Parteien, Presse — ist mehr oder weniger von den Philosophen des 18. Jahrhunderts erdacht worden und besteht heute grundsätzlich noch in der gleichen Form. Ist es noch möglich, im atomaren Zeitalter einen Rock zu tragen, der in der Ära der Dampfmaschine und der Elektrizität zugeschnitten worden ist?

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Demokratie an sich ist, ich wiederhole es, ewig. Das heißt, daß keiner lange Zeit regieren kann, auch nicht mit Gewalt, wenn die öffentliche Meinung dagegen ist. Aber man darf die Demokratie nicht mit den Formen der Äußerung der Demokratie verwechseln. Man kann nicht gegen die Demokratie gehen; das kann einen Politiker, eine Partei, ein Land nur in den Abgrund führen. Aber die Äußerungsformen der Demokratie sind von menschlicher Hand geschaffen worden und können von Menschenhand geändert werden.

Das Mindeste, was man heutzutage über unsere Kultur sagen kann, ist, daß sie einem gewissen Mangel an Gleichgewicht zwischen den einzelnen Kulturzweigen hat, und daß sie in einigen ihrer Erscheinungen einen neuen Schwung zur Erneuerung, zur Anpassung braucht: Wissenschaft und Technik ohne Seele können keine Kultur sein.

Ist dieser Schwung möglich? Ich fürchte nicht, mich als Optimist zu bezeichnen, wenn ich antworte: ja, es ist möglich. Aber es ist nur möglich, wenn wir begreifen, daß es unumgänglich ist, wenn wir es wollen, und wenn wir alles tun, was nötig ist, um dieses Ziel zu erreichen.

Zuerst muß man die geographischen Grundlagen der Kultur erweitern.

In ihrer Blütezeit war unsere westliche christliche Kultur übernational. Es gab eine gemeinsame Sprache, es gab aber keine Schranken und keine Hemmungen in der Kulturwelt, in dem Kulturleben von damals. Der Kleriker des Mittelalters — der Intellektuelle von damals — konnte von Stadt zu Stadt, von Universität zu Universität ziehen, um zu lernen oder zu lehren, und zwar mit seiner lateinischen Sprache. Dasselbe galt für seinen Nachfolger, den Humanisten. Auch der Philosoph des 18. Jahrhunderts konnte überall hingehen mit seiner französischen Sprache. Es gab damals nur eine Kultur, nur eine Kulturwelt. Aus der französischen Revolution wurde der Nationalismus geboren, und dieser Nationalismus hat die jahrhundertelange Einheit der Kulturwelt vernichtet. Audi das Wort Nationalismus kann verschieden gedeutet werden. Nationalismus als Vaterlandsliebe ist für den Menschen Bestand seiner inneren Natur und für eine Gesellschaft ein konstruktives Element. Wenn aber der Nationalismus die Erhebung des eigenen Vaterlandes über alles andere anstrebt, dann wird er zum Haß allen anderen Ländern gegenüber, zum chauvinistischen Größenwahn, und als solcher ist er zerstörend. Berlin ist heute mit seinen Trümmern und seiner Spaltung wie ein Mikrokosmos Europas und zeigt uns, wohin diese Entartung der Vaterlandsliebe geführt hat.

Wenn es heute möglich ist, sich die Frage zu stellen, wie es mit unserer Kultur steht, so muß man zugeben, daß die Krise der westlichen Kultur durch diese nationalistische Absonderung der verschiedenen Kulturkreise entstanden ist. Wir müssen die alte Universalität der christlichen westlichen Kultur wieder herstellen. Es ist die Pflicht aller, an diesem Werk mitzuarbeiten, aber vor allem ist es die Pflicht der Intellektuellen, der Akademiker. Der Chauvinismus ist zuerst in den Büchern entstanden: die Kulturwelt des vorigen Jahrhunderts trägt eine große Verantwortung für diese Entartung der Vaterlandsliebe.

Kampf gegen Entartung der Vaterlandsliebe

Arbeitet man wirklich heute für die Verallgemeinerung der Kultur-welt? Sicher, aber es geht nur sehr langsam voran. Wahrscheinlich brauchte man dazu eine gemeinsame Sprache. Wenn ich von einer gemeinsamen Sprache spreche, meine ich nicht Esperanto. Ich glaube nicht an die Möglichkeit, eine künstliche Sprache so aus dem Nichts herauszuheben; man sollte eher eine lebende Sprache zur Universalsprache unserer Kulturwelt erheben. Welche? Das hängt von den Umständen ab: das kann nur von selbst kommen. Im 17. Jahrhundert war die französische Sprache zur Kultursprache des damaligen Europas geworden, weil sie sich am geeignetsten erwiesen hatte: niemand hatte von heute auf morgen beschlossen, nur französisch zu sprechen.

Man spricht viel von Europa, aber wenn man in eine europäische Versammlung kommt, scheint es für jeden eine Frage des nationalen Prestiges zu sein, seine eigene Sprache zu sprechen: man kommt mit einem Heer von Dolmetschern und besteht stolz auf seiner Sprache. Das ist ein Widerspruch an sich: manchmal läßt das an eine Sitzung der antialkoholischen Liga in einer Weinstube denken. Aber in der Erwartung, daß sich das von selbst ändert, muß man wenigstens auch die Sprache der anderen lernen. Ein jeder von uns sollte neben der eigenen Sprache, wenigstens eine oder zwei Fremdsprachen völlig frei beherrschen. Sprachen lernt man leichter, wenn man jung ist. Darum wäre ein wachsender Studentenaustausch zwischen den westlichen Universitäten sehr zu begrüßen. Die Studenten von heute sind diejenigen, die morgen die Fackel der Kultur aus unseren Händen übernehmen werden.

Aber auch eine gemeinsame Sprache ist nicht genug: eine Universalisierung der Geschichte ist auch nötig, jener Geschichte, die man seit mehr als 100 Jahren an den Schulen lehrt, um zu zeigen, wie brav und gut wir gewesen sind und wie schlecht die anderen. Der Chauvinismus hat seine Wurzeln in dieser Verzerrung des Geschichtsbildes. Man muß die Geschichte von den schädlichen Mythen befreien; der Einfluß der Geschichte auf die Politik und das Leben ist an sich der Einfluß des Mythos. Vor vielen Jahren hat man mir in den Archiven der Stadt Paris ein interessantes Dokument gezeigt: ein Vertrag, durch welchen die Gemeinde von Paris einem Unternehmer gegen gutes Geld das Recht verkaufte, die Bastille zu zerstören und das Material aus der Zerstörung der Bastille für andere Bauten zu verwenden. Das ist die Wirklichkeit; der Mythos des 14. Juli hat aber die ganze Welt in Bewegung gesetzt.

Die heute noch nationale Basis der westlichen Kultur erweitern, heißt mit anderen Worten: es ist unsere Pflicht, die Einigkeit der westlichen Kulturwelt wieder herzustellen, die durch den Chauvinismus zerstört wurde, demselben Chauvinismus, der nicht nur unsere Machtstellung, sondern auch unsere Zivilisation gestürzt hat. Charakteristisch für die westliche Kultur ist die Mannigfaltigkeit in ihrer Einheit: sie muß noch mannigfaltig bleiben; aber sie muß auch einig werden.

Ich habe mit Absicht viel von Nationalismus und Chauvinismus gesprochen. Es gibt überall in der Welt, in unseren Ländern viele Menschen, die seit Jahren ehrlich gegen diese Entartung der Vaterlandsliebe kämpfen, und offenbar mit Erfolg. Aber Vorsicht: der Drache des Chauvinismus ist noch nicht gestorben; er schlummert nur. Wir haben so lange in dieser Atmosphäre gelebt, daß sie bis zu einem gewissen Grad ein Teil unseres Daseins geworden ist. Es scheint ebenso schwierig, sich von diesem Nationalismus zu befreien, wie einem Kettenraucher das Rauchen abzugewöhnen. Und er lauert immer, er flammt hier und da auf, er scheint nicht genug zu haben von den schon angerichteten Zerstörungen.

Aber das Problem der Anpassung, der inneren Ausdehnung unseres Wesens, ist nur eines der vielen Probleme, vor denen wir stehen Das Problem der Ausdehnung unserer Kultur über das traditionelle Gebiet unserer westlichen christlichen Zivilisation hinaus, ist nicht weniger wichtig. Wir nennen es den Kampf um die Entwicklungsländer: ein Kampf, der für uns eine Frage über Leben und Tod sein kann; ein Wettbewerb vielleicht, aber einem Kampf sehr ähnlich.

In diesem Wettbewerb betonen wir, fürchte ich, zu sehr das materielle Element; das Materielle ist auch wichtig, aber vergessen wir nicht, daß es ein Wettbewerb der Kultur ist, nicht nur der Produktion.

Auf allen europäischen Universitäten — vor allem in Deutschland — gibt es tausende von Studenten der farbigen Welt — oder der Entwicklungsländer. Aber was studieren sie? Fast alle belegen technische Fakultäten: das heißt, sie anerkennen unsere technische Überlegenheit, aber sie wollen unsere Gesellschafts-und Staatsform nicht mehr widerspruchslos annehmen. Wenn diese Welt nur unsere Maschinen kauft und unsere Institutionen ablehnt, kann das für uns sehr gefährlich sein.

Der inneren Struktur unserer Gesellschaft die Dynamik erhalten

Was ist dieser friedliche Wettbewerb oder friedliche Koexistenz, von der so viel gesprochen wird? Es ist der Kampf zweier Weltanschauungen, zweier Kulturen, ein Kampf unserer westlichen christlichen Gesellschaftsform gegen die kommunistische materialistische Gesellschaftsform. Ich sage Gesellschaftsform, denn ich weiß noch nicht, ob man wirklich schon von einer kommunistischen Kultur sprechen kann. Es ist ein Wettbewerb, bei welchem es jetzt vor allem darum geht, die Entwicklungsländer, die nicht engagierten Länder zu gewinnen. Und beide Weltanschauungen nehmen an, daß, wenn es gelingt, diese Welt in die eigene Kultur-oder Einfluß-Sphäre zu ziehen, man dann den friedlichen Wettbewerb gewonnen hat. Man kann es auch kalten Krieg nennen, es ist immer ein Kampf. Jemand hat seinerzeit gesagt, die Revolution ist eine Idee, die Bajonette gefunden hat. Für lange Zeit war die liberale demokratische Weltanschauung eine revolutionäre Idee, die gesiegt hat, als sie Bajonette fand. Dann aber ist eine andere Idee gekommen, hier im Rheinland, zwischen Trier und Köln gezeugt, die dann in Ruß-land ihre Bajonette gefunden hat; und gegen diese Idee, die aus unserem Gedankenkreis stammt, müssen wir kämpfen. Es ist ein schwieriger Kampf auf Leben und Tod. Haben wir Ideen? Haben wir Bajonette? Bajonette ohne Ideen sind keine Revolution: und eine Revolution kann nur von einer anderen und besseren" Revolution gewonnen werden.

Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel von einem französischen General gelesen, in welchem er schreibt, daß wir nicht völlig verstanden haben, daß im Atomzeitalter die Waffen nicht mehr dazu dienen, um Krieg zu führen, sondern um den Krieg nicht mehr führen zu können. Es ist nicht das alte lateinische Sprichwort si vis pacem para bellum; es ist nur die Feststellung, daß die Zerstörungsmöglichkeit der nuklearen Waffen heute so absolut ist, daß es sich nicht lohnt, einen Krieg zu gewinnen, weil es nach einem solchen Krieg nicht nur moralisch und materiell keine Sieger und keine Besiegte mehr geben wird. Das ist eine Idee, die meiner Meinung nach richtig ist. Aber wir haben sie alle nicht ganz verstanden, und vor allem haben wir nicht die nötigen Lehren daraus gezogen. Aber wenn diese Idee richtig ist, — und davon bin ich überzeugt — dann wird dieser friedliche Wettbewerb vor allem auf der Kulturebene ausgetragen werden. Chruschtschow hat seinerzeit die friedliche Koexistenz folgendermaßen definiert: ein Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Weltanschauungen, der mit ökonomischen, politischen und sozialen Mitteln, nur nicht mit militärischen Mitteln geführt wird. Diese Definition ist ganz klar und ganz ehrlich. Ich möchte sie nur meinerseits etwas ändern. Anstatt soziale und politische Mittel sagen wir Kultur-Mittel: Ich wiederhole, Kultur, als Begriff einer Epoche, die alle Erscheinungen des Lebens umfaßt und die dem Menschentypus ihre bestimmte Prägung gibt. Diesen Kulturkrieg wird derjenige gewinnen, der mehr Dynamik hat, dessen Kulturform und -erscheinungen sich besser den Umständen und Erfordernissen der sich entwickelnden Welt anpassen. Wie stehen wir in diesem Krieg da? Meiner Meinung nach nicht besonders gut. Wir haben die sonderbare Natur dieses Krieges noch nicht vollkommen verstanden: unser Gedankengang bewegt sich noch zu viel in dem herkömmlichen Rahmen. Wir sind in der Defensive. Bei rein militärisch-strategischen Gründen kann man die Defensive rechtfertigen, obwohl die großen Strategen immer sagen, daß man aus der Defensive heraus keinen Krieg gewinnen kann. Aber im Kulturkrieg ist eine Kultur, die in der Defensive steht, im Sinne Spenglers schon Zivilisation, und nichts anderes; Erstarrung und das Ende muß die Folge sein. Deshalb müssen wir unserer Kultur neues Leben und das erforderliche neue Gleichgewicht geben, um der inneren Struktur unserer Gesellschaft die Dynamik zu erhalten! Das ist erforderlich, um den Wettbewerb um die Entwicklungsländer zu gewinnen. Und wenn wir das verstanden haben, sind wir dann bereit, alle nötigen persönlichen und kollektiven Anstrengungen für die Erreichung dieser Anpassung anzunehmen? Toynbee sagt in seiner Geschichte der Zivilisation, die mir eigentlich besser gefällt als die von Spengler, daß eine Kultur oder Zivilisation, um sich entwickeln zu können, eine Heraus’forderung braucht: nur unter dem Druck der Schwierigkeiten zeigt sich die Lebensfähigkeit einer Kultur. Wenn es so ist und wenn wir und unsere Kultur noch lebendig sind — und ich bin überzeugt, daß es so ist —, dann könnte wahrscheinlich die Herausforderung des Kommunismus unsere Rettung bedeuten. Der Wettbewerb mit dem Kommunismus zwingt uns, die Werte und die Äußerungen unserer Kultur nochmals zu prüfen und den sich stets ändernden Umständen anzupassen. Die Geschichte hat in ihrem vieltausendjährigen Bestehen eine Menge amüsanter Paradoxe geschaffen. Der Kommunismus ist entstanden, um das Ende unserer Zivilisation zu beschleunigen: es kann sein, daß es im Gegenteil der Kommunismus ist, der unserer Kultur neues Leben geben wird.

In diesem Sinn ist Kultur Politik: aber man kann noch weitergehen und sagen: ohne Kultur gibt es keine Politik.

Fussnoten

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