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Wort aus Berlin | APuZ 51/1960 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 51/1960 Kultur und Politik Das Gesicht unseres Jahrhunderts -heute Wort aus Berlin

Wort aus Berlin

Julius Kardinal Döpfner

Mit freundlicher Genehmigung des Morus-Verlages, Berlin, dem dort erschienenen Sammelband der Rundfunkansprachen und Predigten Julius Kardinal Döpfners „Wort aus Berlin“ entnommen.

Das russische Gedicht

Zum Advent der Kirche gehört das Warten: das hoffnungsstarke, glückselige Warten auf Christus. Die Erinnerung an die Messiaserwartung Israels wird von der Kirche in der meisterlichen Formkraft ihrer Liturgie nur deswegen wachgerufen, damit wir unser sehnsüchtiges Warten auf den Herrn leichter aussprechen können; das Warten auf den Herrn, der ständig liebend in unser Leben tritt und der am Ende der Tage in Seinem Reiche kommen wird.

Freilich, gerade diese Erwartung des Glaubens hält der heutige Atheismus für einen besonders krassen Fall eines illusionären Mystizismus und eines lebensuntüchtigen Aberglaubens. Solches Warten ist nutzlos — so sagt man —, es gilt anzupacken: In der Kraft der Vernunft müssen wir die Gesetzlichkeit der Welt erforschen und die Zustände ändern.

Lassen wir das zunächst auf sich beruhen und hören wir inzwischen ein Gedicht des russischen Dichters Konstantin Simonow, das den Titel trägt: „Warten“. (Dieses Gedicht ist übrigens abgedruckt in einem Lehrbuch der russischen Sprache, das unsere Kinder benützen.) Es entstand im Jahre 1942, als der sinnlose Krieg furchtbare Opfer forderte und viel Trauer in die Familien trug, im Osten wie im Westen. In diesem Gedicht heißt es: „Warte auf mich — und ich werde zurückkehren.

Nur warte sehr! ...

Warte, wenn man auf andere nicht wartet ...

warte auf mich, und ich werde xurückkehren, allen Toten zum Trotz.

Wer nicht auf mich gewartet hat, der wird vielleicht sagen: , Er hat Glück gehabt'.

Die nicht gewartet haben, werden nicht verstehen, wie Du inmitten des Feuers durch Dein Warten mich gerettet hast.

Wie ich am Leben blieb, werden wissen nur Du und ich — Du verstandest einfach zu warten, wie kein anderer."

Dieses Gedicht machte damals einen tiefen Eindruck auf die Menschen, die in der seelischen Not jener Kriegsjahre standen. Daß hoffendes Warten auf den anderen irgendwie wirksam und sinnvoll ist, hat viele getröstet.

Doch sehen wir einmal näher zu! Hier liegt doch genau das vor, was die Atheisten uns immer wieder vorwerfen: Mystizismus. Das Grunddogma der Gottlosen heißt doch: die Welt mit all ihren Erscheinungsformen ist erklärbar. Aber in diesem Gedicht wird jede derartige Erklärung ausgeschlossen. Nur das Warten, „allen Toten zum Trotz", wird gepriesen. Auch der Zufall — „er hat Glück gehabt" — wird ausgeschaltet. Allein das Liebesband zweier Menschen im Warten erscheint als letzter Grund der Rettung. Und niemand weiß darum als nur diese beiden. Ist das nicht der erschütternde Aufschrei des Menschen in der Öde einer Wissenschaft, die für das menschliche Leben überfordert ist?

Wir wollen nun wirklich nicht behaupten, dieses Gedicht sei etwa religiös, aber es ist wie der betende Schrei des Menschen nach einem ihm unbekannten, liebend sorgenden Gott; es ist wie suchendes Ausgreifen, gewiß durch Dunkelheit, aber nach einer Hand, die unser Leben führt. Die Seele ist eben mehr als nur eine Funktion der im Körper hochentwickelten Materie. Das Warten, etwas scheinbar Nutzloses, offenbart sich als gewaltige Kraft.

Und unser — der Christen — Warten? Wir wissen, auf wen wir zu warten haben: auf den Herrn, der zum Gericht und zum Heile kommt. Diese Erwartung, die auf Gottes Verheißung baut, gilt es zu leben.

Wie beruhigt uns inmitten des Spottes, der uns umgibt, das Wort des 2. Petrusbriefes: „Ihr müßt euch vor allem klar darüber sein, daß am Ende der Tage Menschen auftreten werden, betrogene Betrüger, die ihren eigenen Trieben nachgehen und sagen: , Wo bleibt seine verheißene Wiederkunft? Seit die Väter entschlafen sind, bleibt alles so wie von Anfang der Schöpfung an!“ (2, Petr. 3, 3-4).

Ja, unser Warten währt lange und ist scheinbar aussichtslos, aber es ist ausgenommen von dem folgenden Wort des gleichen Briefes: „Eines aber, Geliebte, wollet dabei nicht übersehen: beim Herren sind ein Tag wie tausend Jahre, tausend Jahre wie ein Tag“ (2. Petr. 3, 8).

Aus solcher Sicherheit der Erwartung kann uns dann der Apostel das herrliche Mahnwort sagen: „Mit welcher Erwartung müßt ihr entgegeneilen dem Kommen des Tages Gottes ... Einen neuen Himmel aber und eine neue Erde, darin Gerechtigkeit wohnt, erwarten wir nach seiner Verheißung" (2. Petr. 3, 12-13).

Ein Adventstag hat begonnen! Und das Wort für diesen Tag? „Allen Toten zum Trotz“ — wir erwarten den lebendigen Gott.“

Der Brief eines sowjetischen Offiziers

Es ist wohl ungewöhnlich, daß der Bischof im „Wort für den Tag" das „Neue Deutschland", das Zentralorgan der SED, zitiert, aber in der Nummer vom 8. Mai dieses Jahres findet sich im Beitrag „Unter Freunden" ein Wort, von dem wir ausgehen wollen.

Es handelt sich um den Abschiedsbrief eines sowjetischen Offiziers an seinen Sohn. Der Offizier erhält im zweiten Weltkrieg vor Leningrad einen militärischen Auftrag, von dem er wohl nicht mehr zurückkehren wird. Er schreibt dann zum Schluß: „Auch wenn ich tot bin, wird mein Herz immer bei dir sein." Das ist ein Satz, der aufhorchen läßt. Denn dieser sowjetische Offizier ist völlig durchdrungen von der Parteidisziplin; er schreibt: „Was gibt mir die Kraft und den Mut zu solcher Tat? Die militärische Disziplin und der Parteigehorsam." Dennoch fließt ihm im Angesicht des Todes das Wort in die Feder, daß er nach seinem Sterben mit seinem Kind geistig verbunden bleiben wird.

Der Vater will trösten, und so spricht er von der Gemeinschaft nach dem Tode; der Funktionär aber spricht vom Parteigehorsam. Militärische Disziplin und Parteigehorsam konnten ihn wohl in den Tod schicken, aber den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode konnten sie in ihm nicht völlig ersticken. Die Ideologie dieses Offiziers befiehlt ja, an den „Unglauben zu glauben“; denn ein wichtiges Gesetz seiner Partei heißt: „Du bist nur für diese Welt da, es gibt kein Weiterleben nach dem Tode." Aber in dem Augenblick, da der Mann die Nähe des Todes verspürt, drängt sich ihm irgendwie die Sinnlosigkeit eines solchen Dogmas des Unglaubens auf und eine tiefere Einsicht stößt aus der Mitte des Herzens durch die ideologische Kruste seines Denkens. Wohl tröstet er seinen Sohn mit dem Heldentum, aber der Schluß heißt „Wenn ich tot bin, wird mein Herz immer bei dir sein."

Die Wirklichkeit sieht eben anders aus, als manche Konstrukteure von Weltanschauungen es wahrhaben wollen. Theoretisch läßt sich das alles schön formulieren, aber wenn der Mensch erschüttert wird, kann er nicht durch glatte Formeln befriedigt werden und in seinem unstillbaren Ringen um den Sinn des Lebens sucht er festen Halt. Man muß nur einmal hinter manche merkwürdige Konstruktionen und Einfälle unserer Tage hindurchblicken, dann wird man oft genug das unbewußt Christliche erkennen. Bei den alten Heiden sprachen die christlichen Denker der ersten Jahrhunderte von der „anima naturaliter christiana“, der menschlichen Seele, die von Natur aus christlich ist. Das Wort gilt heute noch. Wir könnten Weltanschauung um Weltanschauung durchgehen, auch jene, die den Gottesglauben bewußt ablehnen, hinter allen würden wir das Suchen nach dem Göttlichen verspüren. Ist nicht manches Verhalten in der Seele des modernen Menschen Selbstbehauptung oder gar Trotz, nur um nicht das innere Elend und eigene Ungenügen eingestehen zu müssen? Erst im Augenblick der Erschütterung wird hinter aller Verneinung die Sehnsucht sichtbar, wie etwa in dem eigenartigen Wort Nietzsches: „O komm zurück, mein unbekannter Gott, mein Schmerz, mein letztes Glück!“ Ich meine, hier gilt das Wort der Geheimen Offenbarung: „Du sagst: Ich bin reich, ich habe Überfluß und brauche nichts mehr. Und du weißt nicht, daß du elend und erbärmlich bist, arm, blind und bloß“ (Offbg. 3, 17). Oder sagen wir es mit dem bekannten Wort des heiligen Augustinus: „Denn geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in Dir".

Freilich, der Christ kann bei solchen Feststellungen nicht überlegen zuwartend oder gar schadenfroh neben seinen ringenden Brüdern stehen. Wie oft fehlen wir dadurch, daß wir unsere Glaubensüberzeugung nicht verwirklichen. müssen leben aus dem Glauben an Gott den Wir Vater, an die Erlösung durch Christus, an das ewige Leben. Es müßte etwas ausstrahlen von uns, was erhellt, was antwortet auf die unausgesprochenen Fragen unserer Mitmenschen. So schenke uns der Herr an diesem Tag die Gnade eines gelebten, leuchtenden Glaubens.

Die klare Entscheidung

Jüngst hörte ich folgendes: Der Vater eines Jungen, der die Mittel-schule mit der besten Zensur absolviert hatte, bekam auf seinen Antrag hin, seinem Sohn den Besuch der Oberschule zu genehmigen, eine abschlägige Antwort. Dazu war von der zuständigen Abteilung Volks-bildung der Parteiorganisation des Betriebes, in dem der Vater beschäftigt war, folgendes geschrieben worden: „Trotz wiederholter Aussprachen lehnt der Antragsteller es ab, seinen Sohn zur Jugendweihe zu schicken. Er gibt an, daß er seinen Sohn bisher christlich erzogen habe, und er könne nun nicht plötzlich eine andere Richtung einschlagen. Euch ist sicher bekannt, daß bei der Auswahl der Oberschule selbstverständlich zuerst die ausgewählt werden, die in der Jugendweihe ihr Gelöbnis zu unserem Staat ablegen."

Hier wird ein Vorgang beschrieben, wie er sich in vielen anderen Fällen ähnlich abspielt. Ein Christ wird benachteiligt und zurückgesetzt, weil er nicht mitmacht. Er ist gleichsam der Dumme, während vielleicht andere wenigstens äußerlich nachgeben und sich damit beruhigen, entscheidend sei doch die innere Einstellung, auch wenn man äußerlich mitmache, um keine Scherereien zu haben.

Der Vater — so hörten wir eben — „gibt an, daß er seinen Sohn bisher christlich erzogen habe, und er könne nun nicht eine andere Richtung einschlagen“. Soll das heißen, man sei nun einmal an die christliche Lebenshaltung gewöhnt, es sei doch zu beschwerlich und ungelegen, sich umzustellen? Sie spüren selbst, damit läßt sich solcher Widerstand nicht rechtfertigen und durchhalten.

Der wahre Christ weiß um seine Würde und Lebensaufgabe. Der Mensch ist nun einmal mehr als nur Funktionsmitglied eines übermächtigen Staates. Er trägt als Ebenbild Gottes eine unzerstörba : Würde in sich, ist zu Gott hin und zu einem ewigen Leben in Gott berufen. Darum steht er bei allem, was auf ihn zukommt und von ihm verlangt wird, zu dem Wort der Schrift: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg. 5, 29).

Wie aber wirkt sich solche unbeugsame Gewissenshaltung inmitten der Menschen aus? Werden wir dadurch zur Unfruchtbarkeit unter der menschlichen Gesellschaft verurteilt?

Gottlob ist das nicht so. Wer um des Gewissens willen nicht nachgibt, wird um dieses gleichen Gewissens willen im Beruf und in der täglichen Begegnung seinen Dienst an den Mitmenschen mit besonderer Sorgfalt leisten.

Ein weiteres: In Zeiten der Vermassung, der autoritären Willkür braucht die Menschheit die Tapferkeit derer, die dem Gewissen folgen, die sich nicht schwach und feige beugen. Das ist eine Hilfe für die schwankenden und suchenden Mitmenschen, wie sie nicht hoch genug bewertet werden kann.

Noch tiefer führt folgende Erwägung: Solche Gewissenstreue eines gläubigen Christen ist Sühne für die Schwachheit und Feigheit anderer. In einem Kriegsgefangenenlager der Nachkriegsjahre unterhielt man sich mit bedrücktem Herzen darüber, daß so viele unschuldig verurteilt seien. Da sagte ein Kamerad folgendes: „Beklagt euch doch nicht immer darüber! Vielleicht muß nach Gottes Willen und Ordnung Sühne geleistet werden für so manches, was geschehen ist ... Es ist aber eine Grundordnung, daß immer nur Unschuldige Sühne im wahren Sinne leisten können." Glückselig, wer sein Leben so sehen und aus solchem Glauben gestalten darf. Er übt den hehrsten Dienst an seinen Brüdern.

Nun möchte ich, meine lieben Hörer, all denen, die einen einsamen, schweren Weg der Gewissenstreue gehen, einen bestärkenden Zuruf in diesen beginnenden Tag schicken mit dem Wort des Hebräerbriefes: „Mit Ausdauer laßt uns den Wettlauf zurücklegen, der uns bestimmt ist: Den Blick auf Jesus gerichtet, den Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hbr. 12, 27).

Uns allen aber gebe Gott den Mut, vor der Welt töricht zu erscheinen, wenn immer Gottes Weisheit uns aufleuchtet. Er schenke uns Kraft, aller äußeren Gewalt die in aller Ohnmacht größere Macht des Glaubens und der Liebe entgegenzusetzen.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN: *. *}* „Die Universität der Völkerfreundschaft"

Ludwig Dehio: „Preußisch-Deutsche Geschichte 1640— 1945"

Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"

Josef Kalvoda: „Kommunistische Strategie in Südamerika"

Georg Kotowski: „Die deutsche Novemberrevolution von 1918"

Ralph L. Powell: „Die rotchinesische Miliz"

Theodor Schieder: „Der preußisch-deutsche Nationalstaat"

Walther E. Schmitt: „Lenin und Clausewitz"

Wilhelm Ritter von Schramm: „Hitlers psychologischer Angriff auf Frankreich"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Carl Troll: „Die Entwicklungsländer in ihrer kultur-und sozialpolitischen Differenzierung"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

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