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Österreich und der 20. Juli 1944 | APuZ 29/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 29/1964 Zum 20. Jahrestag der Erhebung des 20. Juli 1944 Betrachtungen zum militärischen Widerstand Offiziere mit politischem Verantwortungsbewußtsein Erhebung einer Elite gegen Tyrannei Österreich und der 20. Juli 1944 Zur außenpolitischen Konzeption Becks und Goerdelers Nationalrevolutionäre Offiziere gegen Hitler Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1931 -1939 von außen gesehen

Österreich und der 20. Juli 1944

Ludwig Jedlicka

Bei den bisherigen Untersuchungen zur Geschichte des 20. Juli 1944 wurde das Schwergewicht auf die Vorgänge in Berlin und Paris gelegt. Auch für Österreich hat der 20. Juli 1944 eine sehr wesentliche Bedeutung, da Österreicher nicht nur im Rahmen der Wehrmacht, sondern auch an den politischen Vorbereitungen des 20. Juli 1944 beteiligt waren. Die Motive sind bei den einzelnen Personen und Gruppen verschieden und lassen sich vielleicht wie folgt charakterisieren

Eine Gruppe handelte im Rahmen der allgemeinen Erhebung und hatte bestimmte Aufgaben, die im Zusammenhang mit der Aktion standen, ohne das politische Endziel, nämlich die Befreiung Deutschlands von Hitler, überschreiten zu wollen. Eine zweite Gruppe ist jedoch merkbar bei den Vorbereitungen von der Erwägung ausgegangen, Österreich als Staat neu erstehen zu lassen, und diese Überlegungen standen im engen Zusammenhang mit dem Wiedererwachen eines österreichischen Patriotismus. Diesen Prozeß eines Bewußtwerdens der österreichischen Eigenart, unter dem Druck des Nationalsozialismus und sogar innerhalb der österreichischen NSDAP, hatte schon der ungarische Gesandte in Berlin in einem Bericht aus dem Jahre 1938 vorausgesehen

„Wie vorauszusehen war, wird die Gleichschaltung Österreichs nach dem Anschluß nicht von Österreichern, sondern von Großdeutschen durchgeführt. Mit der Durchführung von Österreichs Gleichschaltung wurde Gauleiter Bürckel, der schon die Volksabstimmung vorbereitet hatte, als Reichskommissär beauftragt." Ferner berichtet der ungarische Gesandte, daß er in der österreichischen Landesregierung — der Scheiniegierung unter Seyß-Inquart — durch diese Maßnahmen eine „große Verstimmung" ausgelöst wurde, und fährt dann fort: „Dieser Tage hatte ich auch Gelegenheit, mich mit einem österreichischen Politiker über die nach dem Anschluß eingetretene Lage zu unterhalten. Besagter Herr verheimlichte die große Verstimmung nicht, die nicht nur ihn, sondern alle Mitglieder der österreichischen Regierung über die Beiseiteschiebung der eigentlichen Österreicher auf eine zweit-oder drittrangige Rolle erfüllt."

Vermutlich handelt es sich bei dem oben angeführten österreichischen Politiker um den ursprünglichen Vizekanzler der Regierung Seyß-Inquart, Edmund Glaise-Horstenau, der ähnliche Äußerungen im Frühjahr 1938 auch Wiener akademischen Kreisen gegenüber tat. Als im Zuge der Einführung der deutschen Verwaltungsformen die Gauleiter der NSDAP in Österreich im Jahre 1938 endgültig bestätigt wurden, waren zwar überwiegend gebürtige Österreicher in den Spitzenpositionen, jedoch fiel der Reichsgau Wien schon 1940 an den ehemaligen Reichsjugendführer der NSDAP, Baldur von Schirach, und die Leitung des später strategisch wichtigen Reichgaues Salzburg wurde dem ehemaligen Reichsstudentenführer Dr. Gustav Adolf Scheel übertragen. Anscheinend sollte im Verlaufe des Krieges die bisherige Besetzungder Spitzenposten durch österreichische Nationalsozialisten rückgängig gemacht werden Seit 1940 wurde auf der Ebene der wichtigsten Beamtenposten rücksichtslos eine Verdrängung der Österreicher betrieben, die böses Blut erzeugte. So wurde zum Beispiel das Kommando der politischen Polizei in Wien dem aus der bayerischen Polizei kommenden SS-Oberführer Franz Josef Huber übertragen, auf den Bürgermeistersessel Dr. Karl Luegers setzte Baldur von Schirach den Rhein-Hessen Philipp Wilhelm Jung, der in schlichter Unbekümmertheit zugab, weder den Namen noch die Leistung seines weltberühmten Vorgängers je gekannt zu haben. Auch die Personalreferate kamen allmählich in die Hände sogenannter Reichsdeutscher, und Schirach krönte diese bewußte Politik durch die Zusammenfassung der gesamten kulturellen Institutionen Wiens in einem Generalkulturreferat, dessen Leitung einem jungen, in Österreich gänzlich unbekannten Theaterfachmann übertragen wurde, der mit einem Schlag zum Dienstvorgesetzten der wissenschaftlichen Beamten der berühmten Gemäldesammlungen, der Schatzkammer usw. aufstieg

Für den Bereich der Wehrmacht liegen Untersuchungen vor Die Auflösung des österreichischen Bundesheeres und die restlose Überführung der österreichischen Soldaten in die einzelnen neu aufgestellten Formationen bedingte die Auslöschung der Tradition der alten k. u. k. Armee. Einzelne sehr vornehm denkende Angehörige des deutschen Generalstabes warnten 1938 davor und hätten am liebsten das österreichische Bundesheer nach den gleichen Modalitäten übernommen wie die bayerische Armee nach 1871. Die Errichtung der beiden Wehrkreise XVII und XVIII durch aus dem Reichsgebiet kommende Instruktionsoffiziere im Jahre 1938 wurde vollendet durch die Besetzung der militärischen Spitzenposten durch landfremde Offiziere. So konnte kein inneres Verhältnis zwischen den traditionslosen neuen Regimentern und der alten österreichischen Überlieferung entstehen, wenn man sich seit Kriegsausbruch auch bemühte, aus propagandistischen Gründen zaghaft auf österreichische Traditionswerte zurückzugreifen. Es war Hitler selbst, der sich gegen manchen aus der Wehrmacht kommenden Vorschlag stemmte, und die „Reichsgrenadierdivision Hoch-und Deutschmeister" sollte zwar die Tradition des Deutschen Ritterordens betonen, jedoch die kaiserlich-habsburgische Überlieferung dieses Wiener Hausregiments möglichst in den Hintergrund drängen. Somit war für die österreichischen Offiziere und Mannschaften innerhalb der Einheiten der deutschen Wehrmacht der Dienst sehr häufig die Vorstufe eines neuen, bewußten Heimatgefühls. Das muß vor allem festgestellt werden, um die Rolle, die etwa der Oberstleutnant des Generalstabes Robert Bernardis spiel-te, richtig verstehen zu können.

Neben den Enttäuschten des Anschlusses, ob Nationalsozialisten oder Großdeutschen, stan-den natürlich die politischen Gegner des Nationalsozialismus von links bis rechts, deren Tätigkeit aus den Berichten der Gestapo und des SD schon 1939 sehr deutlich hervortritt. Jüngst erfolgte Untersuchungen zur Geschichte der österreichischen Widerstandsbewegung ergaben folgende Oppositionsgruppen: Angehörige der ehemaligen Vaterländischen Front und des Heimatschutzes, unter ihnen die vom System am meisten verfolgten Monarchisten, ferner die Anhänger der ehemaligen Sozialdemokratischen Partei und die Kommunisten, endlich treten wie im Altreich noch kleine Splittergruppen zutage, Bibelforscher, religiöse Gemeinschaften, vor allem Katholiken. Ein verwirrendes Bild, das sich 1943 nach der Katastrophe von Stalingrad allmählich vereinheitlicht. Seit 1943 ist nämlich stärker das Auftreten großräumiger Organisationen, die über mehrere Bundesländer Verbindungen ha-ben, in den Gerichtsakten festzustellen, wobei die äußerste Rechte und die äußerste Linke, also Monarchisten und Kommunisten, sehr viele Verhaftungen und Hinrichtungen aufzuweisen haben

Die Planer des 20. Juli 1944, soweit sie Österreich berücksichtigten, waren über diese Vorgänge durchaus informiert. Carl Goerdeler besaß schon vor 1943 ausgezeichnete Kontakte zu den Repräsentanten der österreichischen Opposition. So hatte er nachweisbar Verhandlungen mit dem ehemaligen Generalsekretär der Vaterländischen Front, Oberst Walter Adam, der nach seiner Entlassung aus Dachau in Mitteldeutschland lebte, über einen Angehörigen der Familie Hammerstein-Equord. Auch der ehemalige Staatssekretär und Justizminister Hammerstein-Equord, ein Angehöriger der österreichischen Linie dieses Hauses, stand in Kontakt mit dem Goerdeler-Kreis Das Ziel der Besprechungen mit diesen Gruppen war es, Österreich beim Reich zu belassen, allerdings haben sowohl Adam als auch Hammerstein-Equord ablehnend geantwortet. Selbst bei den Personalplanungen, die Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg für Goerdeler durchführte, wurde auf Österreich Rücksicht genommen, ja man hoffte sogar auf „reichstreue" Widerstandsgruppen in Wien In diesem Zusammenhang kommt der Mission, die Goerdeler 1942 selbst übernahm, eine besondere Bedeutung zu. über den christlich-sozialen Gewerkschaftspolitiker Lois Weinberger, später Bundesminister und Vizebürgermeister von Wien, kam Goerdeler mit den Untergrund-gruppen der ehemaligen Christlichsozialen ins Gespräch, nachdem bereits Jakob Kaiser 1940 Verbindungen zu den österreichischen christlich-sozialen Gewerkschaftlern angeknüpft hatte. Es sei gleich vorweggenommen, daß Weinberger einer weiteren Zusammenarbeit in einem eventuell von Hitler befreiten Reich ablehnend gegenüberstand. Diese Kontaktnahme mit Angehörigen der ehemaligen christlich-sozialen Gewerkschaftsbewegung hatte für die Programmatik des 20. Juli 1944 eine wesentliche Folge. Vor allem Jakob Kaiser wußte einen jungen Wiener Gewerkschaftspolitiker, Ludwig Reichhold, für die theoretischen Vorbereitungsarbeiten am Sozialprogramm des 20. Juli 1944 heranzuziehen, und Reichhold erfreute sich hohen Ansehens wegen seiner Vorschläge zur künftigen Gewerkschaftspolitik. Es kam aber nicht darauf an, nur die christlich-soziale Opposition anzusprechen. Mit den Repräsentanten der Sozialdemokratischen Partei nahm Wilhelm Leuschner Fühlung. Auf seiner Wiener Reise sprach er mit Dr. Adolf Schärf, dem ehemaligen Parlamentssekretär der Sozialdemokratischen Partei, dessen Bekanntschaft Leuschner durch christlich-soziale Gruppen vermittelt wurde. Dr. Schärf hörte sich zwar den Emissär an, erklärte jedoch, daß der Anschluß tot sei und die Liebe zum Deutschen Reich dem Österreicher ausgetrieben worden wäre Goerdeler muß auch, wie aus dem Bericht Kaltenbrunners vom 6. September 1944 hervorgeht, mit dem allseits beliebten ehemaligen Wiener Bürgermeister Karl Seitz Fühlung genommen haben. Alle diese Besprechungen offenbarten den österreichischen Politikern die Existenz einer deutschen Widerstandsbewegung, und deren Ziele und Absichten zeigten auch, daß sowohl der Konservative Goerdeler als auch die deutschen Sozialdemokraten ein Verbleiben Österreichs beim Deutschen Reich gewünscht hätten. Verhielt man sich in Wien zunächst auf dem politischen Sektor abwartend, so drängte die militärische Seite der Planung des 20. Juli 1944 auch in bezug auf Österreich auf bestimmte Vorbereitungen. Als Mittelpunkt des Kreises der österreichischen Offiziere, die an der Erhebung beteiligt waren, kann sicherlich 9 der engste Mitarbeiter Stauffenbergs, Oberstleutnant i. G. Robert Bernardis, bezeichnet werden. Der am 7. August 1908 in Innsbruck geborene Offizier hat im österreichischen Bundesheer auch die schmerzlichen politischen Erfahrungen der Ersten Republik erlebt. Ursprünglich — wie ihm auch Freisler im Gerichtssaal entgegenhielt — war Bernardis ein Anhänger Starhembergs, um dann nach 1934 unter den Einfluß nationalsozialistisch gesinnter Offiziere zu geraten

Seine Erfahrung in Rußland, wo er die furchtbaren Auswirkungen des militärischen und politischen Größenwahns erkannte, rief in ihm die Wandlung hervor, welche Bernardis mehr und mehr in die Nähe Stauffenbergs brachte, an den er sich besonders anschloß und der ihm voll vertraute. Jedenfalls war am 8. April 1944 Bernardis längst für die Erhebung gewonnen, wie er einem väterlichen Freund, Eckart von Naso, an diesem Tag berichtete. Der temperamentvolle Generalstabsoffizier erhielt von seinem so verehrten Vorgesetzten Graf Stauffenberg die besondere Aufgabe, im Wehrkreis XVII (Wien, Niederösterreich, Steiermark, Oberösterreich, südliches Protektorat) Vorbereitungen zu treffen und Kontakt zu halten, die sich vor allem auf österreichische Offiziere innerhalb dieses Wehrkreises stützen sollten. Schon am 10. Januar 1944 meinte er in einem Brief an seine Frau, daß man sehr vorsichtig am Telefon sein müsse. Im Wehrkreis XVII war als Chef des Stabes der Oberst im Generalstab Heinrich Kodre eingeteilt, ein aus dem österreichischen Bundesheer hervorgegangener Offizier, der mit Bernardis sehr befreundet war. Bei mehreren Besuchen knapp vor dem 20. Juli 1944 äußerte sich Bernardis sehr abfällig über die Maßnahmen Hitlers, ohne jedoch die letzten Karten vor Kodre aufzudecken. Der wirkliche Vertrauensmann von Stauffenberg und Bernardis war der ebenfalls aus dem österreichischen Bundesheer stammende Hauptmann d. R. Karl Szokoll, der in der Organisationsabteilung des Wehrkreises XVII alle Maßnahmen zur Vorbereitung der „Aktion Walküre" zu treffen hatte und der auch schon Monate vor der Auslösung dieses Stichwortes bei zahlreichen Übungen und In-11 spektionen die Truppen besichtigte. War somit für Stauffenberg die Linie zu Kodre im Ernstfälle wichtig, so hatte die politische Seite der Erhebung einen weiteren wesentlichen Stützpunkt innerhalb des Wehrkreises XVII, nämlich den langjährigen Abwehroffizier Oberst Rudolf Graf Marogna-Redwitz. Der Graf, der mit Stauffenberg verwandt war und aus der Reichswehr kam, hielt nach allen Seiten Verbindungen, vor allem zu den im Untergrund kämpfenden österreichischen Widerstandsgruppen. Tiroler Querverbindungen sind ebenso nachweisbar wie Kontakte mit der Kirche und Fühlungnahmen mit den Sozialdemokraten. Selbst bis in die Zitadelle der Polizeiherrschaft reichten die Fäden Marognas, der unheimlich genau über Maßnahmen der Gestapo unterrichtet war und mehrmals zur Rettung politisch Verfolgter einzugreifen vermochte. Am 20. Juli 1944 befand er sich allerdings nicht mehr innerhalb der Abwehr, die längst durch die Maßnahmen Himmlers aufgespalten und zertrümmert worden war. Auf Weisung von Stauffenberg hatte er sich unter einem dienstlichen Vorwand nach Wien begeben, um hier die Dinge abzuwarten. Marognas Rolle stand fest: Er sollte als der militärische Beauftragte der Widerstandsgruppe in Österreich agieren, und auf seine Anregung sowie auf Besprechungen mit Goerdeler ging zumindest die Nominierung der politisch Beauftragten für den Wahlkreis XVII zurück, nämlich des Wiener Altbürgermeisters Karl Seitz für die Sozialdemokratische Partei und des langjährigen Landeshauptmannes Josef Reither für die Christlichsoziale Partei. Für den Bereich des Wehrkreises XVIII hatte man in Salzburg den Altlandeshauptmann Dr. Josef Rehrl und in Innsbruck den aus Dachau entlassenen Landesoberschützenmeister Dr. An-ton v. Mörl vorgesehen, die in keiner direkten Verbindung mit den Widerstandskreisen standen. Anders ist die Sache bei Reither, der direkt Fühlungnahme mit dem Kreisauer Kreis hatte.

War somit die Vorbereitung mit Hilfe wissender oder zumindest teilweise eingeweihter Politiker und Offiziere durchgeführt worden, so kam es am 20. Juli 1944 darauf an, in Wien sofort den gesamten Apparat der Partei und des Staates lahmzulegen. Der Kommandierende General des Wehrkreises XVII, General Schubert, war auf Erholungsurlaub, und das Telegramm Stauffenbergs erreichte Kodre, der ohne weiteres die Alarmierung durchführte Der einzige Wissende, nämlich Hauptmann Szokoll, gab die Befehle weiter, und in einer erhaltenen Niederschrift des Ordonnanzoffiziers Hauptmann d. R. Bolhammer können wir die dramatischen Vorgänge nachträglich verfolgen. Nicht nur, daß der stellvertretende Wehrkreiskommandant General Esebeck die Maßnahmen Kodres billigte, begann auch der Stadtkommandant Generalleutnant Sinzinger, ein mit dem Goldenen Parteiabzeichen ausgezeichneter österreichischer Offizier, mit der Verhaftung der Parteiführer, während Kodr die Spitzen der SS, der Gestapo, des SD und der Gauleitung in das Wehrkreiskommando bringen ließ. Die wichtigsten Personen, die ihren Dienstsitz in Wien hatten, der Gauleiter von Wien, Schirach, und der Gauleiter von Niederösterreich, Dr. Jury, waren leider abwesend. Dafür gelang es aber immerhin, den Gaupropagandaleiter Frauenfeld und die Kommandanten der Sicherheitspolizei und des SD durch verschiedene Maßnahmen im Wehrkreiskommando festzusetzen, so daß in den Abendstunden des 20. Juli 1944 in Wien die vollziehende Gewalt tatsächlich auf das Heer übergegangen war. Lediglich die Luftwaffenführung in Wien blieb abseits. Unter den im Wehrkreiskommando XVII Inhaftierten wehrte sich nur der Gaupropagandaleiter gegen seine Festsetzung mit dem Hinweis, „daß er fühle“, Hitler sei am Leben. Nach dem Bericht Bolhammers und nach der mündlichen Bestätigung von Kodre hat Stauffenberg mehrmals angerufen, und erst der berühmte Rund-spruch Keitels, der bekanntlich die einzelnen Kommandos anrief, löste Gegenmaßnahmen aus. Wie in Paris verabschiedeten sich Bewacher und Verhaftete mit verlegenem Lächeln, aber schon am nächsten Tag, als die zunächst verworrenen Maßnahmen der Gestapo anliefen und der zurückgekehrte Gauleiter Schirach dem Stadtkommandanten eigenhändig sein Parteiabzeichen abriß, zeigte sich, daß keineswegs nur „eine kleine Clique“ beteiligt war.

Die Untersuchung der Gestapoleitstelle Wien führte Kriminalrat Sanitzer, der nach eigener Angabe sofort an den Namen der sogenannten politisch Beauftragten erkannte, daß hier auch die ehemaligen Parteien Österreichs eine Rolle spielten Die Auslösung der Verhaftungsaktion „Gitter" betraf daher das ganze Land. Nach vorbereiteten Karteien wurden Sozialdemokraten, Katholiken, Monarchisten und Kommunisten verhaftet und vorsorglich in einzelne Lager gebracht. So wurden Dr. Schärf, Seitz, Reither, Figl und viele andere „vorsorglich" in Haft genommen. Aus dem Bericht eines Häftlings aus der Kärntner Gruppe ist zu ersehen, daß die Aktion in Kärnten beispielsweise am 22. Juli einsetzte und dort hauptsächlich unbedeutende ehemalige Anhänger der Heimwehr und der Christlichsozialen umfaßte. Selbst Kodre, der nur mittelbar beteiligt war, wurde nach kurzer Freilassung aus der Wehrmacht ausgestoßen und nach Mauthausen gebracht. Aus dem Kaltenbrunner-Bericht ist deutlich zu ersehen, wie sehr man durch die Massenverhaftungen eine Stimmungsverschlechterung in Österreich befürchtete. In einem Stimmungsbericht, den Kaltenbrunner im September 1944 verfaßte, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß im östlichen Österreich eine sehr niedergedrückte Stimmung herrsche und man für gewisse „Österreich-Tendenzen" sehr empfänglich sei

Die Ereignisse des 20. Juli 1944 haben in mehrfacher Hinsicht sich erst in den nächsten Monaten ausgewirkt. Es blieb nicht verborgen, daß größere Umstellungen innerhalb der Wehrmacht und Partei erfolgten. Durch den Prozeß vor dem Volksgerichtshof wurde die Beteiligung von Bernardis bekannt, und trotz der Verhaftungswellen verstärkte sich die Untergrundtätigkeit. So ist für Niederösterreich vor allem für die Bauernschaft eine besondere Aktivität nachweisbar, die von dem ehemaligen Direktor des Bauernbundes Leopold Figl und seinem Kreis ausging ,

Hätten der Befehl Stauffenbergs und seine Aktion Erfolg gehabt, so wäre sicherlich auch in Österreich das System zusammengebrochen, denn alle noch lebenden Augenzeugen der Verhaftungen im Wehrkreiskommando berichten, wie resigniert sich, mit der genannten Ausnahme, die Partei, Polizei und SS-Führer in ihr Schicksal ergaben

Fussnoten

Fußnoten

  1. L. Jedlicka, Der 20 Juli 1944 in Wien, in: Die Furche, Wien Nr. 29— 35. 1963

  2. L. Kerekes, Akten des ungarischen Ministeriums des Äußeren zur Vorgeschichte der Annexion Österreichs, ACTA H 1STORICA VOL. VII. No 3— 4 Budapest 1960, S 389 ff

  3. L. Jedlicka, Verfassungs-und Verwaltungsprobleme 1938— 1955, in: Die Entwicklung der Verfassung Österreichs vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Graz 1963, S 120 ff.

  4. Walter Thomas, Bis der Vorhang fiel, Dortmund 1947

  5. Johann Christoph Allmayer-Beck, Die Österreicher im Zweiten Weltkrieg, in: Unser Heer, Wien 1963, S. 342 ff.

  6. Vorbereitende Arbeiten des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte in Wien zur Dokumentation der österreichischen Widerstandsbewegung. Besonders die Dissertation von Edda Pfeifer: Die Widerstandsgruppe Karl Roman Scholz, Wien 1964.

  7. Kunrat Frhr. v Hammerstein, Spähtrupp, Stuttgart 1963, S 216, 231, 236, 254, 281. 285

  8. Albert Krebs, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, Hamburg 1964, S. 239, 273, 276, 318.

  9. Lois Weinberger, Tatsachen, Begegnungen und Gespräche, Wien 1948, S. 155, 175, 195. Ferner die dem österreichischen Institut für Zeitgeschichte Wien von Prof. Ludwig Reichhold übergebene Abschrift seiner 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft verfaßten Denkschrift.

  10. Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945 bis 1955, Wien 1955, S. 20 ff.

  11. Eugen Budde und Peter Lütsches: Der 20. Juli, Düsseldorf 1953, S 89 ff. Zur persönlichen und politischen Entwicklung von Oberstleutnant Bernardis stellte seine Witwe dem österreichischen Institut für Zeitgeschichte Material zur Verfügung, darunter eine umfangreiche Charakteristik aus der Feder von E. v. Naso.

  12. Erinnerungsniederschrift von Oberst a. D Heinrich Kodre, Wien 1963, österreichisches Institut für Zeitgeschichte.

  13. Akte des Wiener Volksgerichts Vg 2b Vr 586/47 gegen Johann Sanitzer (Bundesministerium für Justiz, Wien)

  14. L. Jedlicka, Ein unbekannter Bericht Kaltenbrunners über die Lage in Österreich im September 1944, in: Österreich in Geschichte und Literatur, Heft 2, 4. Jahrgang, Wien 1960, S. 82 ff.

  15. Susanne Seltenreich, Leopold Figl — Ein Österreicher, Wien 1962, S. 59 ff.

  16. Siehe die zitierte Niederschrift Kodres und die Erinnerungsniederschrift von Hauptmann Fritz Bolhämmer, ehemals Ordonnanzoffizier im Wehrkreis XVII, über die Vorgänge in der Nacht vom 20 /21. Juli 1944. Verfaßt vom 24. bis 29. Juli 1944. Fotokopie beim österreichischen Institut für Zeit-geschichte, Wien.

Weitere Inhalte

Ludwig Jedlicka, Dr. phil., Universitätsdozent für neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Wien, Leiter des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte, geb. 1916 in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur österreichischen Zeitgeschichte, darunter: Ein Heer im Schatten der Parteien, Wien 1955; ein Buch über den „ 20. Juli 1944 in Österreich“ erscheint 1964.