Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zur außenpolitischen Konzeption Becks und Goerdelers | APuZ 29/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 29/1964 Zum 20. Jahrestag der Erhebung des 20. Juli 1944 Betrachtungen zum militärischen Widerstand Offiziere mit politischem Verantwortungsbewußtsein Erhebung einer Elite gegen Tyrannei Österreich und der 20. Juli 1944 Zur außenpolitischen Konzeption Becks und Goerdelers Nationalrevolutionäre Offiziere gegen Hitler Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1931 -1939 von außen gesehen

Zur außenpolitischen Konzeption Becks und Goerdelers

Wilhelm Ritter von Schramm

I. Das Attentat war nicht die Hauptsache

Warum sprechen wir heute immer noch vom „ 20. Juli" 1944? Warum beschränken wir uns auf diesen einzigen Tag, wenn von dem Aufstand des Gewissens in Deutschland die Rede ist? Diese Beschränkung hatte recht unerwünschte psychologische Folgen, wie sich inzwischen gezeigt hat. Denn eben dadurch ist der Anschlag auf Hitler in seinem Hauptquartier . Wolfsschanze“ in Ostpreußen weit überbewertet worden. Die großen politischen Pläne und Ziele aber werden vergessen, die das andere Deutschland damals verfolgte. So wird den Meinungsverschiedenheiten weiter Vorschub geleistet. Denn die Art, wie das Attentat am 20. Juli 1944 durchgeführt wurde und wie es scheiterte, die Verwendung einer Zeitbombe oder Höllenmaschine, die Wirrnisse, die in Berlin entstanden, als sich herausstellte, daß Hitler lebte; diese Begleitumstände haben dazu geführt, daß viele vom „ 20. Juli“ überhaupt nichts wissen wollen und einige ihn noch heute verurteilen. Man muß das um der Wahrhaftigkeit willen sagen. Freilich sind diejenigen, die den „ 20. Juli* überhaupt ablehnen, in der Regel auch darüber nicht informiert, unter welchem Zwang der Verhältnisse die Beck-Stauffenberg-Gruppe überhaupt handelte und was sie mit dem Anschlag politisch bezweckte. Die Zeitgeschichte, aber auch die sogenannte Massenmedien sind da der breiteren Öffentlichkeit noch manche Aufklärung schuldig, nachdem die Umstände des Anschlags selbst bis in die Einzelheiten bekannt sind.

Im ganzen gesehen wäre es überhaupt besser, von der deutschen Erhebung von 1944 zu sprechen. Denn damals ist das andere Deutschland aufgestanden und zwar zu positiven Zwecken und Zielen: Das Attentat in der Wolfsschanze war ja nur das Mittel zum Zweck, den längst sinnlos gewordenen Zweiten Weltkrieg zu beenden und einen tragbaren europäischen Frieden zu gewinnen. Es sollte den Weg dafür frei machen, daß der immer fürchterlicheren Verwüstung und Zerstörung Einhalt geboten werden konnte. Die europäischen Völker sollten sich versöhnen, die Staaten Europas vereinigen. Das war das große Ziel der Erhebung von 1944. Der Sieg war den Alliierten sicher, gewiß: aber durfte er denn so groß werden, daß er die politische Ordnung des Abendlandes, in Jahrhunderten gewachsen, auflöste und zerstörte? So ergab sich schließlich der Zwang, daß Hitler fallen mußte, koste es, was es wollte. Er war das Hindernis auf dem Weg zur Beendigung des Krieges, bevor es zu spät war, wie sich dann auch gezeigt hat. Wie viele Werte wären erhalten, wie viele Menschenleben geschont worden, wenn der Krieg im Sommer 1944 beendet worden wäre. Im übrigen wollten die Männer der Erhebung durchaus nicht auf der Stelle kapitulieren. Auch das dürfte wenig bekannt sein. Sie gingen darauf aus, so viel wie möglich von der deutschen und europäischen Substanz zu erhalten, und zwar auf dem Weg von Verhandlungen. Sie wollten ihn politisch beenden, so daß sich Sieger und Besiegte an einen Tisch setzten.

II. Motive der Eingeweihten

Wer es erlebt hat, weiß es, wer nur noch davon gehört hat, wird sich heute kaum eine richtige Vorstellung davon machen können, wie die Mittel der Massenbeeinflussung in der Diktatur totalitärer Staaten monopolisiert sind. Der Staatsbürger, zum blinden Befehls-empfänger degradiert, wird nicht informiert, sondern propagandistisch bearbeitet. Auf diese Weise führte die Loyalität der Staats-B führung gegenüber, zu der die Deutschen nun einmal neigen, im Laufe des Krieges vollends zur politischen Erblindung. Das war auch das stärkste Handicap der Beck-Goerdeler-Gruppe, wie wir die Männer des . 20. Juli* bezeichnen wollen. Denn nur sie selbst erhielten echte Informationen und konnten ihre Entschlüsse auf Grund zutreffender Unterlagen fassen. Eine wichtige Informationsquelle für sie war vor allein die „Abwehr" durch Oberst Oster, dann General Olbricht vom Allgemeinen Heeresamt, der Beck regelmäßig über die Front-und Ersatzlage orientierte. Auch die Generäle und Generalstabsoffiziere, die ihn häufig besuchten, hielten Beck auf dem laufenden. Für Goerdeler waren die außen-politischen Verbindungen auch im Kriege nicht abgerissen. Vor allem von dem schwedischen Bankier Wallenberg erhielt er zuverlässige Informationen. So sah die Beck-Goerdeler-Gruppe die Weltlage als Ganzes und nicht durch die Brille der Propaganda oder so einseitig wie damals die Masse der in Unwissenheit gehaltenen Deutschen. Schon dadurch gab es also zwei Lager. Der Unterschied zwischen den Informierten und den Nicht-wissenden wirkt in der Beurteilung des „ 20. Juli" bis zum heutigen Tage nach, vor allem unter den Älteren.

Die Beck-Goerdeler-Gruppe ist von richtigen Informationen und dem Überblick über die weltpolitische Lage ausgegangen. Deshalb hatte sie auch in erster Linie politische Gründe und realpolitische Motive, erst in zweiter kam der Abscheu gegen Hitler. So ist auch das Motiv des „Tyrannenmordes“ entschieden überbewertet worden. Selbst wenn sich „der Führer" nicht zum Verbrecher vollendeten entwickelt hätte, bestand 1944 die zwingende Notwendigkeit, ihn zu beseitigen; denn seit Stalingrad war er aus physischen und psysischen Gründen nicht mehr in der Lage, auch nur noch einigermaßen vernünftig politisch und strategisch zu führen. Aber wer wußte das damals? Nur jene Eingeweihten! Wenn sie aber den Krieg politisch beenden wollten, dann mußte die große, die strategische Lage Deutschlands noch einmal stabilisiert werden, um Verhandlungen überhaupt zu ermöglichen. Es war nicht von ungefähr, daß Generaloberst Beck dem deutschen Waffenstillstandsangebot von 1918 eine eigene Studie gewidmet und seine Begleitumstände genau analysiert hat Er studierte die Voraussetzungen eines Waffenstillstands am Modellfall von 1918 und gewann dadurch ein geschärftes Urteil darüber, was im konkreten Falle zu tun war und was vermieden werden mußte. Beck entwickelte sich in diesen Jahren zum politischen Denker und Philosophen.

Ohne Beck, dem letzten Friedenschef des Generalstabs des Heeres, wäre die Erhebung von 1944 wohl kaum zustande gekommen. Von ihm ging bekanntlich bereits der erste aktive Widerstand gegen die Kriegspolitik Hitlers 1938 aus; dann hat er im Mittelpunkt der Opposition, später der Konspiration und schließlich der Erhebung gegen ihn gestanden. Auf ihn konzentrierten sich auch die Sympathien und Hoffnungen der Deutschen aus allen Gruppen und Schichten, die die Wiedergeburt des anderen Deutschland erwarteten. Im Generalstab des Heeres galt er als militärische Autorität ersten Ranges auch nach seiner Verabschiedung. Wenn er als künftiges Staatsoberhaupt ausersehen wurde, so war das vor allem seiner Persönlichkeit zu verdanken Von ihm war auch keine Militärdiktatur zu befürchten. Als es um die Vorbereitung des Staatsstreichs ging, war er der einzige Kandidat, der als künftiges Staatsoberhaupt in Betracht kam, und zwar sowohl bei der Rechten, den Generalen und Offizieren, dann bei der christlichen Mitte ebenso wie bei den Vertretern der Arbeiterschaft, den Sozialisten und den Gewerkschaftsführern. Er hat sich auch persönlich gut mit ihnen verstanden. Als im Frühjahr 1942 ein förmliches „Schattenkabinett" gebildet wurde, ist Generaloberst Beck zum künftigen Reichsverweser oder, wie er es genannt haben wollte, zum „Generalstatthalter" ausersehen worden. Der Kandidat für das Amt des Reichskanzlers in dieser Schattenregierung, Carl Goerdeler, der frühere Oberbürgermeister von Leipzig, war mehr umstritten. Er sprach und schrieb viel und war immer tätig unterwegs. Aber sein Optimismus ging oft zu weit und verlor dann den Boden unter den Füßen. Seine Selbstlosigkeit wie die Art, mit der er Menschen gewinnen und zu Mithelfern machen konnte, waren dagegen anerkannt. Beck hat immer zu ihm gehalten, weil sie in ihren grundsätzlichen politischen Anschauungen übereinstimmten Beide bekannten sich zu christlichen Prinzipien, auch in der Politik. Vor allem aber war Goerdeler unentbehrlich geworden, nachdem er als Vertreter der Firma Bosch von Berufs wegen im Lande umherreisen und seine Fäden ins Ausland spinnen konnte. Er ergänzte Beck nach der aktivistischen Seite. Sicher ist der Generaloberst mehr ein Mann des Wägens als des Wagens gewesen, mehr Clausewitz als Gneisenau. Aber auch deshalb erschien er vielen als der prädestinierte Gegenspieler Hitlers. Denn im Fall eines Staatsstreichs mußte genau überlegt werden, bevor man handelte, und diese gründlichen Überlegungen waren bei Beck gesichert. Schon als Generalstabschef hatte er in ständigem Kon30 takt mit dem Auswärtigen Amt gestanden und sich einen . Gesamtüberblick über alle Verhältnisse" verschafft, wie ihn Clausewitz vom Strategen fordert. Beck war so in der Außenpolitik vollkommen zuhause und frei von der Beschränktheit des militärischen Spezialisten. Er war einfach in seiner Lebenshaltung; auch in seinem Stil strebte er Einfachheit und Prägnanz an und gelangte damit in den „Studien" oft zu klassischen Formulierungen. Es sei nur an die Sentenz über die Aufgabe der Außenpolitik aus der Denkschrift „Deutschland in einem kommenden Kriege" vom Oktober 1938 erinnert, die lautet: „Unter den Vorbedingungen für eine erfolgreiche Kriegführung steht eine tüchtige auswärtige Politik obenan Sie schafft die Lage, in welcher ein Staat in den Krieg eintritt, und ist für sie verantwortlich. War sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen, so wird die Geschichte in dem Kriege nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern ihren Bankrott festzustellen haben."

In den beinahe sechs Jahren seiner Kaltstellung bis zu seinem Tod am 20. Juli 1944 hat Beck fast ebenso viel und methodisch gearbeitet wie in der Zeit, als er noch Chef des Generalstabs des Heeres war. Er trieb eingehende geschichtliche Studien, beschäftigte sich mit Kant, und maß die Kriegsgeschichte, vor allem die des Ersten Weltkrieges, mit den klassischen Maßstäben von Clausewitz. Das Studium der Politik Bismarcks führte ihn zu tieferen Einsichten in die Zusammenhänge von Politik und Kriegführung. Früh erkannte er den Vorrang der Politik im Sinn der Staatskunst. Von 1939 bis 1944 — mit Ausnahme der Zeit seiner schweren Erkrankung 1943 — hielt er in jedem Jahr einmal einen Vortrag in der Berliner „Mittwochsgesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung", in der traditiongemäß die höchsten Ansprüche gestellt wurden. Sie ist dann auch in den Kaltenbrunner-Berichten dargestellt worden „als ein Kristallisationspunkt .... in dem sich Persönlichkeiten defaitistischer und dem Nationalsozialismus feindlicher Haltung zusammenfanden und sich gegenseitig in ihrer Auffassung bestärkten." In der Tat gehörten der Mittwochsgesellschaft eine Reihe von Persönlichkeiten an, die zu den politischen Verbündeten Becks zählten, wie Ulrich von Hassel, der frühere deutsche Botschafter in Rom, oder der vormalige preu-ßische Finanzminister Popitz. Außerdem verkehrten in ihr u. a.der Chirurg Geheimrat Sauerbruch, der Soziologe und Pädagoge Eduard Spranger und der Kritiker Fechter, die indessen nicht eingeweiht wurden, dem Grundsatz gemäß, nur solche Persönlichkeiten zu Mitwissern zu machen, die am Tage des Staatsstreichs gebraucht wurden. Der „innere Kreis" blieb aus diesen Gründen relativ klein. Allerdings gab es darüber hinaus noch manche, die „Wind bekommen hatten" und mit dem Widerstandskreis sympathisierten.

Der politische und programmatische Gehalt der „Studien" Becks ist bis zum heutigen Tag kaum richtig bekannt. In unserem Zusammenhang aber muß vor allem darauf hingewiesen werden, daß sich mehrere von ihnen mit den „Nahtstellen" zwischen Krieg und Frieden befassen, mit denen sich bisher weder die Historiker noch die Politiker und Soldaten so eingehend beschäftigt haben, wie es ihre Problematik verdient. In der Studie „Der 29. September 1918" vor allem kann man nachlesen, wie man einen militärisch verlorenen Krieg doch noch politisch erträglich beendet. Wir werden darauf noch kommen. Im übrigen waren in den „Studien" die Prinzipien herausgestellt, nach denen die Beck-Goerdeler-Gruppe nach dem Staatsstreich die Politik führen und wie sie handeln wollte. Vor allem erklärte Beck, daß der „ehrenhafte und nützliche Ausgleich" in jedem Fall der Gewaltanwendung vorzuziehen sei. Auch die Großraumpolitik sah er voraus, die die technische wie die wirtschaftliche Entwicklung verlangte. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem totalen Krieg, die er im Juni 1942 der Berliner Mittwochsgesellschaft vortrug, war schließlich in verdeckter Form eine Art von „Regierungserklärung“ des vorgesehenen „Generalstatthalters" und wurde auch so verstanden.

Die politische Macht war nicht das Ziel der Wünsche Becks: In dieser Beziehung war er gewiß nicht das, was man einen Vollblut-Politiker nennt. Aber er hatte dafür einen ausgeprägten Sinn für politische Verantwortung. Im übrigen war ihm die Politik die Kunst des Möglichen und die Staatsführung wie die Kriegführung ein System von Aushilfen. Auch 1944 suchte er noch einen Ausweg, strategisch und politisch, um die Lebensrechte Deutschlands zu erhalten. Das einzige Mittel dazu sah er schon damals in der Einordnung Deutschlands in ein vereinigtes Europa. Nur dieses Konzept konnte den ideologischen Nationalismus überwinden, der zu den Weltkriegen geführt hatte, und zugleich einest neuen „Diktatfrieden" überflüssig machen. Das Wat der einfache Grundgedanke Becks, von einer großen Idee her ebenso bestimmt wie von politischer Vernunft, und darin wußte er sich einig mit Goerdeler. Ihr Ziel für Deutschland war gleichbedeutend mit dem abendländischen Fortschritt. Aus christlicher und ethischer Verantwortung jedoch schreckten beide noch lange vor einem Attentat zurück, wie dies ähnlich Rommel noch 1944 getan hat. Aber dann gab es schließlich doch keinen anderen Ausweg mehr, und im Juli 1944 war es so weit, daß gehandelt werden mußte: Man durste es nicht dazu kommen lassen, daß man keine Faustpfänder mehr in der Hand hatte.

III. Die Zwangslage Stauffenbergs

Man sollte sich also die damalige Gesamt-lage immer vor Augen halten, wenn man schon vom „ 20. Juli" spricht. Man sollte aber auch die Kaltenbrunner-Berichte ebenso kritisch wie eingehend studieren, um die politischen und sozialen Ziele zu kennen, die nach dem Anschlag verwirklicht werden sollten. Die Lage der deutschen Wehrmacht und damit des Reiches hatte sich seit dem Spätsommer 1943 immer weiter verschlechtert; ein militärischer Sieg war ausgeschlossen. Trotzdem aber war sie im großen und ganzen nicht so verfahren, daß sich überhaupt keine Auswege mehr zeigten. Ausweglos war sie nur unter der politischen und strategischen Führung Hitlers. Nur wenn er blieb, war die Katastrophe nicht abzuwenden. Wie aber, wenn man die politische Führung und die strategischen Führungsmethoden von Grund auf änderte? Wenn man die rechtlichen und vernünftigen Grundsätze erneuerte, denen Deutschland seinen Aufstieg verdankte? Was Beck vorschwebte, läßt sich aus der „Geheimen Denkschrift Goerdelers für die Generalität bestimmt" ermitteln, die Ritter als Anhang VII seines Buches abdruckt Konzentration der Kräfte auf die innere Linie statt der bisherigen Verzettelung an der europäischen Peripherie. Dann war ohne Zweifel eine neue Lage geschaffen — auch für die Alliierten. Der militärische Verlust des Krieges war nicht mehr konnte abzuwenden, aber gewiß, die Endlage doch militärisch noch so verbessert werden, daß Verhandlungen möglich wurden und der Krieg in Europa politisch beendet werden konnte. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß sich Beck dieses Ziel noch im 1944 gesetzt Juli hat und auch am 20. Juli danach handelte. Durch Olbricht und Stauffenberg hatte er einen ziemlich genauen Überblick über die operativen Reserven, die dann zur Verfügung gestanden hätten.

Allerdings duldete im Juli 1944 die Lage im Osten keinen Aufschub mehr. Ende Juni war die Heeresgruppe Mitte unter den Angriffs-schlägen der Sowjetrussen zusammengebrochen. Auch die nördliche wie die südliche Heeresgruppe drohten bereits mit in die Niederlage gerissen zu werden. Nicht sehr viel günstiger stand es an der Westfront: Nach der Lagebeurteilung Rommels, die Oberstleutnant v. Hofacker am 11. Juli seinem Vetter Stauffenberg überbrachte, war auch mit einem Einsturz der Normandiefront Ende Juli oder spätestens Anfang August zu rechnen. In Italien war Anfang Juni Rom geräumt worden; langsam, doch unaufhaltsam drangen die Engländer und Amerikaner auf der Apenninhalbinsel nach Norden vor. Schließlich war durch die Verhaftung der beiden Sozialisten Professor Theodor Reichwein und Julius Leber, die zu den Eingeweihten gehörten, eine weitere Zwangslage geschaffen, die zum sofortigen Handeln zwang. So hat die alte soldatische Faustregel schließlich auch mit den Ausschlag gegeben, daß Handeln in jedem Fall besser sei als ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel. Der Krieg war in sein letztes Stadium eingetreten und mußte anders geführt werden, um noch halbwegs glimpflich zu enden. Dieses Ziel hatten Beck und Goerdeler und mit ihnen Stauffenberg im Juli 1944 vor Augen.

Der schwerste Entschluß zum war der Attentat. Stauffenberg hatte sich persönlich dazu verpflichtet. Beck hat er furchtbare Gewissens-skrupel bereitet. Gesundheitlich war er nach seinen schweren Operationen des Jahres 1943 nicht mehr auf der Höhe, wie von verschiedenen Seiten bezeugt wird. In Schweiß gebadet hat er die Nächte vom 15. bis zum 20. Juli verbracht, wie die Vernehmungen seiner Haushälterin durch die Geheime Staatspolizei ergaben. Beck rang schwer mit seinem christlichen Gewissen.

Aber auch Stauffenberg geriet in eine Zwangslage sondergleichen. Er, der gläubige Katho32 lik, hatte sein Ehrenwort gegeben, daß er das Attentat auf sich nehmen werde. Er war auch ohne Zweifel die treibende Kraft zu dieser gewaltsamen Lösung, vor allem nachdem sich Hitler am 19. Juni, unerwartet aus Frankreich nach Berchtesgaden zurückkehrend, der Festnahme durch Rommel mit der Witterung eines Wolfes entzogen hatte. So war Stauffenberg vollends seit dem 1. Juli die Schlüsselfigur der Erhebung. Er war nun Chef des Stabes des Ersatzheeres und kam in dieser Eigenschaft regelmäßig zum Vortrag in der Lagebesprechung bei Hitler. Damit war er auch der einzige unter den Verschworenen überhaupt, der noch des öfteren Zutritt zum Sperrkreis I hatte, aus dem in der letzten Phase des Krieges Hitler nur noch in Ausnahmefällen herauskam. Das muß man sich immer gegenwärtig halten. Aber dann war da noch ein weiteres Handicap für Stauffenberg: Er konnte nicht schießen, weil er ja nur ein Auge und nur noch zwei Finger hatte und diese nur an der linken Hand.

Schließlich gab es noch einen weiteren Zwang, unter dem Stauffenberg handeln mußte: Als Stabschef wurde er auch in Berlin gebraucht, um die Operation „Walküre“ durchzuführen, und endlich war seine Anwesenheit dort unerläßlich, weil eben Beck nicht mehr über seine volle Gesundheit, Entschlußkraft und Konzentrationsfähigkeit verfügte. Aber das wußten wohl nur diejenigen, die ihm damals am nächsten standen. Seine nächtlichen Schweißausbrüche waren dafür bezeichnend. Kennzeichnend für das Absinken von Becks geistiger Präsenz ist aber auch sein letzter Vortrag über den Marschall Foch, den er noch Ende Mai in der Berliner Mittwochsgesellschaft gehalten hatte. Gewiß, dieser Vortrag war indirekt ein hochherziges Anerbieten an die Franzosen, mit der „Erbfeindschaft“ Schluß zu machen, wie er auch ihre soldatische und politische Leistung im Ersten Weltkrieg würdigte, aber die Löwenklaue wird man darin vermissen, die lapidare Formulierung und methodische Darstellung, durch die sich die früheren Studien Becks auszeichnen.

So wurde Stauffenberg durch die Umstände in eine Doppelrolle gedrängt. Er allein kam noch als Attentäter in Frage und war zugleich der Chef der Operationen, die nach dem Anschlag in Gang kommen sollten. Die Zeit aber, die er zum Flug von Ostpreußen bis zur Rückkehr in die Bendlerstraße brauchte, ging praktisch verloren, weil es unmöglich war, das Führerhauptquartier von seinen Nachrichten-verbindungen abzuschneiden. Genau das war eingetreten, was Clausewitz als die Erfahrung aller extremen Lagen herausstellte. Es gab Friktionen, an die niemand gedacht hatte, die man nicht „einzuplanen“ vermochte. Die letzte Entscheidung traf nicht der Handelnde, sondern der Herr der Geschichte, der höher als alle Vernunft ist. Die Christen hatten sich dieser Entscheidung zu beugen. Sie wurden aus Umstürzlern zu Blutzeugen. Aber vielleicht wurde ihre Nachwirkung darum um so größer. Sie mußten sterben, wie das Samenkorn stirbt und untergeht, bevor es Früchte bringen kann.

IV. Die politischen Ziele

Was aber hat die Beck-Goerdeler-Gruppe nach gelungenem Anschlag gewollt? Was waren ihre Ziele, im großen Rahmen gesehen? Wie sah die „neue Lage" aus, die sie anstrebten? Die Beantwortung dieser Fragen ist durch die Beschränkung auf den „ 20. Juli'und die Umstände des Anschlags bisher zu kurz gekommen. War am 20. Juli schon alles verloren, so daß nur noch die bedingungslose Kapitulation übrigblieb? Gerade diese Frage ist, wir wiederholen es, zu verneinen und noch am Nachmittag dieses Tages von Stauffenberg ebenso verneint worden wie von Generaloberst Beck als designiertem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht. Sie wußten, daß es bereits sehr spät war und waren sich klar darüber, daß es schwer halten werde, eine sinnvolle europäische Friedensordnung zu gewin-nen, aber sie wagten dafür das Äußerste. Es ist eine tragische Ironie der Geschichte, daß dies gerade die Kaltenbrunner-Berichte bezeugen, und zwar dadurch, daß sie die Denkschriften der Erhebung von 1944, die Regierungserklärung und andere Dokumente im authentischen Wortlaut wiedergeben. Erst dadurch sind wir über die großen politischen Ziele der Erhebung von 1944 genau im Bilde.

Beginnen wir mit der Innenpolitik. Der „innere Kreis“, der von den ehemaligen Deutsch-nationalen bis zu den Sozialdemokraten reichte, war sich vor allem darüber einig, daß der Rechtsstaat wiederhergestellt werden müsse. In dem Entwurf zu einer Rundfunkansprache, die in den Papieren Goerdelers gefunden wurde, heißt es ausdrücklich: „Das Gebäude des Staates, das auf Unrecht, Willkür, Verbrechen aller Art, Eigennutz, Lüge aufgebaut wurde, wird niedergerissen werden. Das Fundament des neuen Staatsbaus werden die sicheren Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens bilden, werden Recht und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Anstand, Sauberkeit, Vernunft und Rücksicht aufeinander und Rücksicht auf die von Gott geschaffenen Völker und Lebensinteressen sein." In der Studie Becks „Die Lehre vom totalen Krieg", die er im Frühjahr 1942 verfaßte, hatte es bereits geheißen: „Die Regelung des Lebens der Völker untereinander ist tägliche Aufgabe der praktischen Politik. Sie ist wie die Strategie ein flüssiges Element, das sich den Personen und Verhältnissen anpassen muß und nur das Mögliche erreichen kann. Sie verlangt Kenntnis der eigenen Geschichte und der Geschichte anderer Völker, Blick für die in der Welt wirkenden Kräfte und die jeweilige Lage. Sie verlangt aber auch Rücksicht auf die vielen Imponderabilien, die sich schon aus der einen Tatsache ergeben, daß kein Volk auf dieser Welt allein lebt, daß Gott vielmehr auch noch andere Völker geschaffen hat und sich entwickeln ließ, ohne unter ihnen eine Rangordnung festzusetzen, und daß kein Kulturvolk auf sich allein gestellt bleiben kann." Das war ein eindeutiges Bekenntnis zu einer christlichen Auffassung vom Wesen der Politik.

Wie aber wurde die Lage im weltpolitischen Rahmen beurteilt? In demselben Rundfunkaufruf, dessen Entwurf entweder nach allen Indizien von Beck selbst stammt oder von ihm inspiriert wurde, heißt es ausdrücklich: „Wir wissen noch nicht, wie sich das Ausland zu uns stellt.“ In der Erklärung zur Atlantik-Charta Roosevelts und Churchills, die Goerdeler verfaßte und die bereits vom 13. 12. 1942 datiert ist, also aus einer Zeit, in der sich Stalingrad abzeichnete, wird grundsätzlich gefordert: „Der Friede muß ein beständiger sein. Das kann er nur, wenn er den Völkern Selbständigkeit und Ehre läßt und ihnen ermöglicht, die Schäden des Krieges zu heilen, die Schulden durch Arbeit abzutragen und dann wieder Wohlstand durch Leistung aufzubauen. Dazu ist notwendig, daß er die seelischen, die geistigen und die materiellen Kräfte des Menschen zur harmonischen Entfaltung kommen läßt. Unerläßliche Grundlage ist Zusammenarbeit in christlicher Hilfsbereitschaft." Wie aber sollte man dieses Ziel erreichen? Wie wollte man mit den bisherigen Gegnern zu einem Ausgleich, zu einer dauernden Verständigung und Versöhnung kommen? Zwei sichere Indizien für die Vorstellungen Becks vor allem sind vorhanden, die unseres Erachtens bisher noch nicht genügend berücksichtigt wurden. Es sind dies:

1. Die schon erwähnte Rede Becks über Marchall Foch, die für eine endgültige Aussöhnung mit Frankreich plädierte, eine Absicht, die Beck schon 1937 bei seiner Pariser Reise hatte erkennen lassen.

2. Der Rommel-Stülpnagel-Plan vom Mai 1944, der, offensichtlich von Beck inspiriert, die klare Option für den Westen bedeutete, wie die Initiative zu einer Politik, wie sie heute die Deutsche Bundesrepublik verwirklicht. Bevor es freilich zu diesem Plan kommen konnte, waren noch einige Hürden zu nehmen.

V. Auf der Suche nach militärischer Macht

Bei der Diskussion über den sogenannten „ 20. Juli" hat bisher zumeist das ethische Motiv im Vordergrund gestanden. Gewiß hat es sich damals um einen echten Aufstand des Gewissens gehandelt. Aber dieses Gewissen hatte nicht nur ethische, sondern auch höchst realpolitische Beweggründe. Es war durch eine ausgesprochene politische Verantwortungsethik bestimmt. Infolgedessen mußte auch die Frage nach dem Gelingen, den ausreichenden Mitteln für einen Staatsstreich gestellt werden, also die nach der bewaffneten Macht, die am Tage X zur Verfügung stehen würde. Vor allem für einen so gewissenhaften Planer wie Beck war dies selbstverständlich. Aber woher sollte man Truppen für eine „Revolution von oben* nehmen? Es gab zunächst nur diejenigen des Ersatzheeres, über die General Olbricht unter gewissen Voraussetzungen, z. B. im Fall innerer Unruhen, verfügte. Sie waren indessen in keinem Fall ausreichend. Außerdem war unbedingt zu vermeiden, daß es später wieder hieß, die Heimat sei der kämpfenden Front in den Rücken gefallen. Also mußte einer der Heer-führer, ein Heeresgruppenbefehlshaber für den Staatsstreich gewonnen werden. Solange ein solcher Mann fehlte, der außerdem so viel Ansehen besaß, daß er die eigene Truppe ebenso wie andere Oberbefehlshaber mitriß, solange blieb der Staatsstreich ein sinnloses Abenteuer, nicht zu verantworten und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Man konnte nicht einfach losschlagen, so sehr auch die Lage drängte. Der Nicht-Soldat Hans-Bernd Gisevius hat dies in seinen Klagen und Anklagen gegen die ewig zaudernden Generäle ebenso verkannt, wie der Berufs-diplomat Ulrich v. Hassell bei den Generälen, den . Josephs“, wie er sie nannte, eine Entscheidungsfreiheit voraussetzte, die durchaus fehlte. Auch in diesem Fall wäre es gut gewesen, hätten die konspirierenden Politiker und Diplomaten mehr von militärischen und strategischen Dingen verstanden. Viele Meinungsverschiedenheiten wären dann gar nicht aufgekommen.

Wie aber war die Lage Ende 1943? Der Generaloberst als künftiger Generalstatthalter verfügte, wie gesagt, nur über Truppen des Ersatzheeres mit Hilfe von General Olbricht. So sind Beck und Goerdeler ganz bewußt darauf ausgegangen, Verbündete unter den Feldmarschällen zu suchen, die an der Front standen und Heeresgruppen befehligten. Der Brief vom 17. 5. 1943 an Olbricht, den Gerhard Ritter wiedergibt, ist dafür ein eindrucksvolles Zeugnis. In der Tat hatte die damalige Opposition zuerst den Feldmarschall v. Witz-leben, den damaligen Oberbefehlshaber West, für ihre Pläne gewonnen; dann aber wurde dieser Anfang Februar 1942 verabschiedet und man ging weiter auf die Suche. Da war vor allem Goerdeler unermüdlich. Der nächste Verbündete war dann der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront, Feldmarschall v. Kluge: Im September 1943 kam es in Berlin zu einer langen Aussprache zwischen Beck, Goerdeler und Kluge, seit der Beck Kluge als Eingeweihten und potentiellen Verbündeten betrachtete. Aber bereits am 12. Oktober 1943 wurde Kluge bei einem Autounfall so schwer verletzt, daß er lange Monate für die Erhebung ausfiel, und zwar gerade in der entscheidenden Wende.

Erst im Januar 1944 konnte Beck wieder einen Befehlshaber gewinnen, seinen alten Vertrauten und Mitarbeiter, den General der Infanterie Karl Heinrich v. Stülpnagel, jetzt Militärbefehlshaber in Frankreich. Bei dessen Besuch in Berlin waren sich beide, die schon im Generalstab des Heeres in ihrer Kritik an der NS-Politik übereinstimmten, in der Beurteilung der militärischen wie der weltpolitischen Lage einig, vor allem auch in der Verurteilung Hitlers. Im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich hatte sich schon eine Widerstandsgruppe gebildet, wie Stülpnagel wußte, und so stellte sich auch der Militärbefehlshaber selbst seinem früheren Chef zur Verfügung. Er tat es nicht ohne Bedenken wegen des späten Zeitpunkts, wie er auch seinen Vertrauten gegenüber zum Ausdruck brachte. Es war auch keine ansehnliche Streitmacht, über die er mit seinen Sicherungstruppen in Frankreich verfügte. Nur in Paris hatte er drei Regimenter, die als einigermaßen kampf-kräftig gelten konnten und die dann auch am 20. Juli energisch handelten, als sie den gesamten SD verhafteten.

Der Januar 1944 war also ein neuer Anfang. Denn was half die Beseitigung Hitlers, wenn die Erhebung nicht Macht genug besaß, eine neue Staats-und Rechtsordnung durchzusetzen? Das hat z. B. auch Hans-Bernd Gisevius offenbar nicht genügend bedacht, überhaupt scheinen die Kritiker des vermeintlichen Zauderns der Generäle das machtpolitische Moment zu übersehen. Man mußte einigermaßen sicher sein, daß die Wehrmacht, das Heer vor allem, . mitzog“, und dazu brauchte man einen der anerkannten Heerführer, einen Frontbefehlshaber. Es war sinnlos und weder politisch noch militärisch zu verantworten, wenn man einfach von heute auf morgen los-schlug, nur weil sich die militärische Lage weiter verschlechterte. Allerdings haben auch manche der Politiker, die Beck nahestanden, ja Goerdeler selbst, diesen Zwang zum Abwarten nicht begriffen. Freilich hatte das Warten außerdem auch noch andere, irrationale tiefenpsychologische Gründe.

VI. Rommel als neuer Verbündeter

Nach dem Besuch Stülpnagels bei Beck hat Goerdeler eine neue Aktivität entfaltet. Seine Bemühungen um einen Frontbefehlshaber als Verbündeten waren auch nicht vergeblich, nachdem Kluge bis auf weiteres ausfiel. Es gelang Goerdeler über den damaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Dr. Karl Strölin, von dem er wußte, daß auch er einen bösen Aus-B gang des Krieges voraussah. Offenbar von Goerdeler veranlaßt oder bestärkt, besuchte Strölin Feldmarschall Rommel in Herrlingen bei Ulm, wo Rommel eben ein neues Heim für seine Familie bezogen hatte. Es kam zu einer vertraulichen Unterredung. Im Laufe der nächsten Wochen ist dann Rommel, nun Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe im Westen, immer mehr zu der gleichen Überzeugung wie Beck und Goerdeler gekommen: Hitler mußte beseitigt werden und das NS-Regime verschwinden, wenn der nicht zu einer Krieg totalen Vernichtung führen sollte. Für eine direkte Aktion wurde dann Rommel vollends durch seinen neuen Chef des Stabes, General Speidel, gewonnen Speidel vermittelte auch zwischen Rommel und Stülpnagel, dem Militärbefehlshaber in Frankreich. Schließlich war über dessen nächsten Vertrauten, den Oberstleutnant d. R. v. Hofacker, der Kreis zu Beck geschlossen. Der vorgesehene Generalstatthalter hatte nicht nur die Unterstützung des Oberbefehlshabers einer Heeresgruppe, sondern auch den volkstümlichsten aller Feldmarschälle auf seiner Seite.

So kam es, daß im Mai 1944 die Sache der Erhebung so günstig stand wie niemals im ganzen Krieg. Es war so weit, daß man sich über die großen Ziele einig war und in die operative Planung eintreten konnte. Die Berliner Gruppe konnte den führenden Generälen im Westen die Initiative überlassen, weil dort die größten politischen Möglichkeiten bestanden und man noch mit einiger Aktionsfreiheit rechnen konnte. Beck sah hoffnungsvoll nach Frankreich, wohin, wie Speidel schreibt, eine geheime Verbindung bestand, die nie entdeckt wurde. Noch hatte die Invasion nicht begonnen.

VII. Der Rommel-Stülpnagel-Plan

Der 15. Mai 1944 ist von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Erhebung. Denn an diesem Tage kommt es aus Anlaß einer Familienfeier in einem Landhaus in Mareil-Marly bei Paris, ganz in der Nähe des heutigen Hauptquartiers der NATO, zu einem nach außen nicht in Erscheinung getretenen Treffen zwischen Rommel und Stülpnagel und einer langen Aussprache zwischen den beiden. Dabei einigte man sich endgültig über die Pläne, die die beiden Chefs inzwischen ausgearbeitet hatten. So ist hier auch eine Entscheidung gefallen, die zu außerordentlichen Folgen hätte führen müssen: Man will, ganz im Sinne Becks, dem die Schonung Frankreichs besonders am Herzen liegt, die besetzten Westgebiete räumen, oder man will diesen Preis für Verhandlungen anbieten, die zunächst der Einstellung des Bombenkriegs gegen die Zivilbevölkerung gelten sollen. Wie sehr Beck die endgültige Aussöhnung mit Frankreich wünscht, weiß niemand besser als Speidel, denn er hat ja den damaligen Generalstabschef auf dessen Frankreichreise 1937 begleitet. Er wie Rommel wissen ferner, daß es auch der Stratege Beck ist, der die Räumungen zugleich als Konzentration der Kräfte auf die Reichsverteidigung betrachtet, um damit eine neue politische Ausgangslage des Krieges zu schaffen. So kommt ein politisch wie strategisch gleich wichtiger Plan zustande.

Dieser Rommel-Stülpnagel-Plan, wie wir ihn nennen wollen, ist leider nicht so bekannt, wie er seinem Inhalt nach sein müßte. Vor allem ist er bisher auf seine möglichen Folgen und tatsächlichen Absichten hin noch nicht genügend analysiert worden, nachdem er von Speidel in seinem Buch in großen Umrissen mitgeteilt wurde. Durch den Gestapo-Bericht, den Gerhard Ritter als Anhang XII zu seinem Goerdeler-Buch veröffentlicht wird dieser Plan indirekt bestätigt. Aus diesem Bericht geht ferner hervor, daß Hauptmann Kaiser in Berlin für Stauffenberg eine Aktennotiz verfaßte, worüber mit den westlichen Alliierten verhandelt werden sollte, nachdem bereits über Mittelsmänner zwei Verbindungen nach England hergestellt worden seien. Die elf Punkte dieser Notiz decken sich ziemlich genau mit dem Inhalt des Planes, den Speidel veröffentlicht. Die Übereinstimmung und Koordinierung des Vorgehens zwischen Berlin und Paris erscheint damit gesichert. Wenige Tage später hält Beck seinen Vortrag über den Marschall Foch. Der Rommel-Stülpnagel-Plan sah das Folgende vor:

Westen Räumung der besetzten Westgebiete. Rückführung des Westheeres hinter den Westwall. Übergabe der Verwaltung an die Alliierten. Sofortige Einstellung des feindlichen Bomben-krieges gegen die Heimat.

Aufruf an das deutsche Volk über alle Sender: Schonungslose Aufklärung über die wahre politische und militärische Lage und ihre Ursachen, weiter über die Verbrechen der Staatsführung Hitlers.

Unterrichtung der Truppe über die Notwendigkeit aller Maßnahmen zur Rettung vor der Katastrophe.

In der Aktennotiz des Hauptmann Kaiser heißt es damit übereinstimmend:

1. Sofortige Einstellung des Luftkrieges.

2. Aufgabe der Invasionspläne.

3. Vermeiden weiterer Blutopfer.

4. Räumung aller besetzten Gebiete im Norden, Westen, Süden.

Heimat Festsetzung Adolf Hitlers, um ihn vor ein deutsches Gericht zu stellen. Ausführung durch die Widerstandskräfte im Oberkommando des Heeres bzw. durch heranzuführende Panzerverbände ... Sturz der NS-Gewaltherrschaft. Vorläufige Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland durch die Widerstandskräfte aller Schichten und Stände unter Führung von Generaloberst Beck, Oberbürgermeister Dr. Goerdeler und des früheren hessischen Innenministers und Gewerkschaftsführers Leuschner. Militärdiktatur, Versöhnung im Inneren und keine Spaltung. Vorbereitung eines schöpferischen Friedens im Rahmen eines vereinigten Europas. Zusammenarbeit aller Aufbauwilligen. Kaiser:

5. Vermeidung jeder Besetzung.

6. Freie Regierung, selbstständige, selbstgewählte Verfassung.

7. Vollkommene Mitwirkung bei der Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen, bei der Vorbereitung der Gestaltung des Friedens.

Osten Weiterführung des Kampfes (Hauptmann Kaiser „Dauernde Verteidigungsfähigkeit im Osten"). Halten einer verkürzten Ostfront auf der ungefähren Linie: Donaumündung — Karpaten — Lemberg — Weichsel — Memel. Umgehende Räumung von Kurland und anderen „Festungen".

VIII. Analyse der Planung

Es ist verwunderlich, daß bisher noch keine tiefer dringende Analyse dieser Planung versucht wurde. Sie bedeutete weltpolitisch:

1. Eine klare Option für den Westen und dessen Übergewicht in Europa.

2. Eine Konzentration der eigenen Kräfte zur Verteidigung des Reiches auf der inneren Linie.

3. Aufbau einer verteidigungskräftigen Ostfront zur Abwehr des Bolschewismus von Mitteleuropa und dem Balkan.

4. Bewahrung Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Norwegens vor weiteren kriegerischen Zerstörungen.

Wenn die westlichen Alliierten auf diesen Plan eingegangen wären, hätte sich folgende Lage ergeben:

a) Wiederherstellung der Souveränität der genannten Länder ohne materielle und blutige Opfer. b) Übergewicht der Amerikaner, deren Armee unverbraucht in Europa eingreifen konnte.

c) Sicherung des Balkans gegen den sowjetrussischen Zugriff.

So stellten die Planungen zugleich ein politisches Angebot dar, dessen Bedeutung feststand. Sie wären der Mehrzahl der Europäer auch in humaner Beziehung zugute gekommen. Da die freiwillige Räumung der besetzten Gebiete politisches Gewicht hatte, konnte man wohl die Gegenleistung dafür verlangen, daß der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung eingestellt wurde. Damit sollten offenbar die Verhandlungen beginnen, um die Formel von Casablanca zu umgehen.

Jedenfalls haben Vernunft und Menschlichkeit bei diesem Plan Pate gestanden. Hätte man ihn über den Äther ausstrahlen können, hätten sich in den freien Ländern möglicherweise auch Stimmen dafür wie für einen Verhandlungsfrieden mit einem anderen Deutschland erhoben. Es ist nicht zu bestreiten, daß er auch psychologisch durchdacht war.

Im übrigen scheint sich Beck viel weniger Illusionen als Goerdeler gemacht zu haben, und seine deutschen Partner in Frankreich auch nicht. Keiner der Emissäre, die mit Briten oder Amerikanern sprachen, kam mit einem Zugeständnis nach Hause. Aber auch ohne diese Erleichterung mußte man wagen, eine neue Lage zu schaffen, eine andere strategische und politische Ausgangslage des Krieges. Beck hatte sich zu staatsmännischem Denken und Handeln durchgerungen, aber er hatte nicht aufgehört, auch als Stratege durchdacht zu planen. Im übrigen war aber auch ein gewisser Optimismus Goerdelers begreiflich: Angesichts seiner überlieferten Politik des europäischen Gleichgewichts, meinte er, konnte England aui die Dauer nicht zulassen, daß Rußland in Europa zu stark wurde. Zwischen dem Gesellschaftssystem der Vereinigten Staaten und Großbritanniens auf der einen und dem Sowjetrußlands auf der anderen Seite bestanden unvereinbare Gegensätze. Früher oder später mußten sie sich auswirken — und dann brauchten die Westmächte Deutschland. Freilich hatte dies zur Voraussetzung, daß auch Deutschland sein System änderte und wieder bündnisfähig wurde. Deshalb war auch die Aburteilung der NS-Kriegsverbrecher durch deutsche Gerichte ein Politikum ersten Ranges. Wenn das besiegte Deutschland in ein vereinigtes Europa eingegliedert wurde, konnten die Westmächte durchaus die Kontrolle übernehmen, ohne daß dies diffamierende Formen anzunehmen brauchte.

Nach den „Studien" hat Beck, der die „Geschichte als unerschöpfliches und einziges Arsenal des wissenschaftlichen Studiums der Politik" bezeichnete jedenfalls weiter gesehen als die damaligen Politiker des Westens. Er wollte auch verhindern, daß politische Rache geübt wurde. So machte er sich als Christ wie als philosophischer Denker auch über die künftige Friedensordnung bestimmte Gedanken. Als Politiker von staatsmännischem Rang aber, der er inzwischen war, mußte er auch die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich die Gegenseite besann. Deshalb war er entschlossen, den Krieg zunächst weiterzuführen, wie wir noch sehen werden, doch eben mit anderen Voraussetzungen. Im übrigen ist es eindrucksvoll zu verfolgen, wie Beck und Goerdeler an dem Grundprinzip der Europa-Pläne seit 1942 festhalten, auch wenn die veränderte Lage eine immer neue Anpassung verlangte. Aber eine solche Anpassung war für den Strategen Beck selbstverständlich. Im Jahre 1944 wurde er von einem Meister der militärischen zu einem solchen der politischen Strategie: Ihr Ziel war, trotz allem noch eine erträgliche politische Friedensordnung für Europa zu gewinnen.

IX. Die Europa-Pläne

Gerhard Ritter hat mit seinem umfangreichen Goerdeler-Werk die bisher wichtigste und gehaltvollste Darstellung der deutschen Widerstandsbewegung gegeben. Er hat vor allem auch ihre Vorgeschichte und ihren Werdegang aufgehellt und so alle Voraussetzungen für eine Gesamtschau ihrer Geschichte geschaffen. Nur brachte es sein Thema mit sich, daß er von Goerdeler ausging und nicht von Beck. Dadurch verschieben sich unseres Erachtens manchmal die Perspektiven. An dem Idealismus Goerdelers, an seiner Selbstlosigkeit der Sache zuliebe ist nicht zu zweifeln, wie Ritter nachweist. Ferner ist sicher, daß Goerdeler mit Beck in allen grundsätzlichen Fragen übereinstimmte und daß sie ausgezeichnet zusammengearbeitet haben. Aber Becks Horizont ist umfassender, seine Gedanken und Vorstellungen sind klarer und realistischer. Das wird vor allem aus den „Studien" offenkundig. Beck verliert nie einer abstrakten Ethik zuliebe den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen. Als Chef des Generalstabs war er darin geübt, eine gedankliche Konzeption in die Tat umzusetzen. Er war ein Meister zutreffender Lagebeurteilung, wie sich 1938 gezeigt hat, und sah kommende Entwicklungen voraus. Die wissenschaftlichen Methoden des Generalstabs, in Generationen systematisch erarbeitet, standen ihm zur Verfügung, um auch eine schwierige politische Lage zu meistern.

Beck war aber auch der führende Europäer in der deutschen Widerstandsbewegung. Bereits 1937 bei seiner „privaten“ Reise zur Pariser Weltausstellung hatte sich das gezeigt; vollends wird diese Tendenz durch die „Studien offenkundig. Es ist begreiflich, daß Ritter im 14. Kapitel seines Buches, in dem er die Friedens-und Zukunftspläne für Europa behan-delt, nicht davon spricht, denn die Studien sind erst 1955 erschienen. Sie gaben und geben aber für die Friedens-und Zukunftspläne Europas neue Aspekte, vor allem jene fünf Punkte, die sich mit den Voraussetzungen einer praktischen Politik im Futurum beschäftigen i Diese fünf Punkte geben auch den Plänen und Denkschriften, wie sie die Kaltenbrunner -Berichte im authentischen Wortlaut mitteilen, die programmatische Direktive.

So muß man die Denkschriften und Entwürfe, die in den Papieren Goerdelers gefunden wurden, immer wieder mit Becks Studien vergleichen. Ihre inhaltliche Übereinstimmung ist auffallend. So ist zu vermuten, daß die meisten Denkschriften und Aufrufe nach gemeinsamer Beratung von Goerdeler niedergeschrieben wurden, während Beck 1943 krank lag. Sie sind zum Teil auch durch spätere Fassungen überholt worden. Andere Entwürfe und Niederschriften fanden sich bei den Akten von Hauptmann der von Bürochef Kaiser, als eine Art und Chronist der Erhebung fungiert hat. Jedenfalls sind die Absichten dokumentarisch belegt, die die Gruppe Beck-Goerdeler praktisch verfolgte. Sie sind in außenpolitischer Beziehung bestimmter und zukunftsweisender als in innenpolitischer. Das erklärt sich aber auch daraus, daß die Lage im Kriege vor allem zuerst eine große und neu konzipierte Außenpolitik verlangte, während die Innenpolitik erst dann neu gestaltet werden konnte, wenn die Friedensregelung feststand und die Soldaten mitbestimmen konnten. Von den Denkschriften, die die Kaltenbrunner-Berichte ganz oder im Auszug mitteilen erscheinen heute vor allem wichtig die Entwürfe:

»Das Ziel*. Denkschrift zur Außenpolitik Das Europa-Programm Der Aufruf an die Wehrmacht Die geplante Rundfunkansprache Die Denkschrift „Das Ziel* wird von den Kaltenbrunner-Berichten Hauptmann d. R. Kaiser, bei dem sie gefunden wurde, das Europa-Programm aber Goerdeler zugeschrieben, weil es sich unter dessen Papieren fand. Wir müssen indessen, ebenso bei der Rundfunkansprache und dem Aufruf an die Wehrmacht, eine Gemeinschaftsarbeit voraussetzen. Die ersten Entwürfe für die außenpolitischen Schriften stammen dabei unseres Erachtens von Beck, die für die Innenpolitik von Goerdeler. Das sichere Indiz dafür sind eben die Studien des Generalobersten, in denen dieselben Gedanken und Ziele oft mit gleichen oder ähnlichen Formulierungen angesprochen werden. Im ganzen hat es sich aber wohl bei allen diesen Aufrufen, Denkschriften und Programmen um Stabsarbeit gehandelt, zu der außer Beck und Goerdeler der ursprünglich vorgesehene Außenminister von Hassell und später auch Stauffenberg beigetragen haben. Solche Zusammenarbeit war für Beck als ehemaligen Generalstabschef selbstverständlich. Becks und Goerdelers erstes und liebstes Kind war wohl vor allem die außenpolitische Denkschrift mit dem Titel „Das Ziel". Die elf Forderungen, die sie enthält, zum weisen Teil in einer erstaunlichen Weise in die Zukunft. Typisch für Beck ist dabei die Erwägung, daß die deutsche Wehrmacht später der Kern der europäischen militärischen Kräfte werden könne, ebenso aktuell die Proklamierung der Notwendigkeit großer Wirtschaftsräume, die Beck auch schon in seinem Vortrag gegen den totalen Krieg im Sommer 1942 ausgesprochen hatte. Es heißt da unter anderem„Wir haben ... das größte Interesse daran, daß wir die Lasten der Landsicherung Europas nicht allein tragen. Daher erscheint uns der Zusammenschluß der europäischen Völker zu einem europäischen Staatenbunde geboten. Sein Ziel muß sein, Europa vor jeder Wiederkehr eines europäischen Krieges vollkommen zu sichern. Jeder europäische Krieg ist glatter Selbstmord. Die Zeit ist reif, diesen idealen Gedanken in die Wirklichkeit zu übersetzen, weil mit ihm die realen Interessen übereinstimmen. Wir empfehlen schrittweises Vorgehen:

a) Ein ständig tagender europäischer Wirtschaftsrat soll zunächst für die Beseitigung aller Verkehrshemmnisse, für einheitliche Verkehrseinrichtungen, für gleiches Wirtschaftsrecht, für Aufhebung der Zollgrenzen und so weiter sorgen. Wenn dieser Prozeß eine gewisse Entwicklung erreicht hat, werden gemeinsame politische Einrichtungen gegründet. Als solche kommen in Betracht:

b) Ein europäisches Wirtschaftsministerium c) Eine europäische Wehrmacht d) Ein europäisches Außenministerium Jedenfalls kann die Grundlage einer europäischen Gemeinschaft nur Freiheit und Selbständigkeit der Nationalstaaten in allen ihren Entschließungen sein. Der europäische Friede ist durch ein Schiedsgerichtverfahren zu siB ehern, dessen Entscheidungen mit gemeinsamer Kraft unter allen Umständen durchgeführt werden."

Eine der wichtigsten Voraussetzungen dieses Europaprogramms ist natürlich die Einstellung zu Rußland. So lautet auch seine entscheidende These: „daß Europa eine Sicherung gegen russische Übermacht braucht“, daß aber diese Schierung nur zu verwirklichen ist, wenn weder Deutschland noch eine andere Macht die Vorherrschaft beansprucht. Von größter Wichtigkeit ist ferner, daß die Denkschrift Polen in den Europäischen Friedens-bund mit einbezogen wissen will und die Hoffnung ausspricht, daß nach „furchtbaren und leidvollen Erlahrungen auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen wieder ausgeglichen wird“.

Jedenfalls „werden wir bereit sein", heißt es dann wörtlich, „Polen bei der Heilung seiner Wunden und in Zukunft jede nur mögliche Hilfe angedeihen lassen".

Beck und Goerdeler war es mit diesem Versprechen ernst. Es entsprach ihrer christlichen Überzeugung und politischen Verpflichtung. Was sie anstrebten, war eine Renaissance der Christenheit oder Europas nach den furchtbaren Heimsuchungen des Zweiten Weltkriegs. Eine solche Renaissance aber setzte die Befreiung vom Nationalsozialismus, die Reinigung des eigenen Gemeinwesens von politischen Verbrechern und schließlich auch die Bereitschaft zur sozialen Neuordnung voraus. Darin war man sich im „Schattenkabinett" grundsätzlich einig. Nur über die Form der sozialen Neuordnung gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Älteren und den Jüngeren, wie Hassell immer wieder berichtet. Im übrigen durchzieht sowohl die Denkschriften und Aufrufe wie die Studien Becks ein Grundgedanke: der nämlich, daß es nach diesem Zweiten Weltkriege keine Sieger und Besiegte im alten Sinn mehr geben könne. In seinem Vortrag über „Die Lehre vom totalen Krieg", in der Mittwochsgesellschaft im Juni 1942 gehalten, warnte Beck bereits eindringlich vor der Gefahr, daß der totale Krieg „zu einem immer maßloseren Ringen führt und daß in einem solchen zwar der Krieg militärisch gewonnen werden kann, aber damit nicht auch der Friede gewonnen wird". „Schwer zu glauben", hatte Beck dann weiterhin gesagt, „daß . . . auf der Grundlage des totalen Krieges ein guter Frieden entstehen kann, dessen Kennzeichen es ist, wie Bismarck es einmal ausgedrückt hat, daß noch nach fünfzig Jahren die beteiligten Staaten ihn als solchen anerkennen." Es ist also der gute und dauernde Frieden, den die Bedk-Goerdeler-Gruppe für Europa anstrebt und für den sie Opfer zu bringen bereit ist. Aber auch von der Gegenseite erwarten sie Vernunft und staatsmännische Einsicht. Wir wissen nicht, ob Becks Vorschlag, der sich so entschieden gegen die Maßlosigkeit des totalen Krieges wandte, zur Kenntnis der Alliierten gelangte, aber es war auch an ihre Adresse gerichtet, als er eindringlich warnend sagte:

„Wehe aber, wenn die Politik nicht nur im Fahrwasser des totalen Krieges bleibt, sondern sogar zu einem aktiven Wegbereiter wird."

Trotzdem hat die Hoffnung auf staatsmännische Einsicht, vor allem der Engländer, diese Europa-Pläne begleitet. Die „Älteren" und die „Jüngeren“ waren sich darin einig. „Unter vielen belanglosen Themen", so sagte Eugen Gerstenmaier vor der Gestapo aus, „wurde über die Frage der künftigen europäischen Gliederung und der Organisation der einzelnen Staaten diskutiert. Dabei hat man sich als Ziel einen Genossenschaftsverband der europäischen Staaten vorgestellt. Ihm sollten alle Völker ohne Rücksicht auf ihre Größe gleichberechtigt angehören und es sollten alle Staaten in einem Rat vertreten sein. Es war daran gedacht, ein europäisches Regierungsorgan zu entwickeln, das alle übernationalen Fragen regeln sollte.“

Dieser Europa-Konzeption sollte der Rommel-Stülpnagel-Plan dienen wie dann der Staatsstreich am 20. Juli. Noch im Mai wollte man, wie eben aus dem genannten Plan hervorgeht, ein Attentat vermeiden. Das wollte vor allem Rommel. Um diese Zeit war der Feldmarschall die Schlüsselfigur der Erhebung geworden, wie wir wissen. Auf seine Popularität und sein Ansehen bei den westlichen Kriegsgegnern, vor allem bei den Engländern, gründeten sich die Hoffnungen des anderen Deutschland damals ebenso wie auf seine Volkstümlichkeit bei den Deutschen. Rommel war nun einmal der bekannteste Mann nach Hitler und hochgeschätzt auch bei alten Partei-genossen. Daß ihm seine Soldaten folgen würden, war sicher. So konnte es einen wahren Erdrutsch geben, wenn er erklärte: Alles hört auf mein Kommando. Das wußte und sah man auch in Berlin. So hatte sich im Frühjahr 1944 der Schwerpunkt aller Vorbereitungen der Erhebung, die einem europäischen Genossenschaftsverband die Wege bereiten wollte, nach Frankreich verlagert, vor allem, weil man die Invasion, nachdem sie im Mai nicht erfolgt war, erst im August erwartete. Aber dann kam alles ganz anders: Die Invasion erfolgte überraschend am 6. Juni, bevor man mit den Westalliierten ins Gespräch hatte kommen können, am 18. oder 19. Juni entzog sich Hitler, der damals kurz Frankreich besuchte, der geplanten Festnahme, indem er überraschend nach Berchtesgaden zurückkehrte. Dort und anschließend in der „Wolfsschanze" in Ostpreußen schlossen sich dann die undurchdringlichen Sperrkreise um ihn, die jeden Zugriff unmöglich machten. Die erste Voraussetzung politischer Verhandlungen, die Beseitigung Hitlers, war allein noch durch ein Attentat zu schaffen, das im innersten Sperrkreis erfolgte.

So wurde der 1. Juli 1944 zum „Stichtag“ für die Erhebung. Denn an diesem Tag wurde Oberst Graf Stauffenberg zum Chef des Stabes des Ersatzheeres ernannt und hatte damit regelmäßig Zutritt zur Lagebesprechung bei Hitler.

Von diesem Tag an mußte sich auch Bede dem Unabänderlichen beugen, obwohl er offenbar seine Gewissensbedenken gegen ein Attentat nie ganz niederringen konnte. Als schließlich am 17. Juli auch Rommel durch Jabo-Beschuß schwer verletzt wurde, gab es überhaupt keine Alternative mehr. Dann mußte das eintreten, Was man, wie die Vernehmungen durch die Gestapo ergaben, die „zentrale Lösung" genannt hat. Das heißt, die Beseitigung Hitlers sollte zunächst den Weg dafür freimachen, daß an Stelle der starren Taktik eine neue Strategie der Verteidigung die militärische Gesamtlage des Reiches wieder einigermaßen stabilisierte. Gleichzeitig aber mußten die Soldaten darüber aufgeklärt werden, daß der Krieg weiterging und von ihnen weiter Opfer und Pflichterfüllung verlangt wurden. Das geht aus dem Entwurf des Aufrufs an die Wehrmacht hervor. Er stammte zwar bereits aus dem Jahr 1943, aber an seinen Voraussetzungen wie an dem angestrebten Ziel hatte sich nichts geändert.

X. Becks Aufruf an die Wehrmacht

Weder Beck noch Goerdeler waren am 20. Juli 1944 in der Lage, über den Rundfunk sich an die Welt zu wenden und zu den Deutschen zu sprechen. Die geplanten und vorbereiteten Aufrufe drangen nicht in den Äther, nachdem das Attentat gescheitert war. Die Nachrichten-zentrale im Führerhauptquartier konnte nicht ausgeschaltet werden. So ist keine der Stimmen des anderen Deutschland nach außen gedrungen, während dann Hitler über alle deutschen Sender sprechen konnte und so das erste, ja einzige Wort hatte. Bis zum heutigen Tag hat dies verhängnisvoll nachgewirkt. Denn so blieb im Dunkel, was die Beck-Goerdeler-Gruppe eigentlich gewollt hat. Ihre europäischen Pläne drangen ebensowenig nach außen wie die strategischen und politischen Absichten, die sie nach der Beseitigung Hitlers verfolgte. Von dem Entschluß zur Abrechnung mit den Verbrechern, zur inneren Reinigung und zur Wiederherstellung des Rechtsstaats hat die Welt ebensowenig erfahren wie die Deutschen und die deutschen Soldaten. Nur Hitler kam zu Wort und konnte einfach die Beck-Goerdeler-Gruppe nicht nur des „Dolchstoßes" und verbrecherischen Bruchs des Fahneneides beschuldigen, sondern sie auch noch als Feiglinge, Dummköpfe und Phantasten beschimpfen. Sie hatten der Welt nicht sagen können, was sie wollten.

Um so mehr sagt heute der Aufruf an die Wehrmacht. Er liegt zwar nur in einem Entwurf vor, der stilistisch durchaus noch nicht befriedigt; aber in diesem Fall ist gewiß der Stil nicht die Hauptsache, sondern der Inhalt. Denn dieser Inhalt sagt eben unmißverständlich, was die Beck-Goerdeler-Gruppe nach gelungenem Staatsstreich erreichen wollte, was sie mit der Beseitigung Hitlers bezweckt hat. Sie wollte nicht kapitulieren. Es ist nur zu verwundern, daß dies kaum bekannt ist. Dabei ist doch schon von Gerhard Ritter der Aufruf an die Wehrmacht als Anhang XI zu seinem Goerdeler-Buch veröffentlicht und dann mehrmals nachgedruckt worden, zuletzt in der Publikation Gerhard Schreebs „Menschenwürde und Gewaltherrschaft“

Es muß auffallen, wie der Aufruf an die Wehrmacht mit den Studien Becks ideell übereinstimmt. In Übereinstimmung mit ihren Grundgedanken heißt es in dem Aufruf gleich eingangs: „Eine Staatsführung, die die Politik nicht mehr als die Kunst des Möglichen ansieht und die Erreichung ihrer Ziele nicht mehr mit sparsamstem Kräfteeinsatz anstrebt, sondern in phantastischen Plänen grenzenloser Eroberungen schwelgt, die überhaupt keine sittlichen Bindungen weder dem eigenen noch einem anderen Volk gegenüber anerkennt, kann niemals zu einem Frieden mit den übrigen Völkern gelangen."

Nach dem Aufruf steht fest, daß die Erhebung nie daran dachte, der Front in den Rücken zu fallen. Sie wollte vielmehr um eine Verhandlungsbasis kämpfen. So heißt es in dem Aufruf: „Noch ist die Stunde nicht gekommen, sich dem Gedanken des Friedens hinzugeben. Noch müssen wir kämpfen, um zu verteidigen, was uns teuer ist, bis ein ehrenvoller Ausgang des Krieges gesichert ist. Viererlei verspreche ich Euch aber schon jetzt:

1. Nur solche Opfer werden von Euch verlangt werden, die nach gewissenhafter Prüfung unbedingt notwendig sind, um uns zu verteidigen, um den Krieg zum guten Ende zu führen. 2. Vertrauenswürdige, sachkundige deutsche Männer werden alles daran setzen, um zu einem dauerhaften, unsere Zukunft sichernden Ausgleich mit allen Völkern zu kommen.

3. Hinter Eurem Rücken und zu Eurem Schutz werden wieder Recht und Gerechtigkeit, Anstand und Sauberkeit, Sachkunde und selbstlose Pflichterfüllung herrschen.

4. Nach dem Kriege wird alle Kraft des Volkes eingesetzt werden, um Wohnungen, Hausrat und Kleidung und wahrhaftes soziales Zusammenleben zu schaffen. Ein klares Lebensziel ruhiger, friedlicher Arbeit soll vor uns stehen. Wir alle werden hart arbeiten und einfach leben müssen, aber wir werden dafür Kraft und Reichtum der Seele finden." Nach den „Studien“ oder vielmehr nach der letzten Studie, die Beck im Jahre 1942 vor seiner schweren Krankheit schrieb und vor-trug, erscheint gesichert, daß Punkt 1— 3 von ihm stammen, während die Formulierung des vierten Punktes auf Goerdeler hindeuten. Nach bestimmten Angaben im Aufruf, zum Beispiel über die Katastrophe in Afrika und die Kämpfe auf Sizilien, ist anzunehmen, daß der Entwurf etwa im Sommer 1943 niedergeschrieben wurde. Wahrscheinlich ist er noch einmal durchredigiert worden, aber seine Grundtendenz hatte sich nicht geändert, wie aus Becks Verhalten hervorgeht. So war es 1943 wie 1944 gleich selbstverständlich, auf die Wiederherstellung des guten Rufes des deutschen Namens zu dringen und zu erklären: „Wir müssen handeln, weil — und das wiegt am schwersten — in Eurem Rücken Verbrechen begangen wurden, die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln ... Ihr werdet die Einzelheiten erfahren. Wir werden mit unerbittlicher Strenge in öffentlichen Verfahren durchgreifen. Das schlimmste ist, daß dieses schamlose Treiben von Adolf Hitler befohlen oder gebilligt wurde ...'Das also war klar. Wie aber war zu verfahren, wenn der Krieg weitergehen sollte?

Dafür übernahm Beck persönlich die volle Verantwortung.

XI. Beck als designierter Oberster Befehlshaber

Beck war, wie die Kaltenbrunner-Berichte erhärten, nicht nur als „Reichsverweser" vorgesehen, sondern galt als Staatsoberhaupt und „Generalstatthalter", das heißt auch als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht. Er sollte also in gewisser Beziehung in der Nachfolge Hitlers in Personalunion Staatsmann und militärischer Oberbefehlshaber sein, wenigstens in der Übergangsperiode bis zur Gewinnung des Friedens. Auch am 20. Juli hat er beide Funktionen wahrgenommen, soweit es die tragischen Umstände überhaupt erlaubten, wobei die des Strategen allerdings überwogen. Nach der Rückkehr Stauffenbergs aus Ostpreußen ging er daran, sich persönlich mit den Heeresgruppen in Verbindung zu setzen und die ersten Maßnahmen zur Wiederherstellung einer stabilen militärischen Lage zu treffen

Denn Beck dachte realpolitisch genug, um zu wissen, daß kein Gegner mit ihm verhandeln würde, wenn er nichts mehr in der Hand hatte. Nicht umsonst hatte er, wie schon gesagt, den Modellfall des Kriegsendes 1918 genau studiert und in der Studie „Der 29. September 1918" herbe Kritik geübt an den psychologischen Fehlern der damaligen Obersten Heeresleitung. Diese Fehler wollte er nun vermeiden. Der erste Anruf des neuen Obersten Befehlshabers der Wehrmacht am späten Nachmittag des 20. Juli galt dem Feldmarschall von Kluge, dem Oberbefehlshaber West, seit zwei Tagen auch Nachfolger Rommels als Chef von dessen Heeresgruppe. Nach der Besprechung vom September 1943 mußte Beck Kluge immer noch für einen Verbündeten halten, wenn er auch nach seiner Genesung mit ihm nicht wieder Verbindung ausgenommen hatte. Jetzt forderte Beck ihn auf, sich ihm zur Verfügung zu stellen. Als Kluge zögerte, sagte Beck eindringlich, um alle Mißverständnisse auszu-

schließen: „Kluge, der Krieg geht weiter. Er muß nur richtig geführt werden." Diese Sätze sind von dem Ordonnanzoffizier Kluges bezeugt, der das Gespräch mithörte.

In der Tat mußte der Krieg zunächst weitergehen und richtig geführt werden. An die Stelle der starren Taktik, an der der geistig völlig erschöpfte Hitler unentwegt festhielt, wollte Beck wieder bewegliche Operationen treten lassen und zu dem erprobten Verfahren der Auftragstaktik zurückkehren. Die Feldmarschälle an der Front sollten wieder nach freiem Ermessen, wenn auch im einheitlichen strategischen Rahmen, führen können. In diesem Sinne hieß es ja auch in dem Entwurf des Aufrufs an die Wehrmacht: „Wer einen Stiefel besohlen will, muß es gelernt haben. Wer ein Millionenheer führen will, muß die Fähigkeit dazu auf den verschiedenen Stufenleitern harten militärischen Dienstes erlernt und bewiesen haben. Seitdem sich Hitler im Winter 41/42 selbst den Oberbefehl (auch über das Heer — Hinzufügung des Vers.) zuerkannt hat, wurde durch Eigensinn, Unfähigkeit und Maßlosigkeit die Wehrmacht in Lagen gebracht, vor denen Sachverständige gewarnt und die vermeidbare schwerste Opfer gekostet haben ... Hunderttausende büßten für Vermessenheit und Eitelkeit eines einzelnen mit Leben, Gesundheit oder Verlust der Freiheit.“

Schon im Rommel-Stülpnagel-Plan war die Aufgabe von „Festungen" vorgesehen, die nur die Einbildung und das „Machtwort* Hitlers dazu gemacht hat. Nun war es die zweite Handlung des Generalstatthalters nach dem Anruf bei Kluge im Westen, die ersten Maßnahmen zur Konsolidierung der Ostfront einzuleiten. So ließ er sich denn mit der Heeresgruppe Nord telefonisch verbinden und befahl ihr, die schleunigste Vorbereitung des Rückzugs hinter die Düna. Man muß sich dazu die Lage gegenwärtig halten, wie sie von Tip-

pelskirch in einer Kartenskizze wiedergibt: Die Trümmer der Heeresgruppe Mitte, durch die am 22. Juni begonnene sowjetische Großoffensive weit nach Polen und Litauen zurück-geworfen, bemühten sich eben zwischen Kowno und Brest-Litowsk eine neue Front aufzubauen und vor allem am Njemenabschnitt zwischen Grodno und Kowno Halt zu gewinnen. Im Raum von Poenwitsch in Litauen klaffte indessen eine mindestens 50 km breite Lücke zwischen der Heeresgruppe Nord und der Heeresgruppe Mitte. Hier war Gefahr im Verzüge, wenn nicht vorausschauend gehandelt wurde. Die Spitzen starker sowjetischer Panzerverbände hatten bereits die Bahn halbwegs zwischen Wilna und Dünaburg überschritten, während der rechte Flügel von Nord westlich Dünaburg in der Luft hing. Es war vorauszusehen, daß die russischen Panzer in diese Lücke hineinstoßen, die Front vollends aufspalten und die gesamte nördliche Heeresgruppe von ihren rückwärtigen Landverbindungen abschneiden werde, wenn diese nicht bald an die Düna heruntergezogen wurde und ihren rechten Flügel bis zu dem Anschluß an die Mitte verlängern konnte. Dementsprechend hat Beck befohlen. Das Schicksal von Nord war aber besiegelt, als noch am späten Abend dieser Befehl von Hitler wieder rückgängig gemacht wurde. Der „Brückenkopf Kurland" war dann die unausbleibliche Folge. Er hat sich als ein riesenhaftes Gefangenenlager erwiesen, während die Masse der Heeresgruppe Nord für die Reichsverteidigung ausfiel. Und gerade das wollte der neue „Generalstatthalter" mit seinem Befehl am frühen Abend des 20. Juli 1944 verhindern.

Für weitere strategische Pläne Becks fehlen die Unterlagen. Man-kann sie indessen mit einiger Sicherheit wenigstens in der Gesamt-tendenz aus seiner Studie „Der 29. September 1918" rekonstruieren, weil sie Hinweise darauf enthält, wie sich der Generaloberst das Handeln in einer ähnlich prekären Lage dachte. So heißt es da zum Beispiel: „Statt des rücksichtslosen Einsatzes des Kriegsinstrumentes hatte fortan im Vordergrund zu stehen, dieses für alle Fälle so lange wie möglich gebrauchsfähig zu erhalten. Aufgabe der Politik wurde es nunmehr, das Kriegsende mit allen diplomatischen Mitteln bald herbeizuführen, ehe etwa die militärische Entwicklung die Grundlage für solche Schritte nochmals verengte ... Das neue Kriegsziel erforderte also in erster Linie eine weise Ökonomie der Kräfte. Sie war nur zu verwirklichen, wenn der kräfteverzehrende Kampf um die Behauptung der jetzigen, überbreit gewordenen Front aufgegeben und auf kürzere Stellungen aus-B gewichen wurde. Nur auf diese Weise waren die Abwehrfronten stark zu halten, Teilen der Truppen Ruhe zu gewähren, Reserven frei zu machen und damit auch wieder Kräfte für gelegentliche, überraschende kurze Gegenstöße zu gewinnen. Die auf diese Weise gewonnene Zeit hatte die Polilik zu nutzen." Niemand wußte ja besser als Beck, der sich militärisch immer auf dem laufenden gehalten hatte, daß Hitler bereits seit 1943 in einer noch sehr viel starreren Weise als die Oberste Heeresleitung 1918 „um Geländebesitz kämpfte und damit selbst die Gefahr eines großen Durchbruchs heraufbeschwor“, da er die „strategische Aushilfe des Zurücknehmens der Fronten überall da, wo es der Raum zuließ", auch weiterhin verschmähte. Wie im Herbst 1918, so sah also auch Beck noch im Juli 1944 bei entsprechender strategischer Führung durchaus die Chance, einer hoffnungslosen Lage vorzubeugen und von einer stabilisierten Position aus politisch Verhandlungsangebote zu machen. Niemand kann ihm vorwerfen, daß er diese Möglichkeiten nicht durchdacht hat.

XII. Das Vermächtnis

Es ist nicht auszudenken, wie sich die weltpolitische Lage gestaltet hätte, wenn die deutsche Erhebung von 1944 gelungen wäre. Man kann wohl von ihren Spitzen sagen, daß sie der Zeit gedanklich vielleicht zu weit voraus waren, aber ihr „Trend" war richtig. Sie hätten die Ziele vom Mai, wie sie der Rommel-Stülpnagel-Plan noch vorsah, infolge der katastrophalen Verschlechterung der Lage seit dem 6. Juni aufgeben müssen, aber noch hatten sie ein bestimmtes Hauptziel, nämlich ein Zusammentreiien der Russen, Engländer und Amerikaner in Berlin und eine Verwüstung Deutschlands zu verhindern, wie General Fell-giebel wörtlich vor der Gestapo aussagte Dieses Ereignis und seine katastrophalen Folgen für den Frieden, der nicht zustandekam, sind ebenso richtig vorausgesehen worden wie das Bedürfnis nach dem politischen Gegengewicht gegen die Sowjetunion, das sich nach 1948 tatsächlich einstellte. So entschloß sich die Gruppe Beck am 20. Juli 1944 zum Handeln, um selbst bei einem Mißerfolg der Welt wenigstens ein Signal und Kunde von einem anderen Deutschland zu geben.

Dem Erhebungsversuch blieb der äußere Erfolg versagt. Er ist unter tragischen Umständen gescheitert. Aber er wäre es wohl erst recht, wenn er früher losgebrochen wäre, weil die Faszination der überwältigenden Anfangserfolge Hitlers noch lange nachwirkte. Von einem mißverstandenen Idealismus verführt, weder über die weltpolitische noch die militärische Lage wirklich unterrichtet, nur durch unkontrollierbare Gerüchte und „Feindpropaganda " über die NS-Verbrechen im Bilde, die im Dunkeln begangen wurden, glaubten viele Deutsche diesmal durchhalten zu müssen, bis zum sagenhaften „Endsieg". Aus diesem Traum gab es für Hunderttausende erst ein grausiges Erwachen, als Hitler sich selber richtete.

Die Männer der Erhebung sahen weiter und tiefer. Sie sorgten sich um die Zukunft Deutschlands und Europas. Sie konnten zwar Hitler nicht austilgen, so daß der Weg zum europäischen Frieden bereits im Sommer 1944 frei geworden wäre, durch ihre Bekenntnisse und Opfer wurde aber die Fama von der Kollektiv-Schuld der Deutschen ebenso zerstört wie das Gerücht von der Verschwörung gegen den Frieden, an der alle führenden deutschen Soldaten teilgenommen haben sollten. Die Idee aber der Beck-Goerdeler-Gruppe, die am weitesten in die Zukunft wies und die kommende Entwicklung richtig voraussah, die Idee der europäischen Einigung kam erst in den letzten Jahren den Zeitgenossen allmählich zur Kenntnis und zum politischen Bewußtsein. Gewiß erschien sie in den Jahren 1943 und 1944 utopisch, weil damals in allen europäischen Ländern die nationalen Leidenschaften, von Hitler aufgestachelt, noch einmal über-schämten; aber in Wirklichkeit erwies sich die scheinbare Utopie bereits als Vorausschau dessen, was kommen mußte, ja als die Vision des Notwendigen. So sehen wir die Erhebung von 1944 heute in einem neuen Licht: Sie hat die europäische Einigung geistig mit vorbereitet, indem sie den ideologischen Nationalismus überwand und doch an der natürlichen Vaterlandsliebe festhielt. Ja, ihr Opfergang hat erreicht, daß die Deutschen, nachdem sie sich auch von der NS-Ideologie befreit hatten, wieder als ebenbürtig in die abendländische Gemeinschaft ausgenommen werden konnten.

Ein bitterer Bodensatz ist freilich geblieben Nicht alle Deutschen erhielten in der Nach kriegsentwicklung wieder die Freiheit in einem Rechtsstaat, wie dies die Männer der Erhebung von 1944 erstrebten. 17 Millionen sollten das tragische Schicksal erfahren, daß sie ein totalitäres Regime gegen ein anderes vertauschen mußten, ganz abgesehen von den anderen Millionen, die nach dem 20. Juli 1944 noch durch Krieg, Vertreibung, Flucht oder Gefangenschaft zugrunde gerichtet wurden. Das Problem der politischen Befreiung ist aber durch die Entwicklung längst über den nationalen Rahmen hinausgewachsen. Es kann und soll auch nicht mehr durch kriegerische Gewalttat gelöst werden, sondern durch die Wiedergeburt des Rechts: Das ist das Vermächtnis des 20. Juli 1944. Es steht in den hinterlassenen Denkschriften, Entwürfen und Briefen. In ihnen haben sie die besten Über-lieferungen humanen Denkens und Handelns erneuert: Die Verantwortung für die menschliche Gesellschaft und ihre gedeihliche Zukunft, den Gemeinsinn, der sich auch auf die europäische Völkerfamilie erstreckt, und schließlich den Entschluß, jeder Person oder Gruppe wie jedem Gemeinwesen die ihnen gemäßen Lebensrechte zuzuerkennen gemäß der Lösung, die einmal den Ruf Preußens unter den abendländischen Staaten begründete: Suum cuique, Jedem das Seine.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Der 29 September 1918“, in: Studien, hrsg. von Hans Speidel, Stuttgart 1955, S. 195— 225.

  2. Beck, Studien, S. 60.

  3. Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944, Stuttgart 1961, S. 289.

  4. Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1956 3, S. 593 ff.

  5. Spiegelbild einer Verschwörung, S. 213— 217.

  6. Beck, Studien, S. 250.

  7. Ritter, Carl Goerdeler, Faksimile bei S. 353.

  8. Ulrich von Hassel notiert in seinen nachgelassenen Tagebüchern unter dem 11. Juli 1944: „Rommel hat in Speidel (den ich damals eingehend in Paris sprach) einen ausgezeichneten, klar denkenden Chef des Stabes.“ Hassell, Ulrich von, Vom anderen Deutschland. Aus den nachgelassenen Tagebüchern 1938— 44, Zürich 1946.

  9. Speidel, Hans, Invasion 1944, Tübingen 1949.

  10. Ritter, Carl Goerdeler, S. 625.

  11. Bede, Studien, S. 247.

  12. Bede, Studien, S. 250— 252.

  13. Spiegelbild einer Verschwörung, S. 131 ff., s 199 ff, 213 ff., 243 ff

  14. Ritter, Carl Goerdeler, S. 622 ff.

  15. Osnabrück 1963, S. 89 ff.

  16. Tippelskirch, Kurt von, Geschichte des zweiten Weltkrieges, Bonn 1951, S. 532; siehe auch: 20. Juli 1944, hrsg. von der Bundeszentrale für Heimat-dienst, Bonn 1961 4), Lagekarte 20. 7. 1944 im Anhang.

  17. Spiegelbild einer Verschwörung, S. 98.

Weitere Inhalte

Wilhelm Ritter v. Schramm, Dr. phil., Dozent an der Hochschule für Politische Wissenschaften München, geb. 1898 in Hersbruck. Veröffentlichungen u. a.: Der 20. Juli in Paris, Bad Wörishofen 1953 (2. Auflage unter dem Titel: Aufstand der Generale, München 1964); Staatskunst und bewaffnete Macht, München 1957; Carl Clausewitz: Vorn Kriege'(Hrsg., zus. mit Wolfgang Pickert), Reinbek 1964.