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Optionen europäischer Politik in den siebziger Jahren | APuZ 49/1970 | bpb.de

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APuZ 49/1970 Konzeptionen deutscher Ostpolitik 1919-1970 Eine Skizze — Anhang — Vor dem XXIV. Parteitag der KPdSU Optionen europäischer Politik in den siebziger Jahren

Optionen europäischer Politik in den siebziger Jahren

Christoph Bertram

/ 20 Minuten zu lesen

Optionen für die siebziger Jahre — das klingt vor dem Hintergrund der praktischen Politik, die meist von der Hand in den Mund leben und mit kurzfristigen Erfolgen zufrieden sein muß, leicht entweder vermessen oder akademisch. Ist es nicht aussichtsreicher, realistischer und ehrlicher, sich so gut es geht durchzuwurschteln’? Optionen versprechen eine Ordnung, die es so gar nicht gibt, eine Wahlmöglichkeit, deren Grundlage von den Ereignissen ständig ausgehöhlt und fortgeschwemmt wird. Richard Harris, der China-Experte der Londoner „Times", hat kürzlich darauf hingewiesen, daß die Suche nach Optionen, Zielpunkten in der Zukunft, zu denen man gelangen will, ein spezifisch westliches Bedürfnis ist ) *. Für die chinesische Führung stelle sich die Entwicklung anders dar: nicht als gradlinige Verbindung zwischen Punkt A — heute — und Punkt B — Ziel in der Zukunft —, sondern als Prozeß, den man nicht steuern, sondern nur indirekt beeinflussen könne. Aufgabe des Politikers sei es dabei, günstige Wendungen für die Interessen seines Landes zu nutzen, ungünstige in ihren Auswirkungen zu verringern. Ad hoc-Politik, oder wie Englands neuer Premierminister Heath es nennt: „Instant Government" — ist in dieser Sicht vielleicht nicht eine Tugend, zumindest aber eine Notwendigkeit.

Und doch sollten wir dankbar sein für das westliche Bedürfnis nach längerfristigen Zielen und ihrer klaren Definition. Nicht weil diese Ziele unbedingt erreicht würden — häufig werden sie es nicht. Aber sie können doch Politik disziplinieren und damit einen Maßstab bieten, an dem politische Entscheidungen rational überprüft werden können. Trotz aller Entscheidungshilfen wie Datenverarbeitung, Systemanalyse und trainierte Beraterstäbe bleiben im letzten die wichtigen politischen Entscheidungen irrational bestimmt. Neigung, persönliche Erfahrung, persönliche Vorurteile des Entscheidenden sind ausschlaggebend; die „objektiven Fakten" können in der Regel nur das Gewicht mehr auf diesen oder jenen Aspekt legen und anschließend zur Rechtfertigung der Entscheidung dienen. Optionen, die Definition langfristiger politischer Ziele, helfen dagegen, den Raum der Irrationalität einzuengen. Immerhin sollte bei allem Pragmatismus nicht vergessen werden, daß gerade die jüngste Vergangenheit Beispiele politisch einflußreicher Optionen gebracht hat: nur ad hoc-Politik hätte kaum das amerikanische Engagement im Nachkriegseuropa über 20 Jahre lang zu einem festen politischen Bezugspunkt werden lassen, von der Truman-

Doktrin angefangen bis zur NATO und dem Grand Design Kennedys von der atlantischen Partnerschaft. Ohne längerfristige Zielvorstellungen wären die Europäischen Gemeinschaften Papierwerk geblieben.

Zwei Bemerkungen vorweg: Optionen sind nicht Zukunftsvoraussagen und auch nicht Modelle einer möglichen Zukunft. Sie sind vielmehr die bewußte Wahl eines politischen Ziels vor dem Hintergrund, den Möglichkeiten und Problemen der Gegenwart. Die Frage ist hier: welche politische Zukunft ist wünschenswert und erreichbar, wo müssen die Prioritäten liegen? Zweitens: Was ist Europa in diesen Optionen? Nur Westeuropa oder Ost und West? Welches Westeuropa — das Europa der NATO, der EWG, der OECD, der reichen Länder? Welches Osteuropa — das des War-schauer Pakts, das von der Elbe bis zur sowjetischen Grenze, mit oder ohne die Balkanländer? Im vorhinein läßt sich die Frage nicht voll beantworten; sie ist Teil der jeweiligen Option. Aber eines ist jeder der folgenden Wahlmöglichkeiten gemeinsam: Ausgangspunkt ist Westeuropa und sein politischer Kern, die sechs EWG-Staaten mit den Beitrittskandidaten. Bei allen jedoch ist Westeuropa immer auch Teil des ganzen Kontinents — eine Binsenwahrheit, aber doch eine, die je nach ihrer politischen Gewichtung den Ausschlag zwischen den Wahlmöglichkeiten geben kann, die sich Westeuropa in den kommenden Jahren stellen. -

Drei Optionen scheinen vor dem politischen Hintergrund der Gegenwart denkbar: 1. das Europa von Brest bis Brest-Litowsk; 2. das atlantische Westeuropa; 3. das selbständigere Westeuropa.

I. Das Europa von Brest bis Brest

Gemeint ist nicht „vom Atlantik zum Ural", wie das Schlagwort der gaullistischen Politik hieß, und auch nicht die dahinter verborgene politische Konzeption des Zusammenspiels zwischen einer westeuropäischen und der östlichen Führungsmacht. Gemeint ist vielmehr das Ziel, die Schranken zwischen Ost-und Westeuropa abzubauen, ohne die Bindung Osteuropas an die Sowjetunion zu lösen, und an die Stelle der europäischen Konfrontation Entspannung und Kooperation treten zu lassen. Dieses Europa ist in vielem der Wunsch der Osteuropäer, aber auch der öffentlichen Meinung vor allem in den kleinen westeuropäischen Staaten. Wie ein einflußreicher norwegischer Parlamentarier kürzlich formulierte: Aufgabe Westeuropas ist es, Teil Gesamt-europas zu werden.

Die Prioritäten dieser Option für westeuropäische Politik sind klar: Entspannung zwischen Ost und West und Abbau alles dessen, was bisher die Teilung des Kontinents gestützt hat, einschließlich der wirtschaftlichen und militärischen Integration in Westeuropa. Entspannung ist dabei nicht nur die Abwesenheit von Spannung unter Beibehaltung des Status quo, sondern gerade die Überwindung des Status quo: an die Stelle des Bestehenden soll ein Netz von Kontakten, Konsultationen und Kooperation zwischen Ost-und Westeuropa treten; eine neue gesamteuropäische Solidarität soll geschaffen werden, auf der gemeinsame Interessen aufgebaut werden können.

Was bedeutet diese Option für die bisherigen Schwerpunkte westeuropäischer Politik? Einmal heißt sie, daß militärischer Sicherheit nicht mehr entscheidende Bedeutung zukommen würde. Diese Entwicklung ist ohnehin im Gange. Wer mag noch in Westeuropa glauben, daß die Sowjetunion den westlichen Teil des Kontinents militärisch . schlucken'will und sich für einen massiven Angriff bereithält? Die Option des Europa von Brest bis Brest projiziert dieses Gefühl der Sicherheit in die Zukunft. Die NATO würde bei ihr eine immer geringere Rolle einnehmen, ihre Daseinsberechtigung bestünde vornehmlich darin, Entspannungsinitiativen im Westen zu koordinieren und deren militärischen Aspekte vorzubereiten und gegebenenfalls mit zu überwachen, etwa bei gegenseitigen und gleichwertigen Truppenreduzierungen in Ost und West.

Diese Option ist damit zugleich eine bewußte Abkehr vom Gleichgewichtdenken. Da in ihr der Gegensatz zwischen Ost-und Westeuropa gering geachtet, wenn nicht in die Zeit des Kalten Krieges verbannt wird, scheint Gleichgewicht entbehrlich. Sicherheit soll durch andere Mittel erreicht werden: wachsende Interdependenz soll das Interesse am Frieden so festigen, daß er der militärischen Stütze nicht mehr bedarf.

Zum anderen heißt diese Option: Lockerung der Bindung Westeuropas an die Vereinigten Staaten. Im militärischen Bereich wäre das am deutlichsten: da der Schutz Amerikas nicht mehr für nötig gehalten wird, braucht Westeuropa auf amerikanische Interessen keine besondere Rücksicht mehr zu nehmen. Aber es gälte auch für andere Bereiche. Die atlantische Bindung erschiene als Hemmschuh der Entspannung, weil sie osteuropäisches Mißtrauen verstärken und Westeuropa mit Aktionen der amerikanischen Supermacht außerhalb Europas identifizieren könnte, auf die es weder Einfluß ausüben, noch von denen es Nutzen ziehen kann. Zudem würde das Europa von Brest bis Brest in Washington kaum Anklang finden; auch daher entspräche es dieser Option, amerikanische Einwirkungsmöglichkeiten zu verringern.

Dieser Lockerung der europäisch-amerikanischen Beziehungen liegt eine Tendenz zugrunde, die in Europa nicht erst heute vorhanden ist: das Gefühl vieler, daß die atlantische Interessenkoalition der letzten 20 Jahre nicht mehr besteht.

Zweifel an der nuklearen Garantie der Vereinigten Staaten haben dazu ebenso beigetragen wie der Vietnam-Krieg und das Gewicht, das Asien in den letzten Jahren im politischen Denken Amerikas erhalten hat. Die bilateralen Gespräche und Verhandlungen zwischen Amerika und der Sowjetunion haben in Westeuropa manches Mißtrauen aufkommen lassen und darüber hinaus viele in der Vermutung bestärkt, daß Supermachtinteressen und Interessen der kleineren Staaten notwendig verschieden seien. Wenn Europa von Brest bis'Brest das Ziel der Westeuropäer ist, dann werden sie dafür auch amerikanisches Mißfallen und amerikanischen Widerspruch in Kauf nehmen.

Schließlich bedeutet die Option für dieses Europa die Aufgabe nicht nur der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen Integration Westeuropas. Die supranationalen Gemeinschaften durch die Aufnahme osteuropäischer Mitglieder zu erweitern, ist politisch aussichtslos, weil für die Sowjetunion wie für die osteuropäischen Staaten unannehmbar. Supranationalität ist im Verständnis der Sowjetunion wie ihrer Verbündeten gleichbedeutend mit Abhängigkeit und Bevormundung. Während im Westen Europas die kleinen Staaten in supranationalen Institutionen gerade die Garantie ihres Mitspracherechts sehen, läßt im Osten das Machtgefälle zwischen der Sowjetunion und den Satelliten dieses Verständnis nicht zu. Die Osteuropäer und ihre Schutzmacht würden auch befürchten, in einer wirtschaftlichen Integration in die Abhängigkeit der sehr viel weiter entwickelten und wirtschaftlich mächtigen Staaten des Westens zu geraten. Zudem sind ihre Bedürfnisse anders: sie sind auch in wirtschaftlicher Hinsicht Entwicklungsländer; mit Zoll-und Währungsunion ist ihnen weniger gedient als mit Krediten und Präferenzen.

Wenn also die Osteuropäer nicht Mitglieder einer gesamteuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft werden können und wollen, müssen die Westeuropäer sich dem anpassen und bei der Entscheidung für das Europa von Brest bis Brest, die bisherige westeuropäische Integration abbauen. Die bestehenden Institutionen brauchten dazu nicht aufgelöst zu werden, aber ihre Aufgabe wäre eine andere: sie wären nur noch eine Clearingstelle für alle die Bereiche, die in bilateralen Absprachen zwischen einzelnen Staaten in Osteuropa mit einzelnen Staaten in Westeuropa nicht berührt oder ausdrücklich ihnen zugewiesen werden. Nicht mehr hätte, wie der Vertrag von Rom fordert, Gemeinschaftspolitik Vorrang vor nationaler Politik, sondern umgekehrt. Auch diese Entwicklung kann sich auf gegenwärtige Trends stützen. Die gemeinsame Handelspolitik der EWG liegt seit Jahren im argen, und kein westeuropäischer Staat läßt es gerne zu, von anderen in der Großzügigkeit der Kreditvergabe oder der Warenlisten seiner Osthandelspolitik übertrumpft zu werden. Der Hang zum Bilateralismus, weg von den Bindungen multilateralen Vorgehens, ist auch im Westeuropa der Gegenwart nicht zu leugnen. So gilt denn für diesen Aspekt des Europa von Brest bis Brest das gleiche wie für die beiden anderen: im heutigen Westeuropa sind sie als mögliche Trends bereits vorhanden; die Option könnte darauf aufbauen, ohne einen radikalen Bruch mit der Gegenwart herbeizuführen. Und da für Politiker auch die öffentliche Meinung ein wichtiger Entscheidungsfaktor sein muß: populär ist das Ziel vom Europa von Brest bis Brest, eines Europa ohne Gegensätze und Konflikte, in allen westeuropäischen Ländern.

Die Frage aber ist: kann es erreichen, was es möchte? Kann die Option Erfolg haben?

Das ist zunächst die Frage nach den Aussichten der Entspannung. Wenn Entspannung tatsächlich zu einem neuen Europa führen soll, muß sie mehr bewirken als nur eine Fortdauer des Status quo unter friedlichen Vorzeichen: sie muß zu einer qualitativen Änderung in Osteuropa führen. Aber kann sie das?

Es stimmt, daß gerade in den Monaten vor dem sowjetischen Einmarsch in Prag viele orthodoxe Regime in Osteuropa in der westlichen Entspannungsoffensive eine Gefährdung ihrer inneren Ordnung, die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln sahen.

Sie selbst messen also der Entspannung qualitative Wirkung zu.

Gerade aber weil sie fürchten, Entspannung könne der gegenwärtigen Machtstruktur in Osteuropa gefährlich werden, werden die Sowjetunion und die ihr verbundenen Regime alles daran setzen, diesen Prozeß unter Kontrolle zu halten. Die Prager Lektion hat gezeigt, daß die sowjetische Macht dazu ausreicht und die sowjetische Führung auch bereit ist, sie einzusetzen — eine Lektion, die auch für andere Ostblockländer gilt und dort erkannt wird. Das Fazit ist daher: westliche Entspannungspolitik hat auf absehbare Zeit nur soweit Erfolg, als die Sowjetunion es zuläßt, und Moskau wird alles daran setzen, qualitative Veränderungen im Ostblock zu verhindern, die ihm nur irgendwie gefährlich werden könnten, auch auf die Gefahr hin, damit den Entspannungsprozeß aufzuhalten oder gar zurückzuwerfen.

Die Erkenntnis von den Beschränkungen der Entspannung wird den Westeuropäern, die sich für das Europa von Brest bis Brest entscheiden, nicht gleich kommen. Sie werden zunächst weitgehend auf östliche Bedenken und Wünsche eingehen in dem Bewußtsein, daß sie sich ein wenig Rücksicht und Risiko leisten können, um ihr Ziel eines gesamteuropäischen Verbundes um so sicherer zu erreichen. Aber je mehr die westeuropäische Solidarität als Folge bilateralen Wettbewerbs um östliche Gunst auseinanderfällt und der politische und militärische Rückhalt im Westen zerbröckelt, desto mehr wird auch der politische Spielraum der Westeuropäer eingeengt: war die Priorität der Entspannung zunächst noch eine Option, eine Auswahl unter mehreren Alternativen, so kann sie zunehmend zur einzigen noch verbleibenden Möglichkeit westeuropäischer Politik werden und damit die Staaten Westeuropas in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion führen. Im wirtschaftlichen Bereich werden sich gleichfalls die Grenzen dieser Option zeigen. Auch ohne offizielle westliche Entspannungsbemühungen ist der Ost-West-Handel in den vergangenen Jahren langsam aber stetig gestiegen. Noch als die Bundesrepublik der Sündenbock sowjetischer Propanganda war, entwickelte sie sich zum bedeutendsten Handelspartner Osteuropas, und ihr Anteil am gesamten Osthandel der OECD-Länder beträgt nach einer kürzlich veröffentlichten Statistik fast 40 °/o. Das ist aber nur ein winziger Bruchteil des deutschen Außenhandels — nicht einmal 4 °/o — und trotz mancher euphorischen Äußerung deutscher Industrieller nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages ist eine radikale Ausweitung dieses Handels nicht möglich; nicht weil die Westeuropäer nicht genügend produzieren können, sondern weil die osteuropäischen Länder nicht genügend Gegenleistungen erbringen können, weder in Geld noch in Waren.

Bilaterale Bemühungen westeuropäischer Staaten um verstärkten Handel mit Osteuropa dürften zudem das Bestreben nach mehr Wirtschaftsintegration im Osten vorantreiben. Je vielgestaltiger die Kontakte zwischen Ost-und Westeuropa werden, um so stärker dürfte die Sowjetunion Wert auf Geschlossenheit im Osten legen, im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich. Eine Vernachlässigung der Wirtschaftsintegration im Westen kann so leicht zu stärkerer Wirtschaftsintegration im Osten führen — das Gegenteil von dem, was das Europa von Brest bis Brest erreichen will. Im Sicherheitsbereich schließlich wird am deutlichsten, daß der dieser Option zugrunde-liegendeWunsch nach Symmetrie zwischen Ost-und Westeuropa nicht zu verwirklichen ist: die geographische und militärische Asymmetrie in Europa läßt sich nicht einfach weg-wünschen, die Überlegenheit der Sowjetunion wird auf absehbare Zeit bestehen bleiben. Das bedeutet nicht, die Sowjetunion werde ihr militärisches und politisches Gewicht ausnutzen, um Westeuropa unter kommunistische Oberherrschaft zu zwingen. Eine Supermacht, die so viele Schwierigkeiten hat, ihr bestehendes Imperium zu verwalten, kann kein Interesse daran haben, durch Ausweitung neue Unruheherde zu schaffen — ganz gleich welchen Verlauf die sowjetisch-chinesischen Spannungen nehmen.

Bei einem Westeuropa, dessen vornehmliches Ziel es ist, Teil des gesamten Europa zu werden, wäre die Einverleibung in den kommunistischen Machtbereich, zudem ein unnötiger Luxus. Westeuropäische Regierungen wären ohnehin kaum in der Lage, sowjetisches Mißfallen auf sich zu nehmen. Demonstrationen sowjetischer Macht oder gezielte Pressionen brauchte es nicht einmal, um einem desintegrierten Westeuropa seinen begrenzten politischen Handlungsspielraum vor Augen zu führen — er wäre ohnehin deutlich genug.

Die Option „Europa von Brest bis Brest" ist aus allen diesen Gründen wenig erfolgversprechend. Sie ist — vor dem Hintergrund der Gegenwart — eine romantische Option. Darin aber gerade liegt ihre Anziehungskraft in einem Westeuropa, das sich sicher fühlt, das immer weniger den Sinn hoher Verteidigungsausgaben einsieht und das sich zunehmend seinen inneren Problemen zuwendet.

II. Das atlantische Westeuropa

Während die erste Option die Bereitschaft zum Risiko voraussetzt, ist dies ein Europa „ohne Experimente". Die in zwei Jahrzehnten bewährte europäisch-amerikanische Zusammenarbeit soll von den Zweifeln und dem Mißtrauen der jüngsten Vergangenheit gereinigt und auf eine neue dauerhafte Grundlage gestellt werden. Das Gemeinsame, nicht das Trennende soll betont werden: nicht die „amerikanische Herausforderung" im industriellen Bereich, sondern die gemeinsamen Bedürfnisse und Interessen; nicht die strategische Sonderstellung der Supermacht Amerika, sondern die übereinstimmenden Sicherheitsinteressen; nicht wirtschaftlicher Protektionismus zwischen USA und EWG, sondern Liberalisierung zur weiteren Verstärkung der Interdependenz; nicht politische Gegensätze, einseitige Aktio-nen und Kritik, sondern enge Konsultation und gemeinsame Verantwortung.

Was heißt diese Option in der Praxis? Ihre politische Priorität liegt in der westlichen atlantischen Zusammenarbeit. Entspannungspolitik tritt dahinter zurück; sie ist nicht ausgeschlossen, aber ihr Tempo richtet sich nach dem skeptischsten Mitglied der atlantischen Gemeinschaft, wahrscheinlich die Vereinigten Staaten. Die NATO bleibt die feste Sicherheitsbasis Westeuropas; die Suche nach einem neuen Sicherheitssystem wird eingestellt, weil das bestehende für zuverlässig gehalten wird. Die Europäische Gemeinschaft, zumindest durch England erweitert, wandelt sich vom Wirtschaftsblock zum westeuropäischen Partner in einer atlantischen Freihandelszone. Die atlantische Gemeinschaft wird zur Gruppe der reichen Staaten, die Förderungsprogramme für die Dritte Welt koordiniert.

War das Europa von Brest zu Brest eine romantische Option, so ist das atlantische Westeuropa eine im eigentlichen Sinne konservative Option. Sie geht von den folgenden Annahmen aus: die Teilung Europas in Ost und West ist auf lange Sicht unabänderlich. Entspannung ist sinnvoll, aber nur zur Erhaltung des Status quo; qualitative Veränderungen im Ostblock sind nur durch interne Wandlungen in der Sowjetunion möglich und werden durch westliche Solidarität weder verbaut noch gefährdet. Da die sowjetische Politik sich nicht durch Atmosphäre, sondern nur durch Realitäten beeinflussen läßt, wird sie sich auf die Realität des atlantischen Westeuropa schon einstellen, trotz anfänglicher Opposition. Das Bewährte wahren und konsolidieren, ist die Devise dieser Option für Europa.

Sie hat in der Tat manches für sich, auch wenn sie vielen schon etwas altmodisch in den Ohren klingen mag. Die Stimmung in Westeuropa ist für Experimente, die Hoffnungen richten sich auf eine Überwindung, nicht auf die Festigung des Status quo. Und doch gibt es einflußreiche Gruppen und Strömungen, die auch heute für diese Option eintreten. Immerhin haben die 25 Jahre seit dem Krieg uns Sicherheit gebracht, immerhin ist die wirtschaftliche Interdependenz zwischen Europa und Amerika in den vergangenen Jahren ständig gewachsen, die transnationalen Beziehungen sind hier am stärksten, und auch die gesellschaftliche Entwicklung weist hier die deutlichsten Parallelen auf. Viele gerade der kleineren Staaten Westeuropas mögen an dieser Option wenig Gefallen finden, aber sie ist der Zustimmung mancher westlicher Politiker, wie etwa den Anhängern einer Nordatlantischen Freihandelszone (NAFTA) in England sicher. Und die aktive deutsche Ostpolitik könnte in vielen westeuropäischen Ländern die Stimmen der Vorsicht und der Konsolidierung lauter werden lassen und die konservative Option schmackhafter machen.

Aber kann sie Erfolg haben? Verschiedene Einwände lassen sich erheben: Die öffentliche Meinung in Europa, oder besser: in vielen westeuropäischen Ländern würde dieser Option skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüberstehen. Im übrigen schafft mehr Interdependenz nicht unbedingt mehr Harmonie, sondern auch mehr Spannungen. Das atlantische Europa könnte übervorsichtig sein in seinem Verhältnis zu Osteuropa, übermißtrauisch am Status quo festhalten, damit selbst Mißtrauen säen und Chancen im Osten verpassen. Aber der entscheidende Einwand ist: diese atlantische Option hat die Rechnung ohne den amerikanischen Wirt gemacht. Ihr liegt ein Amerikabild zugrunde, das vor einigen Jahren noch zutreffen mochte, aber heute nicht mehr stimmt — von einem Amerika, das bereit ist, sich Westeuropa in Partnerschaft zu verbinden und seine Interessen denen einer atlantischen Gemeinschaft unterzuordnen.

Verschiedene Ereignisse der letzten Jahre haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Der Krieg in Südost-Asien hat seit 1965 das Hauptaugenmerk amerikanischer Politik in Anspruch genommen, nicht Europa. Heute lockert die Regierung Nixon ihr Engagement in Asien, aber nicht um nun eine idyllische Partnerschaft mit Europa einzugehen, sondern um den wachsenden Anforderungen, die an eine globale Supermacht gestellt sind, gerecht zu werden und drängende innere Reformen in Angriff zu nehmen. Die Entwicklung der strategischen Waffen und die Verhandlungen mit der Sowjetunion haben den Vereinigten Staaten deutlich gemacht, daß sie einer anderen Kategorie der Macht angehören, als auch ein vereintes Europa sie je erreichen kann. Zudem entsprach das Angebot der Partnerschaft in den frühen 60er Jahren einem Bewußtsein der Stärke — heute jedoch fühlt Amerika sich verwundbar, hat eine lange Zeit wirtschaftlicher Rezession hinter sich, zweifelt an seiner Aufgabe in der Welt und bringt die selbstsichere Großzügigkeit der frühen 60er Jahre nicht mehr auf. Nichts macht dies deutlicher als der erhebliche protektionistische Trend im amerikanischen Kongreß, der ein solches Ausmaß angenommen hat, daß besorgte Beobachter bereits von der Möglichkeit eines atlantischen Handelskrieges sprechen.

Man soll diese Entwicklung nicht dramatisieren. Aber man darf sie auch nicht gering schätzen, und Europäer sind dazu leicht bereit, einfach weil die politischen Vokabeln heute oft die gleichen sind wie vor 10 Jahren. Auch die Nixon-Doktrin spricht von Partnerschaft, aber sie meint damit nicht mehr das enge atlantische Verhältnis, das frühere Präsidenten anstrebten. Auch die jetzige amerikanische Regierung wird sich nicht dem Neo-Isolationismus hingeben — einfach weil eine Super-macht das nicht kann. Drei Elemente kennzeichnen heute das amerikanische Verhältnis zu Europa: 1. Die Vereinigten Staaten begrüßen auch weiterhin die Bemühungen um eine politische Einigung Westeuropas; aber sie sind nicht bereit, dafür besondere Opfer zu bringen. 2. Das amerikanische Interesse an Europa ist vielfältiger geworden. Militärische Gesichtspunkte treten in den Hintergrund, wirtschaftliche und andere Beziehungen und Kontakte beeinflussen immer stärker das atlantische Verhältnis. Die Errichtung eines besonderen NATO-Ausschusses für Umweltfragen auf amerikanischen Wunsch verdeutlicht diese Akzentverschiebung. 3. Die Vereinigten Staaten sind nicht bereit, sich durch ihre westeuropäischen Verbündeten mehr Bindungen auferlegen zu lassen als heute bestehen. Das aber wäre nötig, wenn das atlantische Westeuropa Wirklichkeit werden sollte.

Vielleicht wäre echte Partnerschaft möglich gewesen, wenn die Westeuropäer schneller zur politischen Einigung gefunden hätten. Und in den letzten Jahren haben Befürworter eines Vereinten Europa zu beiden Seiten des Atlantik immer wieder gewarnt, Europa müsse sich beeilen, wenn es Amerika noch zur Partnerschaft bereitfinden wolle. Heute allerdings scheint das atlantische Westeuropa auch nicht mehr durch die Hintertür verstärkter europäischer Integration erreichbar.

III. Das selbständigere Westeuropa

In ihrer „unbescheidenen" Version ist diese Option . oft entworfen worden: ein westeuropäischer Bundesstaat mit einheitlicher politischer Gewalt, eigener Verteidigung einschließlich nuklearer Waffen, einer eigenen Rolle in der Weltpolitik: kurz — Westeuropa als dritte oder vierte Supermacht.

Das ist hier nicht gemeint, sondern eine bescheidene und damit für die 70er Jahre realistischere Option. Die atlantische Grundlage westeuropäischer Sicherheit und die nukleare amerikanische Garantie bleiben bestehen, aber die westeuropäischen Staaten schließen sich wirtschaftlich, politisch und militärisch enger zusammen. Die Europäische Gemeinschaft wird erweitert und vertieft, die Zollunion wird zur Wirtschaftsund Währungsunion. Die Euro-Group in der NATO — bisher eine formlose Zusammenkunft westeuropäischer NATO-Mitglieder — wächst zu einer konventionellen Verteidigungsorganisation zusammen, in der auch Frankreich mitarbeitet. Die Mitglieder der erweiterten Europäischen Gemeinschaft verstärken die politische Konsultation und harmonisieren ihre außenpolitischen Interessen, vor allem in der Entspannungspolitik und in den Beziehungen zur Dritten Welt.

Manchem wird diese Option zu bescheiden sein, andere mögen denken, daß die Westeuropäer sich doch schon längst dafür entschlossen hätten. Beides ist nicht richtig. Sicherlich gibt es im heutigen Westeuropa zahllose Ansätze für stärkere Integration und zahllose Bekenntnisse zu größere Selbständigkeit. Aber der politische Wille, diese Option tatsächlich zu verwirklichen, fehlt häufig trotz aller Bekenntnisse. Und politischer Wille ist nötig. Es reicht nicht aus, weiter das Europa der Tomaten, so wichtig es immer sein mag, auszubauen: es wird keine politische Gemeinschaft daraus. Das ist ja gerade eine Lektion der letzten fünf Jahre europäischer Integration; der Glaube, die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung, die funktionale Integration, werde politische Sachzwänge schaffen und damit auch ohne große politische Entscheidungen die politische Einigung unmerklich entstehen lassen, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: der eurokra-tische'Alltag hat nationale Interessen mobilisiert und supranationale Institutionen oft in internationale Sekretariate verwandelt. Funktionalismus ist, um Max Beloffs treffende Formulierung zu benutzen, kein „Föderalismus ohne Tränen". Die EWG wird noch jahrelang in Brüssel weitere Verordnungen, Richtlinien und Empfehlungen produzieren können, ohne daß die außen-und sicherheitspolitischen Interessen der westeuropäischen Staaten deshalb identischer werden und eine stärkere organisatorische Grundlage für die Zusammenarbeit in diesem Bereich gefunden wird.

Wer bei politischen Entscheidungen mitarbeitet oder sie analysiert, neigt nur zu leicht dazu, von den kurzfristigen Schwierigkeiten hypnotisiert zu werden und die Lösung in bloßem Pragmatismus zu sehen. In den großen nationalen Bürokratien zum Beispiel wäre kaum einer, der sich nicht für eine stärkere europäische Zusammenarbeit ausspräche — irgendwann einmal, auf lange Sicht, in den achtziger Jahren. Aber gleich auf dieses Bekenntnis folgt dann eine Reihe von Gründen, warum es gerade jetzt nicht geht. Viele dieser Gründe sind berechtigt — man denke nur an die Schwierigkeiten, trotz 20 Jahren NATO und gemeinsamer Verteidigungskonzeption zu einer Standardisierung der Rüstung oder zu gemeinsamer Waffenproduktion in Westeuropa zu gelangen. Aber kurzfristige Schwierigkeiten dürfen nicht der alleinige Maßstab für die Richtigkeit langfristiger politischer Entscheidungen werden. Und manchmal könnte es den Europäern nicht schaden, sich einmal zu erinnern, was immerhin trotz erheblicher kurzfristiger Schwierigkeiten in den letzten 10 Jahren in Westeuropa mit politischem Willen erreicht wurde, von der gemeinsamen Agrarpolitik angefangen bis zur Kennedy-47 runde und dem Terminkalender für die Währungsunion. Allerdings wird gerade angesichts der deutschen Ostpolitik und der allgemeinen Entspannungsneigung nicht selten in Europa die Frage gestellt, ob selbst die „bescheidene" europäische Integration noch attraktiv genug ist für westeuropäische Politik, ob sie den politischen Willen noch mobilisieren kann. Vier Gründe sprechen dafür, daß sie es kann. Erstens darf das Tempo der Entspannungsinitiativen der letzten Monate nicht einfach in die Zukunft projiziert werden. Wenn das unmittelbare Ziel der Ostpolitik, die Normalisierung, erreicht ist, dann wird diese Politik ihren spektakulären Charakter einbüßen und von der Seite eins der Zeitungen auf die Seiten drei bis sechs und den Wirtschaftsteil abwandern. Ostkontakte, -gespräche, -Vereinbarungen werden zum täglichen Ereignis werden, und es ist durchaus denkbar, daß Entspannungspolitik durch ihre Alltäglichkeit normal und geradezu langweilig wird. Das setzt politische und bürokratische Energien, die durch die Entspannungsinitiativen der letzten Zeit gebunden waren, für andere Aufgaben wieder frei.

Zweitens wird gerade die Normalisierung des Ost-West-Verhältnisses deutlich machen, wie mühsam und langsam nur Erfolge auf diesem Gebiet zu erzielen sind. Die gleiche politische Energie kann wirksamer in Westeuropa eingesetzt werden; hier sind Erfolge schneller zu erzielen.

Drittens werden vermehrte wirtschaftliche und politische Kontakte zwischen Ost und West im Osten die Neigung zur Blockdisziplin und die Bemühungen um wirtschaftliche Integration verstärken. Die Staaten Westeuropas werden erkennen, daß ihre eigene Integration nicht nur der Entspannung nicht schadet, sondern durch die Entspannung gerade als ein demokratisches Integrationsmodell eine neue Rechtfertigung erfährt.

Viertens — und das ist vielleicht der wichtigste Punkt — bleibt Entspannungspolitik eine Politik des Risikos. Sie ist keine Garantie gegen politische Pressionen, sie kann ein neues Prag nicht ausschließen. Dieses Risiko muß eingegangen werden. Aber das braucht nicht ohne die nötige Vorsicht zu geschehen. Westeuropäische Solidarität, untermauert durch wirtschaftliche, politische und militärische Integration, ist das beste Mittel, das Risiko der Entspannung erträglich zu halten und damit die für weitere Entspannung nötige Risikobereitschaft zu ermöglichen.

Die Option des selbständigeren Westeuropa scheint daher die beste Option für die siebziger Jahre zu sein. Sie begrenzt das Risiko der ersten Option und bietet eine verläßlichere Grundlage für die Entspannung. Sie vermeidet die Starrheit der zweiten Option und schafft einen realistischeren Ausgangspunkt für das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten.

Wieviel Zeit hat Westeuropa, um sich für die eine oder andere Option zu entscheiden? Keine der genannten Möglichkeiten ist neu oder besonders originell; sie sind nicht erst heute erkennbar, sondern schon seit einiger Zeit.

Und doch lassen sie sich heute deutlicher abwägen als noch vor ein oder zwei Jahren. Der amerikanische Abzug aus Südostasien läßt die politischen Vorstellungen und Trends in den Vereinigten Staaten klarer hervortreten. Der Abschied de Gaulles von der politischen Bühne hat eine nüchternere Einschätzung des politischen Kräfteverhältnisses in Europa erleichtert. Die Ära der Verhandlungen, 1968 von Präsident Nixon angekündigt, hat tatsächlich begonnen. Die alten Konzepte westlicher Politik, die von der Konfrontation zwischen Ost und West geprägt waren, passen nicht mehr recht auf die heutige Situation. Der Wandel ist erkennbar und verlangt längerfristige politische Entscheidungen.

Allerdings bleiben die politischen Ereignisse nicht stehen, Politik hat keine , Denkpause'. Kurzfristige und langfristige Entscheidungen müssen gleichzeitig getroffen werden.

Die mögliche Verminderung amerikanischer Truppen in Europa, die Beitrittsverhandlungen in der EWG, die Gefahr eines atlantischen Handelskrieges, die strategischen Rüstungsgespräche zwischen den Supermächten, die Vorgespräche für eine europäische Sicherheitskonferenz — alle diese unmittelbar bevorstehenden Ereignisse erhalten verschiedenes Gewicht je nach der Option, die Westeuropa wählt. Intuition und ad hoc-Vorgehen allein können ihnen ihren richtigen Stellenwert nicht zumessen, und die Entscheidungen, die Westeuropas Regierungen in diesen Fragen treffen werden, präjudizieren auch die längerfristigen Optionen.

In juristischen Abhandlungen gibt es eine elegante Wendung, um Entscheidungen zwischen widersprüchlichen Tatsachendarstellungen oder entgegengesetzten Rechtsmeinungen aus dem Weg zu gehen, wenn sie für das Ergebnis unerheblich sind: „Es kann dahin gestellt bleiben, ob . . Bei den unmittelbar bevorstehenden Entscheidungen, die westeuropäische Regierungen treffen müssen, kann nicht dahingestellt bleiben, welche längerfristigen Vorstellungen sie damit verfolgen wollen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christoph Bertram, Dr. jur., geb. 1937, gegenwärtig Assistant Director am Institute for Strategie Studies in London. Veröffentlichungen zu europäischen Fragen.