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Aufgaben und Probleme des Schulpraktikums Aus der Sicht eines Studenten | APuZ 22/1971 | bpb.de

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APuZ 22/1971 Grundgesetz und Sittengesetz Aufgaben und Probleme des Schulpraktikums Aus der Sicht eines Studenten Aus der Sicht eines Mentors Aus der Sicht eines Dozenten Erwiderung auf den Aufsatz von Helmut Keil — „Grundschulpraktikum 1970" Entgegnung auf Wolfgang Hinrichs Kritik an meinem Aufsatz „Grundschulpraktiken 1970"

Aufgaben und Probleme des Schulpraktikums Aus der Sicht eines Studenten

Wilfried Böhl

/ 9 Minuten zu lesen

Die folgenden Beiträge resultieren aus den Bemühungen um eine Neuordnung des Schulpraktikums, das im Rahmen des Studiums an den Pädagogischen Hochschulen zu absolvieren ist. Die anstehenden Aufgaben und Probleme werden, dieser Zielsetzung entsprechend, aus der Perspektive des Studenten, aus der des als Mentor beteiligten Lehrers und schließlich aus der Perspektive des das sogenannte Blockpraktikum leitenden Dozenten dargestellt. — Die drei Erfahrungsberichte, herausgegeben von Prof. Dr. W. Hinrichs, sind zuerst in der Zeitschrift „Die Pädagogische Hochschule“, Siegen WS 1969/70, Heft 7, Seite 13— 22, erschienen; der — geringfügig geänderte — Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber, der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe (Abteilung Siegerland), und der Verlagsgesellschaft.

Nach dem dritten oder vierten Semester verläßt der Student der Pädagogik in Nordrhein-Westfalen normalerweise vorübergehend die Hörsäle, Seminar-und Bibliotheksräume der Hochschule. Er betritt ein Klassenzimmer der Grund-oder Hauptschule, um dort in der vorlesungsfreien Zeit fünf Wochen lang unter Anleitung des Klassenlehrers und bei zeitweiliger Beratung durch einen Hochschuldozenten im Unterricht mit Schülern umzugehen. Dieser Übergang ist in den meisten Fällen durchaus keine harmlose Angelegenheit. Nicht selten spielt er sich so ab, daß man ohne besondere Übertreibung sagen kann: Der Student erleidet in den ersten Tagen, die er im Schulzimmer verbringt, einen Schock. Er fragt sich, was diese Schulpraxis mit seinem theoretischen Studium zu tun hat. Er zweifelt daran, ob er die Spannung dieser beiden Teile seines Studiums, Theorie und Praxis, überhaupt aushalten oder gar bewältigen kann. Oft genug ist es der Fall, daß einem Studenten jetzt zum ersten-mal mit ganzer Wucht ernste Bedenken kommen, derart, daß er sich fragt: „Habe ich das richtige Studium gewählt? Werde ich überhaupt einmal ein guter Lehrer sein können?" Und das kommt gerade oft bei theoretisch besonders fähigen und energischen Studenten vor.

Nun soll dieses Praktikum eben die Kluft überbrücken, die sich im Studium zwischen Theorie und Praxis auftun kann. Es soll u. a. einem Schock beim endgültigen Schritt in den Lehrerberuf vorbeugen. Dieser Übergang kann so hart sein, daß der junge Mensch jetzt erst, wenn es zu spät ist, resigniert und ein schlechter Lehrer wird oder sich einem anderen Beruf zuwendet. Zwar ist neuerdings der Vorbereitungsdienst im Bezirksseminar als erster Schritt für die jungen Lehrer (Lehramtsanwärter) vorgesehen, um ihnen vor allem zur nötigen theoretisch begründeten Übung im Unterricht zu verhelfen. Dabei sind die jungen Lehrer nicht schon, mit einem vollen Lehrauftrag belastet. Aber von den Aufgaben des Hochschulstudiums aus ergibt sich die Frage: Was kann getan werden, damit sich das Studium nach dem 3. oder 4. Semester nicht nur formal auf das fünfwöchige Schulpraktikum bezieht?

Raum für eine sinnvolle Praktikumsgestaltung ist durchaus mit der neuen „Vorläufigen Studienordnung" der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe vom März 1968 gegeben (vgl. darin V. 1). „Die Praktika dienen", wie es dort heißt, „als empirische Grundlage der wissenschaftlichen Reflexion". Sie sollen also als „Erfahrungsgrundlage" das theoretische Studium ergänzen, was auch in der Prüfungsordnung für Nordrhein-Westfalen (1t. Erlaß des Kultusministers vom 9. 1. 1968, § 2 Absatz 1) zum Ausdruck kommt. Dazu erhält der Student nach der Studienordnung im fünfwöchigen Schulpraktikum „Gelegenheit, die vielfältige Wirklichkeit der Schule durch Beobachtung und durch aktive Teilnahme an der Unterrichts-arbeit kennenzulernen". Es geht vor allem „um eine gründliche theoretische Durchdringung der gesammelten praktischen Erfahrungen" (V. 4). Um diese Aufgaben erfüllen zu können, ist es nötig, in einer Praktikumsordnung die Voraussetzungen im einzelnen zu schaffen.

Aus dem Bisherigen geht hervor, daß es — vom Standpunkt des Studenten aus gesehen —-noch nicht gelungen ist, die Praktika und das wirkliche Studium an den Pädagogischen Hochschulen im Sinne der Studienordnung miteinander zu vereinbaren. Der Student kommt sich — überspitzt ausgedrückt — zunächst in der Unterrichtspraxis vor wie ein Schiffbrüchiger; in unerreichbarer Ferne ist das Festland seines bisherigen Studiums, die Theorie; er „schwimmt", wie es in der Sprache junger Lehrer oder Praktikanten heißt. Diese Verlegenheit zeigt aber besonders drastisch die Notwendigkeit des Praktikums für ein sinnvolles Studium. Soll die Verbindung zum übrigen Studium deutlich werden, so dürfen Mentoren und Studenten von den Dozenten nicht allein-gelassen werden. Aus drei Gründen vor allem ist die maßgebliche Wirkung der Dozenten nötig, 1. um die Reflexion des Studenten bis zu einer wenigstens annähernd wissenschaftlichen Genauigkeit zu fördern; 2. um die Verständigung mit den Mentoren zu fördern, also mit den Praktikern, die es bisher nach dem Studium, isoliert von der Hochschule, nur noch mit den Schülern, den Kollegen und den Schulbehörden zu tun hatten (selbst für diejenigen Praktiker gilt das, die als Mentoren tätig sind, abgesehen natürlich von den hinzukommenden Studenten und den seltenen Schulbesuchen der Dozenten); 3. um die Studien-wünsche der Studenten so weit wie möglich mit der Praktikumswirklichkeit in Einklang zu bringen.

I.

Soll die Reflexion des Studenten über seine Unterrichtsversuche wenigstens annähernd wissenschaftlich werden, so muß er sich bemühen, seine Überlegungen zu formulieren. Dies geschieht im Blick auf die jeweils geplante Unterrichtseinheit und im Rückblick auf den jeweiligen Unterrichtsversuch, schließlich beim überdenken des ganzen Praktikums, das am besten — wie es die bisherige Praktikumsordnung schon forderte — unter einem selbstgewählten Gesichtspunkt stattfindet. In dieser Gedankenarbeit hat der Student eine ganz beträchtliche Schwierigkeit zu bewältigen. Grundsätzlich sieht er ein, daß über Gespräche und Diskussionen hinaus solche Formulierungen genauer werden, wenn sie schriftlich geschehen, wie es die Studienordnung verlangt (a. a. O., V. 4). Aber soll er dabei nicht noch unsicherer werden oder sich auf unverbindliche Formulierungen zurückziehen, so geht das nur unter der Bedingung einer intensiven Mitarbeit des Dozenten. Einige richtig plazierte, intensive Gespräche mit dem Dozenten sind also für jeden Studenten unentbehrlich.

Schließlich braucht der Student auch eine Hilfe bei der Suche nach interessanten Fragestellungen. Dies geschieht erfahrungsgemäß am ehesten in den Fällen, in denen eine enge Verbindung der Praktika mit Seminarveranstaltungen gewährleistet ist. Erst auf Grund von einleuchtenden und in Grenzen lösbar erscheinenden Problemen der Praxis wird der Student zu theoretischen schriftlichen Arbeiten motiviert. Hier eröffnet sich für den Hochschullehrer und in studentischer Sicht ein großes Feld, das dem Studenten unbestellt erscheint. Es ist ein Unterschied, ob der Student von Problemen nur hört oder liest, oder ob er sie an eigenen pädagogischen Versuchen erfährt. Erst wenn er selbst „nicht weiterkommt", ohne sich über Einzelprobleme, welche die Praxis aufwirft, theoretisch zu orientieren, findet er aus eigenem Antrieb zur Theorie. Erst wenn das Praktikum (nicht die bloßen Unterrichts-versuche) als dynamischer Ausgangs-und Zielpunkt von Lehre, Forschung und Studium der Pädagogischen Hochschule seinen wahren Stellenwert erhält, erst dann wird das theoretische Studium für den Studenten grundsätzlich bedeutsam. Andernfalls kann es höchstens zu einem verbalen Bewußtsein der eigentlich brennenden Fragen kommen. Der Student, der vom fünfwöchigen Schulpraktikum wieder in die Seminare zurückkehrt, meint, daß er seinen. Kommilitionen etwas zu sagen hat, und merkt hin und wieder, daß er selbst seinen Hochschullehrern etwas zu geben hat. Wie selten aber baut der Hochschullehrer systematisch seine Arbeit auf die Mitteilung studentischer Arbeit und Erfahrungen im Praktikum auf! Wie sehr scheint er dem Studenten, wenn er forscht, immer wieder in Projekten befangen zu sein, deren Notwendigkeit dem Studenten in der Schulpraxis nicht einsichtig wird! Wie oft wird die Gelegenheit verpaßt, derartige studentische Beiträge auszuwerten, heräuszufordern oder auch nur zu ermöglichen! Das gilt gewiß besonders für Hochschulen mit großen Studentenzahlen, ist aber ein grundsätzliches Problem für alle Pädagogischen Hochschulen.

Natürlich liegt das gelegentlich auch daran, daß der Mentor — wohl befangen im begrenzten Feld seiner Praxis — kein Verständnis für gewisse pädagogische Probleme aus der Sicht des Hochschullehrers hat. Andererseits merkt der Student in der Regel, wie wertvoll die Hilfe eines erfahrenen Mentors ist.

II.

Der Student muß die Spannung zwischen Hochschullehrer und Mentor, zwischen Theorie und Schulwirklichkeit im Praktikum aushalten. Er findet nicht immer die Sprache, die den Hochschullehrer auf neue Fragen und Sichtweisen aufmerksam macht. Er findet erst recht nicht immer die Sprache, seine Erfahrungen und Einsichten dem Mentor in überzeugender Weise vorzutragen. Auch der ernsthaft um eine Bewältigung der Aufgaben ringende Stu dent, nicht nur der Student, der es sich mit der bloßen Verachtung der Gegebenheiten leicht macht, ist unvorbereitet dieser Zerreißprobe ausgesetzt. Er löst daher hin und wieder sowohl bei Dozenten wie Mentoren Befremdung aus.

Würden aber die Studenten schon in den ersten Semestern vor dem fünfwöchigen Schulpraktikum planmäßig auf eine Verständigung mit den Mentoren von selten der Dozenten vorbereitet, so wäre damit wiederum ein Hindernis zu fruchtbarer Zusammenarbeit beseitigt. Umgekehrt könnten die Hochschullehrer selbst ihre Erfahrungen in der Beratung mit Mentoren und Studenten im Praktikum genauer verwerten und vielleicht noch besser kontrollieren. Sie würden zugleich den Studenten zu einer besseren Verständigung mit den Dozenten sebst verhelfen.

Es wäre zu überlegen, welche Möglichkeiten einer solchen Vorbereitung auf das fünfwöchige „Blockpraktikum" die sog. Tagespraktika bieten, die in den ersten drei bis vier Semestern wöchentlich einen halben Tag beanspruchen. Unbeschadet dessen, sollte aber auch in den Lehrveranstaltungen diese Frage mehr in den Vordergrund rücken.

Bleibt die Überbrückung der Verschiedenheit der Perspektiven aus, so verhärten sich dagegen die Positionen; die Gefahr des Sichverrennens in ideologische Streitigkeiten besteht, so daß dem Studenten die Schulwirklichkeit vor allem „ideologisiert" und damit in Dogmen gezwängt und erstarrt erscheint. Unter solchen Bedingungen kann er kein Verständnis für die harte Vorhaltung aufbringen: „Die Praxis sieht anders aus als die Theorie" — eine Vorhaltung, die sonst, wenn sie zu hören ist, Uberwindungsenergien entbinden kann.

III.

Besonders empfindlich wird mancher davon getroffen, daß es nicht möglich ist, jeden Studenten einem Mentor zuzuteilen, bei dem er in allen drei im Studium gewählten Fächern unterrichten kann (Wahlfach, zwei weitere Schulfächer). Es gibt Praktikanten, die völlig unsi-Cher werden, wenn sie in einem nicht gewählten Fach einen Unterrichtsversuch machen Solen. Bei der gegenwärtigen Schulorganisation ommt es aber vor, daß dieser Fall mindestens 0 oft eintritt wie das übernehmen von Unter-ndrtseinheiten in gewählten Fächern. Ja, es ist eine große Ausnahme, wenn der Student in nur einem der von ihm gewählten Fächer im raktikum unterichten kann, im übrigen aber in Fächern praktiziert, die er nicht studiert. Es kann sogar geschehen, daß er einer Grundschule zugeteilt wird, wenn er im Studium den Stufenschwerpunkt II (Hauptschule) gewählt hat.

Es gibt Studenten, die das Praktikum in solchen Fällen für sinnlos halten. Hier ist zu fragen, ob die Praktikumsorganisation nicht noch verbessert werden kann, ob nicht darüber hinaus in den Praktikumsschulen Wege gefunden werden können, die besondere Härten vermeiden, z. B. zeitweiliger Austausch von Studenten unter verschiedenen Mentoren an einer Schule. Lehrer, die nicht Mentoren sind, kommen hier manchmal freundlicherweise entgegen, was man aber nicht erwarten oder organisatorisch ausnützen kann. Es sei nicht bestritten, daß Erfahrung in „fremden" Fächern nützlich, in Grenzen auch notwendig ist. Es ist aber unmöglich, alle Fächer in ihrer Problematik didaktisch-methodisch zu durchdringen, ganz zu schweigen von den Sachproblemen. Der Unterricht des Studenten als eines Allround-Lehrers ginge immer zu Lasten des Studiums und wohl erst recht zu Lasten des Schülers. Aus diesen Gründen wäre es empfehlenswert, in den Erfahrungs-und Gedankenaustausch aller Beteiligten auch gelegentlich Schüler einzubeziehen. Die Befragung, Reaktion und begrenzte Mitwirkung von Schülern ist auch aus anderen Gründen wichtig, so z. B. für eine vordringliche Aufgabe des Studierens und der Forschung, nämlich für Experimente. Beim Schulpraktiker stößt man dabei leicht auf Widerstand. Dem Studenten sind sie höchstens unter Anleitung des Dozenten in den zum Studium gewählten Schulfächern möglich, weil nur hier ein genaueres Problembewußtsein vorausgesetzt werden kann. Sicher darf der Schüler, um den es ja geht, nicht das Opfer solcher Unternehmungen sein. Experimente sind aber notwendig; sie dienen der Weiterführung der Theorie und letztlich — in gegenseitiger Korrektur von Theorie und Praxis — auch der Praxis.

Die Unzulänglichkeit unserer Schulpraxis und Schulsituation erfordert als Korrektiv die Theorie. Aber diese selbst ist ebenfalls unzulänglich, was sich in ihrem mangelnden Einfluß auf das Praktikum zeigt und durch eine bessere Wechselwirkung mit der Schule ausgeglichen werden müßte. Diese Unstimmigkeiten zwischen Theorie und Praktikum einerseits und den praktischen Gegebenheiten der Schule andererseits sind schließlich zutiefst mitbegründet in den gesellschaftlichen Konflikten der Gegenwart.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wilfried Böhl, Lehrer, geb. 1946, Studium an der Technischen Hochschule Aachen und an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Siegerland (Deutsch, Erdkunde, Kunsterziehung).