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Erwiderung auf den Aufsatz von Helmut Keil — „Grundschulpraktikum 1970" | APuZ 22/1971 | bpb.de

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APuZ 22/1971 Grundgesetz und Sittengesetz Aufgaben und Probleme des Schulpraktikums Aus der Sicht eines Studenten Aus der Sicht eines Mentors Aus der Sicht eines Dozenten Erwiderung auf den Aufsatz von Helmut Keil — „Grundschulpraktikum 1970" Entgegnung auf Wolfgang Hinrichs Kritik an meinem Aufsatz „Grundschulpraktiken 1970"

Erwiderung auf den Aufsatz von Helmut Keil — „Grundschulpraktikum 1970"

Wolfgang Hinrichs

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Der in dieser Zeitschrift am 30. Januar 1971 veröffentlichte Beitrag von Helmut Keil zeugt von einem in relativ praxisferner Theorie erworbenen Idealismus, der in der Praxis enttäuscht werden mußte. Die Gefahr des Umschlags in eine doktrinäre Arroganz und einen destruktiven Zynismus und Radikalismus gegenüber den Praktikern, worunter Lehrer und Eltern und Schüler zu verstehen sind, scheint mir in diesem Erfahrungsbericht deutlich zu werden. Kaum irgendwo schimmert in dem Bericht des Studenten die Frage durch, ob nicht auch die von ihm mißbilligten Lehrer (S. 28 f. und 30 f.) und Schüler (S. 31) verständliche und z. T. sogar triftige, wenn auch keineswegs immer ausreichende Gründe für ihr Verhalten haben. Derartige Gründe jedenfalls billige ich Helmut Keil bei seinem einseitigen Bericht zu. Er unterscheidet einfach schlechte („autoritäre") und gute („nichtautoritäre") Lehrer (z. B. S. 29 f.) und verfällt in den heute wieder auflebenden marxistisch angehauchten psychologisierenden erziehungswissenschaftlichen Dilettantismus, der vor der Hitlerzeit schon z. B. von Theodor Litt überwunden wurde in dem Buch „Führen oder Wachsenlassen" (Stuttgart 1964 11 u. ö.).

Diesem Dilettantismus ist fremd die Möglichkeit und der Sinn einer von innerer Bescheidenheit her moralisch zu legitimierenden, in jedem Fall aber bei unserer hochdifferenzierten Kultur und Gesellschaft notwendigen Geltung äußerer Autorität kraft Gesetzes. Eben gegen dieses komplizierte „System", für seine „Entlarvung" und damit für ein feindseliges Verhalten seinen Trägern gegenüber wird Helmut Keil in APO-Manier mit seinem Bericht und Kommentar aktiv, auch wenn er selbst wahrscheinlich und hoffentlich nicht so autoritär und rechthaberich ist, wie er es seinen Gegnern vorwirft und wie es systemfeindliche revolutionäre Ideologen notwendig sind. Solche Ideologen wissen ja alles besser als noch so differenzierte systemkritische Reformer mit einem Minimum von Vertrauen in unsere Ordnung in der Bundesrepublik. Wenn auch wohl das Verhalten von Helmut Keil im Umgang sehr verständigungsbereit ist, so sind seine theoretischen Konsequenzen doch hybrid und damit intolerant. Für ihn sind einfach „diese Verhältnisse“ allesamt, weil „kausal" angeblich unauflöslich verfilzt, so verdammenswert, daß sie der „Offenlegung" und „radikalen Änderung" als „einziger Konsequenz" bedürfen. Alle gemäßigteren Aufassungen sind damit ausgeschlossen, eine Verständigung mit solchen Andersdenkenden erscheint, wenn man diese „Theorie" ernst nimmt, illusorisch. Die pädagogischen Thesen und Beobachtungen Keils sind streckenweise zwar sehr wertvoll. Bedauerlich ist aber der unversöhnliche und wenig partnerschaftliche Kontext (besonders S. 32).

Somit kann man nur feststellen: Hier besteht die Gefahr, daß derartige im Lehrerstudium begriffene junge Menschen — statt zu Lehrern — entgegen ihren ursprünglichen Motiven zu radikal autoritären Propagandisten werden, die vom hohen Podest einer absolut der gesellschaftlichen Wirklichkeit überlegen scheinenden inneren Haltung her unter dem Mäntelchen eines verbal, mimisch und gestisch sozial-integrativen „Verhaltens" die Schüler und manche Eltern indoktrinieren und zu revolutionären Stoßtrupps disziplinieren (vgl. S. 31 f.).

So wenig angebracht angesichts derart verborgener und z. T. nicht gewollter totalitärer Tendenzen ein Ignorieren unserer konfliktreichen Wirklichkeit ist, so sehr ist doch im Raum der Erziehung, der Wissenschaft und der Lehrerbildung ein Plädoyer für Verständigung der Beteiligten nötig. Der Beitrag von Helmut Keil sollte einmal mit der Frage gelesen werden, ob er nicht ein Beispiel für eine sich von der Praxis isolierende Theorie ist, die dann auch durch bloßes Hospitieren und (spätere) Praktika nicht korrekturfähiger wird. An Hochschuleinheiten, die das Glück haben, noch keine Mammutbetriebe zu sein, können wenigstens pädagogische und didaktische Theorien vermieden werden oder weniger schädlich sein, die eine Konfrontation mit der Wirklichkeit unserer Gesellschaft und Schule nicht zu ertragen vermögen. Denn hier ist eine intensive Direkterfahrung dieser Wirklichkeit möglich. In Hochschul-Großbetrieben drängt sich gegenüber anderen Verhältnisssen die Wahrnehmung der Wirklichkeit, wenn überhaupt, höchstens durch Medien vor. — Als Ergänzung der Direkterfahrung kann diese indirekte Anschauung durchaus sinnvoll sein. Aber sie kann nicht eine schon in der Studien-Anfangs-Phase'notwendige Direkterfahrung ersetzen: Am negativen Beispiel zeigt das die geringe Neigung des offensichtlich zu sehr im Hörsaal vor der Praxis geschonten Studenten zur Verständigung mit den Praktikern unter den Fachleuten.

Vielleicht können die oben vorgetragene Ergebnisse eines längeren Erfahrungsaustauschs über Praktika und dessen theoretische Konsequenzen, woraus inzwischen eine mit starker studentischer Beteiligung formulierte neue Praktikumsordnung hervorgegangen ist, noch einer These zur Geltung verhelfen, die man nicht ohne Not übergehen sollte: Institutioneile Konzentration ist für eine moderne Ausrüstung von Hochschulen ökonomisch von großer Bedeutung. Doch die Streuung von Hochschulen, auch wenn sie zunächst kleinere Einheiten sind, ist unvermeidlich, wenn es gelingen soll, die Wissenschaft vor einem neuen Elfenbeinturm-Denken zu bewahren. Es geht darum, die Hochschule in gesellschaftlichen Kontakt mit einem Einzugsgebiet zu bringen, ohne dieses Einzugsgebiet durch eine Invasion zu vieler praxisbedürftiger Studenten zu überfordern. Konzentration, jedoch nicht Ballung und damit relative Dezentralisierung! Oder: relative Autonomie statt einer Isolierung oder bloßen Systemabhängigkeit! — Das ist die Devise, die aus meinem Diskussionsbeitrag und den folgenden Ausführungen hervorgeht. Es kommt darauf an, jenen Schock zu vermeiden, der den Theoretiker umwirft oder ihn feindselig macht, wenn er in die Berufspraxis geht, aber auch die notwendige Spannung zwischen Theorie und Praxis fruchtbar zu machen, statt sie zu unterdrücken oder einer Unterwerfung unter rezeptologische Praktiken zu opfern. Im Gegensatz zu bloßen Konfrontationen ist m. E.frühe Verständigung nötig. Auch Kampf ist nötig, aber für diese Verständigung und gegen Scharfmacher. Keil ist zu danken, daß er nicht nur Scharfmacherei betreibt, sondern noch offen und diskussionswürdig formuliert, so daß man seinen Bericht als Provokation zu einer solchen Antwort annehmen kann, wie sie hier versucht ist.

Fussnoten

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