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Die Diskussion über den Abschnitt „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei" | APuZ 36/1975 | bpb.de

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APuZ 36/1975 Vorwort Artikel 2 Vorwort Artikel 4 Die Diskussion über den Abschnitt „Die Ziele des demokratischen Sozialismus" Die Diskussion über den Abschnitt „Bedingungen und Bezugsrahmen" Die Diskussion über den Abschnitt „Markt und Lenkung" Die Diskussion über den Abschnitt „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei" Anmerkungen zum Abschnitt „Schwerpunktbereiche"

Die Diskussion über den Abschnitt „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei"

Roland Ermrich

/ 28 Minuten zu lesen

I. Einleitung

1. Zum ersten Entwurf und zum Auftrag von Hannover

Der erste Entwurf eines . Ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973— 1985" enthielt keinen Hinweis darauf, daß bei der Durchsetzung der angestrebten Ziele die SPD als Parteiorganisation eine besondere Aufgabe habe. Nur in zwei Textziffern im Kapitel „Bedingungen und Möglichkeiten der Durchsetzung" waren Hinweise darauf gegeben, was „die Partei will“:

1. „Der wirtschaftlichen Macht der Wenigen kann die SPD nur die politische Macht durch die Wählerstimmen der Vielen entgegensetzen" und 2. sie will „zur Förderung des politischen Bewußtseins beitragen".

Um dieses zu erreichen, wird im Entwurf eine bessere Information über die Ziele der gesellschaftlichen Reformen und eine unmittelbarere Beteiligung der Menschen an der Demokratie gefordert.

Ansatzpunkt einer Kritik an diesem ersten Entwurf war u. a. die fehlende konkrete Strategie, mit der Reformmaßnahmen durchgesetzt werden können. Denn wenn wenige einflußreiche und mächtige Privilegierte in unserer Gesellschaft Reformen fast nach Belieben unterlaufen, boykottieren, behindern oder zumindest hinauszögern könnten, dann gelte es, diese Widerstände genau aufzuzeigen und mit Hilfe eines präzisen Maßnahmen-und Mittelkatalogs zu brechen.

Bei dieser Kritik an einer fehlenden Strategie wurden allerdings nur die Widerstände von Seiten der „wenigen Privilegierten" berücksichtigt. Nicht ins Visier genommen wurden die möglichen Widerstände derjenigen, für die die Reformmaßnahmen eigentlich bestimmt sind. Die Fragen, wie denn die große Mehrheit unserer Bürger den Reformen gegenüberstehe bzw. wie diese Mehrheit für Reformen gewonnen und mobilisiert werden könne, wurden nicht gestellt. Die Frage, wie sich der Bürger in unserer Gesellschaft sieht, wie seine Bewußtseinslage ist, wurde somit ausgeklammert. Der Parteitag in Hannover wurde in seinem Auftrag an die neue Kommission diesbezüglich bestimmter. Denn die neue Kommission sollte u. a.:

— neu in Erscheinung getretene Verhaltensweisen und Werthaltungen präzisieren und in einzelnen Bereichen verdeutlichen, — Vorschläge machen, wie das Programm mit der Mehrheit des Volkes im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchgesetzt und wie der dazugehörige Informationsstand der Bürger erhöht und der Beteiligungswille aktiviert werden könne, — klären, auf welche Weise dem Widerstand herrschender Klassen gegen Reformen die Politisierung der öffentlichen Meinung gegenübergestellt werden könne.

Im folgenden wird zunächst kurz der Inhalt des Kapitels „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei" im zweiten Entwurf als Ergebnis der Kommissionsarbeit wiedergegeben. Danach wird geschildert, wie die Kommission zeitlich und methodisch gearbeitet hat, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Anschließend wird in geraffter Form die inhaltliche Diskussion zu den Aussagen dieses Kapitels wiedergegeben.

2. Zum Inhalt des Kapitels

a) Das Bewußtsein der Bürger Ausgangspunkt für die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus ist für die Kommission das Bewußtsein des Bürgers. Es ist von zentraler Bedeutung, wie der Bürger seine Stellung in Staat und Gesellschaft einschätzt. Die Bürger verbinden ihr positives Verhältnis zur Bundesrepublik und Ihre Fähigkeit zu kritischem Urteil mit dem Wunsch, sowohl Erreichtes zu bewahren als auch Reformen weiterhin anzustreben.

Gleichzeitig sind sich die Bürger aber auch ihrer Abhängigkeit von den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Bundesrepublik bewußt. Zudem erzeugt die weltwirtschaftliche Entwicklung mit ihren negativen Auswirkungen auf diese Strukturen zugleich ein Gefühl von Unsicherheit. Darüber hinaus bestehen in unserer industriellen Gesellschaft ohnehin Probleme, die durch die internationale Entwicklung noch verschärft werden:

Der Markt als Vermittlungsmechanismus kann nicht mehr in genügendem Maße zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Leistungen vermitteln. Ein Großteil der Bedürfnisse der Bürger kann nur noch gesellschaftlich befriedigt werden. Das bedeutet, daß die Lebensqualität für die Bürger in zunehmendem Maße von der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen abhängig ist, die nicht über den Markt erfolgen kann.

So werden vom Markt nicht zu lösende Probleme in den politischen Bereich verlagert und geben staatlicher Planung, demokratischer Meinungsbildung und Entscheidung zusätzliche Bedeutung. Dieser Prozeß kann mithelfen, das Gefühl von Ungewißheit und Unsicherheit bei vielen Bürgern abzubauen. Gleichzeitig können jedoch wegen der ständigen Zunahme staatlicher Aufgaben und der Kompliziertheit der Planung Wählerbedürfnisse durch die allgemeinen Wahlen nur beschränkt vermittelt werden. Aus diesen Gründen erfährt der Bürger zusehends seine Lage als undurchsichtig und abhängig von den Leistungen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Organisationen, die er nicht durchschauen kann. Dieses Gefühl der Abhängigkeit kann schnell in ein Gefühl des reinen Ausgeliefertseins an undurchschaubare Mächte umschlagen. Damit wächst die Anfälligkeit gegen Schlagworte der Meinungsindustrie genauso wie die Anfälligkeit gegenüber Angstkampagnen oder Erlösungsideologien. Irrationale Enttäuschungsreaktionen auf Seiten der Bürger können die Folge sein. Da staatliche Politik diesem Prozeß nur sehr begrenzt entgegenwirken kann, von der Zustimmung der Bürger aber abhängig ist, reicht es nicht aus, bei den allgemeinen Wahlen für die Regierungsverantwortung ausreichende Mehrheiten an Wählerstimmen zu erringen. Sozialdemokratische Politik hat auf der staatlichen Ebene nur dann längerfristig Erfolgs aussichten, wenn sie von einer breit ange legten und ständigen Vertrauensarbeit in de: Bevölkerung gestützt wird.

b) Die Vertrauensarbeit der Partei

Eine erfolgreiche Breitenwirkung von Ver trauensarbeit hat zur Voraussetzung, dal deutlich gemacht wird, aus welcher menschli chen Grundhaltung und welchen Wertent Scheidungen heraus sozialdemokratische Poli'tik gestaltet wird. Dazu ist es erforderlich daß bei den politisch verantwortlich Handelnden die Übereinstimmung ihres persönlicher Handelns mit ihren eigenen Ansprüchen nicht verletzt wird.

Im einzelnen sind mit der Vertrauensarbeit fünf Aufgaben zu erfüllen:

— Die Probleme und Bedürfnisse der Bevölkerung sollen ermittelt und unverzerrt in die politische Diskussion und Entscheidung eingeführt werden.

— Politische Entscheidungen sollen dem Bürger verständlich gemacht werden. Insbesondere soll die Vertrauensarbeit dazu beitragen, daß durch die Politik geschaffene Möglichkeiten auch wirklich von denen genutzt werden, für die sie geschaffen worden sind.

— Den Bürgern sollen längerfristige politische Orientierungen angeboten werden, die auch bei Enttäuschungen kurzfristiger Erwartungen ihren Richtungs-und Stellenwert behalten.

— Die Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften und gesellschaftlichen Institutionen soll die Bedingungen für die sozialdemokratische Politik im vorpolitischen Raum verbessern.

— Die Fähigkeiten der Bürger zur selbstverantwortlichen Lösung gesellschaftlicher Probleme im eigenen Lebens-und Arbeitsbereich sollen erhöht werden.

Die Entwicklung einer politischen Strategie ist von der Vertrauensarbeit der Partei abhängig. Denn politische Ziele können weder idealistisch-abstrakt oder normativ-autoritär gesetzt noch aus einer Summe spontaner Basisforderungen gewonnen werden. Vielmehr müssen vielfältige Vermittlungs-und Diskussionsprozesse auf allen Ebenen der Parteiorganisation, in die die Bevölkerung miteinzubeziehen ist, diese schwierige Aufgabe erfüllen. Dieser Vermittlungsprozeß ist zugleich auch ein Beitrag zur längerfristigen Orientie-B rang der Bevölkerung über die Grenzen staaticher Handlungsmöglichkeiten. Er fängt somit kurzfristige Enttäuschungsreaktionen auf.

Diese längerfristige Zielorientierung soll auch die Richtung der Entscheidungen der sozialdemokratischen Amtsträger bestimmen, auch wenn die Amtsträger nicht im Sinne eines imperativen Mandats in Einzelentscheidungen festgelegt werden können und sollen. Diese Richtungsbestimmung hat aber auch für den Staat Bedeutung. Sie vergrößert die Chance, die Eigenständigkeit der Politik gegenüber dem Gewicht des Staatsapparats durchzusetzen. Die Orientierung sozialdemokratisch geführter Ressorts in Bund, Ländern und Gemeinden an gemeinsamen politischen Zielen kann die Handlungsfähigkeit und damit die Leistungsfähigkeit des Staates bedeutend steigern.

In ähnlicher Weise kann die Sozialistische Internationale die Zusammenarbeit zwischen sozialdemokratisch geführten Regierungen und zwischen den Parteien des demokratischen Sozialismus in Europa und in der Welt erleichtern.

c) Folgerungen für die Sozialdemokratische Partei und ihre Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen, vor allem mit den Gewerkschaften

Die beiden Arbeitsweisen einer einheitlichen sozialdemokratischen Strategie erfordern neues methodisches, organisatorisches und personelles Engagement. Denn neben der innerparteilichen Willensbildung und der parlamentarischen Arbeit müssen Formen der Diskussion über die Mitgliedschaft hinaus gefunden werden. Hierzu müssen Information und Schulung der Mitglieder verbessert werden. Trotzdem kann die einheitliche Strategie des demokratischen Sozialismus nicht allein von der Partei getragen werden. Befreundeten Organisationen und den vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen, in denen Bürger sich zusammenfinden, kommt ein besonderer Stellenwert zu. Die Zusammenarbeit mit ihnen muß noch enger werden.

Besonders gilt dies für die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, die im gemeinsamen Kampf der Arbeiterbewegung begründet ist. Zwischen SPD und Gewerkschaft besteht eine Grundübereinstimmung über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Reformen und deren Richtung. SPD und Gewerkschaft sind aufeinander angewiesen. Dessenungeachtet müssen die Gewerkschaften und die SPD jedoch die Selbständigkeit ihrer Organisation und Aufgabenstellung beachten. Auch wenn die Gewerkschaften nicht nur eine Solidargemeinschaft zur Verbesserung der Lohn-und Gehaltssituation sind, sondern sich zu einem Verband entwickelt haben, der auf die Mitgestaltung und Mitverantwortung an der politischen Gesamtordnung ausgerichtet ist.

II. Zeitliche und methodische Aspekte

Die zeitliche Abfolge der Diskussion und die Methode der Erarbeitung des Kapitels „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei" waren gleich derjenigen wie im Kapitel „Bedingungen und Bezugsrahmen“. Sie sind im Aufsatz von Heiner Lindner ausführlich behandelt. Deshalb braucht an dieser Stelle nur am Rande darauf eingegangen zu werden. Die zeitliche Reihenfolge der Diskussion und Methode wird kurz beschrieben.

1. Aufträge an die Ad-hoc-Gruppen

Die konstituierende Sitzung der Kommission im September 1973 präzisierte und konkretisierte die Arbeitsschritte bezüglich der Probleme, die sich aus dem Auftrag von Hanno-ver zu dem Bereich „Strategie" ergaben. Fragen wurden als Arbeitsauftrag an die Ad-hoc-Gruppen formuliert und in der Wochenzeitung „Vorwärts" im Oktober 1973 veröffentlicht. I Im einzelnen waren folgende Fragen von der Ad-hoc-Gruppe Strategie zu bearbeiten:

— Wie lassen sich die Grundwerte des demokratischen Sozialismus präzisieren und konkretisieren? — Was kann der Maßstab der Lebensqualität zu dieser Präzisierung und Konkretisierung beitragen?

— Wie läßt sich die Machtstruktur in der Bundesrepublik beschreiben? Welches sind die Wurzeln, Bedingungen, Instrumente und Ebenen der Machtentfaltung einzelner gesellschaftlicher Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland?

— Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Machtverteilung, der Produktion, der Verteilung und Verwendung des Sozial-produkts sowie den gesellschaftlichen Interessen? — Welches sind die zentralen strategischen Punkte bei der langfristigen Verwirklichung einzelner sozialdemokratischer Ziele?

— Welche gesellschaftlichen Interessen bzw.

Kräfte unterstützen oder richten sich gegen die Verwirklichung einzelner sozialdemokratischer Ziele?

— Mit welchen Konflikten ist bei ihrer Verwirklichung zu rechnen?

— Unter welchen Bedingungen sind angesichts der zu erwartenden Konflikte sozialdemokratische Ziele durchzusetzen?

— Welche Rolle spielt dabei der Staat?

— Welche Rolle spielt dabei die SPD und was folgt daraus für ihre innere Struktur?

— Welche Rolle spielt eine Erweiterung der Mitbestimmung?

— Welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften? — Welche Rolle spielen Mobilisierung und Bewußtseinsbildung der Bürger insbesondere der Arbeitnehmer?

— Wie läßt sich sozialdemokratische Politik im demokratischen Prozeß verständlich machen? — In welchem Zusammenhang stehen Demokratisierung und Leistungsfähigkeit politischer/ökonomischer Institutionen?

Welche Probleme ergeben sich für die Funktionsfähigkeit der Demokratie aus dem Verhältnis von zentralen demokratischen Entscheidungsinstanzen und demokratischen Basiseinheiten? — Welche Formen der Kontrolle sind für die Funktionsfähigkeit der Demokratie erforderlich? Wie lassen sich insbesondere längerfristige Planungsprozesse demokratisch kontrollieren?

Die Kommission war sich von vornherein darüber im klaren, daß nicht alle Fragen zufriedenstellend beantwortet werden könnten. Die Kommission wollte aber keine kritische Fragestellung von Anfang an ausschließen, unabhängig davon, ob sie in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit gelöst werden könnte oder nicht.

Auf Schwierigkeiten bei der Beschreibung des zeitlichen und methodischen Zustandekommens des Kapitels muß an dieser Stelle jedoch hingewiesen werden: Einmal änderte sich die Zusammensetzung und Einteilung des Kapitels „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei“ im Laufe der Kommissionsarbeit. So ist der Abschnitt „Rolle des Staates“, der zunächst mit in diesem Kapitel abgehandelt werden sollte, eng mit den Themen „Bewußtsein der Bürger" und „Vertrauensarbeit" in der Kommission und der Ad-hoc-Gruppe diskutiert worden. In der Endfassung des Entwurfs wird dieses Thema aber im Kapitel „Bedingungen und Bezugsrahmen“ abgehandelt.

Außerdem haben sich mit einigen Teilaspekten auch die Ad-hoc-Gruppen „Lebensqualität und Wachstum" sowie „Internationales" beschäftigt.

Schließlich wurden im Gegensatz zu den anderen Ad-hoc-Gruppen von der Gruppe Strategie keine Gutachten bei Wissenschaftlern in Auftrag gegeben. Auch wurden keine Fachleute aus Wissenschaft und Politik als „Ständige Berater" herangezogen. Vielmehr sollte diese fachliche Beratung von der Ad-hoc-Gruppe „Analysen" sowie Wissenschaftlern, die Scenarios erstellen sollten, abgedeckt werden. Auf die Probleme bei der Erstellung einer Analyse und von Scenarios geht Horst Heidermann in seinem Artikel näher ein.

2. Das Vorgehen in der Gesamtkommission

Ab Dezember 1973 wurden in den Plenumssitzungen der Kommission unter dem Tagesordnungspunkt „Generaldebatte" Fragen der Strategie miteinbezogen. Gleichzeitig wurden auch Zwischenberichte der Ad-hoc-Gruppe Strategie gegeben, die dann jeweils diskutiert wurden. Ein ständiger Rückkoppelungsprozeß für die Ad-hoc-Gruppe war auf diese Weise gesichert.

In dieser ersten Phase der Kommissionsarbeit wurden für das Kapitel „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei“ nur wenige Grundlagen erarbeitet. In der zweiten Phase der Plenumsdiskussion wurden die Themen in einer Liste von „Dollpunkten“ strukturiert. Folgende Fragestellungen wurden dabei formuliert:

— Was wird unter dem Begriff „Doppelstrategie" verstanden? In welchem Verhältnis stehen dabei die politischen Zielvorstellungen der Partei (besonders der SPD als Regierungspartei) und die artikulierten Basisinteressen? Darf sich doppelstrategisches Handeln der Partei auch gegen die von ihr maßgeblich mitgetragene Regierung richten? Oder ist Doppelstrategie nur ein Instrument zur Werbung für die Partei? Wie werden die nicht artikulierten Basisinteressen in den politischen Prozeß miteinbezogen? Kann die Partei die Rolle eines Advokaten der Unterprivilegierten spielen?

— Charakter des Mandats: Welche Elemente der Diskussion um das sogenannte imperative Mandat werden akzeptiert, welche verworfen? Wie stellt sich unter diesem Gesichtspunkt das Verhältnis von Partei zu staatlichen Institutionen (besonders Parlament) dar?

— Welche Funktion hat ein politisches Programm der SPD? Bestandsaufnahme der artikulierten Basisbedürfnisse? Instrument der Bewußtseinsbildung? Disziplinierungsinstrument gegen die „revolution of rising expectations"?

— Welche Konsequenzen ergeben sich für die SPD aus den sich möglicherweise verschärfenden Konflikten unter den abhängig Beschäftigten? — Welche Konsequenzen ergeben sich für das Verhalten der Partei angesichts zunehmender Internationalisierung der politischen Konflikte? Hier besonders: Bündnisfrage/Zusammenarbeit mit KPI und KPF?

— Künftiges Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften, besonders wenn die SPD Regierungsverantwortung trägt.

— Funktion der Gewerkschaften im Spätkapitalismus: Lohnkampfmaschine? Bessere Sozialversicherung? Träger der politischen Gegenmacht? Träger struktureller Veränderungen (z. B. bei den Arbeitsbedingungen)? Diese „Dollpunkte“ wurden zusammen mit dem Abschlußbericht der Ad-hoc-Gruppe Strategie im April 1974 diskutiert. Auf den folgenden Sitzungen bis zum Herbst wurden die Fragen der Strategie nicht gesondert in der Kommission angeschnitten. Zwar wurden in Verbindung mit der Diskussion über den „Etatismus" Folgerungen für die Arbeit der Parteiorganisation angedeutet. Wesentliche Gesichtspunkte für eine Strategie, die als Aussagen in den Entwurf übernommen wurden, wurden jedoch nicht erarbeitet. In diesem Zeitraum wurde von Horst Ehmke ein stichwortartiger Entwurf für einen Allgemeinen Teil des Orientierungsrahmens '85 angefertigt, der global in der Kommission diskutiert wurde.

Anschließend entwarfen die drei Vorsitzenden gemeinsam einen Allgemeinen Teil, der nach der Sommerpause in der dritten Phase der Kommissionsarbeit diskutiert wurde. Dieser Textentwurf wurde nach einer gründlichen Diskussion den Anregungen und Mehrheitsmeinungen der Kommission angepaßt. In der vierten Phase wurde der so geänderte Textentwurf zur Endabstimmung herangezogen.

III. Die inhaltliche Diskussion

Die inhaltliche Diskussion der Aussagen war äußerst verschieden, und zwar sowohl bezüglich der qualitativen Tiefe als auch des zeitlichen Ausmaßes. Die Aussagen zu dem Teil „Das Bewußtsein der Bürger" sind zusammenhängend erst in der Sitzung Anfang November 1974 diskutiert worden. Davor wurden nur — allerdings oft wesentliche — Einzelaspekte dieses Themas andiskutiert und zwar Fragen der wachsenden Probleme, der Beurteilung von Wahlergebnissen und Erscheinungen von Angst und Unsicherheit.

Der Bereich „Vertrauensarbeit“ ist dagegen von Anfang an im Plenum intensiv und unter Berücksichtigung der verschiedensten Aspekte erarbeitet worden, insbesondere bei der Diskussion der „Dollpunkte“ und des Berichts der Ad-hoc-Gruppe Strategie unter dem Stichwort „Doppelstrategie".

Das dritte Thema „Folgerungen für die Sozialdemokratische Partei und ihre Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen, vor allem mit den Gewerkschaften“, ist wiederum zusammenhängend nicht diskutiert und nur nach der Vorlage des Entwurfs der Vorsitzenden in der dritten Phase der Kommissionsarbeit kurz besprochen worden.

1. Das Bewußtsein der Bürger

Bei der Diskussion über einen „steigenden Problemdruck“ wurde erstmals das Bewußtsein der Bürger näher in die Diskussion einbezogen. Es wurde die Meinung vertreten, daß die Bürger heute ein kritischeres Bewußtsein gegenüber den anstehenden Problemen haben, und zwar sowohl aus ihrer subjektiven Sicht als auch, weil objektiv die materiellen Möglichkeiten der Problemlösung größer geworden seien. Früher hätte es für alle nicht gereicht, heute dagegen sei im Prinzip die Aufhebung von Elend und Unterdrückung möglich, Elend (soziale Deprivation) sei überflüssig. Da dies die Bürger wüßten, steige auch der Druck, Probleme zu lösen. Gleichzeitig sei aber auch eine erhebliche Reformbereitschaft bei den Bürgern vorhanden. Dazu käme, daß die Demokratie die Möglichkeit vergrößert habe, diese Ansprüche auch einzulösen. Dies bedeute für die Regierung, daß diese Ansprüche eingelöst werden müßten. Wenn allerdings die objektiven Möglichkeiten zur Einlösung nicht gegeben seien, müsse diese Wahrheit deutlich gesagt werden. Die Steigerung des Anspruchsniveaus könne allerdings auch dazu führen, daß immer mehr Ansprüche nicht erfüllt werden könnten. Wenn auf diese Art das Erfüllungsdefizit eine bestimmte Spanne übersteige, bestehe die Gefahr, daß sich Mißtrauen gegen Regierung und Gesellschaft entwickele (die hiermit mögliche Loyalitätskrise ist im Kapitel „Rolle des Staates“ abgehandelt). Aus diesen Gründen müsse dafür Sorge getragen werden, daß auf der einen Seite nicht unerfüllbare Erwartungen und Ansprüche erzeugt würden, zum anderen dürfe aber auch nicht Pessimismus bei der Lösung von Problemen die Richtschnur sein. Denn Pessimismus erzeuge Unsicherheit und verschlechtere das Klima für Reformen.

Bei der Diskussion über das Bewußtsein der Bürger, die anhand des von den drei Vorsitzenden vorgelegten Entwurfs eines Allgemeinen Teils in der dritten Phase der Kommissionsarbeit geführt wurde, gab es viele Anregungen und Kritikpunkte. Außerdem wurde dieses Thema unter recht unterschiedlichen Aspekten betrachtet und abgehandelt. Im folgenden werden einige Punkte zu der Vorlage der Vorsitzenden angeführt, die in der Kommission auf Kritik stießen.

Es wurde eingewandt, daß der vorgelegte Entwurf von einem zu sehr negativen Gesamtbild bei der subjektiven Einschätzung der Bürger ausgehe. Die Wähler beurteilten ihre Situation viel positiver als ihnen einzureden versucht würde. Durch diesen Pessimismus würden die Wähler aber abgestoßen. Das gelte insbesondere für den Bereich der Arbeitnehmerschaft. Die gesellschaftliche Wirklichkeit habe sich in den letzten hundert Jahren aber sehr wohl positiv geändert. Der Arbeiter habe heute mehr zu verlieren als seine Ketten. Eine ganze Reihe von tatsächlichen rechtlichen und sozialen Verbesserungen sei erreicht worden. Das wüßten die Arbeitnehmer sehr genau. Aus diesen Gründen nehme im Bewußtsein der Menschen die Bewahrung des Erreichten eine hohe Rangstufe ein. Vor allem jetzt, da infolge der weltwirtschaftlichen Entwicklung, aber auch durch innenpolitische Tendenzen, das Erreichte als gefährdet angesehen werde. Die Menschen seien auch nicht im Prinzip reformfeindlich, sondern zeigten eine hohe Reformbereitschaft. Wenn Reformen in Angriff genommen würden, dürften die Menschen nicht verunsichert werden, in der Hoffnung, sie würden dadurch reformfreudiger. Forderungen dürften nicht im einzelnen so aufgegriffen werden, daß die für Reformen verantwortlichen sozialdemokratischen Politiker als „Helfershelfer des Kapitalismus" hingestellt würden, überhaupt sei die Gefahr sehr groß, daß die SPD sich mit ihrer Sprache vom Bürger entferne und sich selbst in ein Getto hineinmanövriere. Diese Sprach-verfremdung ginge bis in das vorliegende Papier. Vieles, was in der Partei gesagt werde, sei schlicht unverständlich. Viele Bürger würden aber allein schon aufgrund dieser unverständlichen Sprache „abschalten". Hinzu komme, daß unsere Sprache immer verbitterter, klassenkampfartiger und humorloser werde. Dies lehne der Bürger aber zunehmend ab. Die CDU habe bewußt an dieser Stelle ihre Gegenposition aufgebaut.

Zwar sei es richtig, daß bei Wahlen der Bürger gegen seine objektive Situation entscheiden könne, weil er ständig verunsichert werde. Diese Verunsicherung sei ein Grund, aus dem Bürger anfällig gegen Angstkampagnen würden. Nur dürfe in einer derartigen Situation nicht Angst gegen Angst gesetzt werden. Auch wenn es einfacher sei, Angst zu schüren, als Reformpolitik verständlich darzustellen, müsse deutlich gemacht werden, daß die Sozialdemokratische Partei mit ihrer Reform-politik den Bürger vor dieser Angst schützen und auch komplizierte, nicht für jedermann durchschaubare Probleme lösen könne. Dies sei 1972 im Bundestagswahlkampf gelungen. 1974 sei dagegen die CDU in diese Angstlükke eingedrungen und habe sämtliche Bereiche, die Angstgefühle bei den Bürgern hervorriefen, angesprochen. Deshalb müßten wir alles vermeiden, was diese Angst fördere.

Die »unkalkulierbare Dynamik politischer Enttäuschungsreaktionen" dürfe nicht dazu führen, daß unliebsame Wahlentscheidungen dem Wähler negativ zugeschrieben würden und in eine »Wählerschelte" ausarteten. Die Ursache müsse demgegenüber zunächst bei der eigenen Partei gesucht werden, was ja eigentlich das naheliegendste zu sein hätte. Denn ein Sinn der Demokratie bestehe nun einmal in der Möglichkeit der Abwahl einer Regierung. Es könne nicht behauptet werden, — so ein Kommissionsmitglied — daß die Demokratie besonders anfällig sei, wenn Sozialdemokraten abgewählt würden. Hierzu gehöre, daß die Bewußtseinslage der Bürger sich auch noch aus einem anderen Grunde gewandelt habe. Und zwar wegen der unsinnigen Verketzerung der CDU/CSU als „Rechtskartell". Denn diese Beurteilung entspreche nicht der Beurteilung in der Bewußtseinslage der Bevölkerung. Eine Partei, die wie in Bayern 62% der Wählerstimmen erhalte, auch von vielen Wählern, die früher Sozialdemokraten gewählt hätten, könne nicht global als undemokratisch tituliert werden.

Die Aussage, daß der Markt die Bedürfnisbefriedigung nicht mehr in vollem Umfang erfüllen könne, sei nur zu einem Teil richtig.

Denn in den letzten 25 Jahren seien entscheidende Bereiche der Erwartungen der Bürger erfüllt worden. Außerdem sei nicht bei allen unerfüllbaren Ansprüchen der Markt schuld, sondern auch die Sozialdemokraten selbst hätten dazu beigetragen, daß viele Bedürfnisse aufgrund zu hoher oder erst künstlich geweckter Ansprüche (z. B. Nulltarif) nicht erfüllt werden könnten. Hier hätten Sozialdemokraten selbst dazu beigetragen, die vorhandenen Ressourcen zu überfordern. Es sei auch festzuhalten, daß nicht alle Bedürfnisse der Bürger hätten erfüllt werden können, wenn seit 1949 Sozialdemokraten die Chance gehabt hätten, die Politik so zu gestalten, wie sie es a) damals gewollt hätten, oder b) heute theoretisch in Angriff nehmen würden. Auch bei einer anderen Wirtschaftsordnung müßten viele Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Deshalb sei die Frage, ob ein anderes Wirtschaftssystem besser der Bedürfnisbefriedigung diene oder nicht, eine falsche Alternative. Demgegenüber seien vielmehr die Abhängigkeiten der Menschen herauszustellen, die in diesem Wirtschaftssystem ständig aufs Neue erzeugt würden und nur durch die Eigentumsordnung legitimiert seien. Die Tatsache dieser Abhängigkeiten müßte bei der Bewußtseinsbildung in erster Linie berücksichtigt werden. Dabei müßte wiederum verdeutlicht werden, daß Abhängigkeiten nicht generell abgeschafft, sondern nur ständig reduziert werden könnten. Denn Abhängigkeiten würde es zu jeder Zeit geben.

Diese Kritikpunkte wurden teilweise aufgenommen, teilweise wurden jedoch Argumente dagegen gesetzt: Zwar sei es richtig, daß die Bürger den gegenwärtigen Zustand für viel günstiger ansähen, als wir es ihnen manchmal einredeten. Dennoch gebe es eine Ambivalenz in den Reaktionen. So seien nach zahlreichen empirischen Erfahrungen Erscheinungen vorzufinden, nach denen . Arbeiter sich subjektiv zufrieden fühlten und dies auch äußerten, objektiv aber von psychosomatischen oder anderen Krankheiten betroffen seien, die sich nur durch ihre objektiv schlechten Lebensbedingungen erklären ließen. Subjektiv geäußerte Zufriedenheit sei deshalb noch kein Indiz dafür, daß Veränderungen nicht notwendig seien. Unter der scheinbaren Zufriedenheit schlummere ein Potential an Unzufriedenheit. Dies erkläre das Angstproblem und die empirisch gemessene Angstlücke.

Zwar sei auch der Behauptung zuzustimmen, daß es objektive Entwicklungen gebe, nach denen Existenzangst begründet sei, es sei aber falsch zu glauben, diese Angst nütze nur dem politischen Gegner. Entscheidend sei vielmehr, diese diffuse Angst in Problembewußtsein umzuwandeln. Reformpolitik ziele immer auf Veränderungen ab, und trage so zur Verunsicherung bei. Das werde sich auch in Zukunft nicht umgehen lassen. Allerdings sei es für unsere Politik vernünftig, zunächst bei etwas zu Bewahrendem anzusetzen, wie etwa beim Thema Umweltschutz. Man müsse sich aber gegen eine zu enge Interpretation des Bewußtseinsstandes der Menschen zur Wehr setzen, denn Demokratie sei ja als Wahl zwischen Alternativen und nicht als opportunistisches Anpassen an den vermeintlichen Bewußtseinsstand der Menschen gedacht. Dabei dürfe man allerdings nicht das subjektive Bewußtsein der Menschen vernachlässigen. Es gelte daher, Überlegungen anzustellen, wie man demokratischen Sozia45 lismus faßbar und plastisch darbieten könne. Die wissenschaftlich notwendige Planung der Politik überfordere die Menschen. Deshalb müsse man die Politik in anderer Weise anschaulich machen. Dies könne auch in gesellschaftlichen Institutionen — etwa in den vielfältigen Vereinen — geschehen. Hierbei komme es aber nicht auf das rein organisatorische Problem der Präsenz in den Vereinen an, sondern vielmehr auf die Inhalte, die von Sozialdemokraten in Vereinen und sonstigen gesellschaftlichen Institutionen vertreten werden sollten und müßten.

Einen breiten Raum nahm die Diskussion ein, inwiefern die Partei selbst als Organisation auf die Bürger wirke. Dazu wurde u. a. ausgeführt, daß mangelnde Geschlossenheit im Auftreten nach außen zu Unsicherheit führe, die sich leider auch auf die Wahlbevölkerung übertrage. Streit innerhalb der Partei werde von einem Großteil der Bürger nicht als Zeichen für geistige Beweglichkeit aufgefaßt, sondern als Ausdruck von Schwäche und Ratlosigkeit. Es könne zwar kein Anstoß daran genommen werden, daß Konflikte innerhalb der Partei ausgetragen würden, entscheidend sei aber, wie dies geschehe. In der Partei Illusion vor, wie herrsche leider eine darüber die Bewußtseinsbildung bei den Bürgern ablaufe. Das politische Bewußtsein werde nicht nur durch Worte vermittelt, entstehe nicht nur aus rationalem Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten in den verschiedenen politischen Programmen, sondern das politische Bewußtsein werde entscheidend dadurch gebildet, wie der Bürger die tägliche politische Praxis der Partei aufnehme. Aus diesen Gründen müßte der Entwurf stärker Probleme der inneren Struktur und Willensbildung der Partei berücksichtigen.

2. Die Vertrauensarbeit

Ursprünglich war dieser Abschnitt mit „Rolle der Partei“ überschrieben. Im Gegensatz zu dem Abschnitt „Das Bewußtsein der Bürger" wurden von Beginn an unter den Stichworten „Konflikte“ und „Doppelstrategie'Aufgaben der Partei erörtert.

Ausgehend von der Diskussion über die Bildung von Gegenmacht wurde die Meinung vertreten, daß die Auffassung Vom Konflikt als „Lustprinzip" nicht zu vertreten sei. Denn — die Bedeutung der politischen Mitte dürfe nicht vernachlässigt werden. Nur als Partei der Mitte habe die SPD Chancen zur Veränderung. — Erste Bedingung für eine Reformpolitik sei die Herstellung und Erhaltung subjektiver Sicherheit. Verunsicherung schaffe kein Bewußtsein, sondern chaotisiere es. Durch die Erzeugung von Angst würden konflikt-bezogene Hinweise die Bereitschaft zu reformerischer Aktivität herabsetzen.

— Hemmnisse gegen Reformpolitik kämen keineswegs nur von irgendwelchen Kapitalgruppen, sondern hätten eine wesentlich breitere Basis. Konflikt könne sogar durch Verkrustung der Gegensätze die Reformchancen mindern.

Demgegenüber wurde die Auffassung gestellt, daß eine Strategie des Konflikts eine Bedingung für Fortschritt sein könne. Denn in Prozessen, die aus Konflikten entstünden — und diese gäbe es häufig genug — müßten der Veränderung förderliche Verhaltensweisen aufgebaut und entwickelt werden. Es erhebe sich an dieser Stelle auch die Frage, welche Maßnahmen die Partei denn überhaupt auf dem Gebiete der Bewußtseinsveränderung bis heute in Angriff genommen habe. Hier seien Chancen vertan worden.

Als ein Arbeitsergebnis der Ad-hoc-Gruppe Strategie wurde festgehalten, daß die Steuerungssysteme „Markt" im wirtschaftlichen Bereich und „Wahlen“ im politischen Bereich nicht mehr genügend zwischen den individuellen Bedürfnissen und den Leistungen des Systems vermitteln könnten. Diese Vermittlungsmechanismen müßten zunehmend durch weitere ergänzt werden, die dem Bürger ausreichende Mitwirkung und genügend Einfluß auf Entscheidungen über seine Bedürfnisse gewährleisteten. Dieses Problemfeld wurde zunächst eingegrenzt auf die sogenannte „Doppelstrategie". Es wurden drei Varianten der Döppelstrategie unterschieden:

— Doppelstrategie als innerparteiliche Strategie

— Doppelstrategie als Strategie der Gegen-macht gegen den Staat — Doppelstrategie als die Strategie gesellschaftlicher Veränderungen durch die Ausübung von Funktionen im staatlichen Bereich und gleichzeitiger Mobilisierung der Bevölkerung in konkreten Fällen, um einmal Konflikte zu lösen, zum anderen aber auch anhand von Konflikten die Änderung der Verhältnisse zu beschleunigen.

Diesen Varianten wurde noch ein vierter Ansatz von der Ad-hoc-Gruppe hinzugesetzt. Nach Einschätzung der Partei durch die Adhoc-Gruppe entsprächen heute Programme und deren geistiger Hintergrund nicht mehr dem Erfahrungshorizont des „kleinen Mannes". Dies könne am Beispiel des Begriffs „Aktivität" deutlich gemacht werden. Aktivität eines Parteimitglieds beziehe sich nämlich nicht nur auf die Partei, sondern Aktivität zeige auch der, der in Vereinen, auch wenn es ein Männergesangverein sei, Gedanken und Vorstellungen über politische Dinge auf-nähme und in die Partei trüge sowie umgekehrt die Forderungen und Vorstellungen der Partei in diesen gesellschaftlichen'Gruppen erläuterte und deutlich mache. Zwar gebe es bekanntlich gerade in der SPD Aversionen gegen Vereinsmeierei. Diese Haltung sei aber überaus arrogant und ein wesentlicher Grund dafür, daß die Partei nicht mehr richtig ankomme und sich von der Wählerbasis entfremdet habe. Zu diesem Problem komme noch hinzu, daß viele Sozialdemokraten, auch wenn sie subjektiv redlich für die Interessen der Benachteiligten eintreten wollten, dieses nicht leisten könnten, weil sie diese Interessen gar nicht mehr kennten.

Dieses Mißverhältnis ergebe sich schon aus dem Sprachproblem. Viele einfache Leute, deren Interessen Sozialdemokraten verträten oder vertreten wollten, fühlten sich im Orts-verein nicht mehr wohl und blieben fern, weil sie die Sprache nicht mehr verstünden, die dort gesprochen würde, die Themen entweder abstrakt oder weit von ihrem unmittelbaren Erfahrungsbereich entfernt seien und auch weil die Diskussionen oft bis in die Nacht dauerten.

Diese Auffassung der Ad-hoc-Gruppe wurde durch verschiedene Diskussionsbeiträge der Kommissionsmitglieder konkretisiert und erweitert. Kernproblem einer sozialdemokratischen Politik sei, daß diese auf der Ebene einer politischen Verfassung ansetze, die von der juristischen Fiktion einer Gleichheit der Staatsbürger ausgehe, auf der anderen Seite aber erhebliche Unterschiede in den sozialen Chancen bestünden, sich in der Gesellschaft zu artikulieren. Deshalb müsse das Maß an Ungleichheit verringert werden, wenn nicht ein Großteil der Bevölkerung von der gesellschaftlichen Willensbildung ausgeschlossen bleiben sollte.

Das Problem der Doppelstrategie und das diesem zugrundeliegende Problem, nämlich z. B. als Parteimitglied oder Gewerkschaftsmitglied gleichzeitig Herrschaftsausübender und Anwalt der Benachteiligten zu sein (z. B. Regierung, Aufsichtsrat), müsse aber deutlich gesehen werden. Ein formaler Wahlprozeß könne dieses Spannungsfeld der Herrschaft nicht aus der Welt schaffen. Die. Partei könne sich nicht einfach auf die Seite der — so gar nicht vorhandenen — Klasse der Ausgebeuteten stellen, um dieses Dilemma zu lösen. Aber andererseits müsse auch gesehen werden, daß sich eine Partei, die Herrschaftspositionen erobern und dort Funktionen ausüben müsse, auch der Gefahr aussetze, daß sie die Wähler als bloßes „Stimmvieh" behandele und Wahlen nur zur Legitimationsbeschaffung veranstalte, im Grunde genommen aber den realen Spielraum der Mitbestimmung z. B. nicht zur Geltung bringe. Die Gefahr der Entfremdung von der Basis sei gewissermaßen bei einer systemgemäßen Politik immer gegeben und der Versuch, mit diesem Dilemma fertig zu werden, stecke in der Doppelstrategie. Immer wieder die Interessen der einfachen Leute vertreten, bedeute notwendigerweise, daß auch die Interessen derer, die in der Partei oben sind, mit denen der unteren Parteiebene aneinanderstoßen. Auch eine sozialdemokratische Regierung sei keine Garantie, Zusammenstöße mit Anhängern sozialdemokratischer Politik zu vermeiden. Die Frage sei, welche Vorkehrungen man treffen könne, um zu verhindern, daß unvermeidliche Zusammenstöße nicht in Selbstzerfleischungen ausarteten. Hierfür gebe es keine Patentlösung. Auf jeden Fall lehre ein Blick auf Massenbewegungen, daß sie alle in kulturellen und anderen Massenorganisationen verankert gewesen seien.

Doppelstrategie als rein innerparteiliche Strategie sei daher abzulehnen, da sie zu einem Instrument der Destruktion der Partei degeneriere. Außerdem würde sie zur Folge haben, daß — der Schwerpunkt im Kampfe gegen die eigenen Mandatsträger läge, — dies zum Versuch von Minderheiten führen müsse, sich außerhalb der Partei gegen die Mehrheit der Partei durchzusetzen.

Auf die Begriffes „Doppelstrategie" des wurde verwiesen. „Doppel" habe in der deutschen Sprache eine pejorative Beimischung im Sinne von „Doppelzüngigkeit“ oder ähnlichem. Deshalb könne die Glaubwürdigkeit der Partei leiden. Neben der prägenden Kraft der Sozialisation in der unmittelbaren Lebensumwelt des einzelnen (u. a. Vereine) müsse ein weiterer Ansatzpunkt der Doppelstrategie hinzukommen, nämlich ein Element der Selbstorganisation. Die Selbstorganisation dürfe jedoch nicht an den großen organisierten Gruppen vorbeilaufen. Denn dies würde nicht ein Anwachsen, sondern ein Schrumpfen der Massenbasis sowohl in der Wählerschaft als auch in den großen organisierten Gruppen zur Folge haben.

Direkte Aktionen, wie sie im Rahmen der Doppelstrategie bisher geführt worden seien, dienten zumeist lediglich der punktuellen Interessenvertretung. Diese müßten sich keineswegs mit den Interessen der Bevölkerung decken. Der Versuch, alle im Rahmen der Doppelstrategie artikulierten Partikularinteressen zu erfüllen, müsse über kurz oder lang zur Bankrotterklärung der sozialdemokratisch geführten Körperschaften führen.

Wenn Doppelstrategie zur reinen Konflikt-strategie (Gegenmacht) ausarte mit dem Ziel, durch allmähliche „Aufschaukelung" das System in den „wahren Sozialismus" umzukippen, beginne die eigentliche Problematik. Hierbei sei insbesondere die Neigung zur Verbindung der Doppelstrategie mit Rechts-verletzungen und die „Bündnisfrage" zu nennen. Beides habe — so meinte ein Kommissionsmitglied — nach außen hin extrem negative Wirkungen für die Partei, wie sich insbesondere zeige, wenn man jüngere Wahlergebnisse nach Wahlbezirken differenziere, überall dort, wo es besonders intensive „progressive" Aktivitäten in Verbindung mit der Doppelstrategie gegeben habe, hätten die Verluste der Partei weit über dem Durchschnitt gelegen. Man dürfe also bei der Diskussion der Doppelstrategie die Erfolgskontrolle keineswegs vernachlässigen.

Die drei Vorsitzenden der Kommission berücksichtigten diese Diskussionsbeiträge in ihrem Entwurf eines Allgemeinen Teils, der in der dritten Phase der Kommissionsarbeit diskutiert wurde.

Die Diskussion über die Frage des Etatismus in späteren Sitzungen führte auch zu Folgerungen für die Arbeit der Parteiorganisation. Denn als gemeinsames Defizit aller Sozialdemokraten wurde bezeichnet, daß 99 % aller Reformvorschläge auf staatliches Handeln abzielten. Dies sei zu beobachten unabhängig von der innerparteilichen Einordnung und bedeute aber letztlich eine weitere Intensivierung des organisierten Materialismus. In der sozialdemokratischen Praxis finde sich keine Resonanz der Überzeugung, daß auch außerstaatliches Handeln wichtig sei. Deshalb sei die Forderung im Entwurf der Kommissionsvorsitzenden nach der Verbesserung der „Fähigkeit der Bürger zur Selbstorganisation" ein Ansatz, der ausgebaut werden müsse. Die wachsende Skepsis gegenüber etatistischer Politik sei zu verarbeiten und in praktische Politik umzusetzen. Das Bedürfnis nach staatlicher Regulierung sei um so geringer, je weniger Gegensätze im menschlichen Verhalten zur Lähmung des Handelns führten. Auf dieses Problem müsse die Aktivität der Partei gelenkt werden. Hierbei sei die Frage der Organisationsformen nicht so sehr entscheidend, sondern die Frage, wie die einzelnen Bürger Fähigkeiten entwickeln könnten, sich selbst zu verwalten (Altersheime, Kindergärten). Diese Hilfe zur Selbsthilfe sei am schlechtesten in der Arbeiterschaft entwickelt. Darüber hinaus wurde zum jetzigen Zustand und zur Situation der Partei von einem Kommissionsmitglied eingewandt, daß zu wenig die konkrete praktische Arbeit gesehen und berücksichtigt werde. Es gehe bei vielen Diskussionen nämlich eigentlich nicht um die theoretische. Verarbeitung, sondern um die konkrete Praxis. Die Diskussionen in der Kommission Orientierungsrahmen seien manchmal symptomatisch für viele Diskussionen innerhalb der Partei. Es würden nämlich theoretische Probleme oder Scheinprobleme scheinbar theoretisch verarbeitet. Wenn ein konkretes Problem auftauche, mogele man sich aber daran vorbei und gehe zu dem nächsten theoretischen Problem über. Anstatt an konkreten Problemen vergangene eigene Fehler zu analysieren, würden ständig neue theoretische Programme und Fragestellungen aufgeworfen. Dies sei auch ein strukturelles Problem der Partei. So werde z. B. von weiten Kreisen die Meinung vertreten, daß das Kapital zentral gelenkt werden müsse und könne, es werde aber nicht der Ansatz eines Versuchs unternommen, z. B. auf lokaler Ebene für die Partei und Gewerkschaften eine Organisationsform zur Selbstverwaltung und Mitbestimmung ökonomischer Entscheidungen und Planungen zu entwickeln. Die Partei müsse sich angewöhnen, bei konkreten Problemen selbst Hand anzulegen und ggf. aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Gegen den Begriff „Basis" wurden starke Bedenken erhoben. Denn es sei nicht deutlich, was unter „Basis" zu verstehen sei. Die Be-B völkerung, die Parteimitglieder insgesamt oder nur die aktiven Parteimitglieder, die sich an Bürgerinitiativen oder der Parteiarbeit beteiligten. Auch fühle sich niemand mit diesem Begriff angesprochen. Dieser Begriff bedeute darüber hinaus eine Instrumentalisierung des Menschen durch die Partei. Diesen sprachlichen Bedenken wurden insofern in dem zur Schlußabstimmung anstehenden Entwurf Rechnung getragen, als dort weder die Begriffe „Doppelstrategie“ noch „Basisarbeit" verwandt werden, sondern der Begriff „Vertrauensarbeit“ — ein Vorschlag Horst Ehmkes — eingeführt wurde.

Die Frage, ob und welche Koalitionen die Partei auf internationaler Ebene eingehen solle, wurde nur am Rande diskutiert. Denn einmal sei der Dogmenstreit, ob man mit bestimmten Gruppierungen im Ausland (KPI/KPF) koalieren könne, durch die reale Entwicklung erledigt. In Frankreich hätten die Sozialisten neuerdings ein eigenes Selbstbewußtsein entwickelt, während in Italien ohne die KPI keine Konsolidierung denkbar sei. Zum anderen werde die Europa-Kommission beim Parteivorstand dem Parteitag in Mannheim eine umfangreiche Vorlage über diese Problematik vorlegen.

3. Folgerungen für die Sozialdemokratische Partei und ihre Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen, vor allem mit den Gewerkschaften

Dieser Abschnitt ist im Gegensatz zu den beiden anderen Abschnitten weder in größerem Ausmaße noch während der ganzen Kommissionsarbeit ständig diskutiert worden.

Erst nach Vorlage des Entwurfs der Vorsitzenden für einen Allgemeinen Teil wurden insbesondere Fragen der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften abgehandelt. In diesem Teil, so wurde angeführt, könne auf die Gewerkschaften als solche nicht näher eingegangen werden, da er sich nur auf die Zusammenarbeit’ Partei/Gewerksdiaften beschränken solle. Es könne aber kein Gewerkschaftspapier diskutiert und geschrieben werden.

Auf der einen Seite wurde die Meinung vertreten, daß die Gewerkschaften in erster Linie als Vertreter von Partialinteressen zu verstehen seien, die, wenn sie mit Anforderungen des Allgemeininteresses überfordert würden und sie „das Ganze" im Auge zu behalten hätten, die Interessen ihrer Mitglieder nicht mehr ausreichend und wirkungsvoll vertreten könnten. Von der wirkungsvollen Wahrnehmung der Partialinteressen hänge ihre Existenz als Gewerkschaft ab. Aus diesem Grunde könnten die Gewerkschaften auch kein Parteiersatz sein, so daß sich die Rollenverteilung zwischen Partei und Gewerkschaft aus den unterschiedlichen Funktionen ergäbe.

Dieser Meinung wurde mehrheitlich widersprochen. Einmal, so wurde gesagt, könnten die Gewerkschaften weder als reine Interessengruppierung, noch als Parteiersatz aufgefaßt werden. Die deutsche Einheitsgewerkschaft sei der universale Vertreter der abhängigen Arbeit und damit habe sie, ob sie wolle oder nicht, gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Funktionen, denen sie sich nicht entzielen könne. Hier seien die Gewerkschaften in einem ständigen Rollenkonflikt, der schwierig, aber unumgänglich sei.

Außerdem dürfe man keine künstlichen Gegensätze „hie Staat —-hie Interessengruppen" aufbauen. Denn wenn dies Schule mache, etwa nach dem Beispiel der Fluglotsen, dann sei der notwendigen gesamtgesellschaftlichen Solidarität der Boden entzogen. Hier hätten die Einheitsgewerkschaften eine zentrale Vermittlungsaufgabe. Einmal müßten sie die Solidarität quer durch alle Arbeitnehmer-gruppen gewährleisten und fördern, zum andern sei auch eine gewisse Solidarität der Einheitsgewerkschaften gegenüber dem Staat insgesamt unverzichtbar. Die zentralen Reformen seien praktisch nur in Kooperation mit den Gewerkschaften überhaupt durchführbar. In diesem Zusammenhang wurde auf Fragen ausländischer Arbeitnehmer und auf die Probleme der Humanisierung der Arbeitswelt eingegangen. Der Kongreß der IG Metall in Oberhausen zur Lebensqualität wurde als Beispiel für die Funktionsbreite unserer Gewerkschaften angeführt. Zwischen den deutschen Einheitsgewerkschaften und den reinen Interessenverbänden gebe es einen gewaltigen Unterschied. Die Gewerkschaften nähmen an Fragen des öffentlichen Interesses unmittelbar teil, auch wenn sie keine Teilhabe hätten, an den Staatsfunktionen. Die Stellung der Gewerkschaften als reine Interessengruppen einerseits und als „fast politische Verbände" andererseits sei natürlich sehr kompliziert, aber hieraus dürfe man keinen falschen Dualismus ableiten. —

Wenn alle Abschnitte des 3. Kapitels in bezug auf ihr zeitliches und methodisches Zustande-kommen beurteilt werden, so ist folgendes festzustellen: Die Einsetzung und Arbeit der Ad-hoc-Gruppe „Strategie" hat nur für den Bereich der Doppelstrategie bzw. Vertrauensarbeit wertvolle Vorarbeit leisten können. Für die anderen Abschnitte dieses Kapitels wurde von der Ad-hoc-Gruppe keine ausreichende Vorarbeit geleistet: So mußten sich die Aussagen und Erörterungen hierüber auf die Diskussion in einer der Schlußsitzungen beschränken. Im Gegensatz zu den Kapiteln, die die Wirtschaftspolitik und das Wachstum behandeln, in denen endgültige Aussagen oft durch Mehrheitsbeschlüsse zustande gekommen sind, brauchte über die Aussagen des 3. Kapitels in den meisten Fällen nicht abgestimmt zu werden. Die Vorsitzenden berücksichtigten weitgehend die Diskussionsbeiträge zu diesem Kapitel bei der Überarbeitung des Kapitels für die abschließende Sitzung, bei der dann das Kapitel 3 einstimmig verabschiedet wurde.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Roland Ermrich, geb. 1945 in Schmiedeberg; wiss. Mitarbeiter im Planungsbüro Orientierungsrahmen '85, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg; Studium der Psychologie und Sozialwissenschaften in Münster und Bochum. Veröffentlichung: Basisdaten — Zahlen zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1975.