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Reform im Zeitalter der Revolutionen' | APuZ 6/1977 | bpb.de

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Reform im Zeitalter der Revolutionen'

Martin Greiffenhagen

/ 11 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im kritischen Rückgriff auf von Krockows Buch „Reform als politisches Prinzip“ zeigt der Verfasser, daß die seit anderthalb Jahrhunderten in Deutschland behauptete Alternative: „Radikalismus oder Reform?" überholt ist und demjenigen, der sie wie Krockow heute noch als Orientierungsschema verwendet, den Blick auf den dynamischen Charakter der modernen Industriegesellschaft verstellt. Krockow will „das Bestehende verändern, um es zu erhalten". Kriterium dieses konservativen Reformprinzips ist die sogenannte , Be-weislastverteilungsregeF, für deren Beachtung sich heute besonders Hermann Lübbe einsetzt: Die Beweislast seiner Vernünftigkeit und Praktikabilität hat stets das Neue und der Neuerer, nicht das Alte und der Bewahrer. Diese Beweislastverteilungsregel galt und gilt mit gutem Sinn in statischen Gesellschaften, deren Stabilität durch die Kontinuität der bestehenden Ordnung garantiert war: Herkunft lieferte die Maßstäbe für Zukunft. Moderne Gesellschaften hingegen sind in ihrer Existenz nicht abzutrennen von dem Bewußtsein ihrer raschen Veränderung, ihrer historischen Genese und ihrer sozio-ökonomischen Bedingungen: Wir wissen, daß unsere Gesellschaft keine naturhafte, sondern eine vom Menschen gemachte und veränderte ist, d. h. wir fordern dem System den Beweis seiner Vernünftigkeit ab. Bei seiner Berufung auf Tradition und Kontinuität vergißt oder unterschlägt der konservative Reformer überdies den Umstand, daß es sich stets um ausgewählte Kontinuitäten und bevorzugte Traditionen handelt. Dies gelingt ihm im Unterschied zu der Situation in Frankreich oder England bei uns besonders leicht, weil die überwiegende Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik nicht weiß, daß es auch emanzipative Traditionen gibt. Der Irrtum des konservativen Reformverständnisses liegt somit in der Diagnose; er will nicht wahrhaben, daß wir in einem . Zeitalter der Revolutionen’ (Tocqueville) leben, in dem Rückgriffe auf das Alte, Wahre immer schwieriger werden. Krockows Irrtum liegt darin, zu meinen, ein Reformer könne sich die theoretische Arbeit an einer prinzipiellen Perspektive für die Entwicklung der Gesellschaft sparen. Jede politische Position und Richtung ist heute auf prinzipielle und also theoretische Konzepte verwiesen. Solche . radikalen’ Konzepte, Entwürfe, Modelle und . Utopien’ aber sind längst nicht mehr identisch mit Strategien zur Revolution im Sinne einer gewaltsamen Totalumwälzung. Diese Identifikation sollte endlich aufgegeben werden. Jede Reformkonzeption des zukünftigen Weges der Gesellschaft muß den gegenwärtigen Entwicklungsstand berücksichtigen, gleichzeitig aber die Möglichkeit der Distanz zu den Institutionen gewinnen. Diese . Doppelstrategie’ wird bei uns als Illoyalität und gesellschaftliche Unzuverlässigkeit geschmäht. Der schwer zu ertragende, aber notwendige Widerspruch loyaler Bindung in Institutionen bei gleichzeitig kritischer Distanz zu ihnen läßt sich nur auflösen, wenn ein anderer Widerspruch verschwindet: der Widerspruch zwischen denen, -die naiv auf der Geltung von Institutionen bestehen — weil sie über den dynamischen Charakter unserer Gesellschaft im unklaren (gelassen) sind —, und denen, welche die zeitliche und strukturelle Bedingtheit von Institutionen kennen und planerisch einsetzen. Die Gruppe dieser . Aufgeklärten’ gliedert sich politisch wiederum in zwei Gruppen: die Konservativen, die ihr Wissen für sich behalten und eine Ideologie des Status quo verbreiten, und die Progressiven, die ihre unbequemen und ängstigenden Einsichten mitteilen und dafür bei den Massen Mißtrauen und bei den Konservativen den Vorwurf doppelstrategischer Illoyalität ernten. Ein demokratischer Reformbegriff kann auf beides nicht verzichten: auf ein Gesamtkonzept der wünschbaren Entwicklung, dazu einen Bewußtseinsstand in der Öffentlichkeit, der es möglich macht, einzelne politische Schritte ihr als diesem Konzept verpflichtet zu erklären und zu empfehlen.

In seinem jüngsten Buch „Reform als politisches Prinzip" geht Christian Graf von Krokkow auf der Suche nach einem tragfähigen Reformbegriff von einer Antinomie aus, die seit anderthalb Jahrhunderten in Deutschland dafür die Orientierung geliefert hat: „Soll man kompromißlos ein Maximalprogramm verkünden und verfechten, oder soll man Verbündete suchen, wo immer man sie finden kann, und Kompromisse schließen, um schrittweise ein Programm der Veränderungen und Verbesserungen bestehender Verhältnisse durchzusetzen, selbst auf die Gefahr hin, daß dabei die revolutionäre Kraft der „reinen Lehre“ Schaden leidet? Radikalismus oder Reform?" Ist diese Alternative für uns noch gültig? Ich meine, nein, und will dafür einige Gründe liefern. Die These Krockows bleibt dabei kritisch im Blick.

Krockows Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei der begrifflich eingeführten Unterscheidung von Revolution und Reform: der revolutionäre Radikale will „das Übel bei der Wurzel packen, also das Bestehende zerstören, um an seine Stelle Neuartiges, nicht Verbessertes, sondern wirklich Besseres zu setzen". Der Reformer will „das Gegenwärtige mit dem Kommenden verbinden; er will das Bestehende verändern, um es zu erhalten".

Krockows Verständnis von Reform trifft ihren Sprachsinn präzis: etwas, das in seiner Identität als durch die Zeiten Dauerndes festgehalten werden soll, wird in seiner Gestalt verändert, damit es bleiben kann, was es — im Kern — immer gewesen ist. Dieses Reform-verständnis ist deshalb prinzipiell, d. h. im Blick auf Ursprung und Wesen, rückwärts gewandt. Nicht Vergangenheit als perfektive Abgeschlossenheit, aber Herkunft als verpflichtende Tradition liefert die Maßstäbe, nach denen sich Maß und Richtung des notwendigen Wandelns bemessen.

Kriterium dieses konservativen Reformprinzips ist die sogenannte „Beweislastvertei-lungsregel", für deren Beachtung sich heute besonders Hermann Lübbe einsetzt: Die Beweislast seiner Vernünftigkeit und Praktikabilität hat stets das Neue und der Neuerer, nicht das Alte und der Bewahrer. Die faktische Existenz bestehender Verhältnisse enthält die Vermutung ihrer Vernünftigkeit und also den Hinweis, den Status quo solange zu behalten, bis seine Unhaltbarkeit offenbar wird.

Die Beweislastverteilungsregel galt und gilt mit gutem Sinn in statischen Gesellschaften, deren Stabilität durch die Kontinuität der bestehenden Ordnung garantiert war: Herkunft lieferte die Maßstäbe für Zukunft. Wer die Tradition überkommener Institutionen und Werthaltungen verlassen wollte, war beweis-pflichtig, weil er Unsicherheit brachte. Ein gutes Beispiel dafür lieferte Justus Möser gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als er dringend vor den Folgen des zu seiner Zeit beginnenden Impfens warnte: Die Konsequenz dieser medizinischen Reform werde Rückgang der Kindersterblichkeit und damit Hungers-not sein.

Seit den Tagen des Justus Möser wird der Rückgriff auf Herkunft als verpflichtende Leitlinie zur Gestaltung der Zukunft immer problematischer. Wer sich auf Tradition beruft, sieht sich einer Vielfalt von Traditionen konfrontiert, unter denen die Tradition radikaler Veränderungen selber einen wichtigen Platz einnimmt. Fortschritt (einerlei, ob als Verheißung oder als Verhängnis bewertet) hat die Sicherheit des Alten Wahren verdrängt, und unser aller Existenz ist durch Planung eher als durch starres Festhalten an vergangenen Verhaltensmustern und Existenzweisen gesichert.

Hinzu kommt eine Einsicht, die von Reform-konservativen leicht übersehen wird: „entwickelte" d. h. sich in Zukunft rasch verändernde Industriegesellschaften sind uns in ihrer historischen Genese und in ihren sozioökonomischen Bedingungen erkennbar. Jedenfalls wissen wir, daß unsere Gesellschaft keine naturhafte, sondern eine von Menschen veränderte ist: wir können die Frage ihrer Vernünftigkeit oder Gerechtigkeit nicht trennen von der Einsicht in die Bedingungen und Ursachen ihres Gewordenseins. Und wo immer die sozioökonomische , Versuchsanordnung'unserer Gesellschaft als unbefriedigend empfunden wird, fragen wir kritisch nach der „Bedingung der Möglichkeit" (Kant) dieses Status quo, d. h. wie fordern dem System den Beweis seiner Vernünftigkeit ab. Konservative Reformer wollen die Beweislastverteilungsregel für dynamische Gesellschaften mit folgender Begründung retten: der Komplexitätsgrad moderner Gesellschaften sei so hoch, daß sich die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit des Gesamtsystems nicht mehr aufweisen lasse. Arnold Gehlen meint, auf diese Weise rückten hochentwickelte Industriegesellschaften als Erfahrungsbereich des einzelnen in die Nähe naturwüchsiger Gesellschaften. Diese Parallele übersieht den entscheidenden Umstand, daß das Leben in modernen Gesellschaften nicht abzutrennen ist von dem Bewußtsein, dieses Leben nur durch Planung d. h. durch den Vorgriff auf eine von der Gegenwart unterschiedene Zukunft sichern zu können. Energie-und Gesundheitspolitik liefern hierfür gegenwärtig Beispiele, die jedermann einleuchten.

Der Irrtum des konservativen Reformverständnisses liegt somit in der Diagnose. Sein verborgener Ontologismus will nicht wahrhaben, daß wir in einem „Zeitalter der Revolutionen" (Tocqueville) leben, in dem Rückgriffe auf das Alte Wahre immer schwieriger werden. Da war die sogenannte „konservative Revolution" der zwanziger Jahre zugleich skeptischer und intelligenter. Moeller van den Brucks Devise, man müsse „Dinge schaffen, die zu erhalten sich lohnt", gestand die Notwendigkeit ein, in einer sich radikal wandelnden Gesellschaft Konzepte zu entwerfen, die denen der Revolution von links an Radikalität nicht nachstehen. Die Angemessenheit eines modernen Reformbegriffes entscheidet sich also daran, ob man die gesellschaftliche Dynamik in seine Lagebeschreibung aufnimmt oder nicht.

Krockow gewinnt seinen Reformbegriff am Gegenbild des radikalen, revolutionären Denkens und am Vorhandensein eines „Generalkonzeptes": „Dazu bedarf es natürlich einer Utopie, einer Vision der künftigen, befreiten, wahrhaft humanen Ordnung. Deshalb muß der Radikale, auch und gerade insofern es ihm um Praxis geht, zunächst einmal und beständig weiter umfassende theoretische, philosophische Arbeit leisten." Sein Irrtum liegt darin zu meinen, diese theoretische Arbeit könne sich irgend jemand heute sparen. Jede politische Position und Richtung ist heute auf prinzipielle und also theoretische Konzepte verwiesen. Solche . radikalen'Konzepte, Entwürfe, Modelle und . Utopien'aber sind längst nicht mehr identisch mit Strategien zur Revolution im Sinne einer gewaltsamen Totalumwälzung. Diese Identifikation sollte bei uns endlich aufgegeben werden. Der Frontverlauf Revolution/Reform gehört ins 19. Jahrhundert, nicht zu einer realistischen Einschätzung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wer sie immer noch anbietet, macht sich einer schlimmen Verzeichnung der eigentlichen Probleme schuldig, baut Scheingegner auf, um sich die Mühe gesellschaftlicher Konzeption zu sparen (oder das Volk über die eigenen Zielvorstellungen im dunkeln zu lassen).

Die westdeutsche Gesellschaft unterscheidet sich von westeuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts darin, daß es keine Klasse mehr gibt, die nichts zu verlieren hätte als ihre Ketten und deshalb die Zerschlagung des Gesamtsystems heute noch als ihre Aufgabe ansehen müßte. Der Grund für diese Verbesserung der Lage ist in nichts anderem als in jener radikalen Fragestellung zu suchen, die das Bürgertum im 19. Jahrhundert zu revolutionären Umwälzungen befähigte. Die Konzeption und Forderung einer „neuen Gesellschaft" auf der Basis individueller Freiheit und sozialer Gleichheit hat die Dynamik einer Entwicklung in Gang gesetzt, die uns bis heute nach einer materialen Ausfüllung jenes Orientierungsrahmens suchen läßt, den die politische Aufklärung setzte. Emanzipation, Demokratisierung, Partizipation sind Forderungen, die ohne den Rückgriff auf jene radikalen Fragen nach Gleichheit und Freiheit nicht gestellt werden können. Wer diesen Prozeß politischer Aufklärung für abgeschlossen hält oder die in ihr liegende Dynamik prinzipiell stoppen will, wendet sich gegen die Konsequenzen bürgerlichen Freiheitswillens ebenso wie gegen die Tradition sozialstaatlicher Politik.

Bei seiner Berufung auf Tradition und Kontinuität vergißt oder unterschlägt der konservative Reformer den Umstand, daß es sich stets um ausgewählte Kontinuitäten und bevorzugte Traditionen handelt. Dies gelingt ihm leicht, weil die überwiegende Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik nicht weiß, daß es emanzipative Traditionen gibt, und deshalb, entgegen ihren eigenen Interessen, die konservative Traditionsauswahl für die einzige historische Kontinuität hält. Der Prozeß gesellschaftlicher Aufklärung vollzieht sich in Westdeutschland langsamer als etwa in Schweden (wofür die Gestaltung des Strafvollzugs ein deutliches Beispiel abgibt). Dem französischen Volk sind unterschiedliche politische Traditionsströme seit der großen Revolution voll bewußt.

Wer in der Bundesrepublik versucht, die Tradition emanzipativer Politik ins Bewußtsein zu heben, sieht sich gegenwärtig dem leidenschaftlich erhobenen Vorwurf ausgesetzt, er wolle als Führer in Emanzipation sein . Heilswissen'den unwissenden Massen mit List oder Gewalt aufzwingen. Damit bekunde er vor aller Welt, daß er kein Reformer, sondern ein Revolutionär mit elitärem Anspruch sei. Dieser Vorwurf trifft nur eine marginal kleine Gruppe von Linken, welche den politischen Umsturz für den Schritt unvermeidlichen zur Emanzipation halten. Für anderen ist die alle in Tagen bis zum verkündete Überdruß Gleichung: Linksintellektuelle — Gesamt-konzeption — Umsturz absurd, aus -folgen dem Grunde:

Die Idee der Volkssouveränität wird in westlichen Demokratien längst nicht nur in einem institutionell-rechtlichen, sondern zugleich in einem sozialpsychologisch gefüllten Sinne verstanden: als die hier und jetzt sich realisierende Identität einer Staatsgesellschaft, die, mit eigener Geschichte und eigener sozioökonomischer Entwicklung ausgestattet, sich in einer bestimmten Phase ihrer geistig-politischen Geschichte befindet. Wie jede Autobiographie Phasen kennt, die man in der Rückschau weniger schätzt, so gibt es auch in der Geschichte eines Volkes bekömmliche oder weniger bekömmliche Abschnitte. In beiden Fällen aber gilt: durchstreichen lassen sich solche Phasen deshalb nicht, weil sie als eigene mit zu der Identität beigetragen haben, die im Guten wie im Schlimmen einen . eigenen’ Wert besitzt.

Jede Reformkonzeption des zukünftigen Weges der Gesellschaft muß deshalb den gegenwärtigen Entwicklungsstand berücksichtigen, schon weil man gegen den politischen Bewußtseinsstand und also Willen des Volkes keine Politik machen kann: man würde keine Mehrheiten finden. Was bleibt, ist die vielge-schmähte . Doppelstrategie': loyale Mitarbeit in gegenwärtigen Institutionen bei gleichzeitigem Wissen um in der Zukunft notwendige Veränderungen. Dies ist der heutzutage am schwersten politisch vertretbare Standpunkt, auch der am schwersten verständlich zu machende: Wir wissen, daß unsere Gesellschaft sich schon aus technologischen Gründen stets verändert, auch ohne daß ein progressiver oder konservativer Veränderungswille eigens wirksam würde. Wir können die Veränderungsrichtung mit den Mitteln der Sozialwissenschaft ausmachen und mit sozialwissenschaftlichen Planungsmethoden (in Grenzen) steuern. Dieses Wissen bringt uns zu dem jeweiligen Status quo in eine gewisse Distanz. Gesellschaftliche Orientierung (etwa im Erziehungsprozeß) kann sich deshalb nicht auf Orientierung am Status quo beschränken, sondern muß die Vorbereitung auf das, was man an zukünftigen Entwicklungen erwartet, mit berücksichtigen. Gesellschaftspolitik, sei sie in ihrem Wertbezug , rückwärts'oder . vorwärts'orientiert, wird sich stets als planende und steuernde verstehen müssen.

Die Distanz, in der nur Gesellschaftstheoretiker, sondern potentiell das ganze Volk zum Status quo steht, bringt unvermeidlich Schwierigkeiten mit sich, die uns während der vergangenen zehn Jahre bewußt geworden Die Verdauungsfähigkeit des sozialen Systems wird strapaziert, wenn man die Bedingungen vergißt, unter denen gesellschaftliche Strukturen und gesellschaftliches Bewußtsein gegenwärtig stehen. Es ist nicht nur sinnlos, sondern lieblos, in den Schulen gegen familiäre Strukturen zu Felde zu ziehen, die man für überholt hält, solange Kinder ihre Lebenskraft aus diesen Strukturen ziehen. Es ist sinnlos und lieblos, kleine Kinder auf eine Schul-oder Berufswelt vorzubereiten, die es (noch) nicht gibt. Es ist sinnlos und lieblos (um nicht nur Beispiele aus linker Politik zu geben), auf dem Altar des Leistungsprinzips ganze Generationen von älteren Menschen zu opfern, indem man sie für zwei oder drei Jahrzehnte gesellschaftlicher Nutzlosigkeit und damit der eigenen Sinnlosigkeit überläßt. Wie der einzelne in seiner Biographie an kindliche oder jugendliche Präformierungen gebunden bleibt, auch wenn er von ihnen weiß und sie kritisch beurteilt, so kann man auch Institutionen, in denen und von denen man lebt, nicht vernichten, solange sie die gesellschaftliche Identität garantieren. Loyale Mitarbeit in ihnen ist somit ein berechtigtes gesellschaftliches Interesse. Aber wer (wie Arnold Gehlen) darauf hinarbeitet, das Volk glauben zu machen, solche Institutionen seien eine Naturordnung, handelt verantwortungslos, weil er ihm eine falsche gesellschaftliche Wirklichkeit vorgaukelt und die Möglichkeit zur Distanz nimmt.

Der schwer zu ertragende aber notwendige Widerspruch loyaler Bindung in Institutionen bei gleichzeitig kritischer Distanz zu ihnen läßt sich nur auflösen, wenn ein anderer Widerspruch verschwindet: der Widerspruch zwischen denen, die naiv auf der Geltung von Institutionen bestehen, weil sie über den dynamischen Charakter unserer Gesellschaft im unklaren (gelassen) sind, und denen, welche die zeitliche und strukturelle Bedingtheit von Institutionen kennen und planerisch einsetzen. Die Gruppe dieser . Aufgeklärten'gliedert sich politisch wiederum in zwei Gruppen: die Konservativen, die ihr Wissen für sich behalten und eine Ideologie des Status quo verbreiten, 'und die Progressiven, die ihre unbequemen und ängstigenden Einsichten mitteilen und dafür bei den Massen Mißtrauen und bei den Konservativen den Vorwurf doppelstrategischer Illoyalität ernten.

Ein demokratischer Reformbegriff kann auf beides nicht verzichten: auf ein Gesamtkonzept der wünschbaren Entwicklung, dazu einen Bewußtseinsstand des Volkes, der es möglich macht, einzelne politische Schritte ihm als diesem Konzept verpflichtet zu erklären und zu empfehlen. Davon sind wir weit entfernt. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem schlimmen Mißverhältnis von dynamischer Entwicklung und der Unkenntnis über diesen Umstand. Das zeigt sich nirgends deutlicher als in der Partei, die sich selbst als Reformpartei empfiehlt. Die Orientierungsrahmen der SPD zeigen das unsichere Schwanken zwischen analytischen Einsichten, strategischen Konzepten und (vor allem) wahltaktischem Manövrieren. Die SPD betreibt einerseits die Politik der Union, aus Sorge, die bürgerlichen Wähler zu verlieren. (Die Ideologie einer kontinuierlichen Fortführung des Status quo gehört deshalb auch zum vorgetragenen Programm.) Andererseits gibt es Reformen oder Reformansätze, die solche Ideologie nicht zulassen. Das gilt zum Beispiel für die Mietrechtsreform, die gesellschaftspolitisch in der Perspektive eines radikalen Bedeutungswandels des Eigentums und seiner Verfügungsgewalt liegt. Das wurde von den Gegnern dieser Reform auch rasch erkannt, so daß das Thema bis heute nicht erledigt ist. (Ähnliches gilt für die Festbetragspolitik Klunckers, die zurecht für revolutionär’ gehalten wird, da sie perspektivisch auf eine radikal veränderte Bewertung des Verhältnisses von Leistung und Einkommen hinausläuft). Wer aber meint , die Privatisierungsstrategie der Konservativen sei weniger revolutionär, nur weil sie sich an einer früheren Stufe sozialökonomischer Politik orientiert, verkennt die gegenwärtige Lage.

Heute liefert die Arbeitslosigkeit ein neues Beispiel dafür, daß praktische Lösungsversuche notwendig ein konzeptionelles und also in meinem Sinn . radikales'Denken verlangen. Die Prognose, mit der Arbeitslosigkeit (verstanden als Dysfunktion innerhalb neoliberaler Wirtschaftskonzepte) für längere Zeit . leben zu müssen', zwingt uns, sie sozial-planerisch anzugehen. Planen aber tut auch derjenige, der (im Wissen um mögliche andere Strategien) sich entschließt, nach alt-oder neuliberaler Weise sich mit der Arbeitslosigkeit abzufinden und sie mit den herkömmlichen Mitteln der Arbeitslosenunterstützung lediglich zu lindern. Dieses Konzept ist in seiner theoretischen Struktur nicht weniger . radikal'als Konzepte, die den beschrittenen Weg zum Sozialstaat perspektivisch weitergehen, indem sie Arbeitslosigkeit weder als Ergebnis von Faulheit noch sozialdarwinistisch als Ergebnis des sozialen Kampfes noch libe-ralistisch als ökonomisches Schicksal betrachten, sondern als vom Individuum nicht mehr zu verantwortendes Risiko auf die Gesellschaft im ganzen verteilen (mit der Konsequenz von Reformen des Bildungsund Ausbildungssektors, der Urlaubsbemessung, des Pensionsalters, der Arbeitszeit und nicht zuletzt der Steuerpolitik). Diese Reform wird nur dem als revolutionär’ erscheinen, der nicht sieht, daß auch der konservative Weg eines scheinbaren Weitermachens'im Horizont möglicher anderer Alternativen steht, für die es ebenfalls längst Traditionen gibt.

Die antinomische Gegenüberstellung von Reform und Radikalismus beruht, das sieht Krokkow richtig, auf einer spezifisch deutschen Blickfeldverengung. An einer Stelle seines Buches hält Krockow deshalb im Blick auf England einen Radikalismus der Reformen für denkbar, bleibt aber der deutschen Tradition darin verhaftet, daß er unter Radikalismus den dialektischen Sprung, den großen Schlag versteht. Der folgende Satz ist richtig, bedarf aber einer Ergänzung: „Wirkliche Aufklärung und Emanzipation, die Ersetzung von Fremdbestimmung durch selbstverantwortliches Handeln, das Selbstdiziplin notwendig einschließt, dies alles läßt sich nicht mit einem großen Schlage erreichen, sondern einzig in einem langfristigen sozialen und geistigen Entwicklungsprozeß." Um die Richtung eines Entwicklungsprozesses auch nur im kleinsten Schritt angeben zu können, bedarf es eines Gesamtkonzeptes, das man utopisch oder revolutionär nennen mag, wenn immer man darunter eine prinzipielle perspektivische Richtungsangabe versteht. Diese Perspektive kann sich konservativ in Richtung auf vergangene Zustände beziehen (die man aber ebenso planen muß wie eine neue soziale Gestalt); sie kann auch eine progressive Perspektive sein, für die es inzwischen auch Traditionen gibt. Die Mühe eines Gesamtkonzeptes aber kann sich keine Partei sparen, wenn sie auch nur die kleinste Reform ernsthaft begründen will.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Martin Greiffenhagen, Dr. phil., geb. 1928, o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen u. a.: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971; (Hrsg.) Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, München 1973; (Hrsg.) Emanzipation, Hamburg 1973; Freiheit gegen Gleichheit?, Hamburg 1975.