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Reform im Zeitalter der Restauration | APuZ 6/1977 | bpb.de

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Reform im Zeitalter der Restauration

Rudolf von Thadden

/ 9 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Artikel versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, in welcher Perspektive Reformen heute denkbar und sinnvoll sind. Im Unterschied zu M. Greiffenhagen vertritt der Verfasser die These, daß ein allzu stark zielfunktionales, auf ein theoretisches Gesamtkonzept abhebendes Reformverständnis in doppelter Weise problematisch ist: Zum einen läuft es Gefahr, das Eigengewicht einer Reformen fordernden Situation zu schmälern; zum anderen weckt es unnötige Ängste, die im Blick auf mögliche Weiterungen entstehen. Wenn eine Reformmaßnahme immer nur als Teil eines gesellschaftlichen Gesamtkonzepts geplant ist, kann leicht der Verdacht aufkommen, daß sie fremden Zwecken dient und vor allem als Mittel zur Bewegung anderer Kräfte gereichen soll. Ein solcher reformpolitischer Ansatz führt notwendigerweise in das Dilemma der sogenannten Doppelstrategie, das jedes Vertrauen untergräbt. Dies aber trägt dazu bei, daß die Reformen das Gegenteil von dem bewirken, was sie anstreben: Sie führen nicht aus den Sackgassen der Restauration heraus, sondern neu in sie hinein. Scheinrevolutionär drapiert, rufen sie reaktionäre Gegenkräfte auf den Plan, die aus der wachsenden Skepsis gegenüber einer als doppelbödig empfundenen Reformpolitik gegen die Reformen als solche argumentieren.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer an Merkwürdigkeiten nicht ganz armen Zeit, daß trotz einer weit verbreiteten und vielfach auch herbeigeredeten Reformmüdigkeit über Sinn und Wesen von Reformen wieder vehement gestritten wird. Einen Anstoß hierzu gab die von Christian Graf von Krockow jüngst veröffentlichten Studie „Reform als politisches Prinzip", mit der sich Martin Greiffenhagen in einem Artikel mit dem bezeichneten Titel „Reform im Zeitalter der Revolutionen" kritisch auseinandersetzte. Während Krockow ein beklagenswertes Mißverhältnis zum Prinzip der Reform in Deutschland feststellen zu müssen meint und die Möglichkeiten und Grenzen von Reformen im Kontrast zur historischen Alternative der Veränderung durch Revolutionen erörtert, wehrt Greiffenhagen sich gegen dieses Schema und verweist den „Frontverlauf Revolution/Reform . .. ins 19. Jahrhundert".

Die Diskussionsfront scheint dabei von einer interessanten Variante bestimmt zu sein: nicht die bekannten Positionen des „gemäßigten" Reformers und des „radikalen" Revolutionärs stehen gegeneinander, sondern — in seltsamer Verkehrung — die eines entschiedenen Reformers und eines maßvoll gewordenen Anhängers revolutionsbezogener Traditionen. Beide Positionen enthalten ein erhebliches gesellschaftskritisches Potential. Aber während Krockow Reformen für ein letzten Endes wirksameres Mittel zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen hält als Revolution, sind Reformen für Greiffenhagen Teilstücke eines mühsam gewordenen revolutionären Prozesses, der angeblich unser Zeitalter bestimmt.

Der hier zum Ausdruck kommende Unterschied ist deshalb von Belang, weil er grundsätzlicher Natur ist und zugleich wichtige Elemente der politischen Reformdiskussion unserer Tage widerspiegelt. Für die einen sind Reformen Maßnahmen ohne doppelten Boden zu einer als notwendig erkannten Modernisierung von wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, für die anderen haben sie den Stellenwert von umstandsbedingten Teilverwirklichungen eines übergeordneten revolutionären Konzepts, das letzten Endes auf Totalver-B änderung abzielt. Auch wenn die zuletzt Genannten glaubwürdig beteuern, daß sie keinen Umsturz beabsichtigen, so richten sie doch ihre praktische Politik am Entwurf einer Gesamt-konzeption aus, die alle konkreten Entscheidungen begründet oder in Frage stellt. Greiffenhagen formuliert dies so: „Ein demokratischer Reformbegriff kann auf beides nicht verzichten: auf ein Gesamtkonzept der wünschbaren Entwicklung, dazu einen Bewußtseinsstand des Volkes, der es möglich macht, einzelne politische Schritte ihm als diesem Konzept verpflichtet zu erklären und zu empfehlen."

Dies klingt gut, weil es den Eindruck erweckt, daß es in der Kontroverse um die Frage gehe, ob und inwieweit Reformen hinreichend von Zieivorstellungen getragen werden. Es zeichnet sich folgendes Bild ab: Auf der einen Seite stehen die konzeptionslos dahinwurstelnden Praktiker, die von der Hand in den Mund leben und allenfalls Flickschusterei betreiben. Auf der anderen Seite stehen die überlegenen, theoretisch gebildeten Strategen, die eine langfristige Konzeption haben und wissen, wohin die Reise gehen soll. Aber dieses Bild ist mindestens in zweifacher Hinsicht falsch. Zum einen trifft es Krockows Reformverständnis nicht, das keineswegs so theorielos ist, wie Greiffenhagen unterstellt. An mehreren Stellen der Schrift werden ja Zielvorstellungen — etwa in der Bildungspolitik — erörtert. Zum andern aber liegt der Ton in der Kontroverse nicht auf dem zweiten, sondern auf dem ersten Teil des Begriffs Gesamtkonzeption. Strittig ist nicht, ob Reformen von einer Konzeption getragen werden sollten oder nicht, strittig ist allein die Frage, ob sie von einem abstrakten Entwurf einer übergeordneten Gesamt-konzeption bestimmt sein sollen und können. Und hier allerdings scheiden sich die Geister.

Wer wie Greiffenhagen in der jakobinischen Tradition der französischen Revolution das Herkommen als Orientierungpunkt für Gegenwartsüberlegungen prinzipiell in Frage stellt, ist verständlicherweise stärker auf Fernziel-projektionen angewiesen als derjenige, der die geschichtliche Erfahrung gleichberechtigt mit Zukunftshoffungen und -entwürfen in seine Rechnung einbezieht. Er muß sich aber heute mehr als im 19. Jahrhundert die Frage gefallen lassen, ob nach dem mit der Aufklärung und den großen Revolutionen einmal erfolgten Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft Entwürfe von Totalkonzeptionen als Maßstab für praktische Politik überhaupt noch angemessen geschweige denn sinnvoll sind. Globale Utopien mögen in der vorindustriellen Welt ihre Bedeutung als Ansporn zur Über-windung der Befangenheit des Menschen in scheinbar schicksalhaften Bindungen gehabt haben, in unserer hochtechnisierten Zeit der Machbarkeit aller Dinge haben sie einen anderen Stellenwert.

Im Gegensatz zu Greiffenhagen möchte ich also meinen, daß im sogenannten Zeitalter der Revolutionen (das ich für Europa weit eher als postrevolutionär bezeichnen würde) Reformen nicht mehr als Schritte zu einer letzten Endes revolutionär verstandenen Total-veränderung der Gesellschaft sinnvoll sind, sondern nur noch als Maßnahmen der Entfaltung der einmal zum Bewußtsein ihrer selbst gelangten Gesellschaft der freien Bürger. Mag in vorrevolutionären, agrarisch geprägten Epochen das Verlangen nach neuen Lebensverhält-nissen bei völligem Bruch mit dem Herkommen verständlich und erträglich gewesen sein, unter den Bedingungen der nachrevolutionären modernen Industriegesellschaft kann jede Fortschrittsfixiertheit, die nicht durch Rücksicht auf vorgegebene Verhältnisse ausbalanciert ist, unübersehbare Folgen haben und in ihr Gegenteil umschlagen.

Dies führt zu einem zweiten Einwand gegen Greiffenhagens Reformkonzeption, einem Einwand, der freilich mehr von den Wirkungen als von der Intention seines Ansatzes ausgeht. Wenn eine Reformmaßnahme immer nur als Teil eines gesellschaftlichen Gesamtkonzepts geplant ist, entsteht zwangsläufig der Verdacht, daß sie fremden Zwecken dient und als Mittel zur Bewegung anderer Kräfte gereichen soll. Wer beispielsweise Hochschulreform sagt und damit doch nur einen Modus der Gesellschaftsreform meint, darf sich nicht wundern, wenn sich Mißtrauen einstellt und Gegenkräfte dieses Mißtrauen zur Verhinderung auch der Hochschulreform benutzen. Sicher: jede einzelne Reform hat einen allgemeinen gesellschaftlichen Bezug. Wenn aber aus der Betonung des Zusammenhangs von Teilfragen untereinander Forderungen nach totalen Konzeptionen abgeleitet werden, kommen allgemeine Ängste auf, die bei einem Verzicht auf solche Verknüpfungen nicht aufkommen würden. Die Reformen werden auf diese Weise, wie so häufig in der kontinentaleuropäischen Geschichte seit 1789, erschwert oder gar verhindert: weil sie als erster Schritt auf dem — abschüssigen—Weg zum Abgrund der letzten Endes revolutionären Totalveränderung der Gesellschaft erscheinen, werden sie von vornherein inhibiert und diskreditiert. Principiis obsta — das ist die Antwort auf Reformen, die revolutionspolitischer Absichten verdächtigt werden!

Krockow kennt diese Gefahr und stellt deswegen folgende Forderung auf: „Reformer müssen aufrichtig und fair sein. Sie müssen die vorgegebenen oder ad hoc vereinbarten . Spielregeln'strikt einhalten. Der Eindruck, daß sie übertölpeln wollen, daß sie ein doppelbödiges Spiel betreiben und in Wahrheit auf ganz etwas anderes zielen, als sie sagen, daß also die propagierte Reform nur als Hebel dienen soll, um etwa auf die revolutionäre TotalVeränderung hinzuarbeiten: dieser Eindruck muß sich verheerend auswirken und unabsehbar jedes noch so unschuldige und dringend notwendige Reformvorhaben diskreditieren."

Greiffenhagen sieht dieses Problem auch; er ist nicht blind gegenüber den Schwierigkeiten, die einer zielgerichteten Reformpolitik entgegenstehen. Da sein Ansatz ihm aber keinen Verzicht auf die Einbettung in ein geschichtstheoretisches Gesamtkonzept erlaubt, kommt er aus dem Dilemma der Politik mit doppeltem Boden nicht heraus: „Was bleibt, ist die vielgeschmähte , Doppelstrategie': loyale Mitarbeit in gegenwärtigen Institutionen bei gleichzeitigem Wissen um in der Zukunft notwendige Veränderungen. Dies ist der heutzutage am schwersten politisch zu vertretende Standpunkt, auch der schwerst verständlich zu machende. . ."

In der Tat ist ein solcher Standpunkt nur schwer verständlich zu machen, er kann ja auch kaum überzeugen. Wie soll ein Politiker Vertrauen finden, wenn er mit seinen Handlungen immer mehr meint, als er sagt, und mit seiner Praxis theoretische Konzeptionen abblendet, die er doch haben soll, um langfristig überzeugend wirken zu können? So angelegt, erscheint jede Reformmaßnahme notwendigerweise als nur taktischer Schritt, ja schlimmer noch: sie erzeugt abermals Ängste, die sachlich nicht mit der angestrebten Veränderung Zusammenhängen und sie doch faktisch gefährden. Im Endeffekt läuft auch dieses Denken auf eine Stärkung der reformfeindlichen Kräfte hinaus, auf eine Bewegung zur Restauration aus Angst vor der scheinbar drohenden Revolution.

Aber auch noch aus einem anderen Grunde führt ein einseitig zielfunktionales Reform-verständnis fast sicher in Sackgassen der Restauration. Wenn in so starkem Maße auf die theoretische Ausrichtung von Reformen abgehoben und die Vordringlichkeit einer Gesamtkonzeption betont wird, gerät leicht ein Nachholbedarf an Reflexion aus dem Blick, der in den Traditionen deutschen politischen Denkens besonders schwer wiegt und dem Krok-kow mit seiner Studie Rechnung zu tragen versucht: das Defizit an Reflexion der institutioneilen Bedingungen, unter denen Reform möglich ist. \

Wer sich die Reformdiskussionen der letzten Jahre vergegenwärtigt, weiß, wie groß das Mißverhältnis zwischen Gedanken zum Inhalt und Gedanken zur Form von Veränderungsplänen war und ist, wie in allen Debatten vorrangig inhaltliche Begründungen gefordert wurden und werden. Die Präsentierung eines vertretbaren Reformzieles entband meistens von dem Nachweis seiner Realisierungsmöglichkeiten, und das Verlangen nach Prüfung der praktischen Voraussetzungen eines solchen Zieles galt häufig als unnötige Erschwernis der Aktion. Dies! konnte so weit gehen, daß der Versuch einer dem Scheitern ausgesetzten Reform, sofern sie nur als inhaltlich fortschrittlich ausgewiesen erschien, höher bewertet wurde als die überlegte Zurückstellung einer formal nicht ausreichend gesicherten Reformmaßnahme. Beispiele aus dem Bildungsund Hochschulbereich ließen sich hierfür mühelos finden.

Deswegen muß betont werden, daß kaum etwas so nötig ist wie eine fundierte Erörterung der Grundlagen und Möglichkeiten von Reformen. Wenn die Instrumente und institutionellen Voraussetzungen einer beabsichtigten Reform nicht genauso ernsthaft bedacht werden wie ihre Inhalte und Ziele, wird ein Scheitern unvermeidlich sein. So wie der leichtfertige Einsatz einer von Idealen bestimmten, aber schlecht ausgerüsteten Jugend im Ersten Weltkrieg bei Langenmarck zu hohen Opfern führte, kann auch eine Verfolgung von Reformzielen ohne hinreichende institutionelle und politische Fundierung unsinnige Opfer an Zeit und Energie von engagierten, wiederum oft idealistisch motivierten Kräften fordern.

Dies aber zieht unausweichlich Resignation nach sich, weil die Opfer, bzw. das Scheitern nicht als Folge ungenügender Umsicht, sondern als Ergebnis mangelnder Einsicht der anderen in die Überlegenheit der eigenen Zielvorstellungen erscheinen. Und die Resignation wiederum arbeitet der Restauration in die Hand, die auf die Erschlaffung der reformwilligen Kräfte baut

So münden schließlich — ungewollt — alle drei Komponenten der Greiffenhagenschen Reformkonzeption in eine Stärkung restau-rativer Elemente: die Forderung eines reform-politischen Gesamtkonzepts, das daraus folgende Postulat einer Doppelstrategie und der mangelnde Sinn für eine Reflexion der institutionellen Bedingungen von Reformen. Obwohl als Hilfen zur Überwindung von Alltagsverstrickungen einer als unumgänglich erkannten Reformpolitik gemeint, laufen sie doch auf eine Lähmung dieser Politik hinaus, die langfristig gefährlich sein kann. Dadurch daß — überflüssige — Ängste geweckt und Resignationen gefördert werden, erhalten scheinbar bannende Gegenkräfte eine partielle Legitimation, die schwer zu entkräften ist. Wo aber die vielen so willkommene Reformmüdigkeit auch noch das Argument der Tunlichkeit aus Staatsräson erhält, wird es schwierig, die Bürger des Landes für eine Bejahung von Reformen zu gewinnen, die ja doch immer ein Stück Unbequemlichkeit mit sich bringen. Diese Gewinnung aber ist unerläßlich, wenn Reformpolitik in einer freiheitlichen Demokratie betrieben werden soll.

Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist heute weit mehr von einem Sog zur Restauration bedroht als von einem Sturz in Revolution. Mag in den Köpfen einiger Intellektueller ein „Zeitalter der Revolution" angebrochen sein, in der Wirklichkeit gibt es nur ein Gespenst der Revolution und eine allerdings sehr reale Angst vor diesem Gespenst, die der Restauration den Weg bereitet. Es gibt Bereiche, wie beispielsweise die Kirchen, in denen trotz verbaler Deklamationen und theoretischer Forderungen in den letzten zehn „reformpolitischen''Jahren so gut wie keine institutionellen Reformen stattgefunden haben und wo gerade wegen dieser Deklamationen in der Öffentlichkeit ein ganz falscher Eindruck entstanden ist. Die mit großer Radikalität geführten theologischen Diskussionen haben vielfach dazu beigetragen, daß ein Bild von einer revolutionsgefährdeten Kirche entstanden ist, obwohl doch die Strukturen der Kirchlichkeit im wesentlichen unverändert geblieben sind. Bedroht sind die Kirchen nicht von einer unabsehbaren Veränderung ihrer Institutionen, sondern von einer seltsamen Verbindung von scheinrevolutionärer Theologie und realkonservativer Praxis, die die Menschen der Kirche entfremdet. Am Ende steht nicht eine wie auch immer zu verstehende Reform, sondern eine Auszehrung der Amtskirche, mit der fast zwangsläufig Resignation einhergeht.

Wie man es also auch wendet: es gibt keine überzeugende Alternative zur Reform als politischem Prinzip. Auch wenn der Alltag gelegentlich übermächtig zu werden droht und die Politik im Widerstreit der Interessen manchmal perspektivenlos zu werden scheint, trügt die Hoffnung auf den großen Entwurf. Deutschland bleibt ein Land der Restaurationen, solange es ein Land der Scheinrevolutionen ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Rudolf von Tha d d e n , Dr. phil., geboren 1932 in Trieglaff/Pommern. Seit 1968 Professor für neuere Geschichte an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Restauration und Napoleonisches Erbe. Der Verwaltungszentralismus als politisches Problem in Frankreich (1814— 1830), Wiesbaden 1972; Institution und politisches Handeln. Zum Handlungsspielraum eigenständiger Institutionen. Rektoratsrede, Göttingen 1975.