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Woher wir kommen — wohin wir gehen Perspektiven für die politische Entwicklung | APuZ 33/1978 | bpb.de

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APuZ 33/1978 Artikel 1 Woher wir kommen — wohin wir gehen Perspektiven für die politische Entwicklung Herausforderungen für eine nachindustrielle Gesellschaft Die Gen-Ingenieure Durch Revolutionierung der Natur zum Neuen Menschen?

Woher wir kommen — wohin wir gehen Perspektiven für die politische Entwicklung

Richard von Weizsäcker

/ 23 Minuten zu lesen

I.

Das Thema stellt die Frage nach der Zukunft. Welche Zukunft erwartet uns? Welche Zukunft bereiten wir vor? Spiekt die Zukunft überhaupt eine angemessene Rolle in der politischen Gegenwart?

Es gibt keine einheitliche Antwort. Aber es gibt eine steigende Flut von Problemen.

— Auf der einen Seite wächst die Sorge vor dem, was die Zukunft bringen mag: Bevölkerungsprobleme und Schuldenlasten, Spannungen und Vernichtungsgefahren nehmen zu. Zukunftschancen der jungen Generation werden zu einem Hauptthema, und zwar doch offenbar deshalb, weil sie so fragwürdig erscheinen.

— Auf der anderen Seite steigen die Anforderungen an die Gegenwart. Wir befriedigen unsere Wünsche von heute mit Wechseln, die wir auf die Zukunft ausstellen. Niemand weiß genau, und zu wenige kümmert es, wann diese Wechsel fällig werden und ob sie dann auch gedeckt sind.

Nicht, daß der gute alte Gedanke der Vorsorge für die Zukunft abgestorben wäre.

„Spare in der Zeit, so hast Du in der Not":

Noch immer halten sich viele Menschen daran. Aber die Anzeichen dafür mehren sich, daß wir mit der Zukunft verantwortungslos umgehen. Wir vernachlässigen sie zugunsten der Gegenwart:

— Wir verteilen unser Sozialprodukt immer stärker zugunsten konsumtiver Zwecke der Gegenwart und zu Lasten zukunftsbezogener investiver Interessen.

— Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte macht uns für die Zukunft manövrierunfähig. Die Kapitalausstattung der privaten Wirtschaft ist im internationalen Vergleich klein, unzureichend vor allem im Hinblick auf künftige Risiken. — Seinen schärfsten Ausdruck findet das Mißverständnis von Gegenwart und Zukunft im Geburtenrückgang. Offenbar will man in unserer Gesellschaft keine Kinder mehr haben. Die Ursache dafür mag zum Teil in der Sorge für eine ungewisse Zukunft der Kinder liegen. Aber wesentliches Motiv ist die Konzentration auf Gegenwartswünsche, welche durch Kinder behindert werden könnten, und die Organisation einer Gesellschaft, in der materiell belohnt wird, wer keine Kinder hat.

Ist eine Gesellschaft, die ihre Werte und Ziele so einrichtet, wie es die Beispiele zeigen, überhaupt noch in der Lage, die Zukunft zu sichern, und zwar auch dann, wenn dies in der Gegenwart Opfer kostet? Wie werden die bestehenden politischen Kräfte damit fertig? Werden sich neue Kräfte formieren? Ist dies die Stunde der Bürger? Was wird sie bringen? Welche Einsichten und Aufgaben sind vordringlich?

II.

Die Fragen richten sich zuerst an die bestehenden politischen Parteien. Tatsächlich sind diese nach wie vor die wichtigste politische Kraft. Eben dies erzeugt keine Begeisterung, sondern wachsende Unzufriedenheit. Wer sich Sorgen über die Zukunft macht, setzt seine Hoffnung nicht primär auf die Parteien. Denn die Grunderfahrung mit ihnen ist, daß sie nur bis zur nächsten Wahl disponieren. Und das ist nicht lange genug.

Wahr ist, daß die Leitidee der repräsentativen Demokratie, also Regierungsmacht auf Zeit mit der Chance (oder Gefahr) des Wechsels durch Wahl, eine automatische Scheuklappenwirkung gegen die Zukunft besitzt.

a) Die Regierung ist heute an der Macht. Die Opposition will morgen an die Macht. Also hat in den Augen der Regierung die Gegenwart das Übergewicht über die Zukunft. Es gilt geradezu, die Zukunft im Sinne der Opposition zu verhindern.

Bei der knappen Mehrheit der heutigen Regierungskoalition in Bonn spitzt sich das Problem weiter zu. Immer, wenn die Regierung die sogenannte Kanzler-Mehrheit braucht, also die absolute Mehrheit aller Bundestags-stimmen, dann kann sie sich nicht mehr als vier Abweichler leisten. Schon auf den fünften muß sie eine unverhältnismäßige Rücksicht nehmen.

Wenn schließlich jeder Kompromiß willkommen ist, nur um am Ruder zu bleiben, wenn also die Verlängerung der Gegenwart zum alles beherrschenden Thema wird, wer sorgt dann noch für die Zukunft?

Wer kann es da riskieren, um einer verantwortlichen Zukunftsvorsorge willen Vorschläge zu machen, die eine Belastung in der Gegenwart mit sich bringen und Streit im eigenen Lager auslösen können? b) Die Opposition ist die Regierung von morgen. Also müßte sie an sich besonders zukunftsorientiert sein. Aber immer und in allen Demokratien bringt die Rolle der Opposition auch die Gefahr eines Wirklichkeitsverlustes mit sich. Als Minderheit hat man die demokratische Pflicht, die Regierung zu kontrollieren und zu kritisieren, nicht sie zu stärken. Der ständige Streit in jeder Opposition geht daher um die Frage, ob man für ungelöste Probleme realisierbare Alternativvorschläge machen soll. Dagegen spricht vor allem ein taktisches Argument:

Wenn die Vorschläge gut sind, wird die Regierung sie übernehmen und sich dafür belohnen lassen. Deshalb ziehen es routinierte Kämpen vor, auf Alternativvorschläge überhaupt zu verzichten. Die Folge ist, daß die Opposition, indem sie auf morgen setzt, sich heute allzu oft mit Argumenten begnügt, die von gestern stammen. Sie können richtig sein, sie können aber auch falsch sein. Ein Training für die Zukunft ist es jedenfalls nicht.

c) Das sind eingebaute Rollenzwänge von Regierung und Opposition, die sich zu Lasten der Zukunft auswirken.

Freilich ist es sinnlos, die Parteien dafür zu kritisieren, daß sie primär an die nächste Wahl denken. Die parlamentarische Demokratie weist ihnen ausdrücklich den Auftrag zu, um die Zustimmung der Mehrheit zu kämpfen. Das kann nur bei der nächsten Wahl geschehen. Es würde der Zukunft überhaupt nicht dienen, wollte man eine Partei dazu bringen, das nächste Mal nur an die Zukunft zu denken, dafür aber auf den Wettbewerb um die Mehrheit zu verzichten.

Wer glaubt, ein gutes politisches Programm zu besitzen, dafür aber keine Mehrheit findet, und es dennoch durchsetzen will, der müßte sich schon nach einem Diktator umschauen. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Es wäre daher fruchtlos und falsch gedacht, wollte man versuchen, den Parteien ihre Wahlkampfsinnlichkeit zu vermiesen. Vielmehr lautet die Aufgabe, eine Politik, die die Zukunft verantwortlich berücksichtigt, mehrheitsfähig zu machen.

Das Problem liegt weniger in der Unfähigkeit der Politiker, zu erkennen, was langfristig heilsam und notwendig wäre. Nicht fertig dagegen werden wir mit der Aufgabe, wie für solche Einsichten Mehrheiten zu gewinnen sind.

Wir streiten uns darüber, wie das zu bewerkstelligen sei. Müssen wir warten, bis die Mehrheit von selbst nach einer höheren Zukunftsverantwortung ruft, auch wenn dies Einschränkungen in der Gegenwart mit sich bringt? Oder müssen und können die Parteien mit Aussicht auf Mehrheitserfolg selbst verändernd auf das heutige Bewußtsein der Wähler einwirken?

Ich bin davon überzeugt, daß letzteres nötig und möglich ist. Daran wird sich entscheiden, ob unsere repräsentative Demokratie auf die Dauer überleben oder scheitern wird.

III.

Freilich gibt es auch ganz andere Meinungen, und diese scheinen im Wachsen begriffen zu sein.

Nach ihnen ist es nicht der Politiker, der eine Zukunftseinsicht schon hat und nun wartet, bis die Wähler nachkommen. Vielmehr ist ei es, der dazu beiträgt, die Wähler an dieser Einsicht zu hindern. Er manipuliert die Wähler. Er hält sie im Zustand eines unaufgeklärten Bewußtseins. Er verschweigt, daß die Gegenwart Opfer für die Zukunft erfordert.

Auf diese Weise sichert er seine gegenwärtige Herrschaft immer von neuem. Er ist also nicht Mitläufer kurzsichtiger Wählerwünsche, sondern ihr Produzent.

Deshalb, so heißt es, sei jetzt die Stunde der Bürger gekommen. Ihr Auftrag und ihre Chance wäre es, die wahren zukunftsverantwortlichen Interessen der Menschen herauszuarbeiten. Dies sei den bestehenden Parteien aufzunötigen, oder sie seien zu entmachten.

a) In aller Munde sind die „Grünen“ und „Bunten“ Listen. Sie bemühen sich, zahlreiche örtliche Initiativen zur zentralen politischen Wirksamkeit zu verdichten. Ob es ihnen gelingen wird, eindrucksvolle Basisgruppen zu einer überregionalen politischen Organisation zusammenzufassen, wird sich zeigen.

Mit der Aufstellung eines zusammenfassenden ernsthaften Programms — und das braucht eine politische Partei, wenn sie erfolgreich sein will — wird es Schwierigkeiten geben. Zu vielgestaltig sind bisher ihre Zellen, zu wenig politisch umsetzbar ihre ernst zu nehmenden Sorgen und Wünsche.

„Ein Planet wird geplündert": Zweifellos wird damit ein Nerv getroffen. Aber sie sind zugleich Kulturpessimisten und glauben dennoch an den guten Menschen und die heile Welt. Angst, Sehnsucht und Mißtrauen gehören zu ihren politischen Kampfmitteln: Angst vor dem Atom, Sehnsucht nach der neuen und unverdorbenen Kraft, Mißtrauen gegen die etablierten Kräfte der Wirtschaft und Politik. Wer gegen überfüllte Städte, gegen die Vorherrschaft der Autos, gegen Wachstum und gesteigerten Energieverbrauch auftritt, bringt zentrale Probleme unserer Zeit zur Sprache.

Aber es ist schwer, daraus ein politisches Parteiprogramm zu machen, das den Zuspruch weiter Schichten gewinnt. Je unabhängiger und besser gestellt einer ist, desto eher kann er es sich leisten, „grün" oder „bunt“ zu sein.

Mit der Umwelt ist es ähnlich wie mit dem Frieden. Sie ist ein entscheidender Aspekt unserer Politik und allzu lange zu kurz gekommen. Sie muß in den bestehenden Parteien, Gruppen, Ministerien und Organisationen ernst genommen werden. In dieser Richtung können die „Grünen" eine wirksamere Erziehungsarbeit leisten, als es die etablierten Kräfte von sich aus tun.

Aber diesen Aspekt herauszuoperieren, ihn zu isolieren, ihn von außen zur Geltung zu bringen, das wird auf die Dauer der angestrebten Sache selbst nicht gut tun. Wir alle brauchen das Bewußtsein von und die Anstrengung für das Gleichgewicht der Kräfte der Natur ebenso wie für den Frieden, und zwar als Bestandteil unseres täglichen Denkens und Handelns.

Aber mit einer besonderen Umwelt-oder Friedenspartei, die sich von außen im Kampf gegen Konkurrenten durchsetzen müßte, ist der Sache auf die Dauer nicht gedient.

b) Weniger tief im Ansatz ist der Steuerprotest. Ob er sich zur politischen Partei zu formieren vermag, bleibt abzuwarten. Sein Gegenstand ist ein „politisches Immergrün" (Rolf Zundel), nämlich die Forderung nach einfachen, gerechten und niedrigen Steuern.

Hier mischt sich völlig berechtigter Protest gegen ein leistungshemmendes Steuersystem und gegen die Herrschaft unverständlicher Formulare und Verordnungen mit der oft recht demagogisch verwendeten Spekulation auf die materielle Begehrlichkeit von uns allen. Ein Protest, eine Wirkung, ein Anstoß, kurz:

ein belebendes Wettbewerbselement, dafür ist es gut. Aber eine umfassende politische Kraft, deren Merkmal es sein müßte, den etablierten Parteien vorzumachen, wie man verantwortlich mit der Zukunft umgeht, dafür ist der Steuerprotest ungeeignet.

c) Ein besonderes Augenmerk verdient dagegen das, was sich als Lebensstilbewegung bemerkbar macht.

Bei aller Verschiedenheit dessen, was hiermit gemeint ist, läßt sich übergreifend sagen: Ihre Anhänger wollen Änderungen im eigenen Leben praktizieren, sich an den bestehenden politischen Wettbewerbsformen und Wirtschaftsmärkten der Gesellschaft nicht beteiligen, vielmehr aus ihnen aussteigen und dennoch damit nicht nur rein private Ziele verfolgen, sondern die Gesellschaft selbst beeinflussen. Der persönliche Lebensstil soll also zugleich auch Ausdruck eines politischen Engagements sein.

Sie empfinden die moderne Technologie durch ihren Zwang zum Zentralismus als Freiheitsentzug und durch ihre immer unbegrenzteren Möglichkeiten ohne ethische Beherrschungscodices als lebensbedrohend. Im Kampf gegen Wachstumszwang und sinnentleerenden materiellen Überfluß wird eine Gegenkultur gesucht und aufgebaut. Die Suche gilt neuen Formen von Emanzipation und Solidarität, von Gemeinschaft und Lebenssinn.

Es ist leicht, auf ihre Probleme zu verweisen:

ihr mangelnder Zusammenhang, ihre weite Entfernung von den Bedürfnissen und den Möglichkeiten des normalen Zeitgenossen, ihr elitärer Grundzug. In die politische Auseinandersetzung sind sie kaum einzuordnen. Sie denken ohnehin nicht daran, an dem demokratischen Wettbewerb in seiner herkömmlichen Form teilzunehmen.

Dennoch haben sie für uns Bedeutung. Unzweifelhaft ist ihre Existenz der Ausdruck einer Suche nach Werten und Zielen für eine lohnende Zukunft. Ihre Antworten mögen falsch, ihre politischen Vorstellungen irrelevant und ihr Anspruch mitunter anmaßend sein. Aber daß es sie gibt, ist die Folge von Fragen, auf die wir in der Politik bisher nur ungenügend zu antworten wissen.

IV.

Wer in der Regierung oder Oppostion heute Verantwortung trägt, sollte in der Auseinandersetzung mit Bürgerinitiativen und Lebensstilbewegungen, mit neuen Listen und Parteienverdruß — weder die Fragen überhören, die sich hier zu Wort melden, — noch aus Opportunismus rasch Zugeständnisse machen, nur um potentiellen Bewerbern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Vielmehr tut die ernsthafte Auseinandersetzung not.

Zwei Beispiele will ich behandeln, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen: — Beschäftigung und Markt — Familie und Bildung.

In beiden Feldern stellt sich die Frage: Sind wir auf dem richtigen Kurs oder müssen wir das Steuer herumwerfen? Geht es darum, Fehler einzusehen und Mängel zu beseitigen, oder brauchen wir einen ganz neuen Ansatz?

V.

Die Beschäftigungslage ist Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.

— Seit mehreren Jahren haben wir überdurchschnittlich viele Arbeitslose.

— Gleichzeitig stehen stärkere Jahrgänge Jugendlicher an der Schwelle zum Beruf.

— Die technologischen Fortschritte in der industriellen Massenfertigung und in den Büro-betrieben setzen menschliche Arbeitskraft frei. Gefragt wird: Haben wir es mit einem tendenziell zunehmenden strukturellen Mangel an Arbeit zu tun, den es besser als bisher zu verwalten und zu verteilen gilt? Erwächst aus dieser Not gar eine Tugend? Oder sind wir in der Lage, den Mangel selbst zu beseitigen?

Alte und neue Vorschläge sind zu hören.

Zu neuem Leben erwacht die alte Forderung nach stärkeren öffentlichen Befugnissen für die zentrale Wirtschaftspolitik. Die Teilnehmer am Markt, so heißt es, verfügten nicht über die erforderliche Kraft, um dem Menschen sein Recht auf Arbeit zu verschaffen. Vielmehr produziere das Marktwirtschaftssystem selbst Arbeitslosigkeit.

Eine wachsende Zahl von Vorstandsmitgliedern bedeutender Gewerkschaften äußert sich in diesem Sinn. Sie wollen Wachstum und Beschäftigung erzielen, indem sie die Marktwirtschaft zurückdrängen.

Gewerkschaften haben dafür noch ein spezifisches Wachstumsproblem: ihre Mitgliederzahl. Ihr Ziel ist eine möglichst große, ansteigende Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer. Dies nötigt sie dazu, möglichst viele Interessen auf einen Nenner zu bringen, zusammenzufassen und gleichmäßig zu vertreten. Die SPD hat bei ihrem Parteivorstand eine Grundwertekommission gebildet. Diese ist bisher an manche Probleme mit analytischer Frische herangegangen. Zugleich aber hat sie es zu einer Schlüsselfrage sozialdemokratischer Politik erklärt, die Primäreinkommen anzuheben und die Einkommen insgesamt einander anzugleichen. Sie leitet dies aus einem Leistungsbegriff ab, den sie für fehlgeleitet hält. Beim Leistungswillen des einzelnen käme es darauf an, „daß er sich nicht gegen Seinesgleichen durchsetzen muß“. Die Konkurrenzgesellschaft drohe an der Summe ihrer Egoismen zugrunde zu gehen. Mit der Angleichung der Primäreinkommen wird zugleich eine vorbeugende Sozialpolitik angestrebt: Bei genügend hohem Primäreinkommen könne der einzelne auf die Unterstützung der Solidargesellschaft eher verzichten. 3. In einem anderen Strang der Diskussion wird bezweifelt, daß sich durch Wirtschaftswachstum die Nachfrage nach Arbeit überhaupt erhöhen ließe, und zwar unabhängig davon, ob mit den Mitteln des Marktes oder einer zentral verwalteten Wirtschaft. Gefragt wird hier, was überhaupt Arbeit sei. Vollbeschäftigung durch Konsumwachstum sei weder bei uns zu verantworten, noch auf die übrige Menschheit auszudehnen. Humanisierung der Arbeitswelt, ökologische Rücksichtnahme, Gleichberechtigung der Frau, Solidarität mit den Problemen der Entwicklungsländer — dies alles könnte in einem Recht auf soge-nannte Eigenarbeit konvergieren 1). Eigenarbeit sei ein anderer Ausdruck für nützliche Ausfüllung gewonnener Freizeit 2). Der Mangel an herkömmlicher Arbeit könne so zu einer besseren Verteilung der Zeit und der Fähigkeit führen, sich außerhalb von Ar-b'eitsverhältnissen befriedigend und nützlich für sich selbst und für andere zu betätigen.

In derselben Richtung gibt es Vorschläge, die weniger fundamental begründet werden, dafür aber konkreter sind:

Die Tarifpartner sollten betriebsweise Stundenlohntarife aushandeln, um damit nicht nur Überstunden, sondern auch Unterstunden ohne Lohnausgleich zu ermöglichen. In der freien Zeit solle das, was bisher Schwarzarbeit genannt werde, in legalisierte, möglichst steuerfreie Eigenarbeit verwandelt werden.

4. Am weitesten gehen auch hier wieder manche Gruppen der Lebensstilbewegungen. Sie wollen nicht zentrale politische Steuerung, sondern private Initiative. Aber diese wollen sie nicht als Kraft im Wettbewerb des Marktes benutzen, sondern als Freiheit zum Aussteigen aus dem Markt mit seinem Produktivitätsglauben. In neuen Wohn-und Lebensgemeinschaften, in Nahrungscoops und Verdienstkommunen wollen sie einen neuen Weg der Konkurrenzfreiheit suchen.

Ihre Zahl ist klein. Aber wachsend ist ein Bedürfnis der Auflehnung gegen alles, was zentral und groß ist und damit zwanghaft wirkt. In den USA verdichtet sich dies zu politisch nicht unbedeutenden Kampfparolen gegen — big technology — big energy — big business — big burocracy — big terrorism.

5. Gewiß ist, daß es Probleme und Unruhe gibt, aber keine idealen Lösungen.

Die Suche nach der natürlichen Existenz, den überschaubaren Verhältnissen, der eigenbestimmten Arbeit, dem neuen Lebensstil, das alles ist nur allzu begreiflich und human.

Aber es enthebt uns nicht der politischen Pflicht, an alle zu denken. Der Mehrzahl der Menschen im eigenen Land, auch der Mehrzahl der Arbeitssuchenden, ist mit der Suche nach der verlorenen Zeit und mit Gegenkulturbewegungen konkret wenig geholfen. Der anwachsenden und notleidenden Weltbevölkerung geht es um Nahrung und Energie.

Small mag beautiful sein, wie ein interessantes Buch sich nennt. Aber das schafft noch keine Lösungen im Nord-Süd-Gefälle. Vielmehr geht es um nüchterne Erkenntnisse, denen wir uns gerade auch dort stellen müssen, wo wir manchen Gefühlen oder organisierten Interessen widersprechen.

a) In unserem Teil der Welt ist der Wohlstand gestiegen. Das führt dazu, daß die Bedürfnisse sich differenzieren, und zwar gerade auch im Bereich der Beschäftigung: Gesamtumfang und Verteilung der Arbeitszeit auf Tag, Woche, Jahr und das ganze Leben; Entfernung des Arbeitsplatzes von der Wohnung; Arbeitsinteressen; geforderte Qualifikation; Wünsche nach Weiterbildung: In jeder Richtung wächst die Vielfalt sowohl im Angebot wie in der Nachfrage.

Im Kampf gegen Arbeitslosigkeit verspricht es mehr Erfolg, auf diese Vielfalt der Bedürfnisse differenziert einzugehen, nicht aber alles von bürokratischen Zentralen und kollektiven Gesamttarifen zu erwarten. Gewerkschaften und Tarifverbände, die zweifellos Großes zustande gebracht haben, stehen wegen ihres Interesses an einem hohen Organisationsgrad hier und heute vor schwierigen Problemen.

b) Würde man der Empfehlung folgen, die Primäreinkommen anzuheben und anzugleichen, so würde dies zum klassischen Beispiel dafür, wie Wohltat zur Plage werden kann. Die Folge wäre, daß weniger qualifizierte Arbeit zu teuer würde. Sie würde dann im Produktionsprozeß ersetzt. Anstatt besser bezahlt zu werden, würden die Betreffenden die Arbeitsplätze verlieren.

c) Von der Mikroelektronik ist zur Zeit besonders viel die Rede. Man nimmt an, daß sie eine wahre Revolution an Kommunikation mit sich bringen wird.

Schon heute ist sie Gegenstand heftigster Angriffe: — Die einen befürchten die zweifellos zu erwartende starke Stückkostendegression und die damit verbundenen Rationalisierungseffekte, also weitere Arbeitslosigkeit.

— Andere warnen vor der Gefahr der Zentralisierung und damit auch der politischen Manipulation, wenn wir erst einmal alle unseren computer-terminal zu Hause haben.

Das Problem ist nicht neu und in der Vergangenheit hat man sich zu Recht schon mehrfach mit den Sorgen vor den menschlich schwer erträglichen Merkmalen der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung aus-

einandergesetzt. Aber es sollte auch Raum für die Einsicht sein, daß wir aus unserem Zeitalter nicht aussteigen können. Der Fortschritt der Technik ist zweideutig, aber unausweichlich. Es gilt, ihn beherrschen zu lernen, nicht aber in Affekte gegen ihn zu verfallen. Die Welt kann an ihm zugrundegehen. Dies gilt es zu verhindern. Zugleich müssen wir erkennen, daß wohl kleine bevorzugte Teile der Menschheit ohne ihn auszukommen wüßten, daß aber die große Masse sich nur mit seiner Hilfe wird ernähren und Zusammenleben können.

Die Mikroelektronik wird kommen, was auch immer wir heute über sie empfinden mögen. In ihrer Anwendung werden wir die Kommunikationswege von den Kommunikationsinhalten zu unterscheiden haben. Gegen die Gefahren, die die Zentralisierung der Kommunikationswege mit sich bringt, gilt es, sich beizeiten freiheitlich zu schützen.

Zugleich dürfen wir aber auch die Vorteile nicht übersehen, die die Kommunikationsinhalte mit sich bringen. Sie werden eine gewaltige Steigerung der Vielfalt und der Fähigkeit zur Befriedigung differenzierter Bedürfnisse zulassen. Gerade mit den Mitteln des Marktes wird auch der Austausch von Information und damit die Lösung von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt in einer Form möglich, für die die heute noch immer anschwellenden Stellenmärkte in den Wochenendzeitungen nur ein höchst unvollkommener Ersatz bleiben. d) Wir haben in den letzten zehn Jahren das Lohn-und Gehaltsniveau in unserer Gesellschaft gewaltig gesteigert. Dies ist für die Betroffenen erfreulich, gilt zugleich aber als Ursache für Rationalisierungsinvestitionen wie auch für eine Abwanderung von Produktionsbetrieben in diejenigen Teile der Welt, in denen die menschliche Arbeitskraft weniger kostet.

Würden wir versuchen, dieses Problem durch Kontrollen oder Verbote des Kapitalverkehrs zu verhindern, so würde unser Beschäftigungsproblem unlösbar. Auf die Binnenwirtschaft beschränkt, wären wir mit unserem Beschäftigungslatein am Ende.

Was an dieser Entwicklung nicht so allgemein diskutiert wird, ist die Tatsache, daß wir mit dieser Abwanderung von Produktionsbetrieben langfristig einen wirksamen Beitrag zur Entwicklungs-und Strukturpolitik leisten. Einer der größten deutschen multinationalen Konzerne hat im Laufe der letzten fünfzehn Jahre die Zahl seiner Beschäftigten im Ausland nahezu verzehnfacht; er beschäftigt draußen heute mehr als zu Hause, und zwar zum großen Teil in Entwicklungsländern. Zweierlei wird damit langfristig erreicht:

— eine wirksamere Hilfe für die Entwicklungsländer, als es die staatlichen Maßnahmen der Industrieländer vermögen;

— Entwicklung von Nachfrage in diesen Län dern für Investitionsgüter, die unseren Markt beleben wird.

Unternehmer sind noch nie besonders populär gewesen, und schon gar nicht Multis. Dafür gibt es durchaus verständliche Gründe: ein schlechtes persönliches Beispiel, das einzelne Unternehmer bieten; schwer kontrollierbare Gewinnverlagerungen in international tätigen Unternehmen; politischer Einfluß großer Gesellschaften in manchen Ländern der Welt. Ziel der Marktwirtschaft ist es nicht, dem Unternehmer zu Einfluß, Ansehen und Reichtum zu verhelfen. Aber wenn wir unternehmerische Funktion, Rentabilität von Betrieben und lohnende Zukunft für eigene Leistung nicht mehr glauben ertragen zu können, dann müssen wir auch bereit sein, dafür die Zeche eines grauen und kargen verwalteten Alltags zu zahlen und vor anderen Teilen der Welt mit ziemlich leeren Händen dazustehen.

In einer solchen Gesellschaft würden die Mehrheiten, zu deren Gunsten umverteilt werden soll, immer schneller dieselben, die auch die Lasten der Umverteilung zu tragen hätten. Eine Gesellschaft kann nicht nur an der Summe von Leistungsegoismen, sondern eher und früher an der Summe der Nichtleistungsegoismen zugrundegehen, also der Zunahme der Ansprüche bei Abnahme der Leistungen. Immer von neuem gilt es, bei der Marktwirtschaft dreierlei zu beachten:

— Sie hat sich als die mit Abstand effektivste Wirtschaftsform erwiesen.

— Sie bringt nicht automatisch die Moral zum Siege.

— Aber sie ist besser als jedes andere System in der Lage, eigene Fehler zu korrigieren. Niemand verlangt von uns, wir sollten um der Effektivität der Marktwirtschaft willen auf moralische Maßstäbe und humane Ergebnisse verzichten. Aber wir selbst wären die Leidtragenden, würden wir uns darauf beschränken, moralisch schwer erträgliche Ergebnisse zu beklagen und folglich den Markt durch etwas anderes zu ersetzen. Am Ende hätten wir dann auf die Effektivität verzichtet und obendrein die Chance zur moralischen Qualität verspielt.

Wirtschaftspolitik war immer wieder von der Aufgabe gekennzeichnet, mit ungerechten Auswirkungen des Marktes fertig zu werden — Schon früher war die Sicherung des Eigentums eine Errungenschaft des Liberalismus gegen Feudalherrschaft. — Später wurden Koalitionsfreiheit und Tarif-autonomie als ordnungspolitische Mittel eingeführt, um dem Mißbrauch von Privateigentum an Produktionsmitteln zu wehren. — Kartellrecht, Mitbestimmung und Miteigentum kanalisieren die Freiheit der Initiative. In einer freiheitlichen Ordnung geht es um Subsidiarität, Selbstverwaltung, Dezentralisierung, Föderalismus, und das heißt: im Rahmen des Möglichen um Selbstbestimmung und Eigenarbeit.

Die Überschrift dafür heißt nicht Marktwirtschaft. Aber diese ist ein wichtiger Bestandteil davon. Sie kann Macht teilen und kontrollieren. Sie kann Freiheit sichern und Selbstbestimmung fördern. Ihre Ordnungselemente sind Wettbewerb, Dezentralisierung, Steuerung durch Angebot und Nachfrage, Autonomie der Beteiligten. Auch unser zentrales heutiges Thema der Beschäftigung kann sie besser lösen, und zwar sowohl für den einzelnen wie für die Volkswirtschaft. Und schließlich wird sie sich auch besser anpassen können, wenn sich die Trends wieder verändern:

— Wenn nämlich die Entwicklung in der Welt anzieht und die Nachfrage belebt — und wenn sich später das Generationsverhältnis bei uns zugunsten der Alten verschiebt. Wir würden nicht immer nur eine flexible Altersgrenze nach unten brauchen, sondern eines Tages vielleicht eher nach oben.

Klar ist, daß die hier behandelten ökonomischen Probleme kaum bis zu den Wurzeln und Zielen vordringen, die viele, zumal junge Menschen heute bewegen. Vielen von ihnen geht es letzten Endes um Fragen des inneren Engagements und der Gemeinschaft, des Sinns und des Glaubens. Kein Wirtschaftssystem und keine Arbeitsmarktpolitik gibt darauf unmittelbar Antworten.

Was das Wahre, Gute und Schöne ist, gehört in den Freiheitsraum der Weltanschauung des Menschen. Aufgabe der Politik ist nicht dies, sondern die Sicherung möglichst gerechter Bedingungen dieses Freiheitsraumes. Dies kann verantwortlich nur geschehen, wenn wir immer von neuem um den besten Weg darüber ringen, wie menschenwürdige Arbeit und Freiheit zu gewährleisten, wie Beschäftigung zu sichern und mit welchen Maßnahmen Auswüchsen unserer Ordnung zu begegnen ist.

Zweierlei brauchen wir dafür:

— Die politische Einsicht, ideologischen Verlockungen und damit Scheinlösungen zu widerstehen.

— Die politische Kraft, wirtschaftliche und soziale Macht an das Gemeinwohl zu binden. Was das Gemeinwohl sei, wer darüber verfüge, ja, ob es so etwas überhaupt gäbe, darüber gibt es großen Streit. Nach meiner Überzeugung steht nicht für alle Zeiten fest, was das Gemeinwohl ist. Aber gut zu erkennen ist, was es heute bedeutet und von uns verlangt, nämlich:

— Nichtvertretene, Nichtorganisierte, Nicht-organisierbare und daher Schwache im Kontext einer im übrigen wohlorganisierten und sich selbst verwaltenden Gesellschaft zu schützen.

— Das Recht ist die Waffe des Schwachen. Der Staat besitzt das Gewaltmonopol für die Durchsetzung dieses Rechts und die Gemeinwohlpflicht zu seiner Anwendung.

— Die Zukunft vor einer Ausbeutung durch die Gegenwart zu bewahren. Auch die Zukunft gehört zu den nichtorganisierten lebenswichtigen Interessen gegenüber einer durchorganisierten und mächtigen Gegenwart. VI.

Die Daten unserer Bevölkerungsentwicklung sind mittlerweile allseits bekannt. Wir haben die niedrigste Geburtenrate der Welt. Wir wissen, daß es dafür materielle Ursachen gibt: — Eine kinderlose Ehe, in der Mann und Frau arbeiten, steht vorn in der Wohlstandsskala.

— Eine kinderreiche Familie dagegen, in der ein Elternteil — zumeist die Mutter — schon wegen der Kinderzahl nicht beruflich tätig sein kann, gerät in die Nähe des Sozialhilfe-niveaus oder sogar mitten hinein. — Die Kinderlosen bauen ihre Zukunft, das heißt die Erarbeitung ihres Ruhegeldes, auf die Kinder der Kinderreichen. Und obendrein haben die Kinderlosen für ihren Ruhestand auch noch den höheren Rentenanspruch erworben. Dunkel bleibt hierbei, wer eigentlich später einmal, wenn das Gleichgewicht der Generationen zerstört ist, denen die Rente erarbeiten wird, die heute 35jährig oder jünger sind.

Der Rückgang der Familie hat aber nicht nur materielle Gründe im engeren Sinn. Vielmehr ist er die Folge davon, daß die Familie immer mehr ihrer Funktion beraubt ist.

Von der frühkindlichen Erziehung über die Krankenpflege bis zur Altersversorgung wurden die Aufgaben und ihre Absicherung immer stärker außerfamiliär organisiert und vergesellschaftet. Früher brauchte man Ehe und Familie, um leben zu können. Heute haben Ehe und Familie einen Sinn nur für den, der ihn ihnen selbst zu geben vermag.

Der Ehe und Familie wird damit, wie Klaus Schleicher dies nennt eine „privatistische oder bürgerinitiativartige Selbstbehauptung“ gegen die vordringenden Meinungen und herrschenden Einrichtungen in der Gesellschaft zugemutet.

In allzu zahlreichen Fällen wird damit zu viel verlangt. Die Folge ist nicht nur Rückgang der Kinder, sondern der Ehen selbst. Die Scheidungen nehmen zu. Die Eheschließungen gehen zurück. Der Trend zum Alleinwohnen steigt. „Du bist Du und ich bin ich": so lautet eine fortgesetzte Titelgeschichte in einem vielgelesenen Magazin, und zwar so, als wäre dies der ersehnte ideologische überbau für eine sich ausbreitende Wirklichkeit, in welcher die Vereinzelung an die Stelle von Familie und Ehe tritt. Eine „gesteigerte Form von Wirklichkeit" nennt der Schriftsteller Peter Handke dies im abschließenden Gespräch des Magazins, ja: die „Mitte der Existenz". — Was sind das für klägliche Propheten! Aber dies alles ist nicht primär das Ergebnis von Verwirrung, Autoritätsverlust und Jugend-protest, sondern die Folge einer langen, in ihren Auswirkungen oft unbeabsichtigten Kette gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen.

Würden wir ihr noch längere Zeit nachgeben, so wäre dies die eigentliche Kulturrevolution. Nur sollten wir dann auch wissen, was wir tun. Denn so läßt sich keine neue Lebenskultur auf der bunten Wiese gründen und dennoch dabei ein Mensch bleiben oder möglichst ein noch freierer Mensch werden. Versuche, Ehe und Familie durch andere Formen des Zusammenlebens oder durch die Gesamtgesellschaft zu ersetzen, hat es oft und unter verschiedensten Regierungsformen gegeben. Aber sie führen immer nur zum Ergebnis, daß es keine dauerhafte Alternative zu Ehe und Familie gibt. Diese haben sich auch im Wandel der Zeit als beständigste Form des Zusammenlebens erwiesen. Denn:

— die Chancen des Kindes werden lebenslang durch die Familienbedingungen in den ersten Kindheitsjahren geprägt, stärker als durch alles, was später kommt;

— der Sozialisationsprozeß in der Familie beeinflußt selbst bei 14jährigen die Leistungsfähigkeit immer noch stärker als die Schule

— die Familie ist der Ort, wo man lernen kann, nicht gegen oder ohne andere zu leben, sondern mit ihnen zusammen;

— gerade wenn der Zwang und die Anonymität der modernen Massengesellschaft und des Leistungswettbewerbs in der Ausbildung und im Beruf einen Druck ausüben, sich gegen andere zu behaupten und durchzusetzen, bietet die Familie und vor allem die Ehe die Chance zum Ausgleich: Zuwendung zu erfahren und sich selbst zur Zuwendung zu erziehen; — jungen Menschen erscheinen Ehe und Familie oft verzichtbar oder ersetzbar. Die Folge sind Schönwetterallianzen, die den schwereren Stürmen nicht standhalten. Aber erst in der Alltagsbindung lernt der Mensch, was er kann und braucht, um das Leben zu begreifen und zu bestehen, um sich zu verwirklichen. Und wenn mit dem Alter die Einsamkeit wächst, bieten Ersatzgemeinschaften keinen vergleichbaren Schutz.

Gewiß: Ehe und Familie sind nicht nur von außen der Aufgabe beraubt und belastet worden. Es gibt auch in ihnen selbst viel Versagen mit schlimmen Folgen und bösen Erfahrungen für die nachwachsende Generation. Aber das ist kein Grund, deshalb das Kind oder die Eltern mit dem Bade auszuschütten. Sondern es bietet Anlaß, der Mängel besser Herr zu werden.

Was sich in Jahrzehnten entwickelt hat, läßt sich nicht über Nacht korrigieren. Um so mehr nötigt der Gedanke an die Zukunft, Weichen-stellungen heute vorzunehmen.

— Wenn Kinder chancengerecht aufwachsen sollen, gilt es; ihren Anspruch auf eine Familie durchzusetzen. Das ist noch wichtiger als Schulreform.

— In der Erziehung, nicht zuletzt in der Sozialkunde, geht es darum, Kinder nicht den Familien und Eltern zu entfremden, sondern die Bedeutung von Ehe und Familie in den Mittelpunkt zu rücken.

— Freilich, bevor damit bei Kindern und Jugendlichen Erfolge erzielbar sind, müssen Erwachsene selbst lernen, es mit der Ehe und Familie ernst zu nehmen.

Das bedeutet materielle Prioritäten in der Politik: einem vorbildlichen System der sozialen Sicherung nicht durch eine erbärmliche Familienpolitik langfristig den eigenen Boden zu entziehen; allmählich also materiellen Spielraum zu schaffen für die selbständige Rente der Hausfrau, für das Erziehungsgeld und andere geeignete Maßnahmen.

Aber es geht nicht allein um Materielles. Entscheidend bleibt die Bewertung, die die Erwachsenen selbst vornehmen, die Maßstäbe, die sie in der Selbstachtung und für die Anerkennung anderer in der Gesellschaft zugrunde legen. Kurz: die Wertorientierung, die sie einem humanen und solidarischen Leben durch Ehe und Familie geben wollen.

Zu alledem können und müssen alle beitragen: — die Kirchen und die Wissenschaft, — die Erzieher und die Medien, — die Arbeitgeber und die Gewerkschaften.

Die wichtigste Aufgabe bleibt bei der Politik, die hier mehr als anderswo einen entscheidenden Test dafür zu bestehen hat, ob sie bereit und in der Lage ist, in den Wünschen für die Gegenwart den Gedanken an die Zukunft verantwortlich anzusiedeln.

VII.

Gedanken an die Zukunft sind ohne manche düsteren Prognosen nicht möglich. Ich trage sie nicht vor, weil ich glaubte, Pessimismus und Verzweiflung seien unausweichlich.

Selbst der Club von Rom (mit dem ich mich natürlich nicht messe) hat seine schlimmen Vorhersagen nicht gemacht, weil er an ihre Erfüllung glaubt, sondern weil er verhindern will, daß sie eintreten.

Ein verfassungsmäßiges Machtmittel zugunsten einer verantwortlichen Berücksichtigung der Zukunft haben wir nicht. Aber wir haben die öffentliche Diskussion. Und diese wendet sich jetzt endlich mit voller Kraft dem Konflikt zwischen Gegenwart und Zukunft zu. Ich bin davon überzeugt, daß dies nicht vergeblich zu sein braucht.

Wenn wir über etwas reden, verschaffen sich viele Klagen Gehör. In Wahrheit aber ist dies der Weg, die Ursachen der Klagen zu verstehen und aufzuarbeiten.

Wer die notwendige Rücksicht auf die Zukunft in der Gegenwart am meisten behindert, — die politischen Parteien, — die organisierten Interessen — oder der Bürger selbst, das läßt sich nicht entscheiden. Alle tragen dazu bei.

Aber allseits gibt es auch positive Ansätze:

— Die Stärke unseres ganzen politischen Systems beruht in seiner Lernfähigkeit. Es läßt sich von seiner eigenen Grundlage her kritisieren und verbessern.

— Neben dem materiellen Drang, die Gegenwart voll auszuschöpfen, ist der Gedanke des Haushaltens für die Zukunft im privaten Leben durchaus lebendig, und zwar stärker als im Kollektiv. Es muß nicht nur, es kann auch politisch daran angeknüpft werden.

— Der Instinkt leitet gerade die aktiven Kräfte jeder Generation. Er begegnet uns oft als Skepsis:

Ein Vater sagt zu seinem Sohn: „Setz Dich hin und lern etwas. Denk an Deine Zukunft!“ Antwort des Sohnes: „Zukunft, was ist das?"

Ist dies eine Absage des Sohnes an die Zukunft? Nein, eher eine Absage an den Vater, und das ist weit besser so, auch für den Vater. Der Sohn sucht die Zukunft, aber er findet noch nicht den richtigen Weg.

Der Instinkt ist Ausdruck einer vitalen Lebenskraft. Zu seinem Ziel gelangt er oft nur auf Umwegen. Für die Jugend fängt die Welt immer neu an. Aber sie beginnt für ein langes Leben, für ein Leben mit Zukunft.

Zukunft erfordert in der Gegenwart Verzichte und Opfer. Beides fällt jungen Menschen oft leichter als älteren. Es kann der Gegenwart einen Sinn geben und der Zukunft die Chance, die wir ihr schulden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl.: Technologie und Politik, Band 10, Reinbek, S. 185.

  2. Ebd. S. 176.

  3. Vergleiche zum folgenden: Kurt Biedenkopf, Tarifautonomie, „Information“, Heft 11.

  4. epd-Dokumentation 26/78, S. 45.

  5. Schleicher, a. a. O.

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Richard von Weizsäcker, Dr. jur., geb. 1920 in Stuttgart; Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte; 1950— 1955 Berufstätigkeit in der Wirtschaft; seither Rechtsanwalt (Wirtschaftspraxis); 1964— 1970 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages; seit 1969 Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland; seit 1976 Mitglied des Bundesvorstandes der CDU; seit 1971 Vorsitzender der Grundsatzkommission der CDU; seit 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages; seit 1972 stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der CDU/CSU.