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Herausforderungen für eine nachindustrielle Gesellschaft | APuZ 33/1978 | bpb.de

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APuZ 33/1978 Artikel 1 Woher wir kommen — wohin wir gehen Perspektiven für die politische Entwicklung Herausforderungen für eine nachindustrielle Gesellschaft Die Gen-Ingenieure Durch Revolutionierung der Natur zum Neuen Menschen?

Herausforderungen für eine nachindustrielle Gesellschaft

Willis W. Harman

/ 18 Minuten zu lesen

I. Das „Zeitalter der Umbrüche"

6-5-Weltbevölkerung (in Milliarden ) Möglicher neuer Gleichgewichts-zustand

Wir alle sind daran gewöhnt, die Vergangenheit als Ursache nachfolgender Ereignisse anzusehen — eine Entscheidung wurde getroffen, ein Gesetz wurde verabschiedet, eine Begegnung fand statt, und als Folge davon traten verschiedene andere Ereignisse ein. Täglich ziehen wir auf diese Weise Schlüsse. Weniger offenkundig ist die Tatsache, daß unsere Vorstellung von der Zukunft die Entscheidungen formt, die wir heute treffen. Irgend jemand macht sich ein Bild von der Zukunft — von einer großen Brüche, einem neuen industriellen Verfahren oder einem utopischen Staat — und als Folge davon treten heute verschiedene Ereignisse ein. Unsere Vorstellung von der Zukunft beeinflußt die Gegenwart also ebenso, wie es unsere Eindrücke von der Vergangenheit oder die greifbareren Zeugnisse früherer Handlungen tun.

Jede Handlung setzt eine Vorstellung von der Zukunft voraus — wie wir sie erwarten, wie wir sie uns wünschen oder wie wir sie befürchten. Hätten wir ein anderes Bild von der Zukunft, dann sähen die heutigen Entscheidungen anders aus. Wenn unsere Erwartungen unzutreffend sind, werden auch unsere Entscheidungen fehlerhaft sein. Ist unsere Zukunftsaussicht positiv, wird sie uns zum Handeln drängen. Erweckt unsere gemeinschaftliche Sicht keine Begeisterung oder gibt es keine allgemeine Vorstellung von dem, was erstrebenswert sei, wird es unserer Gesellschaft sowohl an Motivation als auch an Orientierung fehlen. Oft nehmen wir (mit gutem Grund) an, daß die wahrscheinlichste Zukunft eine direkte Fortsetzung vergangener Trends sein werde. Es ist jedoch klar, daß viele der herkömmlichen Entwicklungen nicht unverändert fortbestehen können: die Weltbevölkerung kann sich nicht ewig exponentiell vermehren; der Weltener-gieverbrauch kann sich nicht endlos erhöhen; die Art und Weise, wie wir die Rohstoffe der Welt verbrauchen, muß sich ändern. Tatsächlich ist es seit mehreren Jahrzehnten deutlich geworden, daß die moderne Gesellschaft mit der Vergangenheit in vielfacher Hinsicht gebrochen hat. Peter Drucker hat unsere Zeit „Das Zeitalter der Umbrüche" genannt. In seinem Buch, das 1968 unter dem Titel „The Age of Discontinuity“ erschienen ist, beschreibt er vier solcher wichtigen Umbrüche, die bestimmend sind für unsere Industriegesellschaft:

1. Ganz neue Technologien, wie z. B. Computer und Halbleiter, haben neue Großindustrien geschaffen und vorhandene Industrien überflüssig gemacht.

2. Bedeutende Veränderungen traten in der Wirtschaft ein, die sich immer mehr zu einer weltweiten Wirtschaft entwickelt und zu dem, was Drucker „ein globales Einkaufszentrum" nennt, führten.

3. Eine neue pluralistische gesellschaftliche und politische Organisation entstand, in der alle wichtigen Aufgaben institutionalisiert wurden, was dazu führte, daß die Gesellschaft von einem Gewebe sich überschneidender, voneinander abhängiger, spezieller Zweckorganisationen strukturiert wird.

4. Der Zugang zum Wissen wurde — mehr noch als Rohstoffe und deren Transport — zum entscheidenden Faktor moderner Wirtschaft. Von ihm hängt der industrielle Erfolg hauptsächlich ab, er stellt das wichtigste Kapital dar und veränderte den Charakter der Arbeit der erwerbstätigen Bevölkerung und der Ausbildung. Druckers Buch war rasch überholt, weil neue Umbrüche aufgetreten waren, die zumindest ebenso bedeutend waren wie diejenigen, die er herausgefunden hatte. Es genügt, fünf zu erwähnen:

1. Sowohl die Bürger als auch die Regierungen begannen, die ernste Gefahr zu erkennen, die durch das Problem einer ausreichenden Versorgung mit fossilen Brennstoffen, Minera-B lien und Wasser droht, die Gefahr, daß anbau-fähiger Boden und bewohnbare Flächen zur Mangelware werden, daß die Kapazität der Umwelt, Abfälle aufzunehmen, und die Widerstandskraft der lebenserhaltenden Systeme unseres Planeten an ihre Grenzen stoßen. Dieser „neue Mangel" ist von anderer Art als der Mangel an Nahrung und Wohnung, der immer ein Teil menschlicher Existenz gewesen ist, weil er grundlegender mit den sich nähernden planetarischen Grenzen verbunden ist.

2. Große Bevölkerungsteile sind nicht mehr mit dem wirtschaftlichen und politischen Status quo einverstanden. Bessere Ausbildung und ein höherer Kenntnisstand, zum Teil eine Folge des Einflusses der modernen Kommunikationsmittel, haben Ansprüche auf bessere Lebensbedingungen und mehr Selbstbestimmung geweckt und Unzufriedenheit mit den Ungerechtigkeiten der alten Ordnung hervorgerufen. 3. Immer mehr Menschen in den Industrienationen haben den einst für selbstverständlich gehaltenen Glauben verloren, daß ein ständig steigendes materielles Wachstum und sich ständig erweiternde Technologie und Industrialisierung die Weltarmut überwinden und der Menschheit helfen werden, ein sinn-volleres Leben zu führen.

4. Die nicht-industrialisierten Nationen der Dritten Welt beginnen, ihre neue Macht zu erproben. Sie werden zu einer moralischen Kraft und beeinflussen die Weltwirtschaft, indem sie Kartelle der rohstoffproduzierenden Nationen bilden und demonstrieren, daß die unzufriedenen Armen die Fähigkeit besitzen, Störungen hervorzurufen.

5. Ein „neuer Transzendentalismus" ist sowohl allgemein in der Bevölkerung als auch bei einer Gruppe von Wissenschaftlern entstanden, die wieder Nachdruck auf intuitive und spirituelle Erfahrung legen. Dieses neue, der spirituellen Intuition beigemessene Gewicht kehrte den seit langem bestehenden Trend zu empirischen Erklärungen und materialistischen Werten um.

Aber selbst diese erweiterte Liste erfaßt nicht voll den Geist unserer Zeit. So bedeutend diese Umbrüche sind, scheinen sie doch Manifestationen eines noch grundlegenderen Wandels zu sein — eines Wandels, der alle unsere gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Einrichtungen und Überlieferungen erfaßt, unsere gesellschaftlichen Rollen und Erwartungen und sogar die grundlegenden Voraussetzungen der modernen Kultur und ihre Wertvorstellungen. Dieser Wandel ist nicht einfach eine Entwicklung von einer Phase der Geschichte zu einer anderen. Vielmehr liegt der Gedanke nahe, daß die technologisch führenden Nationen der Welt sich einer der größten Transformationen der menschlichen Geschichte nähern könnten.

Wandel zur transindustriellen Gesellschaft?

Von einer weiten historischen Perspektive aus gesehen, ist das moderne Industriezeitalter eine kurze Episode — ein Sprung aus der vorindustriellen Gesellschaft, in der der Mensch verhältnismäßig wenig natürliche Rohstoffe in Anspruch nahm und wenig auf die natürliche Umwelt einwirkte — in die „transindustrielle" Gesellschaft, in der der Mensch die hohe Fähigkeit besitzt, seine natürliche Umwelt zu steuern und zu formen. Während das Hauptaugenmerk der Industriegesellschaft auf wirtschaftlichem und materiellem Wachstum gelegen hat, wird die transindustrielle Gesellschaft größeren Nachdruck auf menschliches Wachstum und menschliche Entwicklungen legen: Das Lernen wird zu einem Hauptanliegen im ganzen Leben und aller gesellschaftlichen Institutionen — und ist nicht mehr Beschäftigung von beschränkter Dauer zur Vorbereitung auf die „reale" Aufgabe, sich in die Institutionen einzupassen.

Wir neigen dazu, die letzten Jahrzehnte aus der Perspektive unserer eigenen Lebenszeit zu beurteilen. Deshalb sehen wir nur die technischen Leistungen und die scheinbar endlose Fülle der modernen Industrieproduktion. Wenn wir aber einen längeren Zeitraum zugrunde legen, können wir das Wesen des kurzen historischen Intervalls erfassen — dieses „Sprunges" von der vorindustriellen zur trans-industriellen Gesellschaft — Industrieära genannt. Betrachten wir zum Beispiel das Bevölkerungswachstum: Wir haben uns daran gewöhnt, hinzunehmen, daß die Erdbevölkerung jährlich um etwa 2 % wächst und dabei einer Exponentialwachstumskurve folgt. Jedoch zeigt sich in der weit umfassenderen historischen Perspektive, von etwa 6 000 vor unserer Zeitrechnung bis 6 000 nach unserer Zeitrechnung, daß die Entwicklung der Weltbevölkerung etwa so aussieht wie die obere Kurve in der folgenden Abbildung. Um die Bedeutung des Wandels zu einer transindustriellen Ära zu erfassen, stelle man sich eine ähnliche graphische Darstellung der Durchschnitts-belastung vor, die jeder einzelne Mensch durch den Verbrauch an Rohstoffen und den Ausstoß an Abfällen auf die Umwelt ausübt. Notwendigerweise ist dies ein willkürlicher Maßstab, weil zuverlässige Daten nicht vorhanden sind, aber wir können annehmen, daß die Kurve etwa ähnlich der Kurve in der zweiten Abbildung aussehen muß. Unser gegenwärtiger Stand in der Geschichte ist also einmalig — sowohl dargestellt durch das Bevölkerungswachstum als auch durch die Belastung der natürlichen Umwelt durch den einzelnen. Zu keiner anderen Zeit ist das Wachstum so rapide gewesen. Infolge der planetarischen Begrenzungen kann dieses Exponentialwachstum nicht andauern; an irgendeinem Punkt muß es sich wieder abflachen.

Lassen Sie mich jedoch betonen, daß diese zukünftige Umwandlung in eine transindustrielle Gesellschaft nicht vorhersagbar ist und nicht selbsttätig kommt, ja sie ist nicht einmal hochgradig wahrscheinlich. Alles was sich sagen läßt, ist, daß anscheinend eine Tendenz zu diesem Wandel besteht. Die Kräfte, die einen solchen Wandel hervorbringen könnten, wurden vor langer Zeit in Bewegung gesetzt und wirken sich auf unterschiedliche Weise aus. Wir können nur sagen, daß die Gesellschaft erste Anzeichen eines Versuchs der Umwandlung aufweist — selbst wenn die meisten Beteiligten sich nicht ganz klar darüber sind, was sie eigentlich antreibt. Trotzdem gibt es keine Gewähr dafür, daß diese bevorstehende Umwandlung sich vollkommen durchsetzen wird. Ebenso möglich sind verschiedene andere Abläufe: Unsere industrialisierte Gesellschaft könnte einfach verfallen. Ebenso wie die Zeit kam, in der die Römer ihre Aquädukte nicht mehr instandhalten konnten, so könnten wir an einen Zeitpunkt kommen, an dem wir weder den politischen Willen noch das technische Geschick aufbringen, unser hochkomplexes Industrie-system mit der Notwendigkeit ständiger Innovationen aufrechtzuerhalten.

Wenn sich eine Umwandlung dieser Größe anbahnt, warum ist sie dann nicht offenkundiger? Teilweise, weil der Handelnde in einem solchen historischen Drama an Kurzsichtigkeit leidet — er sieht die Vorgänge, aber nicht das Muster, das sie bilden. Überdies könnte unsere kollektive Angst vor der Zukunft uns veranlassen, unbewußt übereinzukommen, nicht die Bedeutung der heutigen Vorgänge einzusehen.

Verdrängt die Gesellschaft ihre wichtigsten Probleme?

Die Gesellschaften verhalten sich in mancher Hinsicht wie die Individuen; ihr Verhalten in der Krise zeigt einige Merkmale von Individuen unter Streß.

Das Phänomen ist in der Psychotherapie wohl-bekannt: der Patient leistet Widerstand und verdrängt gerade das Wissen, das er am meisten zur Lösung seiner Probleme braucht. Für die Gesellschaft als ganze besteht eine ähnliche Situation. Sowohl die Anthropologie als auch die Geschichtswissenschaft liefern überzeugende Beweise dafür, daß eine Gesellschaft dazu neigt, Wissen von sich fernzuhalten, das oberflächlich betrachtet den Status quo bedroht, während dieses Wissen bitter nötig wäre, um ihre grundlegendsten Probleme zu lösen. Dieser Umstand kann nicht genug betont werden. Die heutigen gesellschaftlichen Probleme verwirren uns nicht so sehr wegen der ihnen innewohnenden Komplexität als wegen des unbewußten Widerstandes, sie klar zur Kenntnis zu nehmen.

Der typische Neurotiker hat einen Lebensstil, der früher einmal ziemlich gut funktionierte — deshalb hat er ihn angenommen. Die Umstände haben sich jedoch geändert, und seine alten Verhaltensmuster wurden ungeeignet. Es wäre vernünftig von ihm, die Situation sorgfältig abzuschätzen, zu entscheiden, welche neuen Verhaltensweisen erforderlich sind, um sich entsprechend zu ändern. Aber gerade dies tut er nicht, weil die Erkenntnis der Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels für ihn allzu bedrohlich wäre. Statt dessen versucht er unbewußt, seine Situation vor sich selbst zu verbergen, und bleibt seinem alten Lebensstil um so fester verhaftet. Wenn sein neurotisches Verhalten in seiner derzeitigen Umwelt hinreichend unangemessen wird, kann er schließlich einen Nervenzusammenbruch erleiden. Dieser Tiefpunkt kann ihn so zwingend aus seinem gewohnten Verhalten heraustreiben, daß sich einfach etwas anderes ereignen muß. Mit Umsicht und Verständnis kann er eine grundlegende Überprüfung seiner Lebensweise vornehmen und sie auf eine neue Basis stellen. Etwas Ähnliches kann sich heute in der technisch fortgeschrittenen Welt ereignen. Wahrscheinlich kann niemand mit Sicherheit sagen, ob eine Umwandlung der Industriegesellschaft bereits begonnen hat — oder ob sie jemals eintreten wird. Wenn wir aber daran denken, daß die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit den Gang der heutigen Ereignisse formen kann, erkennen wir die potentielle Bedeutung des Bildes von einer transindustriellen Gesellschaft und der Einsicht in die Notwendigkeit des Übergangs. Diese Erkenntnis könnte entscheidend für das Eintreten einer konstruktiven oder einer destruktiven Entwicklung sein. Wenn wir die historischen Kräfte verstehen könnten, die eine tiefgreifende Umwandlung der Industriegesellschaft hervorzubringen scheinen, sind wir wahrscheinlich in der Lage, mit ihr fertig zu werden.

Wenn es im Wirklichkeit diese Kräfte nicht gibt oder sie nicht stark genug sind, werden Wünsche und Manipulationen keinen Wandel bewirken. Sind die Kräfte vorhanden, liegt es wahrscheinlich außerhalb unserer Macht, eine Umwandlung aufzuhalten. Gibt es die Kräfte aber und begreifen wir sie, so könnten wir in der Lage sein, uns mit ihnen auf solche Weise zu bewegen, daß der Wandel ein begeisterndes Erlebnis statt eines verheerenden Unglücks wird.

II. Das Problem der Kontrolle neuer Technologien

Abbildung 2

Vielleicht läßt sich die größte Herausforderung, der der Mensch heute gegenübersteht, in einer einzigen Frage zusammenfassen: Kann der Mensch, der heute ein vollendetes technisches Geschick entwickelt hat — der weiß, wie etwas zu machen ist —, die gleiche Fähigkeit entwickeln, weise diejenigen Dinge auszuwählen, die zu tun es lohnt? Diese Frage führt zu dem Problem: Wie können wir die gesellschaftliche Kontrolle über die Technik ausüben, ohne die individuelle Freiheit zu opfern?

Die industrialisierte Gesellschaft hat heute die Macht oder könnte sie doch bald entwickeln:

1. Die Eigenart unserer natürlichen Umwelt und der Pflanzen-und Tierwelt der Biosphäre in unbegrenztem Maß zu verändern.

2. Die physisch-psychischen Merkmale der individuellen menschlichen Körper und die evolutionäre Entwicklung des Menschengeschlechts überhaupt mittels biologischer und genetischer Eingriffe unbegrenzt zu ändern.

3. Die soziale und psychologische Umwelt einschließlich der geistigen und emotionalen Eigenschaften des Menschen drastisch umzugestalten *). 4. Mittels Waffen der Massenvernichtung große Teile der Menschheit zu vernichten und weite Gebiete der Erde zu verwüsten. 5. Auf viele andere Weise die Welt, die der nächsten Generation übergeben wird, signifikant zu verändern.

Diese Möglichkeiten sind so erschreckend, daß die technischen Voraussetzungen dafür gelenkt und kontrolliert werden müssen. Der Bevölkerung ist die Notwendigkeit einer Kontrolle der Technik durchaus bewußt. Die Proteste gegen Überschallflugzeuge, Entlaubungsmittel oder Luftverschmutzung und die ständigen Konflikte wegen Art und Umfang der Nutzung von Kernenergie sind Vorboten für weitere Auseinandersetzungen.

Es entsteht insofern ein Problem hinsichtlich technischer Kontrolle, weil nicht klar ist, wie über neue Techniken mehr Kontrolle ausgeübt werden kann (z. B. wer welche Techniken entwickeln und anwenden darf oder welche künftigen Einflüsse sie auf die Gesellschaft haben), ohne die grundlegenden Prinzipien des privaten Unternehmertums und unserer demokratischen Gesellschaft ernstlich zu gefährden.

Noch vor wenigen Jahren war technischer Fortschritt fast gleichbedeutend mit „Zivilisation". Die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik wurde als gleichmäßig verlaufender Prozeß mit Perioden der Beschleunigung und Perioden des Stillstandes und dann und wann einem großen Sprung nach vorn angesehen. In einer plötzlichen Wende begann dann im letzten Drittel dieses Jahrhunderts die Öffentlichkeit auf die Gefahren einer ungezügelten Technik aufmerksam zu werden. Die Menschen verlangten technische Zurückhaltung und mehr soziale Verantwortung. Während vordem technischer Fortschritt als eine unaufhaltbare Macht angesehen wurde, die fraglos Gewinn und sozialen Fortschritt mit sich brachte, erscheint jetzt eine neue Alternative möglich — die Ablehnung einiger technischer Entwicklungen wegen ihrer unerwünschten sozialen Folgen. Die neue Ära wurde in den USA durch die Entscheidung des amerikanischen Kongresses im Jahre 1971 eingeleitet, die Entwicklung von Transportflugzeugen mit Überschallgeschwindigkeit aufzugeben. Darüber hinaus signalisieren die Probleme der Überschallflugzeuge (Concorde) eine andere Einstellung neuer Technik gegenüber — es wurde nachdrücklich verlangt, daß sie öffentlicher Entscheidung im politischen Prozeß unterworfen werden müsse.

Technische Veränderungen sind im allgemeinen als ein wesentliches Element wirtschaftlicher Entwicklung aufgefaßt worden. Wirtschaftswachstum hängt von Produktivitätsfortschritten ab, die sich nur durch die Einführung neuer Techniken erreichen lassen. In allen Sektoren menschlichen Lebens hat die Technik den Bereich der Möglichkeiten für Verbraucher enorm erweitert, hat neue Horizonte der Kommunikation und des Verkehrs eröffnet, hat eine höhere Lebenserwartung und Linderung von Schmerzen bei Krankheiten gebracht. Trotzdem wird uns heute klar, daß die unkontrollierte Einführung neuer Techniken kein reiner Segen ist. Das zunehmende Bewußtsein von der zerstörerischen Wirkung der Technik hat nicht nur zu öffentlicher Unzufriedenheit und Ernüchterung, sondern auch zu politischen Konsequenzen geführt. Die Methode der Technikfolgenabschätzung In Zukunft werden noch stärker Nutzen und Vorteile der Technik gegen ihre Kosten und Nachteile abgewogen werden müssen. Mit anderen Worten: Man wird sich über die sozialen Folgen technischer Änderungen Rechenschaft geben. Diese Abwägung von Kosten und Nutzen wird von einem neuen Fach, dem „technology assessment", d. h.der Technikfolgenabschätzung, geleistet werden. Technikfolgenabschätzung ist eine systematische Analyse der gesellschaftlichen Folgen einer vorgeschlage-nen technischen Neuerung. Dazu gehört eine umfassende Darlegung der wahrscheinlichen Entwicklung der zu prüfenden Technik, wobei alle potentiell Betroffenen festgestellt, die unmittelbaren und mittelbaren Folgen in einer möglichst breiten und langfristigen Weise untersucht und vergleichende Bewertungen alternativer Technik zur Erreichung derselben technisch-wirtschaftlichen Ziele vorbereitet werden. Technikfolgenabschätzung läuft darauf hinaus, sorgfältig den ganzen Bereich künftiger Kosten und Vorteile, die mit der Entwicklung einer vorgeschlagenen Technik verbunden sind, abzuwägen. Diese Forderung einer Technikfolgenabschätzung weist auf einen grundlegenden Wandel in der öffentlichen Einstellung zu Wissenschaft und Technik hin.

Im Gegensatz dazu wurde in der Vergangenheit die Technik zumeist erst dann unter Kontrolle gebracht, nachdem ihre Nachteile so offenkundig wurden, daß öffentliche Besorgnis politischen Druck erzeugte (z. B. im Fall eines Tagebaus, von radioaktiven Niederschlägen, von DDT). Die Technikfolgenabschätzung versucht, rechtzeitig Warnsignale zu liefern. Wird die Technikfolgenabschätzung zu spät in Gang gebracht, dann könnte eine Technik bereits so weit entwickelt sein, daß sie schon Nachteile verursacht hat, oder sie könnte bereits eine solch massive Investition darstellen, daß die damit verbundenen Interessen eine weitere technische Entwicklung erzwingen.

Im anderen Extrem sei angenommen, daß die Abschätzung gemacht wurde, lange bevor die betreffende Technik voll entwickelt war. Falls die Analyse zeigen würde, daß die wahrscheinlichen sozialen Kosten größer als der erwartete Nutzen sind, sollten dann die Bürger auftreten und die Einführung der fraglichen Technik verhindern? Bejaht man dies, dann wird ein Glaube an die Genauigkeit der Analyse vorausgesetzt, der kaum gerechtfertigt ist. Überdies könnten Gelegenheiten für wichtige Lernvorgänge und neue Entdeckungen versäumt werden (bisweilen wird die Einführung einer Technik gerade zu dem Zweck befürwortet, weitere Entwicklungen anzuregen), überdies würde eine voreilige Kontrolle die Freiheit des Unternehmers ernstlich behindern. Eine Diktatur von Technokraten mag also ebenso töricht und sozial kostspielig sein wie die Folgen einer unkontrollierten, wildwuchernden Technik. Es ist klar, daß eine solche Diktatur keine Lösung ist, die mit der Erhaltung individueller Freiheit in Einklang stünde. Die Entscheidung darüber, ob eine neue technische Entwicklung gefördert oder verhindert werden soll, wird niemals leicht sein. Technik wirkt fast immer auf Gesundheit, Arbeitsplätze, Steuern, Wohnung, Erziehung und andere lebenswichtige Interessen einer Gruppe ein. Die derart betroffenen Gruppen oder Individuen fangen an, ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen zu verlangen. So ist z. B.der amerikanische Nationale Rat für öffentliche Technikfolgenabschätzung entstanden. Er ist eine gemeinnützige Organisation, die Bürgergruppen über neue Techniken und neue Verwendungen vorhandener Techniken informiert, bevor sie eingeführt werden. Solche Bürgergruppen könnten eine positive Kraft sein, die uns behilflich ist, Techniken zu entwickeln, die sozial wünschenswert, umweltfreundlich und wirtschaftlich effektiv zugleich sind. Es besteht jedoch die Gefahr, daß unser ganzes Innovationssystem paralysiert wird, wenn es notwendig würde, von allzu vielen autonomen Gruppen ein Einverständnis zu erhalten, bevor ein technisches Verfahren eingeführt werden kann.

Der wachsende Widerstand gegen die Vorstellung einer wild wuchernden technischen Entwicklung, die unter dem Banner des Fortschritts die Zukunft kommandiert, führt uns zu der Erkenntnis, daß wir auch eine Technikfolgenabschätzung durch die Technologen selbst brauchen. Das Leitbild bisheriger technischer-industrieller Fortentwicklung war, daß jede Technik, die entwickelt und angewandt werden könne, entwickelt und angewandt werden sollte. Dieser „technische Imperativ" stellte sich schließlich als pathogen, d. h. krankmachend, heraus. Wie der Zauberlehrling wissen wir nicht mehr, wie wir den Prozeß beherrschen können.

Besonders die eng miteinander verknüpfte Gesamtheit von Energie-, Umwelt-und Wirtschaftsfragen ist für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Diese Fragen bedingen poli-tische Entscheidungen, die letzten Endes vom ganzen Volk getroffen werden müssen und jeden einzelnen in Mitleidenschaft ziehen. Wir brauchen daher Institutionen, um eine wirksame Beteiligung der Bürger auf den frühen Stufen solcher Technikfolgenabschätzung zu ermöglichen. Diese Institutionen müßten sowohl lokal, regional, staatlich wie international organisiert sein. Sie müßten ferner ein höchst leistungsfähiges, miteinander verknüpftes Netzwerk bilden. Einige Teile dieses Netzwerkes müßten die Behörden auf verschiedenen Ebenen bilden; andere lägen in privaten und gemeinnützigen Bereichen; wieder andere basieren auf Freiwilligkeit (wie der vorerwähnte National Council of Public Assessment of Technology).

Im allgemeinen werden diese Institutionen zwei Aufgaben besitzen — Alternativen zu definieren und zu vergleichen, sodann die wünschenswerten Alternativen auszusuchen und anzunehmen. Erstere Aufgabe ist eine technische und erfordert erhebliche Sachkenntnisse und detaillierte Informationen. Tatsachen sind allerdings politisch nicht neutral, und die Organisation und Interpretation von Tatsachen gewiß auch nicht. Obgleich diese Arbeit technische Sachkenntnisse voraussetzt, sollten die Bürger sie dennoch nicht vertrauensvoll sachverständigen Eliten überlassen. Die zweite Aufgabe ist eher politisch und verlangt die Beteiligung der Bürger beim Zustandekommen einer notwendigen Aktion. Die wirkungsvollsten organisatorischen Formen für die Lösung dieser zwei Aufgaben müssen sich aber noch durch Versuche herausstellen. Es kommt grundlegend darauf an, die wirksamste Beteiligung der Bürger beim „Entwerfen der Zukunft" zu ermitteln und erproben. Diese Bemühungen könnten bei einigen Themen auf lokaler, regionaler Stufe stattfinden, bei anderen Themen auf internationaler Ebene.

Ein weiterer Aspekt ist besonders dringlich: Die Notwendigkeit, Methoden zu entwickeln, um die sozialen Kosten (z. B. durch Umweltverschmutzung, Rohstofferschöpfung, technisch verursachte Arbeitslosigkeit, übermäßige steuerliche Belastung öffentlicher Versorgungsbetriebe) und Nutzen (z. B. Erhaltung von nicht erneuerbaren Naturschätzen, verbesserte Dienstleistungen) in die Vergleichsrechnungen einzusetzen bezüglich der Entscheidung, ob eine neue Technik angewandt oder ein neues Produkt eingeführt werden soll, wobei natürlich auch die privatwirtschaftlichen Kosten und Nutzen beachtet werden müssen.

Diese Berücksichtigung öffentlicher Kosten und Nutzen beim privaten Entscheidungsfindungsprozeß ist die nächste Stufe über die Technikfolgenabschätzung hinaus. Steuern auf Abgase zur Verhinderung von Luft-und Wasserverschmutzung wären ein Beispiel — der einzelne oder das Unternehmen können frei entscheiden, ob sie die Umwelt verschmutzen; aber die dann zu bezahlende Steuer beeinflußt ihre Entscheidung.

Auf internationaler Ebene werden vor allem die multinationalen Unternehmen eine wichtige Rolle beim Planungsprozeß zu spielen haben. Die größten multinationalen Unternehmen, für die die nationalen Grenzen sehr durchlässig sind, besitzen eine größere wirtschaftliche Macht als die meisten Nationen. Mehr als die meisten anderen gesellschaft-liehen Institutionen haben die Multis ein handfestes Interesse an dem zukünftigen Wohlergehen der Weltwirtschaft. Sie besitzen die technischen und finanziellen Mittel und auch die potentielle Motivation, um zu einer besseren Planung für den ganzen Planeten beizutragen.

Sozialer und technischer Wandel in einer Demokratie Wie verändern sich Gesellschaften? Einige der mit der Technikfolgenabschätzung zusammenhängenden Problembereiche werden deutlicher, wenn wir ein einfaches Modell, das diese Frage berührt, betrachten: Die verschiedenen Elemente der Gesellschaft — Individuen, Gruppen, Unternehmungen und Regierungsbehörden — treffen fortwährend Entscheidungen, die wir Mikroentscheidungen nennen können. Diese Mikroentscheidungen wirken aufeinander ein und führen zu Makroentscheidungen, die die gesamte Gesellschaft beeinflussen. Das grundlegende Problem besteht nun darin, daß durchaus vernünftige einzelwirtschaftliche Entscheidungen, die allen Kriterien, die in der Vergangenheit gültig waren, standhalten, zu weitgehend unbefriedigenden Makroentscheidungen in der Gegenwart führen. Hier liegt ein prinzipielles Management-Problem der heutigen Industriegesöllschaft. Dies erkennen heißt innezuhalten, um die Ursachen herauszufinden, und sich auf die Suche zu machen nach der Art von Veränderungen, die den Entscheidungsprozeß wieder korrigieren könnten.

Adam Smith (1723— 1790) rechtfertigte in seinem Buch „Der Reichtum der Nationen" den Kapitalismus mit dem Anspruch, daß, wenn der Unternehmer „nur seinen eigenen Gewinn beabsichtigt ... er ... von einer unsichtbaren Hand geleitet wird, ein Ziel, das keinen Anteil an seiner Absicht hatte, zu fördern ... Indem er seinem eigenen Interesse folgt, fördert er häufig dasjenige der Gesellschaft wirkungsvoller, als wenn er es wirklich zu fördern vor-hätte". Heutzutage wissen wir, daß das Umgekehrte häufig ebenso wahr ist, denn Individuen entscheiden sich auf Grund ihrer eigenen kurzfristigen, unklugen Eigeninteressen anstelle ihrer langfristigen, aufgeklärten Eigeninteressen. Demgemäß braucht die „unsichtbare Hand“ eindeutig ein wenig Nachhilfe. Eine solche Hilfe hat seit Jahren in der Gestalt öffentlicher Kontrollen z. B. durch die . Kartell-gesetzgebung, durch Handelsbeschränkungen, durch steuer-und konjunkturpolitische Maßnahmen vielfältigster Art bestanden. Gleichwohl änderte sich nichts Grundlegendes am Entscheidungsprozeß des Managements.

Eine plausiblere Lösung wäre, erwünschte Makroentscheidungen auszusuchen und aus ihnen Mikroentscheidungen abzuleiten. Die Logik ist schlüssig: Es sollte möglich scheinen, angemessene nationale und globale Ziele auszusuchen und dann zu bestimmen, welche Art von Mikroentscheidungen notwendig sein würden, um jene Ziele zu erreichen.

Aber da ist wiederum ein Problem: In einer demokratischen Gesellschaft kann man Ziele — sogar wünschenswerte — nicht diktieren. Es gibt keine Reihe von höchsten Zielen, die, einmal gewählt, dann unzweideutig die Handlungen der Gesellschaft leiten. Vielmehr gibt es Bündel von Zielen, die sich häufig gegenseitig ausschließen oder teilweise miteinander im Konflikt liegen. Die Makroentscheidung, welche die Priorität festlegt, die jedem Ziel zukommt, ändert sich mit der Zeit und ist vielfach abhängig davon, wer im politischen Prozeß gewinnt; es gibt keine zeitlose Reihe von Prioritäten. Die Mikroentscheidungen, die notwendig sind, um die gewählten Ziele zu erreichen, müssen in erster Linie von einem Verständnis für die Zusammenhänge zwischen ihnen geleitet werden. Eine zwangsweise Durchsetzung richtiger Mikroentscheidungen durch Zwangsgebote oder Verhaltens-steuerung ist offensichtlich mit demokratischen Grundsätzen unvereinbar.

Eine Durchsetzung von Makroentscheidungen auf demokratischer Basis erfordert einen Lernprozeß in der ganzen Gesellschaft, damit die Menschen die Implikationen von Makroentscheidungen beurteilen und ihre eigenen individuellen Mikroentscheidungen in Übereinstimmung mit der Gesamtpolitik treffen können. Nichts anderes als diese Art von politisch-kulturellem und institutionellem Wandel wird das Problem lösen, wie ein angemessenes Technologie-Management erreicht werden kann, ohne wesentliche Entscheidungsfreiheit zu opfern.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Willis W. Harman, Professor an der Stanford-Universität/Kalifomien und Direktor des Center for Study of Social Policy am Stanford Research Institute; Berater des National Goals Research Staff des Weißen Hauses; 1958 George Washington-Preis der American Society for Engineering Education. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Zukunftsforschung und zur Analyse gesellschaftlicher Probleme.