Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Parlamentarisches System der Bundesrepublik Deutschland -Stärken und Schwächen. Tradition und Neubeginn | APuZ 44/1980 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 44/1980 Parlamentarisches System der Bundesrepublik Deutschland -Stärken und Schwächen. Tradition und Neubeginn Verbändestaat — oder was sonst? Vorschläge zu einer Parlamentsreform Die Verbeamtung der Parlamente. Ursachen und Folgen des Übergewichts des öffentlichen Dienstes in Bundestag und Landtagen

Parlamentarisches System der Bundesrepublik Deutschland -Stärken und Schwächen. Tradition und Neubeginn

Heinrich Oberreuter

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ganz gegen die Vorbelastungen deutscher Tradition hat der Bonner Parlamentarismus ausgeprägte Bereitschaft zur Verantwortung und dezidierten Willen zur politischen Führung entwickelt. Unter diesen Vorzeichen gelang die Korrektur von Defiziten der politischen Kultur wie auch die Rekonstruktion des politischen und sozialen Systems. Gleichwohl trifft das mitregierende Parlament vielfach auf Kritik, weil die Funktionsprinzipien und Kommunikationsmuster des parlamentarischen Regierungssystems weithin immer noch unverstanden bleiben. Der Bundestag hat sich jedoch innerhalb dieser Strukturen etabliert und trotz quantitativ wie qualitativ hoher Herausforderungen seine Position in Gesetzgebung und Kontrolle grundsätzlich behauptet. Anpassungs-und Wandlungsfähigkeit waren die Voraussetzungen dafür. Sie wurden infrastrukturell, personell und institutionell unter Beweis gestellt. Mancher kritische Maßstab, aus angeblich „klassischen" Zeiten abgeleitet, ist demgegenüber schlicht anachronistisch. Bedenklich stimmen jedoch kommunikative Schwächen, die sich aus der Verfachlichung und Spezialisierung der Parlamentsarbeit und ihrer mangelhaften Transparenz ergeben. Sie haben zu Verlusten an Dialogfähigkeit beigetragen. Inwieweit diese kompensiert werden können, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob eine gewisse Scheu vor tiefergehenden Reformmaßnahmen überwunden werden kann.

Der Parlamentarismus sieht sich in der politischen Kultur der Deutschen erheblichen Vor-belastungen ausgesetzt. Nicht nur, daß Parlamente „verspätete" Institutionen sind und, wo sie antraten, aufgrund ihres verfassungsrechtlichen „Kompetenzkostüms", das eher an des Kaisers neue Kleider erinnerte, in schier aussichtslose Konkurrenz zur längst etablierten und unbestritten leistungsstarken Exekutive gerieten. Darüber hinaus charakterisierte und diffamierte die politische wie wissenschaftliche Publizistik noch im späteren 19. Jahrhundert — dem Mythos des Staates, seiner Macht und der Einheit seiner Gewalt ebenso verfallen wie gegenüber den Auseinandersetzungen gesellschaftlicher Interessen und politischer Parteien verständnislos — den Parlamentarismus als Korruptionssystem, zu dem Deutschland kein Talent habe. Im monarchisch-exekutivisch geprägten Konstitutionalismus sah man einen besonderen deutschen Weg — substanziell und moralisch höherwertig als die parlamentarischen Systeme westlicher Demokratien. Ein solcher Weg sollte jedoch das Parlament keineswegs an die Schwelle der Macht heranführen.

Diese Tradition strahlte noch auf die Weimarer Republik aus. Denn in ihr liegen zunächst die Gründe für die Halbherzigkeit der Verfassungsentscheidung, welche sich die Demokratie als Parteien-und Parlamentsdemokratie nicht so recht vorzustellen vermochte. Fast noch wichtiger erscheint jedoch die Verhaltensprägung der in diesem System Agierenden durch eben diese Tradition. Wo institutionell kein Zwang zur Verantwortung für das Ganze ausgeübt wurde, vermochten sie sich gegenüber verengten Interessen in der Pflicht zu fühlen. In dieser Verantwortungsunlust liegt eine wesentliche Ursache für den wachsenden Schwund der Integrationskraft des po-Die beiden Beiträge von Heinrich Oberreuter und Jurgen Weberin diesem Heft sind Vorabdrucke aus uemin diesen Tagen in der„Schriftenreihe der Bun^zentrale für politische Bildung“ erscheinenden JBimelband „Bundesrepublik Deutschland und ätsche Demokratische Republik. Die beiden w r o u n tschen Staaten im Vergleich“, herausgegeben Eckhard Jesse. Eine Buchhandelsausgabe des erkes besorgt der Colloquium Verlag in Berlin. litischen Systems. Verantwortungsunlust und Integrationsschwund haben sich gegenseitig dynamisiert und den Zerfall der Republik mit heraufbeschworen. Weder von den historischen Voraussetzungen noch von der aktuellen Entwicklung her konnten Drang und Befähigung zu einem regierenden Parlamentarismus entstehen. Nicht zuletzt deswegen ist die Geschichte des Scheiterns der Weimarer Republik mit seinen tragischen Konsequenzen weithin auch eine Geschichte des Scheiterns des Weimarer Parlamentarismus.

In ihrem oft ausgesprochenen Bemühen, aus der Geschichte zu lernen, knüpften die Väter des Bonner Grundgesetzes genau hier korrigierend an. Strukturbildend erscheinen drei Entscheidungen:

1. Die Zuweisung des Legitimationsmonopols an das Parlament, das als einziges Staatsorgan unmittelbar aus dem Wählerwillen hervorgeht: dem demokratischen Prozeß bleiben dadurch institutionalisierte Nebenwege verschlossen. 2. Die Anerkennung der verfassungspolitischen Funktion der Parteien, welche ihr Wirken wenigstens normativ aus verdachtumwitterten Grauzonen herauslöst.

3. Die erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte konsequente Einführung des parlamentarischen Regierungssystems, das durch seine Exklusivaufgabe, Regierung zu bilden und stabil zu halten, das Parlament in die Verantwortung zwingt: im „konstruktiven Mißtrauensvotum", das den Regierungssturz nur durch die gleichzeitige Etablierung einer Alternative ermöglicht, gerinnt die verfassungspolitische Intention zur konkreten Norm. Welche Wirkung diese verfassungsrechtlichen Disziplinierungsversuche entfaltet haben, läßt sich sicher nicht verläßlich abschätzen. Wie immer man diese Frage auch beantwortet — man darf ihr gegenüber andere Entwicklungen, mentale Wandlungsprozesse nicht vernachlässigen. Zur Demokratie und zum parlamentarischen Regierungssystem als ihrer Organisationsform gab es keine Alternative; das war nicht nur so, es wurde auch so gesehen. Anders als je zuvor nahmen die Par-teien den Aufbau der zweiten Republik konsequent in die Hand und entwickelten ein ungebrochenes Verhältnis zur Verantwortung und zur Macht. Den Bonner Parlamentarismus prägt dies bis heute. Schwierigkeiten zur Bildung regierungswilliger Mehrheiten hat er im Grunde nie gekannt; wo sich — selten genug — Ansätze zu einer Krise entwickelten, stellten sich Wille, Wege und Techniken ein, sie zu überwinden. Der Bonner Parlamentarismus war von Beginn an ein zupackender, gestaltungsfreudiger, ein regierender Parlamentarismus. Eine historische Überraschung — und seine große Stärke bis heute. Mit dieser Mentalität hat er die Rekonstruktion dieses Gemeinwesens beflügelt, die Grundlagen der Demokratie gesichert, einen Rechtsstaat höchster Qualität geschaffen und soziale Sicherung sowie soziale Gerechtigkeit in hohen Graden angestrebt und bisher zu erhalten gewußt.

Der Mentalität der Bürger kam dies entgegen. Von Beginn an wurde in Untersuchungen festgestellt, daß deren Zustimmung zum System ganz entschieden von seiner Leistungsfähigkeit abhängt. Nicht zuletzt durch die Entfaltung solcher Leistungsfähigkeit bei der Konstruktion und Rekonstruktion eines politischen und sozialen Systems hat die Zustimmung zum Parlamentarismus in der Bevölkerung angesichts der historischen Vorbelastungen erstaunlich hohe Werte erreicht. Eine solche Korrektur tief eingewurzelter Defekte politischer Kultur kann für sich allein bereits Leistung und Stärke eines Parlaments darstellen.

Das mitregierende Parlament

Diese positive Vorabbilanz sagt nicht, daß es nicht auch eine Fülle von Kritik an den parlamentarischen Institutionen gäbe. Aber dies ist eine Kritik am Detail, nicht an den Fundamenten — von extremistischen Positionen abgesehen. Früher war das anders. Darüber hinaus steht solche Kritik, bisweilen klischeeorientiert und rückwärtsgewandt, oft genug auf schwachen Füßen. Das Kritikbedürftigste am Bonner Parlamentarismus sei die Kritik, die an ihm geübt werde, hat Ernst Fraenkel schon vor knapp zwei Jahrzehnten festgestellt: Es hat den Anschein, als ob er damit eine der wenigen Konstanten im sozialen Wandel benannt hätte. Ein Großteil dieser Kritik ist uninformiert, empiriefern und einfach nicht „up to date". So macht vielen, in ihrer Selbsteinschätzung scharfsinnigen Analytikern seit Jahr und Tag die enge politische Verflechtung, ja quasi institutioneile Verschmelzung von Mehrheitsfraktionen und Bundesregierung Beschwerden. Diese Verflechtung ist jedoch das verfassungspolitische Konstituans des parlamentarischen Regierungssystems schlechthin. Sie folgt aus der Pflicht zur Regierungsbildung. Was wäre für den demokratischen Prozeß gewonnen, wenn sich nach diesem Akt ein undurchdringlicher Vorhang zwischen Kabinett und Fraktion schlösse, an dessen dichtem Gewebe parlamentarisches Mitbestimmungsund Mitsteuerungsbegehren abprallte? Nichts. Im Gegenteil: Die Regierung tendierte zurück zur demokratisch nicht ständig legitimierten Obrigkeit. Offenbar fällt die Einsicht immer noch schwer, daß damit funktionell nichts verlorengeht. Nur verläuft die Front nicht mehr zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen regierender Mehrheit und Opposition.

Ebensowenig kann eine Schwächung des Parlamentes darin liegen, wenn es nur zu Teilen konsequenten Zugriff auf die Regierung und die Macht gewinnt. Im Vergleich zu früheren Zeiten der Machtlosigkeit kann darin nur eine Stärkung liegen, von welcher sogar die Opposition ein Zipfelchen erhascht, wenn sie im Wege der Kompromißbildung um breiter Mehrheiten willen ihre Positionen in die Entscheidung einzubringen weiß. Dieses Faktum parlamentarischer Parteiregierung ist vom Grundgesetz gewollt. Es ist vom Verfassungsgericht mit wachsender Konsequenz anerkannt worden, zuletzt mit zwingender Deutlichkeit in den beiden Urteilen über die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf und über das Recht der Untersuchungsausschüsse in Schleswig-Holstein. Entscheidend ist, daß aus der Funktion der Regierungsbildung im Zusammenhang mit dem vom Parlament verwalteten Legitimationsmonopol ein Anspruch auf parlamentarische Steuerung und Führung des politischen Systems folgt Daß im Laufe der Entwicklung der „Bonner Demokratie" der Begriff „parlamentarische Mitregierung" geprägt werden konnte, belegt, wie hartnäckig dieser Anspruch auch unter starken Kanzlern aufrechterhalten und eingelöst wurde. Darin liegt eine der größten Stärken des Deutschen Bundestages. Sie findet sichtbaren Ausdruck in der besonderen politischen Position des (der) Vorsitzenden der Mehrheitsfraktionfen), die weit gewichtiger ist als jene vieler sich mit Amt und Würden um den Kabinettstisch versammelnden Kollegen.

Parlamentarischer Führungsanspruch artikuliert sich zunächst gegenüber der Exekutive in engerem Sinn, und zwar dadurch, daß sie quaB lifiziertem Führungspersonal unterstellt wird. Solches Personal aus ihren eigenen Spitzen zu rekrutieren, hat — anders als in Weimar — in den letzten 30 Jahren den Mehrheitsfraktionen in Bonn keine nennenswerten Schwierigkeiten bereitet Die zögernde und daher späte Institutionalisierung der Parlamentarischen Staatssekretäre, die den Minister im Dickicht der Bürokratie unterstützen und ergänzen (und ihn nicht nur im Parlamentsplenum vertreten), unterstreicht diesen Führungswillen.

Nichts ist jedoch gewonnen, wenn die in die Regierung delegierten Parlamentarier sich verselbständigen. Das parlamentarische Regierungssystem verlangt die Herausbildung von Interaktionsmustern und Kommunikationsstrukturen, mit deren Hilfe die parlamentarische Basis ihren Mitbestimmungsanspruch ständig aktualisieren kann. Sicher führt die Regierung — und sie hat es in diesen dreißig Jahren fast immer getan: aber die Gefolgschaft ist nicht blind — und sie ist es in diesen dreißig Jahren nie gewesen. Leider bleiben diese Kommunikations-, Koordinierungs-und Kompromißbildungsprozesse, die im Schoße der Mehrheit stattfinden, der Öffentlichkeit verborgen. In ihnen entfaltet sich durchaus so etwas wie parlamentarische Macht. Es wird ausgelotet, was der Basis zumutbar ist, es werden Handlungsspielräume der Regierenden auf der Basis der gemeinsamen politischen Zielvorstellungen eingegrenzt und Initiativen entwickelt.

Natürlich liegen diese Thesen quer zur ebenso permanenten wie phantasielosen, gleichwohl zur Tradition gewordenen Beschwörung der Krise des Parlamentarismus. Sie verkennen auch nicht die Herausforderungen, denen er sich ausgesetzt sieht: den Informationsbestand und den geballten Sachverstand der Ministerialbürokratie, die Agilität organisierter Interessen und die neue Spontaneität von Gruppen, welche ihre Integration in die üblichen Strukturen des Willensbildungsprozesses wenn überhaupt nur mit Schwierigkeiten vollziehen. Aber sie beruhen auf Beobachtung und Erfahrung — mithin auf der Wirklichkeit und weniger auf Meinungen über das, was Wirklichkeit sein solle. Gewiß liegt im Aufgabenzuwachs in Gesetzgebung und Kontrolle, den der moderne Sozialstaat, der zugleich Rechtsstaat sein muß und der sich auf eine immer weiter verästelnde Leistungsverwaltung stützt, kein bloßer Gewinn; denn ein solch quantitativer Zuwachs kann ohnehin erdrükken, erst recht wohl in Verbindung mit dem Qualitativ gewandelten Anspruch, ein hoch differenziertes und komplexes soziales und Politisches System zu durchschauen und seinen Normbedarf zu befriedigen. Das Parlament hat — man mag es ihm vorwerfen — an dieser Entwicklung willig mitgewirkt. Es hätte sich also gleichsam selbst erdrückt. Aber zu solchen Schlüssen kann nur globale Betrachtungsweise verleiten, die hinter der Fülle das Wesentliche nicht mehr sieht. Es ist absolut nicht wesentlich und wäre sogar falsch, politische Führungskunst in Materien investieren zu wollen, deren parlamentarische Behandlung der Rechtsstaat zwar erzwingt, die de facto aber nicht einmal politischer Betrachtungsweise zugänglich sind: ein Gesetz über die Bekämpfung der Dasselfliege zum Beispiel. Solche „Fliegen" machten formell den größten Teil der Arbeit aus, wenn sich das Parlament nicht standhaft weigerte, sich mit ihnen zu beschäftigen. Es läßt sie quasi durchlaufen. Die Frage nach politischer Führung kann sich nur stellen im Zusammenhang mit Materien von politischer Bedeutung. In diesem Zusammenhang hat sich eindeutig gezeigt, daß solche Führung in Gesetzgebung und Kontrolle nicht nur grundsätzlich möglich und intakt geblieben, sondern auch erfolgreich ausgeübt worden ist. Nicht eine einzige der vorliegenden Fallstudien vermöchte das Gegenteil zu beweisen. Diese grundsätzlich intakte Führungsfähigkeit besitzt für die Struktur der Beziehungen zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung große Bedeutung, weil sie sich jederzeit und allerorts, lediglich abhängig von politischer Sensibilisierung, aktualisieren kann, auch dort, wo im Alltag in der Regel die Zügel locker gelassen werden. Dieser Tatbestand relativiert die sicher auch richtige Einsicht, daß solcher Zugriff nicht lückenlos, ständig und überall zugleich präsent sein kann. Aber die prinzipielle Möglichkeit schwebt als Damoklesschwert über allen Aktionen. So gibt es keine strukturellen Hindernisse, sondern allenfalls solche, die im Rollenverständnis und in der politischen Sensibilität der Parlamentarier begründet sind. Die Frage lautet also nicht, ob sie überhaupt können, wenn sie wollen, sondern ob sie wollen, wenn sie sollten. Soweit die Antwort unbefriedigend ausfällt, betrifft das nicht das parlamentarische System, sondern Akteure, die in ihm wirken. Solche Positionsbehauptungen im Wandel setzten die Anpassungsfähigkeit der Institution und ihre Wandlungsfähigkeit entsprechend den modernen Herausforderungen voraus. Hier fallen infrastruktureile, personelle und institutioneile Ansätze ins Auge: Infrastrukturell stützte sich das Plenum mehr und mehr auf ein sich frühzeitig und stark differenzierendes System beratender Entscheidungsvorbereitung, das sich nicht allein in der Aufgliederung in zahlreiche fachspezifische Ausschüsse erschöpft. Viel weniger bekannt ist die arbeitsteilige Organisation der Fraktionen, in welcher sich zunehmend mehr spezialisierte Abgeordnete entfalteten. Fraktionsinterne Arbeitsgruppen, die mit der Ausschußgliederung des Parlaments korrespondieren, und Arbeitskreise, welche versuchen, zusammenhängende Teilbereiche der Politik zu koordinieren, bilden ihr heute fast wichtigstes Betätigungsfeld. Parallel dazu entstanden bibliothekarische und wissenschaftliche Hilfsdienste, die inzwischen quantitativ und qualitativ hohes Niveau erreicht haben und durch ihre Zuarbeit zusätzlich Informationen bereitstellen. Hier liegen organisatorische Voraussetzungen für die Behauptung parlamentarischer Kompetenz.

Personell trat mehr und mehr ein neuer Typ des Abgeordneten in den Vordergrund. Die Honoratioren sind verschwunden. Ersetzt haben sie Beamten-und Managertypen, die mit einer solchen Infrastruktur auch umzugehen wissen. Rhetorischer Glanz mag dabei auf der Strecke geblieben sein. Aber man darf ein Dekor nicht mit der Sache verwechseln: Das moderne Parlament, mit konkreten Aufgaben und Kompetenzen überbürdet, muß sich existenziell auf anderen Gebieten beweisen und behaupten, wenn der politische Prozeß ein demokratischer bleiben soll.

Institutionell spielte sich der stärkste Wandel ab, ein Wandel auch parlamentarischen Selbstverständnisses, der im Dienste dieser Selbstbehauptung steht. „Klassische" Interpretationsmuster verfehlen die moderne Wirklichkeit. Sie berücksichtigen zum Beispiel nicht, daß als Folge der Entscheidung für das parlamentarische Regierungssystem im Parlament keine homogenen Interessen mehr gegenüber der Regierung bestehen. Die Mehrheit nimmt selbst gouvernementalen Charakter an — stärkster Ausdruck von Führungsaufgabe und Führungswille. Dies befreit aus bloß negatorischen Positionen und eröffnet politische Gestaltungschancen. Herkömmliche Funktionsbereiche wurden dadurch dynamisiert. So hat etwa Kontrolle als nachherige Aufsicht über fremde Amtsführung mehr und mehr an Bedeutung verloren, was im übrigen auch im Zusammenhang mit der gewandelten Legitimationsgrundlage der Regierung zu sehen ist, die ja nicht mehr außerhalb des Parlaments steht.

Kontrolle wird heute komplexer begriffen und angereichert mit Elementen präventiver Steuerung und Kooperation. Sie versteht sich als „Zusammenwirken verschiedener Instanzen auf ein gemeinsames Ziel" (R. Bäumlin). Darauf trifft der Begriff parlamentarischer Mitregierung am besten zu — wie übrigens auch auf die Gesetzgebung, in welcher Beschränkung und Konzentration auf politisch Wesentliches der gestalterischen Intention Raum gibt. Beides hat mit Steuerung zu tun. Die Praxis hat diesen Wandel wenig reflektiert, um so deutlicher jedoch vorweggenommen. Und dies zu Recht, denn gerade wenn ihre Rechte und ihre Position verteidigt werden sollten, mußten Parlamente und besonders ihre Ausschüsse mehr regulierend, also richtungweisend, als im nachhinein „kontrollierend" agieren, weil die überkommene nachträgliche Intervention heute angesichts der geschaffenen Tatsachen und ihrer Verspannung in das soziale Ganze vielfach ohne Effekt bliebe. Andernfalls wäre, wie es ein Autor sagt, Gewalt nicht mehr geteilt, sondern im Laufe dieser dreißig Jahre die Macht des Bundestags zum Verschwinden gebracht worden.

Man wird unschwer erkennen können, wie eng diese infrastruktureilen, personellen und institutioneilen Wandlungsprozesse aufeinander bezogen sind und wie sie sich gegenseitig abstützen. Sie haben sich nicht herausgebildet als Ergebnisse neuerer theoretischer Überlegungen, sondern über die Jahre hinweg Zug um Zug als pragmatische Entwicklungsschritte. Aber sie scheinen einen gemeinsamen Fluchtpunkt zu besitzen, der den Bonner Parlamentarismus von seinen historischen Vorläufern von Beginn an unterschied und auszeichnet: den Willen zu Verantwortung und zur politischen Führung des Staates.

Kommunikative Schwächen

Den Preis für seine Behauptung von Kompetenz und Effizienz hat das Parlament mit der Beeinträchtigung seiner kommunikativen Position entrichten müssen. Sie folgt aus der hohen Differenzierung des parlamentarischen Willensbildungsprozesses, dessen formale Struktur — Ausschußphase und Plenardebatte — von einer informellen überlagert wird, die gleichwohl längst als innerfraktionelle Willensbildung institutionelle Züge (spezialisierte Arbeitskreise, Arbeitsgruppen, Fraktionsvorstand, Fraktionsplenum) trägt und ihren spontanen Charakter nur noch im interfraktionellen Bereich bewahrt hat. Die — formelle und informelle — parlamentarische Willensbildung spielt sich auf vier Ebenen ab: innerfrakB tionell, interfraktionell, innerinstitutionell (= innerparlamentarisch: Ausschüsse) und öffentlich. Schon daraus ergibt sich eine quantitative und qualitative Reduzierung der öffentlichen Phase, eine Reduzierung, die dem normativen Postulat nach einem Evidenz und Effizienz optimierenden Funktionsmodell des Parlaments widerstreitet. Dies gilt für die Parlamentsarbeit generell, zumal „Verfachlichung" und Spezialisierung ihr von vornherein öffentliche Attraktivität entziehen.

Die überkommenen Verfahrensstrukturen neue vermindern und der Arbeitsstil gemeinsam die Chancen öffentlicher Ausstrahlung. So steht die Leistungsentfaltung in Gefahr, leer zu laufen, weil es nur mit Einschränkung gelingt, sie in kommunikativem Kontakt zur Öffentlichkeit vermitteln. Als Legitimationsorgan ist hier das Parlament in seinem Kern getroffen. Wenn es sich selbst nur eingeschränkt zu vermitteln vermag, dann kann auch die ständige Verschränkung parlamentarischer und vorparlamentarischer Willensbildung, aus der demokratische Legitimität fließt, nicht nahtlos gelingen. Die Gefahren hat man stets gesehen. Insbesondere bei der „Kleinen Parlamentsreform" von 1969 wurden mehrere Maßnahmen zur Verbesserung der Beziehungen zur Öffentlichkeit diskutiert und beschlossen — sogar die fakultative Öffentlichkeit der Ausschußarbeit. Seither aber wurde diese Geschäftsordnungsbestimmung durch Nichtanwendung — so wie in den ersten beiden Jahrzehnten weitgehend das Institut der Hearings — wirksam boykottiert. Fragt man nach den Schwächen, so ist dieser zumindest teilweise selbstverschuldete Verlust parlamentarischer Anteile an der politischen Kommunikation zuerst zu nennen.

Auf einer anderen — wenngleich in Ursache und Wirkung sehr verwandten — Ebene liegt eine zweite Schwäche: ein Verlust an Dialogfähigkeit. Es scheint, als ob Parteien und ihre Fraktionen im Parlament sich im Getriebe politischer Routine „verkrallt", vergraben und verausgabt hätten. Dabei sind die erbrachten Leistungen nicht hoch genug zu veranschlagen. Schließlich sind Aufbau und Steuerung eines derartigen Systems und die Bewältigung seiner Probleme alles andere als Bagatellen. Gerade diese hohe Problemlösungskapazität hat neue entstehen lassen beziehungsweise Raum dafür gegeben, solch andere Probleme zu sehen. Sie erfordern neue Antworten, für die das Gehäuse des üblichen jedoch zu eng zu sein scheint.

Zur Leistungsentfaltung ständig herausgefor-dert, hat dieses Parlament vielleicht gerade in den letzten Jahren nicht deutlich gesehen, was zumindest starke Gruppen in der Öffentlichkeit bewegt, geschweige denn, daß es dies diskutiert und mit bündigen Antworten bedacht hätte. So sind wichtige Positionen und Themen außerhalb des parlamentarischen Systems artikuliert und besetzt worden, und in dem entstandenen Vakuum haben sich Kräfte etabliert, die oft genug gar nicht so sehr an diesen Fragen, sondern an der Beseitigung eben dieses parlamentarischen Systems interessiert sind. Selbst wo solche Themen angesprochen wurden, hat sich die Vermittlung in den eben genannten strukturbedingten Schwierigkeiten verfangen. Schaut man hinter die Beruhigung ausstrahlenden globalen demoskopischen Befunde, so zeigen sich durchaus Spaltungstendenzen unserer politischen Kultur. Und stellt es sich gegenwärtig sehr deutlich die Frage, wie Minderheiten — es handelt sich dabei zumeist um Angehörige der jüngeren Generation, mit einem hohen Maß an Bildung einerseits und mit der Bereitschaft zu politischem und sozialem Engagement andererseits ausgestattet und damit für die Zukunft dieses Systems — vonnöten zurückgewonnen werden können. Dialogfähigkeit dürfte die erste Voraussetzung dafür sein.

Als dritte Schwäche bleibt eine gewisse Scheu vor Reformen zu nennen. Gewiß hat sich in diesen dreißig Jahren etliches verändert. Vieles davon sehr spät und in nur schwach ausgeprägtem Selbstbewußtsein gegenüber einer in Kostenfragen an falscher Stelle widerständigen Öffentlichkeit. Das meiste bewegt sich auf der Ebene pragmatischer Antworten auf neue Herausforderungen oder auch nur auf der Ebene der Beseitigung unerträglich gewordener Mängel. Daß auch Abgeordnete und Parlamentsbedienstete das Recht auf einen menschenwürdigen Arbeitsplatz besitzen, dies konnte über Jahre hinweg ernsthaft als „Reformmaßnahme" diskutiert werden. Angesichts solcher Grundtendenzen wundert es nicht, daß viele Korrekturen und manche Geschäftsordnungskosmetik — zuletzt das Reformpaket des Jahres 1969 — an der Arbeit des Parlaments und ihrer Darstellung nach außen wenig oder nichts geändert haben. Ein ähnliches Schicksal wird auch der Geschäftsordnungsrevision von 1980 widerfahren, die gewiß den Namen „Reform" nicht verdient. Strukturfragen, wie etwa die Sicherung der Kommunikationsfähigkeit oder die Stärkung der Opposition als Widerpart zur regierenden Mehrheit, blieben sorgsam ausgepart.

Auf Eis gelegt wurden die etwas weitergehenden Überlegungen der Enquetekommission Verfassungsreform, die gewiß beabsichtigen, das Parlament zu stärken: aber Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, mag eben dieses Parlament nicht erübrigen. Von der Beantwortung solch weiterführender Fragen hängen jedoch Glaubwürdigkeit wie Legitimationskraft des parlamentarischen Systems und damit seine Zukunft ab.

Literatur:

Eckhard Jesse, Das parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland. „Informationen zur politischen Bildung" der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 119/124 (Neuauflage), Bonn 1980. Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1969.

Heinrich Oberreuter, Kann der Parlamentarismus überleben? Bund — Länder — Europa, 2. Aufl„ Zürich 1978.

Heinz Rausch, Bundestag und Bundesregierung. Eine Institutionenkunde, 4. Aufl., München 1976. Uwe Thaysen, Parlamentarisches Regierungssystem in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Opladen 1976.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Heinrich Oberreuter, Dr. phil., geb. 1942; o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte, Kommunikationswissenschaft und Soziologie; 1968— 1972 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München; 1970 beim Deutschen Bundestag; 1972— 1978 Wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter am Geschwister-Scholl-Institut; 1978 bis 1980 Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin; 1974 Preis der Bayerischen Landesregierung; seit 1971 Mitglied des Vorstandes der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen. Veröffentlichungen u. a.: Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, Hamburg 1975 (Hrsg.); Parlament und Regierung. Ein Vergleich dreier Regierungssysteme, München 1977 (mit E. Hübner); Kann der Parlamentarismus überleben? Bund — Länder — Europa, Zürich 19782; Notstand und Demokratie, München 1978; Parlament und Parlamentsreform, München 19792 (mit Hans Maier u. aj; Freiheitliches Verfassungsdenken und Politische Bildung, Stuttgart 1980 (Hrsg.); Pluralismus — Grundlegung und Diskussion, Opladen 1980 (Hrsg.).