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Audiatur et altera pars Dreifache militärpolitische Lagebeurteilung | APuZ 3/1981 | bpb.de

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APuZ 3/1981 Audiatur et altera pars Dreifache militärpolitische Lagebeurteilung Kriegsgefahr und Kriegsverhütung in den 80er Jahren Krieg oder Frieden in Europa?

Audiatur et altera pars Dreifache militärpolitische Lagebeurteilung

Alois Riklin

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine der Voraussetzungen für eine Ethik der Sicherheitspolitik ist die möglichst unparteiische Ermittlung der Interessen und Bedrohungsbilder der Konfliktparteien. Nach westlicherAuffassung ist die militärpolitische Lage der frühen achtziger Jahre durch vier Rüstungslücken gekennzeichnet, nämlich in bezug auf das interkontinentale Nuklear-potential, das kontinentaleuropäische Nuklearpotential, das konventionelle Kräfteverhältnis in Mittel-und Nordeuropa und die Aktionsfähigkeit des Westen im Vorderen Orient Aufgrund der seit der Mitte der sechziger Jahre forcierten sowjetischen Aufrüstung und der darauf abgestützten aggressiveren Außenpolitik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten ist es den kommunistischen Staaten in den siebziger Jahren gelungen, acht afroasiatische Länder unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach sowjetischer Auffassung ist diese Lagebeurteilung eine absichtsvolle Übertreibung, um die westliche „Nachrüstung" zu legitimieren. Sie ignoriere die Drei-Fronten-Situation der UdSSR, die sowjetischen Rückschläge in Afrika und Südostasien sowie den rüstungstechnologischen Vorsprung des Westens. Nach Auffassung des Verfassers sind das militärische Gleichgewicht in Europa und die Ölversorgung der westlichen Industriestaaten tatsächlich gefährdet. Militärische Gleichgewichtspolitik ist eine notwendige, aber keine hinreichende Friedenssicherungsstrategie. Als mögliche Auswege aus dem Teufelskreis von Gleichgewichtspolitik, Unberechenbarkeit der Macht, Rüstungswettlauf und „Worst-case'-Denken empfiehlt er die Fortsetzung des Versuchs zur begrenzten Gleichgewichtspolitik, die Förderung der Verteidigungstechnologie und damit der bedrohungsfreien Sicherheitspolitik sowie die Ergänzung des Bedrohungsdenkens durch das Chancendenken.

Fassung eines Vortrages im Rahmen von Tagungen des Schweizerischen Aufklärungs-Dienstes im Ausbildungszentrum Wolfsberg vom 28. März 1980 sowie der Europa-Union Schweiz in der Universität Basel vom t. November 1980. Ich danke meinem MitarbeiterHerrn lic. rer. publ. Ernst Zehnder für die Ausarbeitung der Tabellen.

Tabelle 2: Der SALT-II-Vertrag

Denn wenn wir imstande sind, nach beiden Seiten Bedenken zu erheben, werden wir leichter erkennen, was hier und was

Abb. 4: Sowjetkommunistische Expansion in Afrika und Asien in den 70er Jahren

dort wahr oder falsch ist.“

Tabelle 3: Interkontinentales Nuklearpotential 1979/80

Quellen: The Military Balance 1979-1980, ed. by The International Institute for Strategie Studies, London 1979. — SIPRI Yearbook 1979, World Armaments and Disarmaments, ed. by Stockholm International Peace Research Institute, London 1979.

Aristoteles

Tabelle 4: Kontinentales Nuklearpotential in Europa 1979/80

Quelle: B.W.B Menaul SALT II: The Eurostrategic Imbalance, in: Conflict Studies 104/1979.

In der griechischen Mythologie stoßen wir auf folgende Sage: Einst wollte Zeus, der Vorsitzende der Götterversammlung, den Mittelpunkt der Welt ausfindig machen. Zu diesem Zweck setzte er zwei Adler an die beiden Ränder der Erde und ließ sie aufeinander zufliegen. Sie trafen sich über Delphi. Fortan verehrten die Griechen Delphi als Erdmitte, als einen Ort, wo sich Himmel und Erde, Götter und Menschen nahe kommen. Sie errichteten ein Heiligtum mit Tempeln, Schatzhäusern, Theater und Stadion. An der heiligen, der Erdmitte entspringenden Quelle Kastalia reinigten sich die pilgernden Staatsmänner aus aller Welt, bevor sie die heilige Straße zum Tempel Apollons, des Gottes der Musen und der Weissagung, emporstiegen und das Orakel über Krieg und Frieden befragten. Die Orakelpriesterin Pythia ließ sich durch die berauschen-Überarbeitete den Dämpfe aus dem Erdenschlund in Trance versetzen. Den Musenberg Parnassos, der die heilige Stätte von Delphi wie ein natürliches Amphitheater umschließt, verehrten die Griechen als den Nabel der Erde. Ein Bildhauer schuf eine meterhohe Nachbildung davon. Dieses steinerne Symbol des Erdnabels, des Omphalos, dessen hellenistische oder römische Kopie heute im Museum von Delphi steht, wurde im Apollontempel neben dem inneren Opferaltar und der Orakelhöhle aufgestellt und, wie der Nabel des Säuglings, mit einer heiligen Binde geschützt und regelmäßig mit geweihtem öl einbalsamiert.

Tabelle 5: Konventionelles Militärpotential in Mittel-und Nordeuropa 1979/80

Quelle: Military Balance 1979-1980, ed. by The International Institute for Strategie Studies, London 1979.

Was soll diese skurrile und scheinbar abwegige Einleitung? Natürlich weder das Matterhorn zum Nabel der Welt erküren noch Orakelsprüche über Krieg und Frieden beschwören, sondern die Relativität der Weltbilder hüben und drüben bewußt machen.

Abb. 5: Landgestützte interkontinentale Nuklearraketen USA/UdSSR

Quelle: The Military Balance 1960/61-1979/80. ed. by The International Institute for Strategie Studies, London 1960 ff.

Abb. 6: Seegestützte Nuklearraketen USA/UdSSR 1960-1979

Quelle: The Military Balance 1960 61 -1979 80. ed. by The International Institute for Strategie Studies. London 1960 ff.

Der Mensch neigt offenbar dazu, sich selbst, sein Land, seinen Kulturkreis für das Zentrum der Welt zu halten. Die Idee einer kosmischen Mitte und des darüber sich erhebenden Welt-berges ist über den ganzen Erdball verbreitet. Sie gehört zu den Archetypen menschlichen Seins. „Mythologien und Religionen betrachteten jeweils das Zentrum ihres kulturellen und geistigen Wirkens zugleich auch als die heilige Mitte der ganzen Erde, als Nabel der Erde, um den sich die Länder der profanen Welt gruppierten." Die Griechen hatten ihren Omphalos, die Inder hielten den Berg Meru für den Erdnabel, die Sumerer den Berg Sumer, die Israeliten den Felsen von Hebron und die Japaner den Fudschijama. China verstand sich als „Reich der Mitte" mit dem Kaiserpalast in Peking als dem Zentrum der Welt. Für die Römer und die katholische Kirche war Rom der Mittelpunkt der Erde. Im Oströmischen Reich galt Konstantinopel als das zweite Rom, im Russischen Reich Moskau als das dritte. Für das Britische Weltreich bildete selbstverständlich die britische Insel das Zentrum der Welt. Die gebräuchlichsten Weltkarten zeigen bis heute ein unwirklich vergrößertes Europa als Mittelpunkt der Erde. Und selbstredend bezeichnen die Schweizer ihr Land gern als „Herz Europas".

Abb. 7 : Interkontinentale Nuklear-bomber USA/UdSSR

Quelle: The Military Balance 1960/61 -1979/80. ed. by The International Institute for Strategie Studies. London 1960 ff. 1979

Wenn also die Generalstäbe aller Länder die militärpolitische Lage an je verschiedenen Kartenbildern demonstrieren, in denen das eigene Land jeweils eingemittet ist, so steckt dahinter mehr als nur die rationale und banale Feststellung, daß sich jedes Land oder Bündnis eben um seine eigene Sicherheit in seinem eigenen geographischen Umfeld kümmert. In den tieferen, meist unbewußten und irrationalen Schichten von Menschen, Nationen, Kulturen, Religionen und Ideologien nisten introvertiert-egozentrische Grundhaltungen, welche für die eigenen Interessen offen, jedoch für die Interessen anderer blind sind, wenn sie nicht ganz bewußt aus der Verdrängung ans Licht geholt werden. So prägt das Vorverständnis, wonach die ganze Welt sich um einen dreht, das kartenmäßige Weltbild und dieses wiederum verstärkt das vorgeprägte Bewußtsein — auch eine Art der Schweigespirale

Abb. 8 Nukleare Sprengköpfe USA/UdSSR

Quelle: SIPRI Yearbook 1977 und 1979. World Armaments and Disarmaments, ed. by Stockholm International Peace Research Institute. Uppsala 1977. London 1979 respectively.

Die folgende Analyse ist ein Versuch, gleich, sam von einem überhöhten dritten Standort aus den Nabelbeschauern in Ost und West bei ihrem Geschäft kritisch zuzusehen. Hinter diesem Versuch steht letztlich eine ethische Fragestellung. Wenn der Mensch im Sinne von Adam Smith kraft seiner Vernunft die Fä. higkeit zum unparteiischen Beobachter be. sitzt die Fähigkeit zu denken, was der andere denkt dann müßte eine erst noch zu entwickelnde Ethik der Sicherheitspolitik hier einsetzen. Gerade bei militärpolitischen Lage, beurteilungen wird allzu oft Max Webers For.derung vernachlässigt, unbequeme Tatsachen anzuerkennen; denn „es gibt für jede Partei meinung ... solche äußerst unbequeme Tatsachen" „Selten liegt alles Unrecht auf einer Seite", schreibt Raymond Aron und fährt fort: „Die erste politische, aber auch moralische Pflicht ist, die internationale Politik zu sehen, wie sie ist, damit jeder legitimerweise mit seinen eigenen Interessen beschäftigte Staat nicht völlig blind für die Interessen der anderen ist."

Bedrohung aus westlicher Sicht

ABKÜRZUNGEN

Die traditionelle Sicherheitspolitik denkt in der Kategorie möglicher Bedrohungen und konzentriert sich in diesem Rahmen möglicher Bedrohungen mit Vorliebe auf die schlimmsten Fälle. Traditionelle Sicherheitspolitik ist angewandter Pessimismus.

Abb. 9: Landgestützte kontinentale Nuklearraketen in Europa (500-4000 Meilen) 1972-1979

Quelle The Military Balance 1972/73-1979/80. ed. by The International Institute for Strategie Studies. London 1972 ff.

Wählen wir zum Einstieg diesen Ansatz und fragen wir uns, wie ein Pessimist im schweizerischen Nachrichtendienst die weltpolitische Lage Anfang 1980 etwa sehen konnte. Dabei wähle ich nur Argumente, die mir berechtigt erscheinen. Es geht mir in keiner Weise darum, den Standpunkt eines pessimistischen Sicherheitspolitikers des Westens zu verzerren oder zu karikieren.

Abb. 10: Kontinentale Nuklearbomber in Europa 1972 -1979

Quelle: The Military Balance 1972/73-1979/80

Wahrscheinlich würde unser Gewährsmann aus dem Berner Nachrichtendienst anknüpfen an das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben: Eine Demonstration sowjetischer Stärke in Afghanistan und eine Demonstration amerikanischer Schwäche im Iran. Und er würde dies wahrscheinlich interpretieren als Symptome einer neuen Lage der geschwächten strategischen Position der USA und der gestärkten strategischen Position der UdSSR. Die Schwächung der westlichen Positionen im Vorderen Orient wird krass vor Augen geführt, wenn wir sie mit der Situation um 1955 vergleichen (Abb. 1). Damals dämmte der mit dem Westen liierte Gürtel der CENTO-Pakt-Staaten Türkei, Irak, Iran und Pakistan die sowjetische Expansion ein. Heute ist der CEN-TO-Pakt praktisch tot, während die sowjetische Kontrolle auf Afghanistan, Südjemen und Äthiopien ausgeweitet worden ist. Die Tage um Neujahr 1980 sind ein historisches Datum: Denn zum ersten Mal .seit 1948 hat die Sowjetunion außerhalb des bisherigen Sowjetimperiums mit eigenen Kampftruppen gewaltsam interveniert. Ein bisher blockfreies Land, das noch vor kurzem von sowjetischen Sprechern als Muster der Koexistenzpolitik gepriesen worden ist, wurde in das Sowjetimperium integriert. Damit ist der bisherige Koexistenzraum reduziert und der bisherige Bre-schnew-Doktrin-Raum ausgeweitet worden. Was gilt nun für das ebenfalls als Koexistenz muster empfohlene neutrale Gegenstück im Norden: Finnland? Ganz zu schweigen vom blockfreien Jugoslawien, das die Sowjetunion niemals explizit aus dem Breschnew-Doktrin-Raum ausgenommen hat?

Abb. 11: Mannschaftsbestände NATO/WAPA in Mittel-und Nordeuropa

Quelle: The Military Balance 1969 70 -1979 80. ed. by The International Institute for Strategie Studies. London 1969 ff.

Unser Gewährsmann aus dem Berner Nachrichtendienst würde sodann vermutlich auf vier Lücken der westlichen Gegenmacht zu sprechen kommen. Die erste Lücke betrifft den Bereich des interkontinentalen Nuklear-potentials. Henry Kissinger hat in seinem Brüsseler Vortrag vom September 1979 die Auffassung vertreten, daß die USA in den achtziger Jahren ihre Interkontinentalraketen höchstens zum Schutze des eigenen Territoriums einzusetzen bereit wären Kissinger wurde dafür von verantwortlichen Politikern und Militärs heftig attackiert. Aber im Grunde hat Kissinger nur offen ausgesprochen, was die Einsichtigen längst wußten. Damit ist aber die Abschreckungsdoktrin in Frage gestellt. Die oberste Stufe der Abschreckung fällt bei einem auf Europa beschränkten Krieg aus. Und gerade deshalb wächst die Kriegsgefahr in Europa.

Abb. 12: Kampfpanzer NATO/WAPA in Mittel-und Nordeuropa

Quelle: The Military Balance 1969/70 -1979 80. ed. by The International Institute for Strategie Studies. London 1969 ff

Hinzu kommt die Gefahr, daß die UdSSR etwa ab 1982 in der Lage sein wird, das Gros der landgestützten Interkontinentalraketen der USA am Boden mit einem ersten überraschenden Schlag zu zerstören, dazu das Gros der Raketen-U-Boote in den Häfen sowie die strategischen Bomber auf den Pisten und in den Hangars. Diese entscheidende Lücke mit Hilfe der mobilen MX-Raketen zu schließen, wird voraussichtlich erst in den späten achtziger Jahren möglich sein.

Abb. 13: Taktische Kampfflugzeuge NATO/WAPA in Mittel-europa und NATO

Quelle: The Military Balance 1969/70-1979/80. ed. by The International Insti tute for Strategie Studies. London 1969 ff.

Eine zweite, besonders große Lücke, so würde unser Berner Gewährsmann wohl fortfahren, klafft im Bereich des kontinentalen Nuklear-potentials. Diese Lücke ist in den letzten Monaten unter dem Begriff der „Grauzonenwaffen" diskutiert worden. Die Raketenlücke ist für Europa nichts Neues. Sie existiert seit 20 Jahren. Sie ist aber in jüngster Zeit durch die Modernisierung der sowjetischen Mittelstrekkenraketen akzentuiert worden. Die Umrüstung auf die SS-20 bringt der Sowjetunion vier gewichtige Vorteile: 1. Mobilität und damit annähernde Unverwundbarkeit, 2. größere Reichweite, 3. präzisere Treffgenauigkeit, 4. Ausstattung jeder Rakete mit je drei nuklearen Sprengköpfen. Gleichzeitig bewirkt die Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Backfire-Bombers eine erhebliche Verstärkung der luftgestützten Nuklearträger. Die NATO-Beschlüsse vom 12. Dezember 1979 wollen diese Lücke mit der Einführung von 108 Pershing II-Raketen und 464 Cruise Missiles teilweise schließen (Tab. 1). Diese Nuklear-träger sind indessen frühestens 1983 einsatzbereit. Die dritte Lücke besteht nach Auffassung unseres Gewährsmannes im Bereich des konventionellen Potentials in Europa. Auch diese Lücke bestand von jeher; sie ist aber in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Kein ernst zu nehmender Experte bestreitet, daß die UdSSR heute in der Lage ist, einen konventionellen Krieg in Europa zu gewinnen. Umstritten ist nur, wieviel Zeit dafür benötigt würde. Die NATO ist nicht in der Lage, sich ohne Einsatz von Nuklearwaffen zu verteidigen. Zu den Schwächen der NATO gehört insbesondere die fehlende strategische Tiefe und die zunehmende Gefährdung der Verbin. dungswege über den Atlantik, den Lebens, adern der NATO, aufgrund des massiven Aus. baus der sowjetischen Flotte. Breschnews Ankündigung des Abzugs von 1 000 Panzern und 20 000 Mann aus der DDR war pure Bauernfängerei. Es handelt sich nicht um Abrüstung, sondern lediglich um eine Dislozierung Wahrscheinlich wurden zudem nur jene alten Panzer abgezogen, die nach der Umrüstung auf modernere Panzertypen in der DDR stationiert geblieben sind. Bundeskanzler Schmidt hat den Nagel auf den Kopf getroffen, als er Breschnews Ankündigung kommentierte, die Russen könnten sich dies offenbar leisten.Eine vierte Lücke klafft gemäß der Darstel. lung unseres Gewährsmannes aus Bern im Dispositiv für den Nahen und Mittleren Osten, den Persischen Golf, das Arabische Meer, den Indischen Ozean, überhaupt die Ul. routen. Die Interventionstruppe der USA von über 100 000 Mann steht lediglich auf dem Papier; in Wirklichkeit sind es etwa 16 000. Er. satzmaterial ist offenbar immer noch nicht vorhanden und müßte im Konfliktfall, so wie 1973 im Nahostkrieg, aus amerikanischen Beständen in Europa beschafft werden. Die Sowjetunion hat ihre Lufttransportkapazität erheblich ausgebaut und verfügt zudem über vorgeschobene Stützpunkte, seit 1980 auch in Afghanistan. Der Ausfall des Iran als dem Westen wohlgesinnte Ordnungsmacht am Persischen Golf ist gravierend. 80 Prozent der Ulrouten liegen außerhalb des Bereichs der NATO, nämlich südlich des Wendekreises des Krebses. In diesem Zusammenhang wird in Europa vielerorts immer noch nicht zur Kenntnis genommen, daß die USA sehr viel weniger von der ölzufuhr aus dem Vorderen Orient abhängig sind als Japan und Westeuropa (Abb. 2 und 3).

Tabelle 6 Multilaterale Rüstungsbegrenzungsabkommen 1925-1979

1978 mußten die Japaner 99 Prozent des verbrauchten Öls importieren, die Westeuropäer 88 Prozent, die USA jedoch nur 45 Prozent. Davon bezog Japan 75 Prozent, Westeuropa 68 Prozent, die USA jedoch nur 35 Prozent aus dem Mittleren Osten. Die USA führten 1978 aus dem Persischen Golf 120 Mill, t Erdöl ein, Japan 194 Mill, t, Westeuropa aber 414 Mill, t Also ist Westeuropa am meisten auf das Erdöl des Vorderen Orients angewiesen. Paradoxerweise hilft der Westen mit, die seit dem Sturz Chruschtschows forcierte sowjetische Aufrüstung indirekt zu finanzieren. Die Verschuldung der Sowjetunion gegenüber den Westmächten ist auf über 60 Milliarden Dollar angestiegen bei einem Zinsfuß von durchschnittlich 2, 5 Prozent, was nicht einmal die Inflation ausgleicht Der Westen spielt in der Tat den Weihnachtsmann. Sowjetische Entspannungspolitik bedeutet, die Russen schicken den Amerikanern General Grigorenko, die Amerikaner den Russen General Motors. Im Rahmen der Abrüstungs-und Rüstungsbegrenzungsverhandlungen ist bisher kein Durchbruch gelungen. Die Diplomatie hinkt der Technologie hinten nach. Die Abrüstungsverhandlungen im Rahmen der UNO und die Wiener MBFR-Verhandlungen treten auf der Stelle. MBFR bedeutet in der Moskauer Lesart „More Benefits for the Russians". Der SALT-II-Vertrag ist auf die quantitative Begrenzung der Nuklearträger beschränkt (Tab. 2) und verzichtet auf eine Begrenzung der Zahl der nuklearen Sprengköpfe, der Sprengkraft und erst recht auf qualitative Beschränkungen bezüglich Mobilität, Treffgenauigkeit, U-Boot-Detektoren usw. SALT II kanalisiert den Rüstungswettlauf, aber verhindert ihn nicht.

Tabelle 7 Bilaterale Rüstungsbegrenzungs-und Rüstungskontrollabkommen USA/UdSSR 1963-1979

Die Ränder der NATO sind gefährdet. Eine Lösung des Konflikts zwischen Griechenland 'und der Türkei ist nicht abzusehen. Innenpolitisch wird der kranke Mann am Bosporus kränker und kränker. Die innenpolitische Lage in Italien bleibt instabil; eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten in Italien ist in den achtziger Jahren nicht auszuschließen. Im Norden Norwegens setzen sich die Russen sukzessive fest. Der Druck gegenüber Finnland ist gewachsen. Die Gefahr der „Finnlandisierung", d. h.der außen-und innenpolitischen Anpassung an die Wünsche des großen Nachbarn, besteht nicht nur für Finnland, sondern für Westeuropa insgesamt. Ein Anwendungsfall ist der Verzicht auf das geschickte Ausspielen der chinesischen Karte, der Finanzkreditkarte oder der Knowhow-Karte in den Verhandlungen mit der Sowjetunion, ja die Disqualifizierung entsprechender Vorschläge als friedensgefährdende „Provokation“ von Seiten bestimmter Exponenten der Ostpolitik. Ein weiterer Anwendungsfall ist die „Finnmarkisierung", d. h. die durch sowjetischen Druck bewirkte Ablehnung amerikanischer Materiallager in Nord-Norwegen. Hinzu kommt die „Dänemarkisierung" nicht nur Dänemarks, sondern auch anderer NATO-Staaten, d. h. die Abstützung der Sicherheitspolitik auf den amerikanischen Protektor ohne angemessene eigene Verteidigungsanstrengungen.

Der Sowjetunion ist es gelungen, in den letzten paar Jahren außerhalb Europas acht Länder, darunter strategisch wichtige, für sich zu gewinnen. Diese Gewinne erreichte sie zum Teil durch den Einsatz von Stellvertretern (Vietnamesen, Kubanern und Ostdeutschen), zum Teil mit eigenen Streitkräften, sei es indirekt auf Kuba (zur Ermöglichung des kubanischen Afrikakorps) oder neuestens nun auch direkt in Afghanistan. Diese Länder sind: Angola, Mocambique, Äthiopien, Südjemen, Afghanistan, Laos, Kambodscha und Südvietnam (Abb. 4). Der Vorstoß zum Indischen Ozean, ein russischer Traum seit Peter dem Großen, zeichnet sich ab.

Die sowjetische Außenpolitik und Militärpolitik verlangt eine Neudefinition der Koexistenz. Koexistenz im Sinne der sowjetischen Praxis der siebziger Jahre bedeutet Fortsetzung des sowjetkommunistischen Imperialismus mit allen Mitteln inklusive militärischen, ausgenommen die militärische Konfrontation mit den westlichen Industriestaaten, insbesondere mit den USA.

Diese Politik entspricht verblüffend jenem (ungesicherten) Zitat aus einer Rede Breschnews anläßlich der Konferenz der War-schauer Pakt-Staaten vom Frühjahr 1974: „Wir Kommunisten müssen eine Zeitlang mit den Kapitalisten Zusammenarbeiten. Wir brauchen deren Landwirtschaft und Technologie. Aber wir werden unsere massivsten Rüstungsprogramme fortsetzen und Mitte der achtziger Jahre in der Lage sein, zu einer wesentlich aggressiveren Außenpolitik zurückzukehren, um in unseren Beziehungen zum Westen die Oberhand zu gewinnen.“

Ebenfalls ungesichert, aber aufgrund der bisherigen Politik plausibel ist die Erklärung Breschnews gegenüber der tschechoslowakischen Führung vom Februar 1977:

„Im Jahre 1985 werden wir die meisten unserer Ziele in Westeuropa erreicht haben und die Umkehrung des Kräfteverhältnisses wird dann so einschneidend sein, daß wir unsern Willen immer, wenn es nötig ist, durchzusetzen imstande sein werden.“

Unser Gewährsmann aus dem Berner Nachrichtendienst schließt mit dem folgenden Fazit: Mag eine direkte Konfrontation in Europa nach wie vor, wie das Londoner Institut für Strategische Studien urteilt, nicht attraktiv erscheinen, so ist die indirekte Bedrohung Europas, Japans und der USA, vor allem aber Europas, über die Nabelschnur der Industriestaaten (Persischer Golf, Ölrouten) um so stärker geworden.

Bedrohung aus sowjetkommunistischer Sicht

Abb. 1: Allianzen im Vorderen Orient 1955/1980 .

Versetzen wir uns in die Lage eines sowjet-kommunistischen Gewährsmanns. Nehmen wir an, daß auch er ein pessimistischer Sicherheitspolitiker ist, der immer an die schlimmsten unter den möglichen Bedrohungen denkt Nehmen wir ferner an, daß unser fiktiver sowjetischer Gesprächspartner die Argumentation des Schweizer Pessimisten mitgehört hat. Und beschränken wir uns auf Argumente, die aus der sowjetischen Interessensicht vertretbar erscheinen unter Verzicht auf den üblichen ideologischen Vorhang. Hier sein Plädoyer: „Wenn wir die westliche Propaganda analysieren, so stellen wir fest, daß sie seit den späten vierziger Jahren ohne Unterlaß den sowjet-kommunistischen Teufel an die Wand malt und behauptet, die Sowjetunion sei dabei, das militärische Gleichgewicht zu ihren Gunsten aus den Angeln zu heben. Dabei werden die gewaltigen Rüstungsanstrengungen der westlichen Seite geflissentlich heruntergespielt.

Sehen wir uns einmal konkret die angeblichen vier Rüstungslücken an, von denen mein Vorredner soeben gesprochen hat:

Was die erste Lücke im Bereich des interkontinentalen Nuklearpotentials betrifft, hat mein Vorredner zu Recht erwähnt, daß die UdSSR etwa ab 1982 wahrscheinlich die Erstschlagkapazität gegenüber den landgestützten Interkontinentalraketen besitzen wird, also die Fähigkeit, mit einem überraschenden ersten Schlag das Gros der amerikanischen Interkontinentalraketen am Boden zu zerstören. Mein Vorredner hat aber, wie in der westlichen Propaganda üblich, verschwiegen, daß die USA diese Fähigkeit ebenfalls besitzen werden. Ich verweise auf den Artikel des früheren Programmleiters im Nationalen Sicherheitsrat der USA Jan M. Lodal oder auf die Budget-botschaft des amerikanischen Kriegsministeriums für 1980, in der dasselbe in verschlüsselter Form eingestanden wird.

Die wilden Science-fiction-Übungen amerikanischer Experten in Sachen sowjetischer Erst-schlag sind indessen absurd. Und ich könnte die Absurdität dieser Glasperlenspiele nicht besser karikieren, als es unlängst die beiden amerikanischen Experten Robert G. Kaiser und Walter Pincus in einem fiktiven Protokoll einer Strategiedebatte im Atombunker des Kremls im Jahre 1984 getan haben Selbst im günstigsten Fall würden etwa 10 Prozent der ICBM, also etwa 100, übrigbleiben, ferner mindestens 20 Atom-U-Boote mit mehr als 300 Sprengköpfen und dazu ein Teil der strategischen Bomber, d. h. mehr als genug, um vernichtend zurückzuschlagen. Aber selbst wenn wir fahrlässigerweise darauf vertrauen würden, daß der amerikanische Präsident zaudern würde, nach der Vernichtung von zehn bis zwanzig Millionen Amerikanern mit dem Rest seines Nuklearpotentials zurückzuschlagen, so wäre ein sowjetischer Erstschlag mit allzu großen Risiken verknüpft. Denn wir kennen das Ausmaß der Selbstgefährdung durch die in den USA explodierenden nuklearen Sprengköpfe nicht. Kein Wissenschaftler in Ost und West weiß, ob der Angriff die Erdkruste zerbrechen oder die Ionosphäre für immer zerstören würde. Niemand weiß, ob wir die Atemluft der ganzen Welt verseuchen würden.

Diese paar Hinweise, die beliebig drastisch ergänzt werden könnten, mögen genügen, um die apokalyptischen Spielereien in der amerikanischen RAND-Corporation hinreichend ad absurdum zu führen.

Betrachten wir die zweite Lücke, diejenige im Bereich des kontinentaleuropäischen Nukle. arpotentials. Mein Kollege Lew Semejko von der Moskauer Akademie der Wissenschaften hat unlängst auf die entscheidende Lücke in der westlichen Argumentation hingewie.sen Die UdSSR verfügt im Gegensatz zu den USA nicht über vorgeschobene land-und luftgestützte Kernwaffen. Keine einzige Ra. kete und kein einziger Nuklearbomber ist außerhalb der Sowjetunion stationiert. Kein einziger Verbündeter der UdSSR besitzt Kernwaffen. Das heißt also, die Sowjetunion verfügt nicht über jene nukleare . Ergänzung', über welche die ÜSA außerhalb ihres eigenen Territoriums verfügt. Die geplanten amerikanischen Euroraketen können von Europa aus sowjetisches Territorium treffen, während die sowjetischen Kontinentalraketen das amerikanische Territorium nicht erreichen können. Daraus ergibt sich für die Sowjetunion die Gefahr eines auf Europa begrenzten Nuklear-krieges. Die NATO-Beschlüsse vom 12. Dezember 1979 würden in Tat und Wahrheit das europäische Gleichgewicht nicht wiederherstellen, sondern sie würden es auf Kosten der UdSSR und ihrer Verbündeten verändern. Sie bezwecken nicht Parität, sondern Überlegenheit der NATO im Bereich der kontinentalen Nuklear-strategie. Demgegenüber bestreite ich nicht, daß im Bereich des konventionellen Potentials in Europa der Warschauer Pakt rein zahlenmäßig der NATO überlegen ist, etwas mehr Personal unter Waffen hält, über mehr Panzer verfügt, über mehr taktische Kampfflugzeuge und über mehr Mittel für die Fliegerabwehr. Die Unterschiede sind indessen geringer als die pro-westliche Publikation . Military Balance'des Londoner Instituts für Strategische Studien jeweils ausweist. Zudem wird der quantitative Vorsprung durch den qualitativen Rückstand der Warschauer-Pakt-Staaten teilweise ausgeglichen. Das ist aber nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr, daß die sowjetischen Streitkräfte drei Aufträge an drei Fronten zu erfüllen haben, die NATO-Streitkräfte dagegen nur einen an einer Front. Die drei Fronten sind: 1. die Westfront gegenüber der NATO, 2. die Ostfront gegenüber China und 3. die innere Front in der UdSSR und in den europäischen und asiatischen Volksdemokratien gegenüber konterrevolutionären Kräften.

Der schlimmste Fall, mit dem die UdSSR rechnen muß, ist ein Dreifrontenkrieg gegen Westen, Osten und im Innern. Daß diese Bedrohung ernst zu nehmen ist, ergibt sich u. a. aus der bedenklichen Bereitschaft westlicher Kreise, die chinesiche Karte'gegen die UdSSR zu spielen. Die provokante Annahme des britischen Altphilologen und NATO-Generals Sir John Hackett über einen inneren Zusammenbruch des Sowjetregimes im Jahre 1985 mitten in einer kriegerischen Ost-West-Auseinandersetzung ist zwar ziemlich unrealistisch.

Realistischerweise müssen wir aber mit dem Fall rechnen, daß gleichzeitig in mehreren europäischen Volksdemokratien so etwas passiert wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR oder 1980 in Polen. Hinzu kommt eine demographische Zeitbombe innerhalb der Sowjetunion, die uns mit wachsender Sorge erfüllt. Ende der achtziger Jahre wird voraussichtlich die Mehrheit der Bevölkerung meines Landes asiatisch sein, man rechnet mit etwa 52 Prozent. Von diesen 52 Prozent werden etwa zwei Drittel Mohammedaner sein.

Wir wissen und erleben dies zur Zeit, daß der Islam nicht nur antiamerikanisch, antiwestlich ist, sondern auch antikommunistisch sein kann. Die Herausforderung ist für uns aber ungleich schwerwiegender als für die USA und für den Westen. Denn wir haben den Islam nicht nur vor unserer Tür, sondern in unserem eigenen Lande.

Aufgrund dieser unangenehmen Drei-Fronten-Situation der UdSSR und des Warschauer Pakts ist ein konventionelles Übergewicht des Warschauer Pakts gegenüber der NATO zwingend notwendig, weil nur ein beschränkter Teil der Gesamtstreitkräfte bei einer militärischen Konfrontation mit dem Westen verfügbar wäre, während starke Kräfte im Innern und im Osten gebunden blieben. Es erfüllt uns mit Genugtuung, daß unsere im Westen verfügbaren konventionellen Mittel der NATO überlegen sind. Aber diese Überlegenheit ist bei weitem nicht so groß, daß wir innerhalb von 48 Stunden am Rhein stehen könnten, wie das der belgische General Robert Close annimmt Selbst der frühere westdeutsche Verteidigungsminister Leber hat den Angst-machern vom Schlage eines Close entgegengehalten, das wäre nur gerade dann möglich, wenn die deutsche Bundeswehr statt zu kämpfen die Verkehrsregelung übernähme.

Weiter ist zu bemerken, daß die üblichen westlichen Kräftevergleiche irreführend sind, weil sie die Streitkräfte Frankreichs und der neutralen Staaten ausklammern.

Ein Angriff der Warschauer-Pakt-Staaten auf Westeuropa liegt nicht im sowjetischen Interesse. Der amerikanische Futurologe Herman Kahn hat das Kernproblem getroffen, als er fragte, wem letztlich eine deutsche Wiedervereinigung unter kommunistischen Vorzei-chen dienen würde; sicher nicht den nationalen Interessen der UdSSR. Denn diese gesamtdeutsche kommunistische Großmacht ließe sich kaum disziplinieren und wäre für die Sowjetunion über kurz oder lang eine ähnliche Bedrohung wie sie heute China darstellt. Vielleicht leuchtet Ihnen diese Überlegung besser ein, wenn Sie die Bedrohung Westeuropas bedenken, die aus einer deutschen Wiedervereinigung unter antikommunistischen Vorzeichen entstehen müßte.

Falls Sie immer noch Zweifel hegen, so lesen Sie Frederick Forsyths romanhaftes Szenario, in dem das Schreckgespenst eines War-schauer-Pakt-Angriffs auf Westeuropa von einem nichtkommunistischen Autor entlarvt wird

Im übrigen ist es die historische Erfahrung der letzten zwei Jahrhunderte, die uns dazu zwingt, die traditionellen Invasionsrouten der Westmächte in Osteuropa durch starke konventionelle Kräfte im Griff zu haben, wofür ein unverdächtiger Zeuge, nämlich Henry Kissinger, vor Jahren einmal Verständnis bekundete. Denn schließlich ist Rußland dreimal vom Westen überfallen worden und nie umgekehrt, unter Napoleon, unter Wilhelm II. und unter Hitler. Unsere Truppen stehen zur Abschreckung an der Westfront, um zu verhindern, daß nochmals zwanzig Millionen sowjetische Patrioten ihr Leben lassen müssen wie im Zweiten Weltkrieg.

Und nun zur angeblichen Lücke im Mittleren und Nahen Osten, im Persischen Golf, im Indischen Ozean und längs der Ölrouten. Bisher war es das traurige Privileg der USA, Großbritanniens und Frankreichs, in Südamerika (Dominikanische Republik), in Asien (Korea, Vietnam), im Vorderen Orient (Iran, Libanon) und in Afrika (Suez, Tansania, Tschad, Kamerun, Kongo, Rhodesien, Zentralafrikanische Republik, Tunesien usw.) militärisch zu intervenieren. Inzwischen haben wir eben dieselbe Fähigkeit auch erlangt. Auf westlicher Seite stehen für solche Zwecke nicht nur die 16 000 Mann der USA zur Verfügung, sondern neben den britischen für Übersee bestimmten Streitkräften insbesondere die französischen Eingreiftruppen in der Stärke von immerhin zwei Divisionen und sieben Regimentern — Fremdenlegionäre wohlverstanden. Wenn unsere Verbündeten aus Kuba oder der DDR unseren Freunden in Afrika helfen, wenn die Vietnamesen unseren Freunden in Kambodscha und Laos helfen oder wenn wir unseren Freunden in Afghanistan helfen, dann wird im Westen gleich Zeter und Mordio gebrüllt, wenn aber umgekehrt, um nur die jüngsten Beispiele zu nennen, französische Fremdenlegionäre in Zaire und in Tunesien intervenieren und in der Zentralafrikanischen Republik Kaiser Bokassa stürzen helfen, dann wird das geflissentlich ignoriert oder belobigt. Sollten wir tatenlos zusehen, wenn der Westen seine Freunde militärisch unterstützt? Sollten wir unsere eigenen Freunde im Stich lassen? Nicht wir, sondern die USA drohen mit dem Einsatz von Eingreiftruppen im Persischen Golf. Die USA, nicht wir, bilden zur Zeit in den Wüsten Nevadas Truppen für den Einsatz in den Golfstaaten aus. Woher nimmt der Westen eigentlich die Legimitation für seine exklusiven Ansprüche auf das arabische öl? Auch mein Land ist ab Mitte der achtziger Jahre in wachsendem Maße auf Erdölimporte angewiesen. Die sowjetische Erdölversorgung ist bedroht, weil der Westen aus kolonialistischer Angewöhnung noch immer nicht gelernt hat, knappe Güter mit anderen zu teilen. Welche Logik erlaubt es, das westliche Interesse am arabischen öl als legitim, das sowjetische dagegen als illegitim zu betrachten?

Soviel zu den angeblichen Lücken der westlichen Rüstung. Mein Vorredner hat in seiner Tour d'horizon von acht Ländern in Afrika und Asien gesprochen, die wir in den letzten Jahren als Freunde und zum Teil als Verbündete gewonnen haben. Wir sind stolz darauf, aber überschätzen diese Erfolge nicht Denn wir wissen aus Erfahrung, daß es sich zum Teil um recht unsichere Kantonisten handelt. Es gibt nicht nur ein Gewinnkonto, sondern auch ein Verlustkonto in Afrika, und dazu gehören Ghana, Mali, Guinea, Uganda, Somalia und insbesondere Ägypten, so daß wir im Grunde nicht viel mehr gewonnen haben, als wir zuvor verloren hatten. Vor allem die Ausschaltung der UdSSR aus den Verhandlungen zwischen Ägypten und Israel wiegt schwer.

In Südostasien ist das Verlustkonto 197, 9 im Vergleich zu den Gewinnen größer, bedingt vor allem durch den Treuebruch Chinas, die Kündigung des sowjetisch-chinesischen Bündnisvertrages durch China, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und den USA den Friedensvertrag zwischen China und Japan und den Krieg Chinas gegen unseren Verbündeten Vietnam.

In Osteuropa haben wir seit 1948 überhaupt keine Gewinne erzielt. Die Unruhe in Osteuropa hat sich verstärkt, vor allem in Polen und in der CSSR. Die Dissidentenbewegung schwelt weiter. Die Triumphreise des Papstes durch Polen ist ein starkes Stück. Rumänien weigert sich, mehr für die gemeinsame Verteidigung aufzuwenden, unterstützt offen die ägyptisch-israelische Annäherung und kritisiert unsere Hilfe für Afghanistan.

Was uns aber am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, auf die mein Kollege Semejko im besagten Artikel ebenfalls hingewiesen hat, daß die NATO-Länder, vor allem die USA, bei der Entwicklung neuer und neuester Waffen erwiesenermaßen regelmäßig an der Spitze lagen. Die Amerikaner bauten die erste Atombombe. Die Amerikaner schufen als erste die Wasserstoffbombe. Die Amerikaner installierten als erste Mittelstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen. Die USA veranstalteten Ende der fünfziger Jahre eine hysterische Kampagne wegen einer angeblichen Raketen-lücke im Bereich der Interkontinentalraketen, die in Wirklichkeit aufgrund der forcierten Produktion solcher Raketen durch die USA nie eintrat. Die Amerikaner rüsteten-als erste U-Boote mit Nuklearraketen aus. Sie entwikkelten als erste kleinkalibrige Nuklearwaffen. Sie begannen als erste mit der Härtung der ICBM-Basen. Sie entwickelten als erste die Cruise Missiles, die Neutronenbombe, das mit Radar nicht ortbare Flugzeug, die Bomblets usw. Die — abgesehen von den obsoleten Flugabwehrraketen (ABM) — einzige Ausnahme, bei der wir einmal voraus sind, ist die mobile und mit Mehrfachsprengköpfen ausgestattete Mittelstreckenrakete SS-2O. Es ist zutreffend, daß wir in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und in den siebziger Jahren große Rüstungsanstrengungen unternommen haben. Warum? Weil wir von der Erfahrung mit dem Westen gebrannt sind. Es darf und wird nicht mehr vorkommen, daß wir uns der nuklearen Erpressung der USA beugen müssen wie in der Irankrise 1946 und in der Kubakrise 1962.

So wie Ende der fünfziger Jahre nehmen die NATO und allen voran die USA u. a. die SS-20 zum Anlaß, wiederum von einer Raketenlükke'zu sprechen und versuchen damit, die wohl gigantischste Aufrüstungsrunde der gesamten Nachkriegszeit zu rechtfertigen. In den vier genannten Rüstungsbereichen, dazu in bezug auf die Kriegsmarine, sind gewaltige Rüstungsanstrengungen im Gange oder angekündigt: Im Bereich des interkontinentalen Nuklearpotentials ist im letzten Jahr das erste Trident-U-Boot mit 24 SLBM vom Stapel gelaufen und wurde die strategische Bomberflotte durch den B-52 G/H modernisiert. Die Entwicklung luftgestützter Cruise Missiles ist im Gange, und angekündigt ist die Produktion von 200 mobilen Interkontinentalraketen (MX). Soeben hat der Kongreß die Konstruktion eines neuen strategischen Bombers, den Bau eines weiteren Trident-Unterseekreuzers und die Produktion von 240 F-14-und F16-Kampfflug-zeugen beschlossen. Laut SIPRI-Jahrbuch von 1979 sind die USA ferner bald in der Lage, strategische U-Boot-Flotten in ihrer Gesamtheit zu orten und zu vernichten.

Im Bereich des kontinentalen Nuklearpotentials wurde durch die Beschlüsse vom 12. Dezember 1979 die Stationierung von Pershing II und von landgestützten Cruise Missiles in Europa vereinbart. Im Bereich der konventionellen Rüstung in Europa ist die Modernisierung in vollem Gange. In Norwegen und Dänemark werden unbenannte'amerikanische Stützpunkte errichtet Ferner rechnet man mit dem spanischen NATO-Beitritt. Im Bereich globaler Interventionstruppen haben die USA die Aufstellung einer Armee von über 100 000 Mann angekün-

digt.

Im Bereich der amerikanischen Kriegsmarine ist eine Modernisierungsrunde sowie die Vermehrung der Bestände von 462 auf 550 Einheiten geplant.

Präsident Carter hat eine reale Steigerung der Rüstungsausgaben um im Durchschnitt jähr-lich 4, 5 Prozent in den nächsten fünf Jahren gefordert.

Diese gigantischste Aufrüstungsrunde der Nachkriegszeit läuft unter dem irreführenden Signet . Nachrüstung'. Das ist Etikettenschwindel, vielleicht der cleverste Propagandatrick der Nachkriegszeit Natürlich bleibt uns nichts anderes übrig als nachzuziehen, obwohl uns dies vor enorme wirtschaftliche Probleme stellen wird, die ohnehin schon groß genug sind. Unser größtes Problem überhaupt ist wahrscheinlich dies, daß wir unseren historisch bedingten wirtschaftlichen Rückstand durch militärische Stärke auszugleichen suchen und damit erst recht den wirtschaftlichen Aufholungsprozeß verzögern. Ich kann den Verdacht nicht ausschließen, daß der hintergründige Zweck der von den USA und ihren Verbündeten zu verantwortenden Aufrüstung in den achtziger Jahren darin besteht, das wirtschaftliche Wachstum im Westen anzukurbeln, gleichzeitig die wirtschaftliche Erstarkung der UdSSR zu verhindern und die Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage in den europäischen Volksdemokratien zu fördern. Dieser Verdacht wird von einem Zeugen gestützt, der selbst aus westlicher Sicht unverdächtig ist

Mein Vorredner hat am Schluß seines Plädoyers gefälschte Zitate des Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew, kolportiert. Er würde besser tun, sich an die Aussage des amerikanischen Kriegsministers Harold Brown zu halten: . Wenn alle erforderlichen Mittel für die geplanten NATO-Programme gesprochen werden, so wird dieses Bündnis Mitte der achtziger Jahre auf militärischem Gebiet eine deutliche Überlegenheit erzielen.'

Oder an die State-of-the-Union-Message vom Januar 1980, in der der amerikanische Präsident Carter wiederholt, was sämtliche amerikanischen Präsidenten der Nachkriegszeit postuliert haben: , Wir müssen jeden Preis zahlen, um die stärkste Nation der Welt zu bleiben. Ich schließe mit der Feststellung, daß ich in einem Punkt mit meinem Vorredner übereinstimme: Auch wir beurteilen die weltpolitische Lage zu Beginn der achtziger Jahre weit pessimistischer als vor zehn Jahren."

Beurteilung In der Sammlung jüdischer Witze von Salcia Landmann findet sich die folgende sinnreiche Anekdote: Ein Jude kommt zum Rabbi und führt Klage gegen einen anderen. Der Rabbi hört aufmerksam zu und erklärt dann: „Du hast recht.“ Bald danach kommt der Beschuldigte und klagt seinerseits über den Ankläger. Der Rabbi hört wieder sehr aufmerksam zu und sagt abermals: „Du hast recht." Ein Dritter hat beide Entscheide mitangehört und hält dem Rabbi vor: „Es können doch niemals beide recht haben!" Da antwortet der Rabbi: „Du hast auch recht."

Die Anekdote trifft unsere Situation nach dem Anhören der beiden Plädoyers. Beide Rollen-spieler haben innerhalb ihrer Denkgewohnheiten, innerhalb ihrer Interessensicht recht. Selbst wenn man imstande ist, nach beiden Seiten Bedenken zu äußern (Aristoteles!), selbst wenn man die kommunistische Diktatur, den sowjetischen Imperialismus und die systematische Verletzung der Menschenrechte in der Sowjetunion und den anderen kommunistischen Staaten mit aller Entschiedenheit verurteilt, so ist es dennoch nicht leicht zu erkennen, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Beide Plädoyers enthalten Halb-wahrheiten, und Halbwahrheiten sind bekanntlich die gefährlichsten Unwahrheiten. Mit gutem Grund lautet die Schwurformel der Zeugen vor Gericht im angelsächsischen Recht: „Ich schwöre die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit." Komplexe Wahrheiten sind zweideutig, mehrdeutig, ähnlich den diplomatischen Orakelsprüchen aus dem antiken Delphi.

Wollen wir dennoch versuchen, zur Beurteilung der komplexen Wirklichkeit wenigstens ein paar Anhaltspunkte zu finden. Drei Hypothesen seien zur Diskussion gestellt:

Das militärische Gleichgewicht in Europa ist — zu Lasten des Westens — gefährdet.

Militärische Gleichgewichtspolitik ist eine notwendige Voraussetzung der Friedenssicherung. Militärische Gleichgewichtspolitik, Gleichgewichtspolitik überhaupt, ist keine hinreichende Friedensstrategie.

Gefährdung des militärischen Gleichgewichts

Tabelle 1: Die NATO-Beschlüsse vom 12. Dezember 1979 betreffend das kontinentale Nuklearpotential

Die verfügbaren Daten über das quantitative Kräfteverhältnis sind fragwürdig. Erstens überbetonen sie die Offensivwaffen und vernachlässigen die Defensivwaffen. Zweitens geben sie keine Auskunft über die Qualität der Kräfte. Und drittens sind die Daten selbst unsicher. Die Angaben über das interkontinentale Nuklearpotential beruhen auf den Selbstdarstellungen der beiden Weltmächte, jene über das nukleare und konventionelle Potential in Europa auf westlichen, von sowjetischer Seite zum Teil angefochtenen Quellen.

Unter diesen Vorbehalten läßt sich das gegenwärtige Kräfteverhältnis wie folgt zusammenfassen: Im interkontinentalen Nuklearbereich besteht eine Art Gleichgewicht der Ungleichgewichte. Die größere Zahl sowjetischer landgestützter Interkontinentalraketen, seegestützter Nuklearraketen und Nuklear-U-Boote wird ausgeglichen durch die Überlegenheit der USA in bezug auf die Zahl der schweren Bomber, der nuklearen Sprengköpfe und damit zusammenhängend den Grad der Mirvisierung, d. h.derAusstattung der Nuklearträger mit mehreren Nuklearsprengköpfen, die unabhängig voneinander in verschiedene Ziele gebracht werden können. (Tab. 3).

Im kontinentalen Nuklearpotential besteht eine eindeutige Überlegenheit der UdSSR. Die westliche Seite weist sowohl eine Lücke aus bezüglich der landgestützten Nuklearraketen als auch der Nuklearbomber. Die Zahl der kontinentalen Nuklearbomber der UdSSR ist gemäß den Angaben des Londoner Instituts für Strategische Studien noch erheblich höher (Abb. 7) als nach Menaul (Tab. 4). Demgegenüber verfügt die NATO einschließlich Frankreich über mehr seegestützte Nuklearraketen, die im Vergleich zu den landgestützten Raketen weniger treffgenau und deshalb für den großflächigen Einsatz „counter cities", nicht jedoch für den präzisen Einsatz „counter forces" geeignet sind. Immerhin ist das Ungleichgewicht zu Lasten des Westens, vor allem unter dem Aspekt der Anzahl der nuklearen Sprengköpfe, nicht so groß, wie man es im Westen zu hören gewohnt ist (Tab. 4)

Schwerwiegender ist das Mißverhältnis im konventionellen Militärpotential in Mittel-Tabelle und Nordeuropa. Das Kräfteverhältnis zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt in diesem Raum beträgt etwa in bezug auf Divisionsäquivalente 1 : 2 Mannschaftsbestände 2 : 3 Kampfpanzer 1 : 3 Taktische Kampfflugzeuge 1 : 2 zugunsten des Warschauer Pakts (Tab. 5).

Alarmierend ist die Entwicklung des Käftever-hältnisses in den letzten zwanzig Jahren. Die Sowjetunion hat die USA im Jahre 1969 bezüglich Interkontinentalraketen (Abb. 5) und 1973 bezüglich U-Boot-gestützten Raketen überrundet (Abb. 6). Der Vorsprung der USA in bezug auf interkontinentale Nuklearbomber ist in den späteren sechziger Jahren erheblich zurückgegangen (Abb. 7). Der Aufholprozeß der UdSSR in bezug auf die Zahl der nuklearen Sprengköpfe und damit zusammenhängend der Mirvisierung der Nuklearträger hat in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit einem unerwarteten Tempo eingesetzt (Abb. 8). Der Rückstand des Westens in bezug auf die land-gestützten kontinentalen Nuklearraketen hat sich Ende der siebziger Jahre (SS-20!) vergröbert (Abb. 9). Die Überlegenheit der UdSSR an kontinentalen Nuklearbombern ist nach 1977 leicht rückläufig, aber nur zahlenmäßig, während die Qualität (Backfire!) verbessert worden ist (Abb. 10).

Das Total der Mannschaftsbestände hat sich bis 1978/79 nicht stark verändert (Abb. 11). Für 1979/80 fehlen indessen die Daten, und zur Zeit ist im Zusammenhang mit der Besetzung Afghanistans und den Truppenmassierungen an den Grenzen Polens auf sowjetischer Seite eine Verstärkung der Bestände im Gange. Vor allem aber ist die militärische Präsenz an den Rändern des Sowjetimperiums seit 1968 um mehr als 25 Prozent erhöht worden.

Die Schere zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO in bezug auf die Zahl der Kampfpanzer ist im Zeitraum von 1969 bis 1978 erheblich auseinander gegangen. 1969 verfügte der Warschauer Pakt über 238 Prozent des Kampfpanzerbestandes der NATO in Mittel-und Nordeuropa, 1979 aber über 293 Prozent (Abb. 12).

Einzig der Vorsprung des Warschauer Pakts bezüglich der taktischen Kampfflugzeuge ist stabil geblieben (Abb. 13).

Diese Daten sind indessen unvollständig. Das konventionelle Ungleichgewicht wird noch verstärkt durch die in den siebziger Jahren verbesserte Logistik, die raschere Mobilisationsfähigkeit, die raschere Verschiebbarkeit der Kampftruppen, die Vergrößerung der Lufttransportkapazitäten, die Verbesserung der Nachtkampftauglichkeit, die Bereithaltung großer Bestände an chemischen Kampfstoffen, die Verkürzung der Vorwarnzeit usw.

Fazit: Ungefähres Gleichgewicht im interkontinentalen Nuklearbereich, erhebliches Un-gleichgewicht im kontinentalen Nuklearpo15 tential, starkes und gewachsenes Ungleichgewicht im konventionellen Kräfteverhältnis in Mittel-und Nordeuropa. Wichtiger als die quantitativen Kräftevergleiche ist indessen das qualitative „Gleichgewicht der Optionen". Weder die Sowjetunion noch die USA besitzen die nukleare Erstschlagkapazität, und man kann nur hoffen, daß keine Seite diese ver-rückte Idee in die Tat umzusetzen versucht. Zu wenig gesichert ist auf Seiten der NATO die Option des euronuklearen Gegen-schlags gegen sowjetisches Territorium im Fall einer sowjetischen Aggression in Europa. Und völlig ungesichtert ist die Position Westeuropas im Fall eines außereuropäischen Konflikts insbesondere im Vorderen Orient.

Notwendigkeit der Gleichgewichtspolitik

Abb. 2 = Der Vordere Orient und Erdölversorgung des Westens 1978

Quelle: Statistische Übersicht der Weitöl-Industrie 1978 von British Petroleum Company Limited.

„Wenn wir etwas aus der Geschichte lernen können", schreibt Henry Kissinger, „dann, daß es ohne Gleichgewicht keinen Frieden ... gibt. ” Kissinger fährt fort: „Im Verlauf der Geschichte hat der politische Einfluß der Nationen etwa ihrer militärischen Stärke entsprochen. Der moralische Wert und das Ansehen ihrer Institutionen mochten bei den einzelnen Staaten zwar verschieden gewesen sein, die diplomatische Geschicklichkeit konnte die militärische Stärke wohl steigern, aber nie ersetzen. Letzten Endes hat Schwäche jederzeit Aggression herausgefordert, und Machtlosigkeit hatte den Verzicht auf jede Politik zur Folge. Auch kleinere Länder haben in kurzen Perioden in der Weltpolitik eine wichtige Rolle gespielt, aber nur, wenn sie innerhalb des sicheren Rahmens eines internationalen Gleichgewichts handelten. Das Gleichgewicht der Kräfte ... ist in Wirklichkeit die Voraussetzung für den Frieden gewesen."

Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Gleichgewichtspolitik nach wie vor die einzige realistische Basis der Friedenssicherung. Weder die kollektive Sicherheit noch die gewaltfreie Verteidigung sind echte Alternativen. Die kollektive Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen funktioniert gerade im gravierendsten Fall nicht, nämlich bei einer Konfrontation der Weltmächte. Gewaltfreie Verteidigung erhöht ebenso wie einseitige Abrüstung die Kriegs-und Erpressungsgefahr. Ein militärisches Ungleichgewicht braucht nicht zum Krieg zu führen, weil die Chance wächst, daß der militärisch überlegene seine Ziele auch ohne Krieg zu erreichen vermag. Die neue Tatsache erfolgreicher militärischer Interventionen sowjetischer Stellvertreter in Asien und Afrika in den siebziger Jahren und die allerneuste Tatsache der Intervention massiver sowjetischer Streitkräfte im Mittleren Osten zu Beginn der achtziger Jahre findet ihre Erklärung nicht nur in der erhöhten Risikobereitschaft der gegenwärtigen sowjetischen Führung als vielmehr in der Verminderung des Risikos solcher Operationen infolge der Verschiebung der Machtverhältnisse.

Militärische faits accomplis ä la Afghanistan sind nachträglich kaum rückgängig zu machen, schon gar nicht durch halbherzige wirtschaftliche Sanktionen, sportliche Boykott-maßnahmen, starke Worte, Gesprächsverwei. gerung oder Gesprächsabbau. Militärische faits accomplis müssen vorgängig verhindert werden. Jetzt geht es vor allem darum zu verhindern, daß im Vorderen Orient und an den Rändern der NATO in den achtziger Jahren neue Afghanistans und Irans entstehen. Voraussetzung dafür ist eine wirksame Eindämmungspolitik auf der Basis einer genügenden Gegenmacht insbesondere in Europa und im Vorderen Orient.

Das ist ohne Bündnis zwischen Westeuropa und den USA nicht möglich. Westeuropa ist nicht im Stande, sich ohne die USA zu verteidigen, weder militärisch noch wirtschaftlich (öl). Und wer nicht im Stande ist, sich zu verteidigen, kann nicht abschrecken. Bündnis-treue heißt jedoch nicht Hörigkeit, einseitige Abhängigkeit, blinder Gehorsam. Es bedarf der konstruktiven Kritik Westeuropas, wenn die USA dazu neigen, weitsichtige, rationale Sicherheitspolitik hinter eine kurzsichtige, irrationale Wahlkampfpolitik zurückzustellen. Aber umgekehrt ist die Warnung Kissingers vom September 1979 an die Adresse Westeuropas gerade heute besonders gerechtfertigt, zumal die Sowjetunion zur Zeit mehr Hoffnungen in die Spaltungs-als in die Entspannungsstrategie zu setzen scheint: „Diese Tendenz, die Entspannung als Übung in Psychotherapie zu betreiben oder als Bemühen um gute persönliche Beziehungen oder als ein Bestreben, mit dem einzelne Politiker innenpolitische Unterstützung zu erlangen suchen, indem sie unter Beweis stellen, daß sie einen besonderen Draht nach Moskau haben — all das ist verhängnisvoll für den Westen ... Die Illusion, einige Länder könnten sich eine bevorzugte Position bei der Sowjetunion verschaffen..., ist das beste Mittel, das Bündnis zu spalten."

Der neutrale europäische Kleinstaat ist, ob er will oder nicht, ob er es erkennt oder nicht, stärker vom Funktionieren des westlichen Bündnisses abhängig als von seinen eigenen sicherheitspolitischen Vorkehrungen. Klein-staaten haben kaum eine Chance ohne, um nochmals Kissinger zu zitieren, „den sicheren Rahmen eines internationalen Gleichgewichts"

Ungenügen der Gleichgewichtspolitik

Abb. 3: ölreserven, Ölverbrauch und Ölproduktion 1978 ölverbrauch

Kissingers Behauptung, wonach das Macht-gleichgewicht eine notwendige Voraussetzung der Friedenssicherung sei, läßt sich we-

der beweisen noch widerlegen. Niemand kann wissen, wieviele Kriege es ohne das Gleichgewicht der Mächte gegeben hätte. Aber aufgrund der historischen Erfahrung kann die Behauptung eine hohe Plausibilität für sich beanspruchen. Denn wir beobachten in der Geschichte, daß Kriege mangels Gleichgewicht begünstigt worden sind, vor allem aber, daß sich die imperiale Pax mangels Gleichgewicht auch ohne Krieg verwirklichen ließ. Wenn also die Gleichgewichtspolitik eine Voraussetzung zur Verhinderung des Krieges und der imperialen Pax ist, so ist es andererseits doch auch zutreffend, daß seit dem Beginn des modernen Staatensystems Kriege — Morgenthau schreibt sogar die meisten Kriege — vom Gleichgewicht der Mächte verursacht oder doch unter dem Vorwand der Gleichgewichts-politik ausgelöst worden sind Gleichgewichtspolitik ist eine notwendige, aber keine hinreichende Friedensstrategie.

Die Erklärung dafür ist einfach. Macht — verstanden als die Fähigkeit, anderen den eigenen Willen auch gegen Widerstreben aufzuzwingen (offensive Macht) oder sich dem Willen anderer zu entziehen (defensive Macht) — ist nicht berechenbar. Es ist nicht möglich, die verschiedenartigen Kräfte, welche das Phänomen Macht bestimmen, aufzuaddieren. Und erst recht ist es nicht möglich, sichere Maßstäbe zum Vergleich der verschiedenartig zusammengesetzten Kräfte verschiedener Mächte zu finden. Zudem besteht kein proportionales Verhältnis zwischen der Anhäufung von Kräften und der Vergrößerung der Macht. Schließlich sind nicht alle Kräfte quantitativer Art; auch qualitative Kräfte wie die Tüchtigkeit der politischen und militärischen Führung, die Loyalität, der Kampfwille, der Widerstandswille, das Können von Bevölkerung und Streitkräften sind für das Macht-phänomen konstitutiv.

Weil aber Macht nicht berechenbar ist, neigen die am Machtkampf Beteiligten in der Regel dazu, einen genügenden Machtvorsprung zu erzielen, um ganz sicher zu sein. Und weil beide Seiten dies tun, resultiert daraus der Rüstungswettlauf. „So jagen beide einem vor ihre Nase gebundenen Köder nach, den sie nie er-reichen; das nennt man Wettrüsten." (Carl Friedrich von Weizsäcker)

Gibt es Auswege aus diesem Teufelskreis von Gleichgewichtspolitik, Unberechenbarkeit der Macht, Rüstungswettlauf und dem Pessimismus des „worse-case-Denkens"? Sichere, definitive Auswege gibt es nicht, wenn Macht, Interessengegensätze und Konflikte unvermeidlich sind. Es wird immer nur darum gehen können, die unvermeidliche Unsicherheit zu vermindern, unvermeidliche Spannungen zu mildern, unvermeidliche Konflikte zu dämpfen, unvermeidliche Interessengegensätze durch Kompromisse zu beschränken, unvermeidliche Machtpolitik gegenseitig zu mäßigen. Ein Weg in dieser Richtung ist der Versuch, von der unbegrenzten zur begrenzten Gleichgewichtspolitik, d. h. zur Begrenzung des Rüstungswettlaufs, überzugehen. Es wäre verhängnisvoll, wenn dieser Versuch, der vor allem nach der Kubakrise einsetzte, nunmehr unterbrochen oder gar abgebrochen würde. Es trifft zu, daß der entscheidende Durchbruch zur begrenzten Gleichgewichtspolitik trotz jahrelanger, intensiver Verhandlungen noch nicht gelungen ist, daß die Diplomatie der Rüstungstechnologie hinten nach hinkt, die bisherigen Vereinbarungen den Rüstungswettlauf kanalisieren, aber nicht verhindern. Aber immerhin sind wichtige Teilerfolge zu verzeichnen, sowohl im multilateralen (Tab. 6) als auch im bilateralen Rahmen zwischen den USA und der UdSSR (Tab. 7). Zur Zeit ist die Fortsetzung dieser Politik gefährdet. Die Ratifikation von vier Abkommen (Atomteststoppverträge von 1974 und 1976 sowie SALT II) ist in der Schwebe. Das Abkommen über das Verbot von Strahlenwaffen und der Vertrag über diefriedliche Nutzung des Mondes sind unterschriftsreif, aber schubladisiert. Es ist von größter Wichtigkeit, die Politik der Rüstungsbegrenzung und der Rüstungskontrolle wieder in Gang zu bringen, eingebettet in den Gesamtrahmen einer realistischen Entspannungspolitik ohne verhandlungstaktisch ungenutzte Vorleistungen, ohne selbstverschuldeten oder wahltaktisch motivierten Zeitdruck und Erfolgszwang. Nur Politik der Stärke ist ausweglos. Politik der Stärke muß verbunden werden mit der glaubwürdigen Bereitschaft für und dem intensiven Bemühen um eine begrenzte Gleichgewichtspoiitik.

Ein zweiter Weg in dieser Richtung ist die bewußte Förderung der Defensivwaffen. Kenner bestätigen, daß die Verteidigungstechnologie (Aufklärung, Panzerabwehr, Fliegerabwehr usw.) raschere Fortschritte macht als die Offensivtechnologie. Zum ersten Mal seit Guderian bietet sich die Chance, schreibt Carl Friedrich von Weizsäcker, eine Panzerüberlegenheit durch Panzerabwehrwaffen zu kompensieren -Diese Chance bedrohungsfreier Verteidigung muß genutzt werden.

Ein dritter Weg in dieser Richtung ist die Ergänzung des Bedrohungsdenkens der traditio-nellen Sicherheitspolitik durch das Chancen-denken. Ein Beispiel: Wenn es zutrifft, daß auch die Sowjetunion und mit ihr die kommunistischen Industriestaaten in den 80er Jahren zunehmend auf Erdölimporte angewiesen sein werden, sollten wir dann nicht überlegen, wie knappe wirtschaftliche Güter fair verteilt werden können, statt kopflos in einen voraussehbaren Konflikt hineinzuschlittern? Wer immer nur an die schlimmsten Fälle denkt, vergißt die günstigen und vernachlässigt die Politik zur konstruktiven Förderung des Erwünschten. So wie die traditionellen Sicherheitspolitiker über die Illusionäre unter den Friedensfor20 schern spotten, so ärgern sich die Friedensforscher über die professionellen militärischen Schwarzseher. Eine umfassend verstandene Sicherheitspolitik muß sich beides zum Ziel setzen, Bedrohungen abzuwenden und Chancen wahrzunehmen. Das „si vis pacem, para bellum" bedarf der Ergänzung durch das „si vis pacem, para pacem".

Bundeskanzler Schmidt hat unlängst geschrieben: „Die Verengung des Blickfeldes auf das Militärische beeinträchtig die Urteilskraft." Es liegt nahe, diese Provokation zu verstärken:

Die Verengung des Blickfeldes auf die einseitige Sicht der eigenen Interessen unter Vernachlässigung der Gegenprobe, nämlich der Berücksichtigung der fremden Interessen, beeinträchtigt die Urteilskraft.

Die Verengung des Blickfeldes auf die Politik der Stärke unter Vernachlässigung des Postulats der begrenzten Gleichgewichtspolitik beeinträchtigt die Urteilskraft Und die Verengung des Blickfeldes auf die Bedrohung unter Vernachlässigung des Chancendenkens beeinträchtigt die Urteilskraft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mythen der Welt, Zürich 1978, S. 112.

  2. Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentlichkeit als Bedrohung, Freiburg/München 1977, S. 299 ff.

  3. Adam, Smith, Theory of Moral Sentiments, 1759.

  4. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt 1973.

  5. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin 1967, S. 26 f.

  6. Raymond Aron, Paix et guerre entre les nations, Paris 1962, S. 572.

  7. „Niemand bestreitet mehr, daß in den achtziger Jahren — vielleicht schon heute, aber bestimmt in den achtziger Jahren — die Vereinigten Staaten strategisch nicht mehr in der Lage sein werden, einen sowjetischen Gegenschlag gegen sie auf ein tragbares Maß zu reduzieren... wenn meine Analyse richtig ist, müssen wir uns der Tatsache stellen, daß es in den achtziger Jahren absurd sein wird, die Strategie des Westens auf die Glaubwürdigkeit der Drohung mit gegenseitigem Selbstmord zu gründen.“ (Europa-Archiv 22/1979, S. D 589 ff.).

  8. Der Spiegel Nr. 1— 2/1980.

  9. Jan M. Lodal, SALT II and American Security, in: Foreign Affairs Nr. 2, Vol. 57, Winter 1978/79, S. 257.

  10. Die Zeit 44/1979, S. 25ff.

  11. Lew Semejko, Gibt es ein militärisches Ungleich-gewicht in Europa? in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/1970, S. 1337ff.

  12. Sir John Hackett, Der Dritte Weltkrieg, München 1978.

  13. Robert Close, Europa ohne Verteidigung, Bonn

  14. Frederick Forsyth, Des Teufels Alternative, München 1979.

  15. Samuel Pisar, Das Blut der Hoffnung, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 260.

  16. Henry Kissinger, Memoiren, München 1979, S. 64.

  17. Ebd., S. 212.

  18. Europa-Archiv 22/1979, S. D 595 f.

  19. Henry Kissinger, a. a. O„ S. 212.

  20. Hans Morgenthau, Macht und Frieden, Gütersloh 1963, S. 186.

  21. Carl Friedrich von Weizsäcker, Gefahren der Rüstung in den achtziger Jahren, in: Die Zeit 47/1979.

Weitere Inhalte

Alois Riklin, Dr. iur„ geb. 1935, juristische und politikwissenschaftliche Studien in Fribourg, Berlin, Köln, Paris und USA; 1961— 1963 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Köln); 1964 Dr. iur., 1969 Privatdozent an der Universität Fribourg; seit 1970 Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule St. Gallen, seit 1976 Prorektor der Hochschule St. Gallen. Militärische Funktion in der Schweizer Armee: Major, Chef des Truppeninformationsdienstes einer Division. Buchveröffentlichungen: Selbstzeugnisse des SED-Regimes, zus. mit Klaus Westen, 1963; Das Berlinproblem, 1964; Weltrevolution oder Koexistenz?, 1969; Die Europäische Gemeinschaft im System der Staatenverbindungen, 1972; Grundlegung der schweizerischen Außenpolitik, 1975; Die Schweiz und die Europäischen Gemeinschaften, zus. mit Willy Zeller, 1975; Handbuch der schweizerischen Außenpolitik (Mitherausgeber), 1975; Internationale Konventionen gegen die Folter, 1979; Stimmabstinenz und direkte Demokratie, zus. mit Roland Kley, 1981.