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Kriegsgefahr und Kriegsverhütung in den 80er Jahren | APuZ 3/1981 | bpb.de

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APuZ 3/1981 Audiatur et altera pars Dreifache militärpolitische Lagebeurteilung Kriegsgefahr und Kriegsverhütung in den 80er Jahren Krieg oder Frieden in Europa?

Kriegsgefahr und Kriegsverhütung in den 80er Jahren

Dieter S. Lutz

/ 40 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Während in der Dritten Welt mehr als 30 Millionen Menschen pro Jahr allein an Hunger und seinen Folgen sterben und ca. 800 Millionen Menschen in Massenarmut und Massen-elend leben, belaufen sich im Jahre 1980 die Ausgaben für Rüstung und Militär weltweit erstmals auf die nahezu unvorstellbare Summe von über 500 Milliarden US-Dollar, das sind etwa 1 Billion D-Mark. Doch es sind nicht nur die Armut und das Elend einerseits und die unproduktive Verschwendung von Ressourcen andererseits, die beunruhigen müssen; es ist vielmehr auch die Bedrohung von Frieden und Stabilität, die sich trotz des Ansteigens der Rüstungsausgaben — oder je nach Perspektive: gerade mit dem Ansteigen der Rüstungsausgaben — abzeichnet. Diese Entwicklung läßt sich allerdings kaum in der zu Ende der siebziger Jahre vorliegenden Flut an europäischen, amerikanischen oder auch chinesischen Bedrohungsanalysen und Prognosen wiederfinden. Die Autoren dieser Studien analysieren in der Mehrzahl eine gefährliche militärische Überlegenheit der Warschauer Vertrags-Organisation (WVO) im konventionellen Bereich und folgern hieraus für die achtziger Jahre die Gefahr eines mit konventionellen Mitteln geführten Überraschungsangriffs der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Stellt man allerdings die aus dem Stand einsatzbereiten Streitkräfte der NATO denen der WVO gegenüber und rechnet die teilweise stark abweichenden Organisationsstrukturen und Qualitätsmerkmale in Äquivalente um, so kann von einer gefährlichen Überlegenheit der WVO im Sinne eines kalkuliert tragbaren Risikos nicht mehr gesprochen werden. Die Gefahren eines Dritten Weltkrieges resultieren deshalb auch eher aus der nuklearen denn aus der konventionellen Ebene der Rüstung. Insbesondere im TNF-Bereich wird die Rüstung der achtziger Jahre stärker als je zuvor geprägt sein von der zunehmenden Eigendynamik der Nukleartechnologie, ihrer Tendenz zu „first strike" und „counterforce" ihrer sprunghaften, nicht exakt berechenbaren Entwicklung, dem hieraus ständig möglichen Wechsel der Kräfteverhältnisse sowie der ihn begleitenden strategischen Instabilität. Im Zweifelsfalle werden die Kontrahenten zukünftig — vom „worst case" ausgehend — permanent mit dem Gedanken der Präemption spielen bzw. glauben, wegen der erheblich verkürzten Vorwarnzeit „launch-on-warning" betreiben zu müssen: Die Furcht, durch versäumte Präemption in einer destabilen Situation einen noch größeren Schaden auf das eigene Land zu ziehen, als er in Reaktion auf einen eigenen Überraschungsangriff entstehen würde, wird zum Auslöser der Katastrophe, führt zum Weltkrieg wider Willen. Erst durch den Verzicht — zumindest einer der beiden Seiten — auf nukleare Erstschlagsysteme entfällt der Grund für das „Spielen mit der Präemption".

I. Vorbemerkung

Inhalt

Im Mittelpunkt der nachfolgenden Analyse stehen die Fragen nach der Gefahr eines Dritten Weltkrieges zwischen Ost und West bzw. nach den Mitteln und Möglichkeiten zur Kriegsverhütung im Rahmen des Systems militärischer Abschreckung Diese Fragen bedürfen keiner besonderen Begründung; sie besitzen ihre grundsätzliche Legitimation im Recht des Menschen und der Menschheit auf Leben und Überleben und erfahren ihre Aktualität und politische Brisanz zu Beginn der 80er Jahre in der krisenhaften Zuspitzung der Ost-West-Beziehungen.

Dennoch ist eine Vorbemerkung unerläßlich, da im folgenden das Problem des Krieges nur unter dem Blickwinkel militärischer Konflikte oder Zerstörung betrachtet wird — eine Sichtweise, die, trotz aller Legitimationskraft, u. a. doch auch die Arroganz der satten und reichen Völker dieser Erde widerspiegelt. Denn die Ängste und Bedrohtheitsgefühle weiter Teile der Erdbevölkerung resultieren eben nicht aus einer — für wie wahrscheinlich auch immer gehaltenen — militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, sondern aus dem ständigen Mangel an Möglichkeiten zur Ernährung, Kleidung, Wohnung und medizinischen Versorgung sowie aus dem unmittelbaren Erleben, besser: Erleiden individueller und gesellschaftlicher Ausbeutung, Unterdrückung, Vertreibung, Folter, von Diktatur, Terrorismus und Chaos. Insbesondere in den Augen der derzeit 800 Millionen in Massenarmut und Massenelend lebenden Menschen der Dritten Welt kann Krieg nichts anderes sein als lediglich eine spezifische Form ihres alltäglichen und permanenten Existenzkampfes. Mehr noch: Die Opfer dieses schleichenden, stillen Kampfes gehen weit über das Leid und Elend der beiden vergangenen Weltkriege hinaus. Allein an Hunger und seinen Folgen sterben in der Dritten Welt pro Jahr ca. 30— 40 Millionen Menschen, d. h. ca. 100 000 pro Tag; darunter sind 1t. UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, jährlich über 12 Millionen Kinder unter fünf Jahre.

Vor diesem Hintergrund verliert die Frage der Kriegsverhütung zwar nicht ihre grundsätzliche Berechtigung, gleichwohl verändert sich doch ihr moralischer Impuls. Denn für die Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob sie im Krieg getötet werden oder durch Hunger sterben. Die jährlichen finanziellen Aufwendungen zur Kriegsverhütung — und als solche werden die Rüstungsausgaben bezeichnet — liegen aber um das 20fache höher als die Aus-23 gaben für die staatliche Entwicklungshilfe. Nach dem jüngst erschienenen Jahrbuch des Stockholmer Instituts für Friedensforschung SIPRI belaufen sie sich im Jahre 1980 sogar weltweit erstmals auf die nahezu unvorstellbare Summe von über 500 Milliarden US $, das sind etwa 1 Billion D-Mark: eine 1 mit 12 Nullen. Davon geben derzeit die NATO-Staaten 43 % aus, die Staaten der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) rund 26 % und China ca. 10 %

Das Stockholmer Institut zieht daraus das Fazit: „Die weltweiten Ausgaben für Rüstung haben sich auf beunruhigende Weise weiterentwickelt. Die UN-, Abrüstungsdekade'endete buchstäblich als totaler Mißerfolg. Es war ein Hauptziel gewesen, die immensen Rüstungslasten, die von der Weltwirtschaft getragen werden, wenigstens etwas zu reduzieren, und man hatte gehofft, einen Teil dieser Ressourcen als Entwicklungshilfe in die Länder der Dritten Welt umzuleiten. Dies war ein Ziel, das im Prinzip von buchstäblich allen führenden Persönlichkeiten in der Weltpolitik gutgeheißen worden war. Doch die Kluft zwischen Worten und Taten könnte kaum größer sein..."

Welche Aussichten und Möglichkeiten sich eröffnen könnten, wenn es gelänge, auch nur einen Teil dieser immensen unproduktiven Ausgaben für Waffen und Militär in produktive Ausgaben für Entwicklungsaufgaben umzulenken, illustrieren vier Beispiele. Sie finden sich in der Einleitung zu dem ebenfalls vor kurzem erschienenen Bericht der Nord-Süd-Kommission für Internationale Entwicklungsfragen, deren Vorsitz der deutsche Alt-bundeskanzler Willy Brandt innehat:

„ 1. Die Militärausgaben allein eines halben Tages würden ausreichen, um das gesamte Programm der Weltgesundheitsorganisation zur Ausrottung von Malaria zu finanzieren. Noch weniger würde benötigt, um die Flußblindheit zu besiegen, die immer noch eine Geißel für Millionen Menschen darstellt.

2. Ein moderner Panzer kostet etwa eine Million Dollar. Mit diesem Geld könnte man die Lagermöglichkeiten von 100 000 Tonnen Reis so verbessern, daß der Verderb von jährlich 000 Tonnen oder mehr ausgeschaltet würde. (Ein Mensch kann mit gut einem Pfund Reis am Tag leben.) Mit demselben Geld könnte man auch 1 000 Klassenräume für 30 000 Schulkinder errichten.

3. Für den Preis nur eines Kampfflugzeuges (20 Millionen US $) könnte man etwa 40 000 Dorfapotheken errichten.

4. Mit der Hälfte von einem Prozent der jährlichen Rüstungsausgaben könnte man all die landwirtschaftlichen Geräte anschaffen, die erforderlich sind, um in den armen Ländern mit Nahrungsmitteldefizit die Agrarproduktion bis 1990 zu verbessern und sogar die Selbstversorgung zu erreichen." 4)

II. Kriegsgefahr und Kooperative Rüstungssteuerung (Arms Control)

Doch es ist nicht nur die unproduktive Verschwendung von Ressourcen, die beunruhigen muß, sondern — und damit kommen wir zu un-, serem eigentlichen Thema: der Kriegsgefahr — es ist eben auch die bedrohliche Entwicklung für Frieden und Stabilität, die sich in und mit dem Ansteigen der Rüstungsausgaben abzeichnet. Das Stockholmer Institut für Friedensforschung glaubt in dieser Entwicklung durchaus historische Parallelen auf dem Weg zum Krieg zu erkennen: „Sowohl vor dem Ersten wie vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es jeweils einen Aufschwung in den weltweiten Militärausgaben gegeben: und in der Nachkriegszeit gab es große Aufschwünge zur Zeit des Korea-und des Vietnam-Krieges. Es stimmt zwar, daß die erwartete Wachstumsrate für die kommenden Jahre ziemlich unter derjenigen von 1934 bis 1938 liegt, jedoch waren die Weltrüstungsausgaben (als Anteil an der Weltproduktion) damals sehr viel geringer als heute. ”

Droht die Gefahr eines Dritten Weltkrieges also, weil zuviel für Militär und Waffen ausgegeben wird, d. h., weil zuviel gerüstet wird? Um diese Frage beantworten zu können, sind als erstes einige Anmerkungen zur Theorie und Praxis derzeitiger Sicherheitspolitik erforderlich: Äußere Sicherheitspolitik kann definiert werden als Vorsorge gegen Eingriffe von außen, die mit Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt die Entschlußfähigkeit der Regierung, die Entscheidungsfreiheit des Parlaments, die eigenständige Entwicklung der Gesellschaft oder die Existenz des Staates und der ihm angehörenden Menschen bedrohen. Gewahrt werden sollen die politische Unabhängigkeit, die territoriale Integrität sowie die Lebensfähigkeit eines Landes und die Exi-stenzerhaltung und -entfaltung seiner Bür-ger

Vorrangiges Mittel dieser Sicherheitspolitik ist nach wie vor die militärische Macht. Auch im Nuklearzeitalter ist kaum ein Staat bereit, auf militärische Vorsorge als „Standbein" seiner äußeren Sicherheit zu verzichten. Die Begründung gibt u. a. Bundeskanzler Schmidt im Weißbuch der Bundesregierung von 1979 wie folgt:.....der Wille zum Frieden reicht allein nicht aus. Der Frieden muß möglich gemacht werden, und er muß geschützt werden."

In einer Broschüre des Verteidigungsministeriums vom April 1980 heißt es weiter: „Verteidigungsfähigkeit und Entspannungsbereitschaft auf der Grundlage des militärischen Gleichgewichts sind die beiden Komponenten des sicherheitspolitischen Konzepts der Allianz. Dieses Konzept, auf das sich das Bündnis 1967 geeinigt hat, bestimmt die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland: Gesicherte Verteidigungsfähigkeit, Gleichgewicht der militärischen Kräfte und auf dieser Grundlage Entspannungsbereitschaft. Die Fähigkeit, sich notfalls verteidigen zu können, erlaubt die Suche nach politischen Vereinbarungen." 1. Verteidigungsfähigkeit und Folgenorientierung Die „Fähigkeit, sich verteidigen zu können", ist allerdings für die Bundesrepublik nicht unbestritten. Bereits 1970 hat eine unter Leitung von Carl Friedrich von Weizsäcker angefertigte Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung" die Frage der Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik in all ihren Verästelungen untersucht. Diese Studie kommt insbesondere zu folgenden beiden Ergebnissen: „ 1. Die Bundesrepublik ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen. 2. Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen."

Die Weizsäcker-Studie geht bei dieser Beurteilung davon aus, daß die Bundesrepublik aufhört, eine unabhängige, lebensfähige Industriegesellschaft zu sein, wenn sie mehr als 20— 25 % ihrer Bevölkerung und mehr als 50 % ihrer Industriekapazität verliert. Entscheidend hierbei sind nicht nur die quantitativen Verluste, sondern primär der Zusammenbruch des Organisationsnetzes. Wird die Bundesrepublik derart schwer getroffen, kann sie nicht mehr mit unverletzten Gesellschaften konkurrieren und vermutlich nicht einmal alle ihre überlebenden ernähren. Ein in unserem Land hin-und hergehender oder festgefahrener, langandauernder konventioneller Krieg würde aber Zerstörungen mit sich bringen, die selbst mit den Beispielen der Sowjetunion im 2. Weltkrieg oder Koreas und Vietnams wegen höherer Industrialisierung und der andersartigen Infra-und Besiedelungsstruktur nur unvollkommen zu vergleichen sind. Wegen dieser-besonderen Verwundbarkeit würde auch ein Angriff mit nuklearen Mitteln zum Zwecke der Eroberung der Bundesrepublik sogar dann zu ihrer Vernichtung als lebensfähige Industriegesellschaft führen, wenn die gegnerische Macht dieses gar nicht wollte.

Militärische Sicherheitspolitik — und dies trifft vor allem für die Bundesrepublik zu — muß deshalb in einem doppelten Sinne folgen-orientiert sein. Zum einen muß sie die grauenvollen Konsequenzen und Auswirkungen eines möglichen Dritten Weltkrieges für die eigene Bevölkerung berücksichtigen. Eine Sicherheitspolitik auf der Grundlage militäri-scher und insbesondere nuklear-technologischer Waffensysteme darf deshalb nur prohibitiv der gegenseitigen Abschreckung dienen, d. h. sie darf ausschließlich Kriegsverhütungsvorkehrungen treffen, nicht aber Kriegsvorbereitungs-und -führungsmaßnahmen ergreifen. Zum anderen muß sie auch die Sicherheitsbedürfnisse der Nachbarn und des möglichen Gegenübers berücksichtigen. Denn schon jede vage Vermutung eines drohenden Krieges kann den potentiellen Gegner zum Präventiv-oder Präemptivschlag veranlassen, jede sich abzeichnende Unausgewogenheit der Kräfte-verhältnisse kann zum Auslöser der Katastrophe werden. Da beide Seiten eine dauernde Aggressionsbereitschaft des potentiellen Gegners nicht ausschließen und sich selbst auf den „worst case", d. h.den schlimmsten Fall vorbereiten, werden Unausgewogenheiten als eine unerträgliche Verwundbarkeit empfunden, die zu erhöhten Rüstungsanstrengungen herausfordert bzw. verleitet. Die Versuchung, in irgendeiner Phase der ständigen Auf-und Umrüstung sowie der wechselnden Kräfteverhältnisse und -vorteile zum präemptiven bzw. präventiven Krieg zu schreiten, wird deshalb sowohl für den stärkeren (und in Zukunft vielleicht wieder schwächeren) wie für den schwächeren (und in absehbarer Zeit noch schwächeren) der Kontrahenten zum ernsten Problem. Beide Gegner sehen die zielstrebigen Aufrüstungsbemühungen des anderen, beide wissen nicht, ob die Bemühungen nicht bereits als konkrete Kriegsvorbereitungsmaßnahmen zu verstehen sind; beide werden deshalb wiederum vom „worst case" ausgehen.

Auch ohne ernsthafte eigene Absichten müssen beide Seiten also ständig mit dem Gedanken des Präemptiv-und Präventiv-Krieges spielen. Diese dem Abschreckungssystem immanente Kriegsgefahr zu beseitigen, ist — im dialektischen Prozeß mit der Entspannungspolitik — Aufgabe der „Kooperativen Rüstungssteuerung". 2. Kooperative Rüstungssteuerung Als Konzept wurde die Kooperative Rüstungssteuerung etwa um das Jahr 1960 unter dem angelsächsischen Begriff der Rüstungskontrolle, englisch: Arms Control, entwickelt. Historisch lassen sich seine Wurzeln bis zu den Abrüstungsbemühungen der Industrienationen des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Anders aber als die Bemühungen um Abrüstung, insbesondere auch die noch 1962 von den beiden Supermächten vorgelegten Vertragsentwürfe für eine „allgemeine und vollständige Abrüstung" (general and complete disarmament), will die Konzeption der Kooperativen Rüstungssteuerung keine Utopie bleiben oder kaum erfüllbare Erwartungen erwek. ken, sondern wenigstens ein kleiner Schritt zu einer abgerüsteten Welt sein

Wolf Graf von Baudissin, Generalleutnant a. D. und Direktor des Instituts für Friedens-forschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), der auch dem englisehen Begriff der „Arms Control" die deutsche Bezeichnung der „Kooperativen Rüstungssteuerung" gab definiert das Konzept wie folgt: „Unter Kooperativer Rüstungssteuerung (KRSt) ist eine politisch-militärische Strategie zu verstehen, mit der Staaten oder Bündnisse trotz aller bestehenden Konflikte und Antagonismen als . Partner'ihre Militärpotentiale, deren Strategien, Umfang, Strukturen, Dislozierung und sogar taktischen Einsatz im Interesse ihrer beiderseitigen Sicherheit aufeinander abstimmen."

Obwohl also die Kooperative Rüstungssteuerung — wenn auch je nach Ausrichtung in unterschiedlichem Maße — der Abrüstung als Bezugspunkt einerseits verpflichtet bleibt, versucht sie andererseits pragmatisch die sich aus der Existenz nuklearer Vernichtungspotentiale ergebenden politischen und militärischen Folgen zu verarbeiten. Insbesondere beläßt sie die militärische Abschreckung in ihrer zentralen Rolle als Mittel der Kriegsverhütung. Je nach politischer und/oder wissenschaftlicher Ausrichtung steht jedoch — mehr eindimensional — die kurz-oder mittelfristig zu lösende Frage im Vordergrund, wie die gegenseitige Abschreckung zu stabilisieren sei, oder — mehr zweidimensional — wie das stabilisierte bzw. noch zu stabilisierende Abschreckungssystem durch Abrüstung überwunden werden könne. In jedem Falle aber kann die Kooperative Rüstungssteuerung als Strategie für die gemeinsame Aufrechterhaltung glaubwürdiger gegenseitiger Abschrekkung bezeichnet werden — allerdings langfristig mit weniger bedrohten, weniger bedrohlichen und weniger kostspieligen Potentialen. Kurz-und mittelfristig dagegen ist eine Konzeption Kooperativer Rüstungssteuerung, die sich vorrangig dem Ziel der Stabilisierung des Abschreckungssystems verschreibt, mehr oder weniger auf die Perfektionierung des klassischen balance-of-power-Mechanismus ausgerichtet. Eine solche Perfektionierung kann sowohl partielle Aufrüstungs-wie Abrüstungsmaßnahmen einschließen. Entscheidend ist — und damit kommen wir zu unserer Ausgangsfrage nach der Kriegsgefahr aus dem Ansteigen der Rüstungsausgaben zurück —, ob die jeweilige Maßnahme dazu dient, strategische Stabilität zu erreichen, zu erhalten bzw. zu optimieren, oder aber ob sie dazu beiträgt, strategische Stabilität negativ insofern zu verändern, daß Kriege nicht länger als kälkuliert untragbares Risiko erscheinen.

III. Bedrohungsanalysen für den Bereich konventioneller Rüstung und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges

Systemimmanent gesehen und für sich betrachtet sagen also forcierte Rüstungsmaßnahmen noch nichts über ihren stabilisierenden oder destabilisierenden Charakter aus.

Im Weißbuch 1979 der Bundesregierung heißt es z. B.: „Obwohl sich die Beziehungen zu den Staaten Osteuropas in den letzten Jahren normalisiert haben und Fortschritte in der Entspannungspolitik erzielt wurden, haben die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten Staaten des Warschauer Paktes ihre Rüstung unablässig vorangetrieben."

Diese Äußerung ist sicherlich als Kritik gedacht, läßt ohne Kenntnis der Gegenmaßnahmen der NATO aber nicht ersichtlich werden, ob und in welchem Umfange der ein-oder beiderseitige Rüstungsprozeß destabilisierend und damit kriegsfördernd wirkt. Deutlicher als das Weißbuch der Bundesregierung ist allerdings eine ganze Flut europäischer, amerikanischer, aber auch chinesischer Bedrohungsanalysen und Prognosen. Doch lassen wir zur Illustration einige ihrer Autoren selbst zu Wort kommen.

Der pensionierte General und ehemalige Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, Johannes Steinhoff, stellt in seinem Buch mit dem in Frageform gekleideten Titel „Wohin treibt die NATO?“ fest: „Was die konventionelle Stärke im Ost-West-Verhältnis betrifft, so besteht ein Ungleichgewicht zugunsten der Sowjetunion ... Daß die Sowjets bis zu 12 % ihres immer noch mageren Bruttosozialprodukts für Verteidigung aufwenden, daß sie bis zu 12 Milliarden Dollar mehr an Verteidigungskosten aufbringen als die Vereinigten Staaten, deren Bruttosozialprodukt mehr als das Doppelte dessen darstellt, was die Sowjets erarbeiten, ist ernüchternde Tatsache ... Ein überrasehender begrenzter Angriff verspricht unter den derzeitigen Verhältnissen Erfolg."

Hat Steinhoff seine Frage „Wohin treibt die NATO?“ zumindest im Titel seines Buches noch offengelassen, so scheint die Antwort für den belgischen General Robert Close, ehemals Mitglied des Planungs-und Politikausschusses von SHAPE und Direktor des NATO Defense College in Rom, vorab festzustehen. Sein Werk „Europa ohne Verteidigung? 48 Stunden, die das Gesicht der Welt verändern" kommt dann auch direkt und ohne Umschweife bereits in der „Einführung" zur Sache: „Das nuklear-strategische Patt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion hat eine völlig neue Situation geschaffen. Sie gibt den klassischen oder . konventionellen Streitkräften ihren vollen Wert zurück und berechtigt zu der Hypothese eines — wenn nicht wahrscheinlichen, so doch möglichen — offenen Konflikts, bei dem Westeuropa auf dem Spiel steht. Die durch die unbestreitbare Überlegenheit der konventionellen sowjetischen Streitkräfte in Mitteleuropa ausgelöste Bedrohung ist schärfer als jene, die 1949 bestand und damals zur Bildung des Atlantischen Bündnisses geführt hat... Entsprechend den wichtigsten Prinzipien ihrer Strategie, aufgebaut auf der Überrumpelung, der Überraschung, der Geschwindigkeit und der Schockwirkung, haben die Sowjets die Möglichkeit, einen blitzartigen Angriff auszulösen und sich innerhalb von 48 Stunden der Bundesrepublik Deutschland vom Eisernen Vorhang bis zum Rhein zu bemächtigen."

Beklemmender noch als die Visionen vonClose ist das als Roman verfaßte „Kriegsspiel" des französischen Oberstleutnant Guy Doly, das er unter dem Pseudonym Francois veröffentlicht hat In der Einleitung dieses Buches mit dem Titel „Wenn die Russen kommen", das Doly nach seinen eigenen Worten geschrieben hat, „um die Franzosen und die freien Völker aufzuwecken, bevor es zu spät ist", heißt es: „Um 21. 42 Uhr, am Pfingstsamstag, brausen sowjetische Bomber über die deutsch-deutsche Grenze — die west-östliche Demarkationslinie der NATO. Minuten später liegt Nürnberg im Bombenhagel: zehn Minuten später geht im Norden Straßburgs die Raffinerie von Reichstedt im Raketenhagel unter. Um 22. 30 Uhr hallen in Paris Explosionen; Kaufhäuser und Verwaltungsgebäude stehen in Flammen; Brücken fliegen in die Luft, weil Schleppkähne unter ihnen explodieren: gigantische Sabotageakte. Um 23. 00 Uhr ist evident: Der Ostblock greift nach ganz Westeuropa. Sowjetische Luftlandedivisionen besetzen strategische Positionen in Norditalien, in Dänemark und am Rhein. Frankreich wird zur Kapitulation aufgefordert... Der Präsident der Vereinigten Staaten hat mitgeteilt, daß sich die USA nicht in der Lage sehen, einen nuklearen Schlagabtausch mit den Sowjets zu wagen."

In Ablauf und Schemata einer ähnlichen Weltkrieg-II-Mentalität verhaftet, in didaktischer Hinsicht aber über eingeblendete Szenen aus der Perspektive von Augenzeugen und Betroffenen raffiniert aufgebaut, stellt sich die Studie „Der Dritte Weltkrieg" des britischen Generals a. D. Sir John Hackett dar. In seiner Fiktion heißt es: „Am 4. August 1985, 4 Uhr morgens, eröffnen 40 sowjetische und andere Ostblock-Divisionen den Angriff auf die Bundesrepublik. Schon am ersten Tag wird überraschend der Flugplatz Bremen von Luftlandetruppen erobert, Norddeutschland bis zur Weser ist sofort verloren. Zugleich beginnt der sowjetische Angriff aus dem Raum Murmansk auf Nordnorwegen und durch Österreich hindurch auf Italien, vier Tage später ist Dänemark mit den Ostseeausgängen besetzt und im deutschen Norden verläuft die Front von Minden aus nach Westen bis an die Zuidersee. Kassel, Würzburg und München sind schnell in sowjetischer Hand; im noch unbesetzten Teil der BRD blockieren Flüchtlingskolonnen die Rheinbrücken .. .

Der Krieg wird nach der Hackettschen Fiktion vom Westen zwar schließlich dennoch, aber auch nur deshalb gewonnen, weil — und damit kommen wir zu unserer Frage zurück, ob die Gefahr eines Krieges aus zuviel oder zuwenig Rüstung resultiert — die NATO bis zum Zeitpunkt 1985 vorgesorgt, d. h. konventionell stark aufgerüstet hat. Vorsorge und Ausgang des Hackettschen „Lehrstücks" bzw.der Studien seiner Kollegen lassen also am „Lernziel" ebensowenig Zweifel wie an der Beantwortung unserer Frage: Die WVO wendet — nach Ansicht der genannten Autoren — mehr finanzielle Mittel für Militär und Rüstung auf als die NATO, und die Sowjetunion besitzt bereits heute eine gefährliche Überlegenheit. Die Offiziere folgern hieraus, daß ohne Forcierung der westlichen Rüstungsanstrengungen aus diesem Ungleichgewicht in absehbarer Zeit ein Dritter Weltkrieg erwachsen muß.

Datenvergleich und „Ausgewogenheit der Kräfte"

Dieser Einschätzung kann nicht gefolgt werden Einige Schlaglichter sollen dies mit Hilfe offizieller Daten und Gegenüberstellungen aus dem Weißbuch 1979 der Bundesregierung belegen: Die Beurteilung der Kräfte im konventionellen Bereich erfolgt in der Regel nach der Zahl der Divisionen beider Seiten sowie nach der Anzahl der Panzerwaffen. In beiden Kategorien besteht auch das augenfälligste Gefälle zwischen den beiden Militärblökken zum Nachteil der NATO. So verfügt die WVO nach Angaben des Weißbuches 1979 über einen Gesamtbestand von 154 Divisionen, wovon 101 Divisionen für einen Einsatz in Mitteleuropa vorgesehen sein sollen. In Mitteleuropa selbst unterhält die WVO auf dem Territorium der DDR, der CSSR und Polens insgesamt 58 Divisionen. Dieser gewaltigen Anzahl steht auf westlicher Seite (Bundesrepublik, Benelux und Dänemark) nach Auskunft des Weißbuches lediglich ein Bestand von 28 Divisionen gegenüber. Das Weißbuch berücksichtigt bei seiner Aufstellung jedoch weder die unterschiedlichen Dislozierungsräume und Bereitschaftsgrade noch die unterschiedlichen Personalstärken der Divisionen in Ost und West. Auch die drei im Südwesten der Bundesrepublik stationierten französischen Panzerdivisionen werden in den Kräftevergleich nicht einbezogen. Eine einfache Gegenaufrechnung verdeutlicht das Problem:

28 Divisionen entsprechen in Personalzahlen umgerechnet — orientiert an bundesrepublikanischen Divisionen ä 17 000 Soldaten — ca.

476 000 Mann. Tatsächlich aber bestehen bereits die Streitkräfte der Bundesrepublik aus ca. 495 000 Mann mit einem Heeresanteil von 335 200 Soldaten. Der Gesamtheeresbestand der NATO in Mitteleuropa umfaßt nach Angaben des Londoner Instituts für Strategische Studien (IISS) ca. 780 000 Soldaten. Die Differenz von ca. 300 000 Mann bei einem Bestand von lediglich 28 Divisionen bleibt ungeklärt, es sei denn, man geht von einem sehr viel höheren Divisionsbestand oder einer nicht vergleichbaren Gliederungsstruktur aus.

Ähnliche Probleme ergeben sich bei dem Vergleich der Panzerwaffen. Laut Weißbuch 1979 liegt der numerische Niveauunterschied zwischen Ost und West auf dem gewaltigen Vorsprung von 6 500 : 30 200 Panzern zugunsten der WVO, d. h. bei einem Verhältnis von 1: 4, 64. Zwar zieht das Weißbuch erstmals 1979 auch die Panzerabwehrsysteme in den Vergleich mit ein, doch sind auch hier die Angaben eher bescheiden und verschleiernd. Erwähnt werden Modernisierungsmaßnahmen im Bereich der Panzerabwehrraketen in Höhe von ca. 3 400 Systemen der Typen TOW, HOT und MILAN. Mag diese Einzelinformation auch korrekt sein, so sehen doch die Größenordnungen bei näherer Betrachtung völlig anders aus: Die USA haben bislang schon mehr als 200 000 Panzerabwehrlenkraketen allein des Typs TOW hergestellt. Und allein die USA werden in den Jahren 1979— 1981 (neben Panzern des modernsten Typs XM-1 sowie anderen Abwehrlenkraketen) über 40 500 TOW-Panzerabwehrraketen beschaffen.

Diese Relativierungen der Potentiale und ihrer Vergleiche könnten durch eine ganze Anzahl weiterer Beispiele — auch aus dem Bereich der Luftstreitkräfte oder der Marine — ergänzt werden. Erwähnt werden soll allerdings nur noch ein Aspekt: Ein Panzer des modernen Typs XM-1 kostet ca. 2— 3 Millionen US $; eine TOW-Panzerabwehrrakete dagegen lediglich 4 500 US $. Ein Mehrzweck29

Kampfflugzeug kostet über 10 Millionen US $; die Lenkwaffe, um das Flugzeug sicher abzuschießen, dagegen weniger als 10 000 US$.

Auch diese Beispiele zeigen wiederum, daß einseitige höhere Rüstungsausgaben nicht zwingend gleichzusetzen sind mit einer höheren Leistungsfähigkeit und daraus resultierenden Ungleichgewichten, Instabilitäten und letztlich der Gefahr eines Krieges. Mit anderen Worten: Ausgewogenheit der Kräfte ist wichtiger als ihr Umfang und die Art der Bewaffnung. Nur ein stabilisiertes Kräfteverhältnis wird die bestehenden Bedrohtheitsgefühle und das tiefwurzelnde Mißtrauen relativieren. Im Zeichen einer qualitativen Rüstungsdynamik, die neue taktische, militärstrategische, ja politische Optionen eröffnet, haben Zahlen-vergleiche erheblich an Wert verloren. Simple numerische Hochrechnungen gehen an der komplexen Wirklichkeit vorbei, weil sie die Verschiedenartigkeit der Potentiale, ihrer Strategien und der geo-strategischen Bedingungen, unter denen sie stehen, unbeachtet lassen. Parität wörtlich genommen als numerische Parität würde sogar zu einem Motor des Wettrüstens in einer Lage, da sich die Akteure bei ungenügender Transparenz und altgewohntem „Worst-Case-Denken“ um die Stabilität der nächsten Dekade zu sorgen beginnen. So verstandene Parität würde zum „Vorhalten“ geradezu anreizen

In diesem Sinne äußert sich auch das Weißbuch 1979: „Grundlage der Sicherheitspolitik ist eine Lagebeurteilung, die alle Sicherheitsfaktoren berücksichtigt... Der militärische Kräftevergleich darf nicht isoliert und ohne Bezug zu anderen Sicherheitsfaktoren einer umfassenden Lagebeurteilung betrachtet werden. Ausschließlich Zahlen militärischer Potentiale zu vergleichen, ohne deren Einsatz-zwecke und Wirkungsmöglichkeiten zu würdigen, ergibt unvollständige und damit falsche Schlüsse.“

Von einer Gefährdung des Westens durch einen risikolosen Überraschungsangriff ohne Vorwarnung und mit überlegenen konventionellen Kräften der WVO kann deshalb zusammenfassend kaum gesprochen werden. Berechnungen des Stockholmer Instituts für Friedensforschung SIPRI bestätigen diese Aussage: Stellt man die aus dem Stand einsatzbereiten Land-und Luftstreitkräfte der NATO denen der WVO gegenüber und rechnet die teilweise stark abweichenden Organi-sationsstrukturen und Qualitätsmerkmale in Divisionsäquivalente um, so ergibt sich für 1976 ein Verhältnis von 70 1/3 zu 81 Divisionen d. h. relative Ausgewogenheit zwischen den beiden Militärblöcken mit leichtem Vorteil zugunsten der WVO.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt das Londoner Institut für Strategische Studien I 1SS: Für 1979/80 erstmals in einsatzbereite Divisionsäquivalente berechnet, stehen in Europa 64 Divisionen der Nato 68 Divisionen der WVO gegenüber — ein Verhältnis von 1: 1, 06. Im Vorjahr hatte das IISS — ohne Umrechnung — mit 64 : 103 Divisionen noch ein Verhältnis von 1: 1, 61 angegeben Kritisch anzumerken ist allerdings, daß weder SIPRI noch IISS die Kriterien ihrer Äquivalenzberechnungen offenlegen.

IV. Die Kriegsgefahr aus der Eigendynamik der Nuklearrüstung

Die angeführten Kriegsszenarien und Prognosen der genannten Autoren von Close über Doly bis Hackett sind jedoch nicht nur in bezug auf die Kriegsgefahr zwischen Ost und West fragwürdig. Zwei weitere Aspekte seien genannt: Zum einen ist selbst bei einem unterstellten Kräfteungleichgewicht die Forderung nach einer Rüstungsforcierung nicht zwingend. Im Rahmen der Kooperativen Rüstungssteuerung kann vielmehr versucht werden, Stabilität auch durch Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen herzustellen. Zum anderen blenden die Autoren Bestand, Kräfteverhältnis und Fortentwicklung der nuklearen Ebene der Rüstung in ihren Analysen und Prognosen mehr oder weniger aus. Wie spätestens aber seit dem sogenannten Doppelbeschluß des NATO-Rates vom 12. Dezember 1979 deutlich ist, liegen die Gefahren eines Dritten Weltkrieges gerade im Nuklearbereich: einerseits in den diffizilen Problemen der Rüstungssteuerung auf dieser Ebene, andererseits in der sprunghaften Eigendynamik der nuklear-technologischen Entwicklung. 1. Bedrohungsanalysen Im Bereich der „Nuklearkräfte in und für Europa“

Dieser sogenannte Doppelbeschluß der NATO, oder auch „Nachrüstungsbeschluß" genannt, soll bis 1983 zur Produktion und Stationierung von 572 neuen, weit in die Sowjetunion hineinreichenden Mittelstreckenwaffen PERSHING II und Marschflugkörpern (Cruise Missile) führen. Der Beschluß bildet die Konsequenz aus einer Diskussion, deren Initial-zündung auf einen Vortrag von Bundeskanzler Schmidt am 28. Oktober 1977 in London zum Gedenken an Alastair Buchan zurückgeführt wird. In seiner Rede betonte Schmidt unter Bezug auf die nuklearstrategischen Rüstungsbegrenzungsgespräche der Supermächte (SALT) und auf die Verhandlungen zur Begrenzung der konventionellen Rüstung (MBFR) in Wien erstmals nachdrücklich: „Wir Europäer haben zu Beginn der SALT-Gespräehe die enge Verbindung zwischen der Parität auf dem strategisch-nuklearen Gebiet einerseits und dem taktisch-nuklearen und konventionellen Sektor andererseits nicht klar genug gesehen oder nicht klar genug artikuliert. Es gilt jetzt, die Verzahnung von SALT und MBFR klar zu erkennen und daraus die notwendigen praktischen Schlüsse zu ziehen... Die MBFR-Verhandlungen in Wien haben bis heute keine formulierten Ergebnisse gebracht. Der Warschauer Pakt hat seit Beginn der Verhandlungen die Disparitäten militärischer Kräfte sowohl auf konventionellem als auch auf taktisch-nuklearem Gebiet eher noch vergrößert.“

Die Feststellung eines relativen Gleichge. wichts im Bereich der konventionellen Rü. stungsäquivalente heißt allerdings nicht, daß die Gefahr eines konventionellen Kriegsaus. bruchs völlig ausgeschlossen ist. Zusammen, fassend sollte eher eine Warnung ausgespro. chen werden: Solange Rüstung nicht koopera. tiv gesteuert wird, sondern im Gegenteil Be. drohungsvorstellungen in der Öffentlichkeit durch schematische Darstellungen und nume. rische Vergleiche bestimmt und manipuliert werden, die große — in Wahrheit nicht exi. stierende — Disparitäten nachweisen, so lange können Instabilität und Kriegsgefahr auch aus Mißtrauen und „Worst-Case-Denken" resultieren in Verbindung mit der nahezu unvorstellbaren Zusammenballung von Destruktionspotential in Mitteleuropa als solcher. Mit dieser Feststellung einer Disparität auf taktisch-nuklearem" Gebiet widersprach der Bundeskanzler einer bis dato nahezu einhelligen Auffassung, daß sich das taktisch-nukleare Kräfteverhältnis in Europa mit einer Gesamtsprengkopfzahl von ca. 7 000 : 3 500 auf ein eindeutiges Verhältnis von 2 : 1 zugunsten der NATO belaufe. Entsprechend waren die Nuklearkräfte in und für Europa", kurz: TNF, bis 1977 zwar Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, aber kaum Thema offizieller und/oder offiziöser Kräftevergleiche. Ab 1978 betonen dagegen Verlautbarungen und Programme des Bündnisses, etwa das „Langfristige Verteidigungsprogramm (Long-Term Defense Program/LTDP) der NATO oder der Fünf-Jahres-Plan (Five Year Defense Program)

der USA die Notwendigkeit von Maßnahmen gerade auf diesem Teilsektor der Rüstung.

Auch das jüngste Weißbuch 1979 der Bundesregierung oder das zur gleichen Zeit erschienene Heft „The Military Balance 1979— 1980"

des Instituts für Strategische Studien in London widmen — im Unterschied zu den vorangegangenen Jahresausgaben — diesen Waffensystemen erstmals eigene Kapitel. Und die CDU/CSU-Opposition legte im Frühjahr 1979 über ihre Abgeordneten Würzbach und Berger bzw.deren Assistenten eine ungewöhnlich umfangreiche Studie zum Kräfteverhältnis im euronuklearen Bereich vor Die Minimierung des Angriffsrisikos für die Sowjetunion bzw. die Bedrohung Westeuropas wird in diesen Studien insbes. auf zwei neue Systeme der Sowjetunion zurückgeführt: auf den Schwenkflügelbomber BACKFIRE und vor allem auf die Mittelstreckenrakete SS-20. Im Weißbuch der Bundesregierung heißt es: „Bei der Komponente des nuklearen Gesamtpotentials tritt einseitig, nämlich im Osten, eine drastische Veränderung ein. Der Ausbau des sowjetischen Mittelstreckenpotentials durch die SS20 und den BACKFIRE-Bomber schafft eine strategische Bedrohung neuer Dimension für die Atlantische Allianz in Europa ... Die SS20-Rakete ist eine grundlegende Neuerung und keine Modernisierung im sowjetischen Raketenpotential. Sie ist mobil und deshalb fast unverwundbar, mit Mehrfachsprengköpfen (MIRV) hoher Treffgenauigkeit ausgerü-stet und hat eine Reichweite bis zu 5 000 km. Mit den MIRV der SS-20-Rakete vervielfacht der Warschauer Pakt das Potential seiner gegen Westeuropa einsetzbaren nuklearen Sprengköpfe."

Das Kräfteverhältnis selbst und die daraus resultierenden Gefahren werden teilweise außerordentlich pessimistisch beurteilt. So kommen etwa die genannten CDU-Autoren zusammenfassend zu folgendem Ergebnis: „Die UdSSR hat eine eindeutige Überlegenheit bei den Kurzstreckengeschossen von 5, 4 : 1, bei allen Flugzeugen von 1, 7: 1 und allen IRBM/MRBM und SLBM von mindestens 4: 1. Die Sowjetunion baut diese Überlegenheit in allen Bereichen weiter aus, ohne daß der Westen seine Gesamtkapazität wesentlich verändert." Die Studie folgert ferner, daß der Kreml in Europa die atomare Hegemonie anstrebe und der Trend von einer Überlegenheit zur Dominanz gehe. Mit dieser Entwicklung gefährde aber die sowjetische Rüstung die nationalen Interessen Westeuropas und die Abschreckung und somit den Frieden in diesem Erdteil. Es ständen folgerichtig nur drei politische Entscheidungen offen: . Anpassung an die sowjetische Hegemonie, Rüstungskontrolle und Nachrüsten."

Oder noch deutlicher: „Verhandlungsfähigkeit setzt Verhandlungsmasse voraus. In der TNF müssen sich daher Waffensysteme befinden, die man, zur Disposition stellen kann... Hier bieten sich die technischen Neuentwicklungen einmal als Verhandlungs-Chip, zum anderen als Mittel zur Aufrechterhaltung unserer Sicherheit an. Eine Modernisierung der TNF kann im Hinblick auf SALT III somit die notwendige Grundlage zur Rüstungskontrolle sein und widerspricht nicht ihrem Wesen." Entsprechend diesen oder ähnlichen Bedrohungs-und Unterlegenheitsanalysen sowie ihren Schlußfolgerungen wurde zu Ende der 70er Jahre die Diskussion um das TNF-Kräfteverhältnis in der Öffentlichkeit unter Schlag-und Reizworten geführt wie die Abschrekkungslücke der NATO", „Europas Raketenlükke", „Lücke im atomaren Konzept" etc.; konsequenterweise wurde der auf der Dezember-Sitzung des NATO-Rates gefaßte Beschluß über die nuklearen Rüstungsmaßnahmen der kommenden Jahre als „Antwort" auf sowjetisches überlegenheitsstreben und als „Nachrüstung“ deklariert und legitimiert.

Die historische Bedeutung eines Beschlusses der NATO und der Bundesrepublik, der auf die Produktion und Stationierung von Mittelstreckenraketen mit Reichweiten weit in das Territorium der Sowjetunion hinein abzielt, liegt offen zutage. Zbigniew Brzesinski, Sicherheitsberater des US-Präsidenten, stellt ihn in eine Reihe mit der Entscheidung zur Schaffung des Strategischen Bomberkommandos (SAC) durch Präsident Truman und der Einführung der Interkontinentalraketen durch Präsident Kennedy. Erhard Eppler, Bundesminister a. D„ bezeichnete die Entscheidung für weitreichende Mittelstreckensysteme in Europa als eine „Provokation der UdSSR", die nur mit dem in den 60er Jahren unternommenen Versuch der Sowjetunion, Raketen auf Kuba zu stationieren, selbst verglichen werden könne 2. Die Datenvergleichsproblematik Obgleich die Bedeutung, die der NATO-Ratsbeschluß für die Sowjetunion besitzt, also durchaus erkannt wurde, reagierten Bonner Regierungskreise mit deutlicher Überraschung und Betroffenheit, als der sowjetische Außenminister Gromyko im Rahmen eines Besuches der Bundesrepublik im November 1979 erklärte, es könne keine Verhandlungen über die kontinental-strategischen Waffen geben, wenn die NATO Mitte Dezember 1979 den Ausbau der Mittelstreckensysteme beschlösse. Eine Meinungsänderung unter den NATO-Partnern hat diese Warnung Gromykos allerdings nicht bewirkt. Auch der Vorschlag der dänischen Regierung, die Stationierungsentscheidung der NATO für sechs Monate zu verschieben, um „den guten Willen" der Sowjetunion in bezug auf Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung zu prüfen, wurde von den übrigen NATO-Staaten nicht akzeptiert. Ohne Erwiderung blieb schließlich auch eine Gegendarstellung Breschnjews, die er im Rahmen seiner Rede anläßlich des 30. Gründungstages der DDR gab: „Als Vorsitzender des Verteidigungsrates der UdSSR erkläre ich mit aller Bestimmtheit: in den letzten zehn Jahren ist auf dem Gebiet des europäischen Teils der Sowjetunion die Anzahl der Träger von Kernwaffen mittlerer Reichweite um keine einzige Rakete, um kein Flugzeug vergrößert worden. Im Gegenteil, die Zahl der Abschußrampen für Mittelstreckenraketen sowie die Stärke der Kernladungen dieser Raketen sind sogar etwas zurückgegangen."

Auf die großen Schwierigkeiten, „strategische Stabilität" durch Rüstungsvergleiche zu quantifizieren und zu qualifizieren, hatten wir bereits bei der Beurteilung des konventionellen Kräfteverhältnisses hingewiesen. Auch die Stellungnahme von Breschnjew ist ein typisches Beispiel für diese Problematiken. Selbst unterstellt, seine Aussage, die Zahl der sowjetischen Mittelstreckenraketen bzw. die Zahl der Abschußrampen sei in den letzten Jahren zurückgegangen, sei korrekt, so ist damit über die Veränderung des Kräfteverhältnisses, seitdem Raketen Mehrfachsprengköpfe tragen können, letztlich doch keine Aussage getroffen. Gleichwohl kann von einer gefährlichen Unterlegenheit der NATO im Bereich der „Nuklearwaffen in und für Europa", die nicht einmal mehr den Vorschlag Dänemarks, den NATO-Beschluß für sechs Monate auszusetzen, akzeptabel erscheinen ließe, nicht gesprochen werden. In einer früheren Untersuchung, welche die TNF-Potentiale in Ost und West nicht nur unter quantitativen, sondern auch unter qualitativen und strukturellen Kriterien und Parametern analysierte, ergab sich zusammengefaßt vielmehr folgendes Bild:

„ 1. Die Ergebnisse des Kräftevergleichs zeigen, daß sich aus dem TNF-Bereich keinesfalls die Annahme einer militärischen Unterlegenheit der NATO ableiten läßt. Im Gegenteil ist nicht auszuschließen, daß die WVO dem fortschreitenden und qualitativen Standard der NATO glaubt mit Modernisierungsmaßnahmen begegnen zu müssen.

2. Die Risiken und Folgen eines nuklearen Angriffskrieges gegen die westeuropäischen NATO-Staaten sind auch ohne die Modernisierungsmaßnahmen des NATO-Ratsbeschlusses vom Dezember 1979 und selbst unter Worst-Case-Bedingungen zum Nachteil tragbar."

Auf diese und ähnliche kritische Stimmen zum NATO-Beschluß hat das Bundesverteidigungsministerium mit einer Broschüre reagiert, in der es u. a. heißt: „Die sachgerechte Zuordnung der nuklearen Waffensysteme von NATO und Warschauer Pakt nach den beschriebenen Kriterien zum nuklearstrategischen Potential in Europa setzt Kenntnisse voraus, die im allgemeinen der Geheimhaltung unterliegen. Das betrifft u. a. die Dislozierung der Systeme und eine Vielzahl technischer Daten. Hieraus ergeben sich zwischen den Angaben nicht-amtlicher Stellen, die auf Schätzungen und Annahmen angewiesen sind, und den Angaben von offizieller Seite, die auf der Basis gesicherter Zahleninformationen gemacht werden, für einzelne Systeme zum Teil extreme Divergenzen ... Bisher gibt es keine Methode, qualitative Aspekte in mathematische Formeln so umzusetzen, daß die Qualität von Potentialen in Zahlen dargestellt werden kann. Die NATO stützt sich daher zur Bewertung von Potentialen vorwiegend auf militärische Beurteilungen."

Wie auch immer sich „militärische Beurteilungen“ im Unterschied zu den „nicht-amtlichen“ Kritiken definieren mögen, das Verständnis von Transparenz und Information, von Partizipation und Kontrolle in dieser Aussage ist befremdend. Entspräche nämlich die Stellungnahme der Realität, so wäre eine demokratische Sicherheitspolitik auch im Westen nicht existent. Nicht die Öffentlichkeit oder das Parlament bestimmten und/oder kontrollierten die Militär-und Sicherheitspolitik, vielmehr entschieden wenige, u. U. nicht demokratisch legitimierte Amtsstellen unter Geheimhaltung der Gründe über Militär und Rüstung und damit auch über Krieg und Frieden.

Aber selbst, wenn man unterstellt, daß nicht-offiziellen Untersuchungen und Kritiken der sogenannte Amtsbonus fehlt, so läßt die Aussage des Bundesministeriums der Verteidigung doch ungeklärt, wieso es zu unterschiedlichen Einschätzungen bis hin zu Widersprüchen in der Datenfrage auch zwischen einzelnen „Amtsstellen" kommen kann, etwa zwischen BMVg, Pentagon oder NATO. Vor dieser Frage wird nicht deutlich, daß die Untersuchungen „nicht-amtlicher Stellen" selbstverständlich nur in dem Maße valide sein können, wie es die vorgegebenen Daten und Informationen von „offizieller Seite" sind. Zumindest insofern ist die Validität oppositioneller Sicherheitspolitik immer auch ein Gradmesser für die Offenheit und Dialogfähigkeit der Demokratie. „Nicht-amtliche Stellen“ können — wie wir sehen werden, notfalls auch ohne Kenntnis letzter technischer Details — auf allzu offensichtliche Unterlassungen offizieller Kräftevergleiche oder auf Mängel in Plausibilität, Logik und Methodik bestimmter Schlußfolgerungen oder Forderungen hinweisen. Das folgende Beispiel illustriert diese Aussage. Es zeigt zugleich, daß derzeit — auch ohne Nachrüstungsbeschluß — das Risiko eines Angriffskrieges für die Sowjetunion kalkuliert untragbar ist.

Wieviel an Vernichtungskapazität ist genug? Wie bereits erwähnt, wurde in der öffentlichen Diskussion die Notwendigkeit der Nachrüstung von offizieller Seite mit der Kriegsgefahr aus einem numerischen Ungleichgewicht im Bereich der Mittelstreckenwaffen begründet. Unterstellen wir einmal die Korrektheit der Annahme einer numerischen Unausgewogenheit, so unterliegt die Aufrechnung von nuklearen Raketensystemen wie der sowjetischen SS-20 oder der geplanten PERSHING II der NATO doch einem grundsätzlichen Denkfehler; bei den genannten Systemen handelt es sich nicht um „duell" -fähige Waffen — es dürfen also nicht Raketen gegen Raketen, es müssen vielmehr Waffen gegen mögliche alternative Ziele und Zielsetzungen aufgerechnet werden. Mit anderen Worten: Der Frage nach der Erforderlichkeit von „Nachrüstungsmaßnahmen" muß durch die Gegenüberstellung von bereits gegebenem oder zukünftig vorhandenem Potential einerseits und alternativen Zielen andererseits nachgegangen werden.

Um diese Frage in den Griff zu bekommen, wollen wir im folgenden ein Szenario durchspielen, das vom hypothetisch „schlimmsten Fall" — einem nuklearen Erstschlag der Sowjetunion gegen die europäischen NATO-Staaten — ausgeht. In einem solchen Angriffsszenario soll der Sowjetunion die Fähigkeiten unterstellt werden, theoretisch alle ort-baren, d. h. alle land-, lüft-und überwassergestützten Nuklearsysteme (inkl. Flugzeugträger) sowie alle in den Häfen liegenden U-33 Boote der NATO in Westeuropa durch ihre eigenen TNF-Systeme zu zerstören. In der Praxis wird sich zwar auch bei einem Überraschungsangriff vermutlich ein Großteil der Flugzeuge durch Frühstart (launch-on-warning) retten können, auch werden sich, zumindest in Krisenzeiten, die meisten U-Boote in See befinden, also kaum ortbar sein. Doch gehen wir auch hier einmal vom „schlimmsten Fall“ aus und lassen lediglich das für Friedenszeiten geltende Minimum von 50 % der U-Boote auf Fahrt sein und damit auch den Nuklearschlag überleben. Bleiben wir konsequent und lassen ferner — auch wieder hoch-gegriffen — von diesem Restbestand noch 20 % durch andere Anti-U-Boot-Kriegführungsmittel der Sowjetunion sowie schließlich nochmals 20 % der verbleibenden Raketen und Sprengköpfe durch technische Defekte ausfallen.

Nach all diesen „Beschränkungen" ergibt sich für den errechenbaren „schlimmsten Fall" folgender mathematischer Restbestand an Raketensprengköpfen der NATO für Europa mit einer Reichweite von jeweils 5 200— 5 400 km: — ca. 20 britische POLARIS A-3-Raketen ä 3 Sprengköpfe, d. h. ca. 60 Sprengköpfe (MRV) ä 200 KT, — ca. 25 französische Raketen MSBS M-20 ä 1 Sprengkopf, d. h. 25 Sprengköpfe a 1 000 KT (= 1 MT), — ca. 26 der NATO zugeordnete US-POSEI-DON C-3-Raketen ä 10 Sprengköpfe, d. h. ca. 260 Sprengköpfe ä 50 KT.

Es verbleibt somit — auch im „schlimmsten Fall" — ein mathematisches Potential von ca. 340 Sprengköpfen mit (in Äquivalente) umgerechnet 82 000 KTE. (Zum Vergleich: Die Hiroshima-Bombe besaß eine Sprengkraft von 12— 20 KT). Dieses ungeheure Vernichtungspotential ist groß genug, um auf einer Fläche von 3 500 Quadratmeilen einen überdruck zu erzeugen, der in städtischen Gebieten den größten Teil der Anlagen und Gebäude vernichtet und über 50 % der Bevölkerung sofort tötet. Die direkten und indirekten Schäden und Folgeschäden durch Hitze, Feuer, radioaktive Strahlung, Hunger, Wassermangel, Seuchen etc. sind hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Setzen wir das „Rest" -Potential nunmehr in Beziehung zu Zielen in der UdSSR, so ist festzuhalten, daß die Sowjetunion zwar mit 22, 4 Mio. km 2 Fläche das größte zusammenhängende Staatsgebiet der Erde besitzt, dennoch im eu. ropäischen Teil der UdSSR und seinen angrenzenden Gebieten die Hauptmasse der Bevöl. kerung siedelt und sich auch dort der entscheidende Teil des städtischen, industriellen landwirtschaftlichen und infrastrukturellen Lebens abwickelt Im Operationsbereich der NATO liegen deshalb auch die 30 größten Städte der Sowjetunion mit einer Einwohnerzahl von 42 Mio., einer Industriekapazität von 40 % und einem Flächenareal von ca. 3 400 Quadratmeilen. Wie wir gesehen haben, genügt das Restpotential der NATO — auch vom schlimmsten Fall eines nuklearen Erstschlags des Gegners ausgehend — zur Zerstörung eines Gebietes in eben dieser Größenordnung durch einen Zweitschlag.

Für jede Nuklearmacht aber, ob in Ost oder West, muß eine solche ungeheure Zerstörung durch einen Zweitschlag im eigenen Land als Folge eines eigenen Erstschlags als „untragbar" erscheinen, muß sie also vom nuklearen Angriffskrieg abhalten. Die ca. 10 000 strategisehen Nuklearsprengköpfe der USA sind in diese Kalkulation noch nicht einmal einbezogen. Zusammenfassend können wir also nochmals feststellen, daß eine Kriegsgefahr oder eine „Erforderlichkeit" zur Nachrüstung — ohne vorherige Verhandlungsgespräche — weder 1979 bestand noch zur Zeit besteht. 3. Der nukleare Erstschlag

Wird mit dieser Aussage, d. h. mit der gesicherten Zweitschlagsfähigkeit, ein Nuklear-krieg und insbesondere ein nuklearer Angriffskrieg auch zukünftig — gleichgültig ob mit oder ohne Nachrüstung — unwahrscheinlich? Insbesondere in der amerikanischen Literatur werden drei Szenarien genannt, die von einem nuklearen Erstschlag gegen militärische Ziele (im englischen: counter force) trotz bestehender Zweitschlagsfähigkeit gegen Industrie und Bevölkerung (im englischen: counter value) ausgehen. Dies sind: der Angriff, um die gegnerischen Optionen in ei-nem begrenzten Nuklearkrieg (limited nuc-

jear war) zu reduzieren; der Angriff, um das Gleichgewicht der Nuklearkräfte (balance of nuclear power) deutlich zugunsten der eigenen Seite zu verändern; der Angriff, um in einem totalen Nuklearkrieg (allout nuclear war) den Schaden für die eigene Seite zu begrenzen. Die beiden erstgenannten Angriffsstrategien können als Varianten eines „Teilentwaffnungs-Modells" bezeichnet werden: Im „limited nuclear war" begrenzt die Sowjetunion ihren Erstschlag auf einen bestimmten Schauplatz, z. B. Europa, und stellt zugleich den USA das Ultimatum, sich aus dem Geschehen herauszuhalten, wenn der Krieg nicht auf amerikanisches Territorium übergreifen solle. Im zweiten Szenario zerstört die Sowjetunion in einem Überraschungsangriff einen Teil des US-und NATO-Nuklearpotentials, verschiebt also das Gleichgewicht zu ihren Gunsten und droht in einem Ultimatum, ihre restlichen Nuklearwaffen gegen die Industrie-und Bevölkerungszentren der USA bzw.der NATO einzusetzen.

Die politische und militärische Rationalität beider Varianten ist allerdings mehr als fragwürdig. In beiden Szenarien wird davon ausgegangen, daß die UdSSR das Risiko eines Zweit-schlags mit den Folgen der „gesicherten Zerstörung" auf sich nimmt, die Beweggründe und Motive für ein solches Vorgehen werden jedoch nicht genannt Beide Varianten unterstellen ferner, daß sich USA und NATO durch Ultimaten erpressen lassen, ohne selbst Gegenultimaten zu stellen, verbunden etwa gleichfalls mit „begrenzten“ oder „teilentwaffnenden" Gegenschlägen. Beide Szenarien gehen schließlich davon aus, daß USA und NATO erkennen können (oder der UdSSR glauben), daß es sich lediglich um einen begrenzten Nuklearkrieg gegen Counterforce-Ziele handelt, selbst also nicht sofort (und u. U. irrational) Maßnahmen ergreifen, die zu einem totalen Nuklearkrieg führen. Die Rationalität der Akteure und Entscheidungsträger im Kriegsfall wird aber kaum höher sein als im Frieden. Im Gegenteil: Gerade wenn bereits im Frieden die absurden Kalküls sogenannter Lehnstuhlstrategen an die Stelle politischer Rationalität treten, so wird im Konflikt-und Krisenfall die Abschreckung als Kriegsverhütungsstrategie nur noch geringe Chancen zur Bewährung finden.

„Rationalität", wenngleich auch in einer spezifischen Form, läßt sich deshalb eher der dritten Variante: dem Angriff, um Schaden für die eigene Seite zu begrenzen (damage limiting), unterstellen. Diesem Szenario liegt — vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen Konsequenzen eines nuklearen Erstschlags der Sowjetunion für das eigene Territorium — die vermutlich einzige Kriegsursache zugrunde, die zumindest mit mathematisch-rational kalkulierbaren Risiken und„betriebseffizient“ tragbaren Folgen, denkbar ist: die Furcht, durch versäumte Präemption in einer destabi-len Situation einen noch größeren Schaden aufdas eigene Landzu ziehen, als erinfolge eines Zweitschlags in Reaktion auf einen eigenen Überraschungsangiff entstehen würde.Fragen wir abschließend also noch nach der Wahrscheinlichkeit eines solchen „Weltkrieges wider Willen" bzw. nach den Kräfte-verhältnissen im Counterforce-Bereich und nach den Fähigkeiten, die erforderlich sind, um einen Erstschlag gegen militärische Ziele des Gegners durchzuführen.

Selbstentwaffnung und Vernichtungswirkung Vorrangige Mittel eines jeden nuklearen Counterforce-Schlages sind wegen ihrer kurzen Flugzeit, ferner ihrer höheren Treffgenauigkeit einerseits und der geringen Abwehrmöglichkeiten gegen sie andererseits (ballistische) Raketen. Konsequenterweise sind umgekehrt die gegnerischen Raketen-stellungen bzw. bei beweglichen Trägersystemen die Fahrzeuge oder U-Boote das prioritäre Ziel des Angriffs. Dennoch wurde bis in die 60er Jahre hinein — trotz der seinerzeit geringen Härtung und höheren Ortbarkeit zumindest der landgestützten Raketen — ein nuklearer Counterforce-Schlag als unwahrscheinlich, das Nuklearpotential selbst als kaum verwundbar angesehen: Um nämlich eine gegnerische Rakete in einem Erstschlag zu treffen, mußte der Angreifer selbst eine eigene Rakete opfern. Da er aber nicht ausschließen konnte, daß ein Teil der eigenen Waffen versagen oder das Ziel verfehlen würde, hätte er in der Praxis mehr Raketen starten (und auch besitzen) müssen, als er möglicherweise Ziele hätte zerstören können; der Status quo hätte sich also für den Angreifer in jedem Fall zu seinem Nachteil verändert Aus dieser Konstellation ergab sich zwar ein Zwang zur numerischen Parität von Zielen und Mitteln, und damit lag in ihr sicherlich auch mit die Ursache des nuklearen Wettrüstens. Anderseits verhinderte sie — bei einem ungefähren Gleichstand der Kräfte — gerade wegen der Gefahr der „Selbstentwaffnung“ (selfdisarming) den nuklearen Angriff. Mit der Einführung der Mehrfachsprengköpfe (MRV) Mitte der 60er Jahre und der einzelnen programmierbaren Wiedereintrittskörper (MIRV) zu Beginn der 70er Jahre änderte sich die strategische Szene jedoch in dramatischer Weise: Zum einen funktionieren Raketen und Sprengköpfe zuverlässiger als bisher. Zum anderen können die Raketen nun ungleich mehr Sprengköpfe tragen — die POSEIDON C-3 besitzt z. B. bis zu 14 MIRV. Der potentielle Angreifer kann also zukünftig mit lediglich einer Rakete mehrere gegnerische Stellungen und Systeme vernichten. Die Gefahr der „Selbstentwaffnung" besteht somit nicht mehr; die strategische Stabilität aus der Parität von Zielen ist aufgehoben.

Die bloße Gegenüberstellung von Nuklearmitteln und Zielen sagt allerdings noch nichts über die Counterforce-Kapazität der gegnerischen Seite im Sinne einer tatsächlichen Vernichtungsfähigkeit ihrer Waffen aus. Fragen wir also nach den Faktoren, die einer Nuklearstreitkraft die Fähigkeit zum „Counterforce", d. h. zur Zerstörung von gehärteten Zielen oder Punktzielen verleihen. Dazu einige physikalisch-technische und mathematische Anmerkungen: Die Vernichtungswirkung einer Waffe (auf ein Ziel) wird als Letalität (lethality) oder „kill capability" bezeichnet und mit dem Buchstaben „K“ symbolisiert. „K“ ist die Funktion aus zwei Faktoren: der Treff-oder Zielgenauigkeit (accuracy) der Waffe einerseits und ihrer Sprengkraft (yield) andererseits. Die Zielgenauigkeit wird als Streukreishalbmesser oder „Circular Error Probability" (CEP) wiedergegeben, eine statistische Meßgröße, die den Radius des Kreises um einen Zielpunkt (target) bezeichnet, in dem der Sprengkopf bzw. die Waffe mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % auftritt. Die Sprengkraft wird in Megatonnen (MT) TNT gemessen und mit dem Symbol „y" gekennzeichnet.

Anders als eine Countervalue-Strategie, die in der Regel eine bestimmte Zerstörungsenergie für eine möglichst große Fläche anstrebt, erfordert eine Counterforce-Fähigkeit die Ausrichtung einer (möglichst) hohen Energie gegen ein sehr kleines Ziel. Da der überdruck einer Nuklearexplosion aber mit der Entfernung vom Explosionspunkt rapide abfällt, verlangt eine Punktziel-oder Silovernichtungsfähigkeit eine hohe Treffgenauigkeit Entsprechendes Gewicht besitzt der Faktor CEP für die Berechnung der Zerstörungskraft.

Bei der Aggregation der drei genannten Parameter Sprengkopfzahl, Sprengkraft und Ziel-genauigkeitist schließlich davon auszugehen daß die Letalität einer Waffe in direkter Pr. portion zur Kubikwurzel aus dem Quadrat der Sprengkraft und umgekehrt proportional zum Quadrat der Zielgenauigkeit steigt. Die For. mel zur Berechnung der Letalität eines einzel. nen Raketensprengkopfes lautet also:

K _ ny 2/3 (CEP) 2

Wird K mit der Zahl (number = n) der einzel. nen Sprengköpfe multipliziert, so ergibt K-n die Letalität der Trägerrakete entsprechend der Gesamtzahl ihrer „warheads“. Wird das Ergebnis schließlich noch mit der Gesamtzahl der gegebenen Trägerraketen (missile = m) multipliziert, so bildet K • nm, oder kurz K • N, den Aggregatwert für die Counterforce-Kapazität einer Raketenstreitkraft Zusammenfassend können wir sagen, daß die Voraussetzung einer nuklearen Erstschlagsfähigkeit gegen militärische Einrichtungen neben einer hohen Anzahl von Sprengköpfen (mit entsprechender Sprengkraft) vor allem eine hohe „Treffgenauigkeit" ist. Gerade dieses letzte Qualitätsmerkmal hat sich bei Systemen wie der PERSHING II, der Cruise Missile oder der sowjetischen SS-20 außerordentlich verändert: Die Treffgenauigkeit zumindest der amerikanischen Systeme soll mittlerweile bei einer Abweichung unterhalb von 30 m liegen. Die Treffgenauigkeit der SS-20 wird in der Literatur allerdings mit 100 bis 550 m Abweichung nicht zweifelsfrei ausgewiesen. Entsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse, die sich mit Hilfe der Letalitätsformel und auf der Basis alternativer Daten berechnen lassen: Bis zur Einführung der SS-20 im Jahre 1977 bewegte sich das Letalitätsniveau des WVO-Bestandes im LRTNF-Bereich relativ konstant auf einem Wert von ca. 150. Nach Einführung dieses Systems beginnt sich der Kräftevergleichswert erheblich zu verändern. Er springt bis 1979/80 bei 100 Raketen ä 3 MIRV und je nach zugrunde gelegten Daten

— bei 50 KT und 550 m CEP auf ca. 600, — bei 150 KT und 550 m CEP auf ca. 1 100, — bei 50 KT und 100 m CEP bereits auf ca.

16 000, — bei 200 KT und 100 m CEP sogar auf über 41 000. per Vergleichswert der NATO beläuft sich dagegen 1979/80, nachdem er sich in den vorangegangenen Jahren durch die Einführung der POLARIS A-3 und der POSEIDON C-3 zweimal quantitativverändert hatte, auf einen relativ gesicherten Wert von ca. 1 300.

V. Weltkrieg wider Willen?

Welches der Einzelergebnisse dem Kräftevergleich zugrunde gelegt werden muß, kann beim derzeitigen Kenntnisstand der Qualität der SS-20 nicht entschieden werden — im Zweifelsfalle werden beide Seiten vom Worst Case ausgehen. Die Antwort würde aber auch nur eine kurze Gültigkeitsdauer besitzen.

Denn wie die durchgespielten Beispiele illustrieren, scheint sich die nukleartechnologische Rüstungsdynamik nicht länger graduell, sondern exponentiell, d. h. in Sprüngen, fortzuentwickeln. Gerade diese Sprünge aber werden immer größer: Bis 1985 wird die SS-20 — günstig berechnet — die Letalität des sowjetischen LRTNF-Bestandes auf einen Wert von ca. 82 000 hochschnellen lassen. Mit den auf der NATO-Ratstagung im Dezember 1979 beschlossenen 572 PERSHING II und Cruise Missile wird die NATO — Parameter von 50 bis 400 KT und 30 m CEP zugrunde gelegt — wieder die WVO nicht nur überholen, sondern auch einen ungeheuren Relationswert zwischen 300 000 und ca. 1 Million erreichen. Einen ähnlich hohen Wert werden zukünftig nochmals die — und dies ist zu betonen: im übrigen unabhängig vom sog. Nachrüstungsbeschluß geplanten bzw. zu erwartenden — Modernisierungen der britischen, französischen und amerikanischen U-Boote der NATO erbringen.

Setzen wir nun diese Entwicklung in bezug zur herkömmlichen Abschreckungspolitik: Zum Kern des Prinzips der Abschreckung (zwischen Militärpakten) gehört es, wie wir bereits betont haben, den potentiellen Feind nicht nur zu identifizieren und seine dauerhafte Aggressionsbereitschaft zu vermuten, sondern vor allem, sich in ständiger Abwehrbereitschaft auf den schlimmsten Fall vorzubereiten. Die Versuchung, in irgendeiner Phase der im Rahmen eskalierender Aufrüstung und Umrüstung möglicherweise wechselnden Kräfteverhältnisse und Kräftevorteile zum Präventiv-oder Präemptivkrieg zu schreiten, ist deshalb für beide Kontrahenten ein ernstes Problem.

Wie unsere Berechnungen zeigen, wird aber gerade die Rüstung der 80er Jahre im TNF-Bereich stärker als je zuvor geprägt sein von der zunehmenden Eigendynamik der Nuklear-technologie, ihrer Tendenz zu „first strike" und „counter force", ihrer sprunghaften, nicht exakt berechenbaren Entwicklung, dem hieraus ständig möglichen Wechsel der Kräfteverhältnisse sowie der sie begleitenden strategischen Instabilität. Im Zweifelsfalle werden die Kontrahenten zukünftig also — vom „worst case“ ausgehend — permanent mit dem Gedanken der Präemption spielen bzw. glauben, wegen der erheblich verkürzten Vorwarnzeit „launch-on-warning" betreiben zu müssen. Mehr noch: Erstmals werden sie auch die zum Erstschlag erforderlichen Nuklearmittel besitzen, es sei denn, es kommt vorher zu erfolgreichen Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen zwischen Ost und West.

Das an den Nachrüstungsbeschluß gekoppelte Rüstungskontrollangebot läßt allerdings Zweifel an dieser Möglichkeit aufkommen. Das Angebot lautet: ,, a) Jede künftige Begrenzung amerikanischer Systeme, die in erster Linie für den Einsatz als LRTNF bestimmt sind, soll von einer entsprechenden Begrenzung sowjetischer LRTNF begleitet sein.

b) über Begrenzungen von amerikanischen und sowjetischen LRTNF soll Schritt für Schritt bilateral im Rahmen von SALT III verhandelt werden.

c) Das unmittelbare Ziel dieser Verhandlungen soll die Vereinbarung von Begrenzungen für amerikanische und sowjetische landgestützte LRTNF-Raketensysteme sein.

d) Jede vereinbarte Begrenzung dieser Systeme muß mit dem Grundsatz der Gleichheit zwischen beiden Seiten vereinbar sein. Die Begrenzungen sollen daher in einer Form vereinbart werden, die de jure Gleichheit sowohl für die Obergrenzen als auch für die daraus resultierenden Rechte festlegt.

e) Jede vereinbarte Begrenzung muß angemessen verifizierbar sein." 35)

So bestechend das Angebot auch auf den ersten Blick sein mag, so gering sind doch seine Erfolgschancen. Restriktionen sind u. a.: — die Anbindung an den „Nachrüstungsbeschluß"; — die Beschränkung auf „landgestützte" TNF (nicht enthalten sind die den Sowjets " wichtigen „Forward Based Systems" und die durch das SALT II-Protokoll nur bis 1981 begrenzten see-und luftgestützten Cruise Missiles);

— der Ausschluß der großen Zahl britischer und französischer Systeme;

— die Institutionalisierung als SALT III (ohne Ratifizierung von SALT II).

Ist also für die nächsten Jahre ein nuklearer Präemptivkrieg zu erwarten, der zwar vorbeugend und ohne eigene Absichten und „nur" aus dem einen Grund geführt wird, dem möglichen Gegner zuvorkommen? Einem solchen „ungewollten" Krieg mögen zwar durchaus als Katalysator noch äußere Krisen wie etwa derzeit der Afghanistan-Konflikt und/oder die persisch-irakischen Kämpfe vorangehen; das auslösende Moment — die Ursache für den Nuklearkrieg — liegt aber weniger im äußeren Anlaß als vielmehr in der inneren Logik der derzeitigen rüstungstechnologischen Tendenz. Sie läßt sich mit der Frage illustrieren: Wem fällt im Krisenfall die Prämie des Erst-schlags zu?

Nicht undenkbar ist deshalb ein Szenario, in dem der Verteidigungsminister und sein Generalstabschef Mitte der 80er Jahre den Regierungschef ihrer Supermacht aufsuchen — Ort, Personen und Anrede sind austauschbar, die Frage wird stets die gleiche sein:

„Wie lautet Ihr Befehl, Genosse Generalsekretär?“ oder „What’s your order, Mr. President?"

„Wir haben alle gegnerischen Nuklearkräfte bis auf wenige U-Boote geortet. Unsere eigenen Raketen sind mittlerweile so treffge. nau und zuverlässig, daß wir einen Erstschlag führen können. Und die Vorwarnzeit beträgt seit Stationierung der neuen Mittelstrecken-waffen in Europa nur noch 4 Minuten. Wir sind zwar friedfertig und wollen eigentlich keinen Krieg; auch müssen wir davon ausgehen, daß es dem Gegner selbst noch nach einem Erstschlag gelingt, uns ebenfalls Schaden zuzufügen. Doch wird der Schaden um ein Vielfaches höher sein, wenn nicht wir, sondern der Gegner den Erstschlag führt. Und alle Anzeichen sprechen dafür, daß er morgen einen ähnlich hohen technologischen Standard erreicht haben wird wie wir heute. Noch ist die Gelegenheit günstig.

What’s your order, Mr. President? ...

Wie lautet Ihr Befehl, Genosse Generalsekretär?"

Wie werden sich die Verantwortlichen entscheiden? Droht für die 80er Jahre ein „Weltkrieg wider Willen?" Solange sich politische Maßnahmen der Kriegsverhütung lediglich als Aufrüstung oder „Nachrüstung" niederschlagen, so lange ist diese Frage jedenfalls kaum mit Bestimmtheit zu verneinen. Im Gegenteil: Schon heute muß davon ausgegangen werden, daß der bisherige Grad an strategischer Stabilität erst wieder durch den Verzicht — zumindest einer der beiden Seiten — auf nukleare Erstschlagssysteme hergestellt werden kann. Erst dann entfällt der Grund für das „Spielen mit der Präemption“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bei dieser Arbeit handelt es sich um den überarbeiteten und erweiterten Beitrag „Kommt der Dritte Weltkrieg? Kriegsgefahr und Kriegsverhütung in den 80er Jahren“, der im Südwestfunk Baden-Baden, II. Programm, Redaktion „Welt von heute“, am 9. 7. 1980, 21. 00— 22. 00 Uhr, gesendet wurde — Abdruck mir freundlicher Genehmigung der Redaktion. Zum Thema vgl. auch ausführlich: Dieter S. Lutz, Weltkrieg wider Willen? Eine Kräftevergleichsanalyse mit besonderer Berücksichtigung der Kooperativen Rüstungssteuerung, Bonn 1981 (i. E.).

  2. Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), World Armaments and Disarmament, SIPRI Yearbook 1980, London 1980, S. XVIII; vgl. auch die deutschen Auszüge des SIPRI-Jahrbuches im Heft 17/1980 der Militärpolitik-Dokumentation.

  3. SIPRI Yearbook 1980, S. 1.

  4. Das überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie-und Entwicklungsländer. Bericht der Nord-Süd-Kommission, mit einer Einleitung des Vorsitzenden Willy Brandt, Köln 1980, S. 20 f.

  5. SIPRI-Yearbook 1980, S. 1.

  6. Wolf Graf von Baudissin, Dieter S. Lutz, Kooperative Rüstungssteuerung in Europa. IFSH-Forschungsberichte 11/1979, S. 2.

  7. Weißbuch 1979. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, im Auftrage der Bundesregierung herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung, o. O. 1979, hier: Vorwort des Bundeskanzlers.

  8. Die nuklearen Mittelstreckenwaffen. Modernisierung und Rüstungskontrolle. Texte, Materialien und Argumente zum Beschluß der NATO vom 12. Dezember 1979, herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung — Planungsstab, o. O. 1980,

  9. Carl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971, Horst Afheldt u. a„ Durch Kriegsverhütung zum Krieg? München 1972, hier die Thesen auf S. 10, 18.

  10. Zur Folgenorientierung vgl. Dieter S. Lutz, Verteidigung + Folgenorientierung = Sicherheit, IFSH-Forschungsberichte 2/1977; Dieter S. Lutz, Peace and Security by Means of Arms Limitations — Six Imperatives of the German Grundgesetz to Orient Defense Policy towards its Consequences, in: Journal of Peace Research No. 2/1977 (Vol. XIV), S. 129— 144.

  11. Vgl. auch die Literaturhihweise in: Wolf Graf von Baudissin, Dieter S. Lutz, a. a. O. (Anm. 6), S. 4— 8.

  12. Wolf Graf von Baudissin, Grenzen und Möglichkeiten militärischer Bündnisse, in: EA 1/1970, S. 5, Anm. 4.

  13. Wolf Graf von Baudissin, Kooperative Rüstungssteuerung, in: Ralf Zoll u. a. (Hrsg.), Bundeswehr und Gesellschaft Ein Wörterbuch, Opladen 1977, S. 140.

  14. A. a. O. (Anni. 7), S. 4.

  15. Johannes Steinhoff, Wohin treibt die NATO? Probleme der Verteidigung Westeuropas, Hamburg 1976, S. 59, 68.

  16. Robert Close, Europa ohne Verteidigung? 48 Stunden, die das Gesicht der Welt verändern, Bad Honnef-Erpel und Saarbrücken 1977, S. 13 f.

  17. Francois (Pseudonym von Guy Doly), Wenn die Russen angreifen ... Mit einem Vorwort von Paul Carell, Stuttgart-Degerloch 1980, hier aus dem Vorwort S. 7 f.

  18. Sir John Hackett, Der Dritte Weltkrieg. Haupt-schauplatz Deutschland. Mit einem Vorwort von

  19. Vgl. ausführlicher sowie auch die Literaturhinweise zu folgendem in: Dieter S. Lutz, Das militärische Kräfteverhältnis bei den konventionellen Streitkräften (ohne Marine), in: Deutsche Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung (Hrsg.), DGFK-Jahrbuch 1979/80, Zur Entspannungspolitik in Europa, Baden-Baden 1980, S. 401 ff; ferner: Dieter S. Lutz (Hrsg.), Militär, Rüstung, Sicherheit, Bd. 1: Die Sowjetunion. Rüstungsdynamik und bürokratische Strukturen, Baden-Baden 1979.

  20. Wolf Graf von Baudissin, Dieter S. Lutz, a. a. O. (Anm. 6), S. 7.

  21. A. a. O. (Anm. 7), S. 97.

  22. SIPRI Yearbook 1978, S. 399.

  23. The International Institute for Strategie Studies (IISS), The Military Balance (MB) 1979— 1980, London 1979, S. 108.

  24. IISS, MB 1978— 1979, London 1978, S. 108.

  25. Helmut Schmidt, Politische und wirtschaftliche Aspekte der westdeutschen Sicherheit, Alastair Buchan Memorial Lecture, Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 112 vom 8. 11. 1977, S. 1014 f.

  26. Vgl. ausführlicher sowie auch die Literaturhinweise hierzu: Dieter S. Lutz, Das militärische Kräfte-verhältnis im Bereich der „Nuklearkräfte in und für Europa“, in: Gert Krell, Dieter S. Lutz, Militär, Rüstung, Sicherheit, Bd. 5: Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt. Potentiale, Doktrinen, Rüstungssteuerung, Baden-Baden 1980, S. 11— 89.

  27. A a. O. (Arun. 7), S. 126, 106.

  28. Rüstung und Abrüstung im euronuklearen Bereich. Die Mitwirkungsmöglichkeiten der europäischen Staaten an den SALT III-Verhandlungen. Eine Kurzstudie von Hubertus Hoffmann und Rolf Steinrücke im Auftrage der Bundestagsabgeordneten Peter Kurt Würzbach und Markus Berger, Washington/Bonn, April-Mai 1979 (hektogr. Manuskript, Maschinenschrift), S. VI L, 9 f„ 36— 41.

  29. Vgl. Atlantic News vom 12. 10. 1979, hier zit. nach: Alfred Mechtersheimer, „Modernisierung" gegen Sicherheit. Zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in der Bundesrepublik Deutschland, in: Studiengruppe Militärpolitik, Aufrüsten um abzurüsten? Informationen zur Lage, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 55, 282: Frankfurter Rundschau Nr. 275 vom 26. 11. 1979, S. 3.

  30. Abgedruckt in: Gerhard Kade, Gunnar Matthiessen (Hrsg.), „Nachrüsten", „Vorrüsten" oder Abrüsten. Die sowjetischen Vorschläge zur Rüstungsbegrenzung, Köln 19802, S. 27.

  31. Vgl. ausführlich: Dieter S. Lutz, a. a. O. (Anm. 26), insbes. S. 86; vgl. auch ders., Das militärische Kräfte-verhältnis im Bereich der euronuklearen Waffensysteme, IFSH-Forschungsberichte 12/1979.

  32. A. a. O. (Anm. 8), S. 32.

  33. Der rein rechnerische Charakter der Ergebnisse braucht nicht betont zu werden: Es gibt keine „EinFünftel-U-Boote", „Ein-Viertel-Raketen", „halbe Sprengköpfe" etc.

  34. Der folgende Abschnitt beschränkt sich zur illustrativen Darstellung der Dynamik der Kriegs-gefahr vorrangig auf die Letalitätsformel und die in ihr aggregierten Faktoren — zur umfassenden Behandlung der Kriterien und Parameter eines nuklearen Erstschlags (Härtung, Ortung, Interferenz, Vernichtungswahrscheinlichkeit etc.) vgl. ausführlich: Dieter S. Lutz, Weltkrieg wider Willen? a. a. 0. (Anm. 1), insbes. Abschn. 10 und 11.

  35. Abgedruckt in: Die nuklearen Mittelstrecken-waffen, a. a. O. (Anm. 8), S. 11.

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Dieter S. Lutz, geb. 1949, Studium der Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft im In-und Ausland; seit 1976 Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; Lehrbeauftragter am Fachbereich Rechtswissenschaft II der Universität Hamburg und am Institut für Politikwissenschaft; Forschungsprojekte zu pädagogischen, verfassungsrechtlichen, politikwissenschaftlichen und insbes.friedenswissenschaftlichen Fragestellungen. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt u. a.: Die Rüstung der Sowjetunion. Rüstungsdynamik und bürokratische Strukturen, Baden-Baden 1979; Eurokommunismus und NATO. Zukunftsfragen europäischer Sicherheitspolitik, Bonn 1979 (Hrsg.); Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt, Baden-Baden 1980 (Mitverf.); Herausgeber der Buchreihe „Militär, Rüstung, Sicherheit".