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Krieg oder Frieden in Europa? | APuZ 3/1981 | bpb.de

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APuZ 3/1981 Audiatur et altera pars Dreifache militärpolitische Lagebeurteilung Kriegsgefahr und Kriegsverhütung in den 80er Jahren Krieg oder Frieden in Europa?

Krieg oder Frieden in Europa?

Fritz Birnstiel

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht die aktuelle Frage nach einer Kriegsgefahr sowohl aus dem kontroversen Gegenüber von NATO und Warschauer Pakt (WP) in Europa als auch aus den Gefahrenzonen des Mittleren Ostens als Folge der „indirekten Strategie" der Sowjetunion. Ausgehend von den im Osten vorherrschenden Denkkategorien der Militärdoktrin und des Strategischen Konzepts der Sowjetunion wird das Kräfteverhältnis beider Seiten in Mitteleuropa dargestellt. Wenn auch die NATO erhebliche Schwächen aufweist und ihre konventionelle Unterlegenheit bedenklich ist, so besteht doch kaum Aussicht für den WP, mit einem Überraschungsangriff ein fait accompli zu schaffen. Die entscheidende Abschreckungskraft der nuklearen Waffen der USA ist vorerst noch stark genug, den Frieden zu sichern. Das interkontinentalstrategische Potential der USA reicht aus, einen vernichtenden Erstschlag der Sowjetunion durch eine gesicherte Gegenschlagskapazität zu verhindern. Auch aus den beiderseitigen technologischen Weiterentwicklungen ist kein zwangsläufiger Mechanismus zum nuklearen Präventiveinsatz zu erkennen. Im eurostrategischen Bereich wird sich die NATO allerdings anstrengen müssen, das verlorene Gleichgewicht der Abschreckung wiederherzustellen. Sollte das gelingen, dürfte die Kriegsgefahr für Europa durch direkte Konfrontation der beiden Militärblöcke gering sein. Anders liegen die Verhältnisse außerhalb Europas. Durch ihre globale indirekte Strategie könnte die Sowjetunion versuchen, die westliche Welt von ihren Rohstoffzufuhren aus dem Nahen/Mittleren Osten und Afrika abzuschneiden, zumal die NATO in diesen Regionen nicht wirksam reagieren kann. Hier zeichnet sich eine Kriegsgefahr ab, die sich zwangsläufig auch auf Europa ausdehnen würde. Für die Zukunft stellt sich daher die Krisenbeherrschung in diesen Räumen als vorrangig dar, wobei die Bildung einer „Europäischen Verteidigungs-Union" zur Sicherung der gemeinsamen Interessen Westeuropas als zusätzlicher Stabilitätsfaktor anzusehen wäre.

Vorbemerkung

Abbildung 23

Die Begriffe Kriegsgefahr und Kriegsverhütung, bislang mehr von theoretischer Bedeutung, scheinen sich für die 80er Jahre als aktuelle Probleme unserer Politik herauszukristallisieren. Die wachsende Überlegenheit der Sowjetunion, ihr Einmarsch in Afghanistan und der Krieg zwischen Iran und Irak mit seinen bedrohlichen Auswirkungen auf die Rohstoffversorgung der Industriemächte werfen ihre Schatten auf das seit 1945 an Frieden gewohnte Europa. Die Menschen unseres Landes fragen sich voller Sorge, ob die Zeit des Wohlstandes und der Ruhe, der materiellen Anspruchserfüllung und steigender Wachstumsraten ihrem Ende entgegen geht. Besteht wirklich die Gefahr eines Krieges? Was kann und muß getan werden, um ihn zu verhindern? Mittlerweile hat die Erkenntnis an Raum gewonnen, daß Europa keine „Insel der Seligen" mehr darstellt. Genau so wie die Entspannung unteilbar ist, können sich auch Erschütterungen in Zonen außerhalb der Machtbereiche NATO — Warschauer Pakt (WP) direkt oder indirekt auf unsere Verhältnisse auswirken. Dieser globale Zusammenhang mit seinen vielschichtigen, unwägbaren Gefahren verstärkt das Gefühl der Unsicherheit. Es erscheint plötzlich denkbar, daß „Afghanistan" sich auch bei uns ereignen könnte. Ist dem wirklich so oder kommen bei solchen Befürchtungen nur emotionale Zwangsvorstellungen zum Ausbruch?

Für die Beurteilung einer möglichen Kriegs-gefahr sind zwei Bereiche zu untersuchen: 1.friedensstörende Faktoren, die sich aus dem direkten Gegensatz der beiden Machtblöcke NATO und WP in Europa ergeben könnten, und 2. Einwirkungen auf den Frieden, die aus Spannungsgebieten außerhalb Europas resultieren. Befassen wir uns mit dem ersten Komplex.

I. Besteht Kriegsgefahr in Europa aus dem Bereich der konventionellen Rüstung?

Die Verhältnisse in Europa sind geprägt vom Gegenüber der beiden Sicherheitssysteme NATO und WP, die nicht nur Militärallianzen sind, sondern auch politische Integrationsfaktoren ihrer antagonistischen Gesellschaften verkörpern. Hier interessiert uns vornehmlich die militärpolitisch-strategische Situation. Schon ihre Ausgangsposition ist unterschiedlich.

Geostrategisch stehen die UdSSR und der WP auf der „inneren Linie", d. h., sie können aus ihrer kontinentalen Lage heraus ihre Kräfte in jede Richtung auf Europa Nord, Mitte oder Süd dirigieren. Die NATO dagegen ist geographisch in vier unterschiedlich strukturierte Großräume aufgeteilt. Der Atlantik trennt USA/Kanada von Europa, Ost-und Nordsee grenzen Nordeuropa ab, zwischen Mittel-und Südeuropa liegen die Alpen mit den neutralen Ländern Österreich und der Schweiz. Die NATO-Anrainerstaaten des Mittelmeeres, Italien, Griechenland und die Türkei, sind jeder für sich abgetrennte Regionen ohne operativen Zusammenhang, noch dazu mit internen Schwierigkeiten.

Es ist also abwegig, die Streitkräfte der NATO in Europa als ganzes dem WP gegenüberzustellen und daraus quantitative Kräftevergleiche abzuleiten. Auch die militärpolitischen Grundlagen beider Seiten sind unterschiedlich. Die NATO fußt ausschließlich auf einem Defensivkonzept zur Abwehr von Angriffen auf das Territorium ihrer Mitglieder. Sie ist daher gezwungen, ihre Streitkräfte vom Nord-kap bis zum Mittelmeer zur Grenzabdeckung auf der gesamten Frontlänge zum WP auseinanderzuziehen, um einem möglichen Angriff an jeder Stelle begegnen zu können. Der WP dagegen kann nach dem Prinzip der „inneren Linie" seine Streitkräfte gemäß den Schwerpunkten seiner Kriegsplanungen nach Belieben dislozieren und verschieben. Da das westliche Bündnis sich aus pluralistischen Gesellschaften zusammensetzt, ist eine ideologisch verbindende Theorie als gemeinsame Klammer nicht vorhanden. Die Militärdoktrin der Sowjetunion Die sowjetischen Streitkräfte wie auch die der WP-Partner unterliegen uneingeschränkt der Militärdoktrin der Sowjetunion -Darunter wird die wissenschaftliche Lehre über die Art eines Krieges samt den Verfahren zur Krieg-führung und die Vorbereitung auf einen Krieg verstanden. Sie resultiert aus dem Zusammenhang der staatlichen Ordnungsvorstellungen und des Gesellschaftssystems mit den Zielsetzungen der Innen-, Außen-und Sicherheitspolitik einschließlich der wirtschaftlichen und industriellen Grundlagen mit Einfluß auf die Kriegführung sowie den geostrategischen Verhältnissen des eigenen und gegnerischen Staates.

Die Grundsätze der Militärdoktrin werden von der sowjetischen Führung verbindlich für den gesamten WP festgelegt. Damit ist der Primat der Politik, d. h.der kommunistischen Partei der UdSSR, fußend auf dem Marxismus-Leninismus, doktrinär verankert. Der Krieg wird im Gegensatz zur Beurteilung aus westlicher Denkungsart stets ideologisch-politisch begriffen und nach Zweck und Zielsetzung bewertet. In der sowjetisch-kommunistischen Vorstellung ist die kriegerische Auseinandersetzung als letztes Mittel des internationalen Klassenkampfes nach wie vor einkalkuliert, trotz aller Friedensbeteuerungen im Rahmen der Entspannungspolitik und der friedlichen Koexistenz, die parallel dazu zeitlich befristet durchaus ernst gemeint sein können. Die sowjetische Militärwissenschaft mißt einerseits den Charakter eines Krieges an ihrer ideologischen Doktrin, andererseits bildet aber auch die strategische Absicht einen wesentlichen Beurteilungsfaktor. Beide Kriterien — das politische und das militärtechnische — hängen eng zusammen. Lediglich die jeweilige Lageentwicklung bestimmt nach Nützlichkeit und Wirkung Maß und Mittel der Anwendung. Das trifft auch auf die Festlegung der Kriegsziele zu.

In einer kriegerischen Auseinandersetzung wird das übergeordnete Ziel immer die Zerschlagung oder Entmachtung des kapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems sein. Das kann geschehen durch Annexion seiner wesentlichen Schlüsselgebiete ohne Substanzzerstörung zur späteren eigenen Nutzung, aber auch durch militärische Vernichtung des kapitalistischen Kontrahenten.

Im Gegensatz zum Westen sieht die sowjetische Militärdoktrin keine abgestufte Ein-teilung ihres nuklearen Potentials vor. Wenn es zur schnellen Vernichtung des Gegners und zur Brechung seiner politischen Widerstandskraft notwendig sein sollte, sind Kernwaffen jeder Art — zumindest in der Theorie — ein legitimer Bestandteil sowjetischer Kriegfüh.

rung.

Die Militärdoktrin geht davon aus, daß auch beim Einsatz nuklearer Waffen Krieg noch möglich ist und es überlebende geben wird. Es ist die Aufgabe der Staatsführung, bereits im Frieden die notwendigen Vorbereitungen auf allen Ebenen zu treffen, die zur Kriegführung und zum überleben notwendig sind. Dem Geg. ner muß klargemacht werden, daß Schlagkraft und militärische Überlegenheit der sowjetischen Streitkräfte so groß sind, daß keine Erfolgsaussichten für ihn bestehen. Es kann daher angenommen werden, daß in Krisenzeiten das starke nukleare und konventionelle Potential der Sowjetunion als Drohelement zur Einschüchterung und Erpressung der Gegenseite eingesetzt wird. Dieser Aspekt dürfte auch einer der Gründe für den überdimensionierten Aufbau der konventionellen Streitkräfte sein.

Mit der ausführlichen Darlegung der sowjetischen Militärdoktrin ist die Frage verbunden, ob diese Thesen eigentlich wörtlich zu nehmen oder nicht vielleicht, wie so manche kommunistischen Parolen, zu leeren Begriffs-hülsen erstarrt sind. Michael S. Voslensky ein intimer Kenner der sowjetischen Verhältnisse, bezweifelt die ideologische Überzeugungstreue der Führungsschicht. Für ihn ist der lautstarke Sowjet-Patriotismus nur eine Tarnung, hinter der sich der Großmacht-Chauvinismus der „Nomenklatura" verbirgt. Ähnlich äußern sich andere Rußland-Kenner. Trifft dies auch für die Militärdoktrin zu? Diese Theorie entspricht zwar als ein in sich geschlossenes Gebäude durchaus der Denkweise hartgesottener Militaristen, läßt andererseits aber auch genügend Spielraum für pragmatisches Verhalten zu. Bei der Einschätzung eines nuklearen Krieges wird dies deutlich. Die Erfahrung hat gezeigt — z. B. im Verlauf der Kuba-Krise —, daß die sowjetische Führung ihre Risikobereitschaft nicht über-strapaziert. Die kühlen Rechner im Kreml wissen sicher die Theorie der Militärdoktrin von den realen Auswirkungen eines nuklearen Schlagabtausches zu unterscheiden, zumal sie nicht hoffen können durch eindeutige Überlegenheit die Option eines erfolgreichen Erst-Schlages zu erreichen. Wenn sie es auch aus Gründen ideologischer Propaganda und ihres eigenen Machtpostulats nicht allzu laut zugeben, so beweist doch ihre Politik, daß sie das Prinzip der Abschreckung respektieren; man sollte hinzufügen, solange es für sie glaubwürdig bleibt.

Man muß allerdings auch bedenken, daß die Militärdoktrin für alle WP-Streitkräfte einheitliche Denkschemen vermittelt und den davon betroffenen Menschen Überlegenheit und Siegeszuversicht suggerieren soll.

Das strategische Konzept der Sowjetstreitkräfte Das strategische Konzept der Sowjetstreitkräfte, basierend auf der Militärdoktrin, legt die Grundsätze fest, die im Falle eines Krieges gelten und auf die hin im Frieden die Streitkräfte auszubilden und zu rüsten sind. Nur die militärische Überlegenheit aller Teile garantiert den Sieg. Sie ist Voraussetzung für die Freiheit des strategischen Handelns in allen möglichen Kriegsabläufen, wobei es keinen Unterschied zwischen der konventionellen und nuklearen Komponente gibt.

Das strategische Grundprinzip der Sowjetführung ist das offensive Handeln. Nach dieser Auffassung ist von den beiden strategischen Hauptkriegshandlungen, der Offensive und der Defensive, der ersteren stets der Vorzug zu geben. Nur durch die Offensive kann dem Gegner eine vernichtende Niederlage beigebracht werden, falls er es wagen sollte, einen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion zu führen. Das strategische Konzept geht daher stets von einem westlichen Angriff aus, gegen den als Reaktion eigener Selbstbehauptung die „Fortsetzung der Verteidigung auf dem Territorium des Gegners" gefordert wird. Damit ist nichts anderes gemeint als der Angriff über die westlichen Grenzen der WP-Staaten hinaus. Hier wird deutlich, wie sehr die ideologischen Zwangsvorstellungen der Militärdoktrin das Denken sowjetischer Strategen beeinflussen. Obgleich ihnen bewußt sein sollte, daß nach dem Defensivkonzept der NATO jeder Angriff über die bestehenden Grenzen hinweg völlig unmöglich ist, wird die Fiktion des „aggressiven Kapitalismus" stereotyp aufrechterhalten, weil es die Ideologie verlangt.

Kräftevergleichsproblematik und Bedrohungsanalyse für den konventionellen Bereich Es bleibt zu prüfen, ob die realen Verhältnisse die Zielsetzungen des strategischen Konzepts auch zulassen. Dazu ist ein Kräftevergleich der Rüstungen beider Seiten notwendig, aus dem der Grad der Bedrohung erkennbar wird. Während jedoch im Westen zahlreiche Einzelheiten des militärischen Komplexes veröffentlicht und kommentiert werden, ist dies im Osten nicht der Fall. Eine uns übertrieben vorkommende Geheimhaltung und Zensur setzt einer Analyse der Bedrohung daher erkennbare Schranken.

Die westlichen Haushaltsveröffentlichungen schlüsseln exakt alle militärischen und zivilen Posten auf. Die kommunistischen Staaten geben nur Pauschalzahlen bekannt, denen die Zuordnung von Grenzbereichen wie Forschungs-und Entwicklungsvorhaben, Raketenprojekte für die Weltraumfahrt, die auch für militärische Zwecke gedacht sind, nicht zu entnehmen ist. Diese versteckten Rüstungsausgaben außerhalb des sowjetischen Militär-haushalts machen nach westlicher Schätzung beträchtliche Summen aus. So wurden für 1976 für das Verteidigungsbudget der UdSSR offiziell nur 17, 6 Milliarden Rubel ausgeworfen, während die tatsächlichen Aufwendungen auf 55-60 Milliarden Rubel geschätzt wurden Ein weiterer entscheidender Unterschied ergibt sich aus der Währungsund Inflationsentwicklung. In einer Planwirtschaft mit gelenkten Preisbedingungen entsprechen die Berechnungsgrundlagen nicht denen in marktwirtschaftlich orientierten Ländern. Die den Rüstungsbereich beieinflussenden Ausgaben für Investitionen, Löhne und Gehälter, Rohstoffbeschaffung, kurz alle Gestehungs-und Betriebskosten, sind nur schwer auf eine gleiche Ausgangsbasis zu projizieren. So stößt ein objektiv korrekter Vergleich allenthalben auf Schwierigkeiten. Er kann also stets nur Annäherungswerte liefern.

Trotzdem darf auf einen Kräftevergleich nicht verzichtet werden, da meßbare Unterlagen Voraussetzung für die Beurteilung der militärischen Fähigkeiten sind. Man sollte sich jedoch gleichermaßen davor hüten, aus rein numerischen Zahlenvergleichen eine erdrükkende Bedrohungsanalyse zu konstruieren und aus der Überbetonung angenommener Qualitäts-und Technologievorsprünge des Westens in leichtfertige Sorglosigkeit zu verfallen

Beide Paktsysteme verfügen über Waffen, die gleiche Funktionen erfüllen und nach dem technologischen Stand, vor allem bei den Landstreitkräften, sich in ihrer Qualität etwa die Waage halten. Lediglich bei der Luftwaffe und bei Teilen der Marine kann man einen technologischen Vorsprung des Westens annehmen. Damit gewinnt das Verhältnis der Streitkräfte-Quantitäten zueinander an Bedeutung. Entgegen einer oft geäußerten Meinung kann man durchaus die Divisionen und Armeen beider Seiten als Bezugsgrößen gegenüberstellen, da ihre Organisationsform und Kampfkraft sich im großen ganzen entsprechen. Es kommt dabei nicht so sehr auf die Stärke des Personals an, die bei den NATO-Divisionen größer ist, als vielmehr auf die Anzahl der das Gefecht entscheidenden Waffensysteme. Auf Seiten der NATO stehen in Mitteleuropa zwischen Ostsee und Alpen auf deutschem Boden ca. 22 Divisionen bereit die im Ernstfall nach einer Mobilmachung durch Truppen aus den europäischen Heimatländern um vier Divisionen verstärkt werden können. Dazu kommen noch im Rahmen der Luftüberführungsaktion REFORGER ca. zwei US-Divisionen, so daß die Maximalstärke der NATO für den mitteleuropäischen Abschnitt nach erfolgtem Aufmarsch für die erste Kriegsphase ca. 28 Divisionen beträgt. Zusätzlich stehen nach Anforderung durch die NATO-Kommandobehörden die sechs Heimatschutz-Brigaden des deutschen Territorialheeres für die Vorneverteidigung zur Verfügung, die dann allerdings im rückwärtigen Heimatgebiet fehlen. Die französischen Streitkräfte, mit einem Korps aus drei Divisionen im südwestlichen Deutschland stationiert, können hierbei nicht mitgezählt werden, da sie nicht dem NATO-Befehl unterliegen.

Alle NATO-Truppen, außer der 7. US-Armee, sind von der Zuführung eines hohen Reservistenanteils nach einer Mobilmachung abhängig. Sie benötigen daher eine Anlaufzeit, um die volle Einsatzbereitschaft herstellen zu können. Unter diesem Aspekt erscheint ein östlicher Überraschungsangriff ohne ausreichende Vorwarnzeit als ein Alpdruck für die NATO-Planer. Ob ein solcher Angriff allerdings wahrscheinlich ist, soll noch untersucht werden.

Insgesamt verfügen diese 28 NATO-Divisionen über ca. 6 500 Kampfpanzer, wenn einmal dieses Waffensystem als Symbol der Kampf-kraft besonders herausgestellt werden soll. Tatsächlich jedoch ist „das Gefecht der verbundenen Waffen", also das Zusammenwirken von Kampfpanzern, Schützenpanzern und Panzerabwehr mit Artillerie, Pionieren, Fla-Panzern und Hubschraubern als entscheidendes Bewertungskriterium für den modernen Kampf-ablauf anzusehen. Die westlichen Luftwaffen kommen auf ca. 1 800 Kampfflugzeuge, die im Ernstfall allerdings beträchtlich durch Verstärkungen aus den USA ergänzt werden können, wenn die dafür notwendigen zusätzlichen Landekapazitäten, Versorgungs-und Instandsetzungsdienste verfügbar sind, was nicht überall der Fall ist.

Der Warschauer Pakt stellt sich demgegenüber ungleich stärker dar. In der DDR, CSSR und Polen stehen allein 26 sowjetische Divisionen deren strategische Stoßrichtung über die Bundesrepublik nach Westen zielt. Der Einsatz der Südgruppe der sowjetischen Truppen in Ungarn mit derzeit 4 Divisionen ist sowohl nördlich der Alpen über Österreich in die Südflanke Bayerns wie auch gegen Jugoslawien oder Griechenland möglich. Bei der militärischen Lagebeurteilung Mitteleuropas sollten sie mit einbezogen werden. Den sich dann ergebenden 30 Sowjet-Divisionen stehen 37 nationale Divisionen der nichtsowjetischen WP-Mitglieder zur Seite, einschließlich Ungarn; das macht dann insgesamt 67 Divisionen mit ca. 22 000 Kampfpanzern im westlichen Vorfeld der UdSSR, die von den WP-Luftwaflen mit ca. 3 200 Kampfflugzeugen unterstützt werden.

Hinter dieser 1. Strategischen Staffel stehen 33 Divisionen in den drei westlichen Militär-bezirken der Sowjetunion — Baltikum, Weißrußland und Karpaten — mit 8 500 Panzern und 1 100 Flugzeugen als 2. Strategische Staffel.

Von den auf Gesamteuropa a 500 Panzern und 1 100 Flugzeugen als 2. Strategische Staffel.

Von den auf Gesamteuropa ausgerichteten 179 Divisionen des WP sind demnach 100 Divisionen (= 56%) auf den mitteleuropäischen Abschnitt angesetzt. Die Gegenüberstellung in diesem Raum ergibt ein Verhältnis von:

NATO WP Divisionen 28 100 1: 3, 6 Kampfpanzer 6500 ca. 30000 1: 4, 6 Kampfflugzeuge 1800 ca. 4300 1: 2, 4 Das quantitative Ungleichgewicht der konventionellen Land/Luftstreitkräfte zugunsten des WP, das in den letzten zehn Jahren ständig zugenommen hat, ist damit offenkundig — ein Beweis auch für die Interpretation der Entspannungspolitik durch die Sowjetunion, die keinesfalls als Herabsetzung der Rüstungen verstanden wird. Die Analyse der inneren Struktur der sowjetischen Großverbände ergibt darüber hinaus Verstärkungen nach Waffen und Personal, bei den Kampftruppen um ca. 40 %, bei der Artillerie und den schweren Waffen sogar um 60 %. Die Anstrengungen im Bereich der chemischen Kriegführung sind ebenfalls nicht zu übersehen.

Eine beachtliche Ausweitung der militärischen Effizienz des WP entsteht durch die Einbeziehung seiner paramilitärischen Organisationen in die bewaffnete Macht. Die DDR verfügt über die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse" mit ca. 400 000 Mann 7) (nach „The Military Balance 1980/81", IISS London, sind es sogar 500 000). Diese Kampfgruppen bilden zusam-men mit der Zivilverteidigung einen schlagkräftigen Bestandteil der straff gegliederten Gesamtverteidigung der DDR. Neben ihren ortsgebundenen Sicherungsorganen verfügen sie über ca. 200 motorisierte Bataillone, militärisch gegliedert und mit leichten und schweren Infanteriewaffen ausgerüstet. Die Kampfgruppen-Organisation ist nicht nur die Basis der Territorialverteidigung, sondern vornehmlich auch als Parteiarmee der SED ein Instrument zur Disziplinierung und Militarisierung des öffentlichen Lebens.

In der CSSR umfaßt die Volksmiliz 120 000, in Polen die Arbeitermiliz 350 000 und in Ungarn 60 000 Mann 8). Alle diese Territorialverbände halten der kämpfenden Front den Rücken frei, dienen also zusätzlich der Erhöhung ihrer Kampfkraft.

Allerdings ist die Einsatzbereitschaft der WP-Streitkräfte im Frieden nicht durchgehend gleich. Bei einer Einteilung in drei Kategorien von voll präsenten Verbänden im westlichen Vorfeld der UdSSR bis zu teilaufgefüllten Kadertruppenteilen in Rußland selbst ist eine Mobilmachung bei zunehmender Spannung nicht zu umgehen.

In Fachkreisen hält man ein Kräfteverhältnis vom Verteidiger zum Angreifer von 1: 3 noch für tragbar. Das gilt aber nur auf dem Gefechtsfeld und nicht im strategisch-operativen Bereich. Eine sowjetische Angriffsplanung großen Stils wird Schwerpunkte für ihre Operationen der „kühnen Stöße" setzen. Sie sind vom Gelände, von der Einschätzung des gegenüberliegenden Feindes wie von der Erfolgsbeurteilung für den erwünschten schnellen Durchbruch abhängig. Die Kräftestaffelung in der Tiefe entspricht dieser Führungsabsicht. An weniger wichtigen Frontabschnitten wird es lediglich zur Fesselung des Gegners kommen; dazu genügen Stärkeverhältnisse von 1: 1 oder 1: 1, 5, während in den entscheidenden Stoßrichtungen auf schmalen Gefechtsstreifen tiefgestaffelte Angriffsverbände im Verhältnis von 1: 5 oder mehr antreten können.

Das hat für die NATO eine permanente Abnutzung der Abwehrkräfte ohne ausreichende Auffrischung zur Folge, da Reserve-Brigaden oder Reserve-Divisionen nicht ausreichend vorhanden sind, während der WP ständig frische Staffeln nachführen kann. Damit ist in relativ kurzer Zeit der Gefechtswert des Verteidigers so geschwächt, daß mit dem Zusam-menbruch seiner Abwehr zu rechnen ist. Unter diesen Umständen sind technologische Qualitätsvorsprünge, sofern sie sich überhaupt auswirken, nur in der ersten Gefechts-phase von Bedeutung. Durch die nach und nach immer dünner werdende Front drückt die überlegene Masse, unterstützt durch taktische und operative Luftlandungen im Rücken der vorn kämpfenden Truppen, weiter vor und erringt Erfolge.

Damit ist die oft gehörte Behauptung, daß eine höhere Qualität der NATO-Waffensysteme die quantitative Überlegenheit des WP ausgleicht, nur sehr bedingt richtig. Das trifft vor allem auch für die Panzerabwehr der NATO, speziell des deutschen Heeres, zu. Es trifft zu, daß ihre Wirkung durch Einführung einer neuen Generation von Panzerabwehrraketen mit großer Reichweite und ausgezeichneter Treffsicherheit erheblich zugenommen hat. Andererseits sind auf jedem der ca.

10 000 Schützenpanzer der motorisierten Infanterie des WP zwei Panzerabwehrwaffen, eine Rakete und eine leichte Kanone, installiert, die zur Bekämpfung des gepanzerten NATO-Potentials beitragen, ungeachtet der zusätzlichen Spezialpanzerabwehrkanonen.

Die massive Verstärkung der WP-Artillerie ist gleichfalls als Antwort auf die erhöhte Panzerabwehrfähigkeit der NATO anzusehen. Diese wechselseitigen Beziehungen innerhalb der Waffensysteme zeigen, wie einseitig die besondere Herausstellung des Panzers als Träger der Kampfkraft ist und wie schnell technologischer Fortschritt durch Maßnahmen des Gegners neutralisiert werden kann.

Die Grundlage für die Effektivität von Streitkräften ist die Ausbildung der Truppe. Bei einer Wehrdienstdauer in der Sowjetunion und den anderen WP-Staaten von zwei Jahren — lediglich in der NVA der DDR beträgt sie 18 Monate — dürfte die Zeit ausreichen, um alle Funktionen einer technischen Armee in den Griff zu bekommen. Dabei ist die vormilitärische Ausbildung und Erziehung in den kommunistischen Jugendorganisationen und speziellen Vereinigungen als zusätzliche Hilfe zu werten. In der NATO liegt, außer bei den Berufs-und Freiwilligenarmeen der USA, Großbritanniens und Kanadas, die Dienstzeit der übrigen Verbündeten zwischen 9 bis 15 Monaten und damit erheblich unter dem Niveau der WP-Staaten. Eine vormilitärische Ausbildung fehlt natürlich ganz.

Ob allerdings im WP die Führungsqualität des unteren und mittleren Offizierkorps den ehrgeizigen militärischen Zielsetzungen wagemutiger Angriffsoperationen standhält, ist zu bezweifeln. Die dafür erforderliche Auftrags-taktik, stets mit persönlicher Risikobereitschaft gekoppelt, steht zumindest im Gegensatz zur kommunistischen Reglementierung „von oben".

Die Frage nach dem Verhalten im Kriegsfall und der inneren Einsatzbereitschaft ist schwierig zu beantworten. Die WP-Staaten besitzen sehr viel Gegensätzlichkeit aus nationaler Sicht untereinander wie auch im Verhältnis zur Sowjetunion. Es ist wenig wahrscheinlich, daß sich die Masse der tschechischen, polnischen, ungarischen und deutschen Soldaten der NVA voller Begeisterung für die Sowjetunion schlagen wird. Trotzdem kann angenommen werden, daß im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Westen die Geschlossenheit des WP solange anhält, wie der Erfolg auf seiner Seite ist.

Man darf auch nicht die vom Osten meisterhaft beherrschte subversive Kriegführungvergessen, die vor allem in den rückwärtigen Heimatgebieten der NATO zu Lähmungen führen und mit Terror-und Sabotageakten hysterische Angstpsychosen bei der Bevölkerung hervorrufen kann, mit der Folge weiterer Herabsetzung des an sich schon schwach entwikkelten Verteidigungswillens.

Kriegsgefahr durch Überraschungsangriff des WP?

Als besondere Kriegsgefahr wird oft ein Überraschungsangriffder WP-Streitkräfte „aus dem Stand" angesehen. Der belgische General Close und der britische General Hackett ehemaliger Oberbefehlshaber der NATO-Heeresgruppe Nord in Deutschland, haben ihn dramatisch dargestellt, sich dabei allerdings eindeutig von Vorstellungen des Zweiten Weltkrieges leiten lassen. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Überraschungsangriffs gering, da trotz aller Geheimhaltungsbestrebungen einzelne dafür typische Vorbereitungen nicht zu tarnen sind.

Die Truppen des WP können allerdings, wie oft und auch zu Recht angenommen wird, ihre Kriegsvorbereitungen durch verstärkte Gefechtsübungen und Manöver verschleiern, zumindest wäre der operative Aufmarsch, der logistische Unterbau und die Herstellung der Gefechtsführungsbereitschaft von Heer und Luftwaffe unter diesem Deckmantel durchzuführen. Man sollte allerdings die Möglichkeiten der NATO nicht für so gering einschätzen, daß sie dies nicht feststellen und mit abschrek-kenden Gegenmaßnahmen beantworten könnte.

Die politische Gesamtsituation müßte sich ebenfalls in einer Form verschlechtert haben, die Befürchtungen dieser Art wahrscheinlich macht. Durch die elektronische Aufklärung — auch durch Satelliten — sowie durch Nachrichtendienste und sonstige Kontakte kann wohl immer mit einer „politischen Vorwarnzeit“ gerechnet werden, wenn auch im ungünstigsten Falle nur von kurzer Dauer. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen daraus gezogen werden, vor allem, ob die Politiker frühzeitig die notwendigen Gegenmaßnahmen einleiten. Ein zögerndes Verhalten mit übertriebener Rücksichtnahme auf mutmaßliche sowjetische Empfindlichkeiten kann aus der Sicht der NATO gefährlich werden, da Zeit verschenkt wird und die andere Seite durch Unterschätzung der westlichen Entschlossenheit zu Fehlkalkulationen veranlaßt werden könnte. Erst nach einer Erhöhung der militärischen Bereitschaft sind de-eskalierende Maßnahmen ohne Sicherheitsgefährdung möglich. Die Gefahr eines Überraschungsangriffs in Mitteleuropa ist daher bei entschlossener Reaktion auf westlicher Seite als wenig wahrscheinlich anzusehen. Schwächen der NATO an ihren Flanken und in Mitteleuropa Die Situation an den Flanken der NATO im Norden wie im Süden ist weitaus beunruhigender als in der Mittelzone. Die schwachen Heeresverbände Norwegens und Dänemarks sind kaum in der Lage, bei militärischen Operationen der Sowjetunion ernsthaft Widerstand zu leisten, wenn sie nicht frühzeitig von herangeführten Unterstützungskräften aus anderen NATO-Ländern verstärkt werden. Der strategische Schwerpunkt liegt im Norden ohnehin auf der See-und Luftkriegführung. Von dem zu einem der größten Flottenstützpunkte der Welt ausgebauten Hafen Murmansk aus operiert die sowjetische Nord-flotte mit ihrem hohen U-Boot-Anteil, um die Seeverbindungen zwischen Nordamerika und Europa zu zerschneiden.

Der unbefriedigende Zustand der NATO an der Südflanke ist seit langem bekannt. Die Probleme sind sowohl politischer als auch militärischer Art: Die NATO-Partner Griechenland und Türkei stehen sich seit Jahren feindselig gegenüber; die wirtschaftliche und politische Lage der Türkei ist besorgniserregend; die Situation in Italien ist kaum besser. Der einzige Rückhalt der NATO im Mittelmeer ist die 6. US-Flotte mit ihrem respekteinflößenden Potential an Kriegsschiffen, Flugzeugträgern und Kampfflugzeugen. Demgegenüber ist der sowjetische Marineverband der Eskadra unterlegen, da ihm auch ein ausreichendes logistisches Stützpunktsystem an der Mittelmeerküste fehlt. Die NATO-Flanken sind ohne Zweifel als die schwächsten Stellen im westlichen Sicherheitsgebäude anzusehen, die besonders bei fortgesetzter politischer Instabilität zu einer Aushöhlung der Allianz führen können. Andere Mängel treten hinzu: So geht zwar das Abwehrkonzept der NATO für Mitteleuropa richtigerweise von der Vorneverteidigung als unabdingbare Notwendigkeit aus, um das eigene Territorium so weit östlich wie möglich gegen Feindangriffe zu schützen. Leider kommt dabei die in nationale Verantwortung fallende Gesamtverteidigung mit Zivil-verteidigung und Katastrophenschutz zu kurz, obgleich gerade in der Bundesrepublik das funktionierende Zusammenwirken aller mit der Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit befaßten Organe von besonderer Bedeutung ist. Dazu gehört auch der Schutz der Zivilbevölkerung gegen Kriegseinwirkungen, vordringlich in den Grenzgebieten. Es trägt nicht zur Glaubwürdigkeit unseres Verteidigungskonzepts bei, daß in der gesamten Bundesrepublik nur für 1, 8 Millionen Menschen Schutzräume zur Verfügung stehen, also nur für ca. 3% der Bevölkerung.

Alles in allem bedarf die konventionelle Komponente der NATO-Verteidigung erheblicher Verbesserungen, wenn sie ihren Abwehrauftrag erfüllen soll, und zwar die Bildung von Reserve-Brigaden für die Vorneverteidigung und Territorialverteidigung, die Stärkung des Territorialheeres durch vermehrten Einsatz von Reservisten, die Verteidigung der Grenzgebiete statt der Preisgabe von Gelände durch Verzögerungsoperationen.

Beurteilung der konventionellen Kriegführungsfähigkeit von NATO und WP Trotz aller notwendigen Verstärkungen der konventionellen Streitkräfte wird die NATO aus vielerlei Gründen auf dieser Ebene nie mit dem WP gleichziehen können. Das ist an sich auch nicht erforderlich, da sonst der Wille zur konventionellen Abwehr zu Lasten der nuklearen Abschreckung überbewertet werden könnte. Die NATO-Verbände haben lediglich der Kriegführungsfähigkeit für eine begrenzte Zeit zu dienen und müssen nach Umfang und Kampfkraft so stark sein, daß sie die Verteidigung vorn an der Grenze und in der Heimat mit Aussicht auf Erfolg führen und einen schnellen Vorstoß des Angreifers in die Tiefe des NATO-Territoriums verhindern können. Wenn man die konventionellen Streitkräfte von NATO und WP gegenüberstellt, muß man zu dem Schluß kommen, daß der WP die militärische Fähigkeit besitzt, in Europa jede Art von Krieg zu führen, ohne damit allerdings eine politische Absicht zu präjudizieren. Nach Umfang und Rüstung ist er der NATO eindeutig überlegen. Würde ein Krieg nur mit konventionellen Mitteln ausgetragen, hätte die NATO im jetzigen Zustand keine Erfolgschancen.

Es wäre allerdings voreilig, aus der Tatsache der konventionellen Überlegenheit des WP und der aufgezeigten Mängel der NATO eine akute Kriegsgefahr für Europa abzuleiten. Im nuklearen Zeitalter ist die konventionelle Komponente nur ein Teil, wenn auch ein sehr wesentlicher, des gesamten militärischen Machtpotentials.

Darüber stehen die nuklearen Waffen mit ih. rer entscheidenden Abschreckungspotenz als friedenssicherndes Element Vielerorts wird die Abschreckung als theoretischer Begriff zwar bejaht, aber die Bereitstellung von Mit. teln zur Kriegführung mit den damit zusam. menhängenden Vorbereitungen auf den Ernstfall als suspekt angesehen. Abschrekkung ist dagegen nur wirksam, wenn in allen Bereichen ein Höchstmaß an militärischer Kriegführungsfähigkeit mit dem politischen Willen zu ihrer Anwendung für die eigene Verteidigung gekoppelt ist. Je stärker die Wi.derstandskraft der konventionellen Streitkräfte, desto geringer der Zwang zur Eskalation. Wer also die Anhebung der Atomschwelle will, muß für die Stärkung der konventionellen Kampfkraft eintreten. Wird ein bestimmtes Limit unterschritten, besteht die Verlok. kung für den Gegner, in einem Blitzkrieg vollendete Tatsachen zu schaffen und die nuklearen Eskalationsdrohungen zu unterlaufen. Die NATO hat dafür zu sorgen, daß eine solche Lage nicht eintritt.

II. Kriegsgefahr durch Veränderung des nuklearen Gleichgewichts?

Die Rolle der nuklearen Waffen ist in den letzten Jahren, vor allem im europäischen Bereich, vermehrt Gegenstand besorgter Diskussionen gewesen. Die Sensibilität ist auf diesem Gebiet naturgemäß besonders groß, zumal auch der Abschreckungsmechanismus größtenteils als Geheimnis militärpolitischer Experten in intellektueller Exklusivität angesehen wird — Grund genug für viele, mißtrauisch zu sein und das Schlimmste zu befürchten. Dabei vergißt man oft, daß auch ein demokratischer Staat seine militärischen Planungen und die technischen Daten seiner Waffensysteme geheimhalten muß. Dennoch ist die Frage legitim, ob Um-und Nachrüstungen im nuklearen Feld zwangsläufig zu erhöhter Kriegsgefahr führen.

Es wird oft behauptet, daß ein gegenseitiges Hochschaukeln im Rüstungswettlauf theoretisch zu einer temporären Überlegenheit einer Seite führen könnte, die es ihr geraten sein ließe, mit einem Überraschungsschlag das gesamte Potential des Gegners zu vernichten. Gegen dieses „Präventiv-Denken" sind erhebliche Bedenken anzumelden. Aus technischer Sicht müßte die Garantie gegeben sein, daß mit einem Erstschlag aber auch wirklich alle nuklearen Gegenwaffen ausgeschaltet werden können. Würde nur ein Teil überdauern, wäre das Risiko der eigenen Vernichtung durch die verbleibenden Gegenschlagskapazitäten viel zu groß und könnte alle Erfolgsberechnungen nuklearer Präventivoperationen nicht aufwiegen.

Umfang und Art der Nuklearwaffen geben jedoch keiner Seite die Chance eines vernichtenden Erstschlages. In der Fachliteratur finden sich ausreichende Unterlagen mit den Wirkungsfaktoren der vorhandenen Nuklearwaffen, die diese These erhärten. Daran ändert auch eine Modernisierung der Waffensysteme oder ein gesteigerter Rüstungswettlauf nichts. Außerdem sollte auch der moralische Aspekt nicht außer acht gelassen werden, der das westliche Denken bestimmt. Ein nuklearer Erstschlag als Präventivmaßnahme durch die USA steht danach außerhalb der Diskussion, nicht nur wegen des Defensivcharakters des NATO-Vertrages, sondern auch wegen der ethisch-moralischen Grundhaltung der amerikanischen Öffentlichkeit. Schließlich lehnte bereits während des Korea-Krieges der Präsident kategorisch den Einsatz von Atomwaffen ab, obgleich die USA damals noch die eindeutige Überlegenheit auf diesem Gebiet hatten. pie Gefahr eines „Druckknopfkrieges“, ausgelöst durch die USA, wird daher weder durch Fortschritte in der Waffentechnologie verstärkt, noch ist sie überhaupt akut. per interkontinental-strategische Bereich [m interkontinental-strategischen Bereich herrscht bereits eine Patt-Situation, die durch SALT II, wenn das Übereinkommen ratifiziert oder stillschweigend als Richtschnur akzeptiert werden sollte, auch vertraglich festgeschrieben ist. Danach sind beiden Seiten 2250 Trägersysteme zugestanden, bestehend aus verbunkerten Interkontinentalraketen, seegestützten Raketen auf U-Booten und Fernbombern unterschiedlicher Menge. Wenn es auch theoretisch möglich wäre, die in Raketensilos fest installierten Interkontinentalraketen (ICBM) auf einen Schlag auszulöschen, so blieben immer noch die seegestützten Raketen (SLBM) auf U-Booten und ein Teil der Fern-bomber mit Atomwaffen übrig. Auf den Weltmeeren und in der Luft ist eine Totalvernichtung ausgeschlossen. Diese nicht zu treffende Gegenschlagskapazität hat ein derart hohes Zerstörungsvolumen, das über die Risikobereitschaft der Sowjetunion hinausgehen und sie daran hindern dürfte, den strategischen Erstschlag auszulösen.

Die Entwicklung der Mehrfachgefechtsköpfe (MIRV) hat einen neuen Aspekt in die Nukleardiskussion gebracht, da trotz Limitierung der Trägersysteme mit ihrer Hilfe eine höhere Vernichtungskraft ins Ziel befördert werden kann. Der Anreiz, auf diesem Wege fortzuschreiten, ist also groß und wird unweigerlich zu weiteren Steigerungen führen.

Man muß aber auch bedenken, daß bei Verlust eines Trägers stets ein mehrfaches an MIRV mit verloren geht und damit das Gesamtverhältnis beeinträchtigt wird. Ein US-Poseidon-U-Boot mit 16 SLBM zu je 10 MIRV besitzt z. B. 160 Gefechtsköpfe, die auf einen Schlag verloren gehen, wenn das Boot versenkt wird. Der derzeitige Bestand an Gefechtsköpfen aller Art wird für die USA mit ca. 9500 gegenüber ca. 5500 der Sowjetunion angegeben. Für 1985 belaufen sich die Schätzungen auf 12 000: 10 000; es wird also davon ausgegangen, daß die UdSSR durch erhöhte Anstrengungen den jetzt noch bestehenden Vorsprung der USA aufholen will. Die Fragwürdigkeit eines solchen Rüstungswettlaufs bei den bereits vorhandenen übergroßen Vernichtungskapazitäten liegt auf der Hand, zumal sich dadurch am politischen Charakter der Nuklearwaffen nichts ändert. Ihr tatsächlicher Einsatz im vorhandenen Umfang würde schon jetzt die totale Zerstörung beider Seiten bedeuten und ist daher unwahrscheinlich; dies schließt allerdings nicht aus, daß mit Atomwaffen gedroht und erpreßt wird — eben als „Stil" -Mittel der Politik. Die euro-strategischen Nuklearwaffen Im Bereich der Mittelstreckenraketen besteht bei ca. 300 Trägersystemen der USA/Großbritannien zu ca. 1350 der Sowjetunion ein Verhältnis von 1: 4, 5, einschließlich Frankreichs mit seinen 130 Raketen, U-Booten und Bombern ein Verhältnis von 1: 3,1 Im Prinzip würde auch hier der politische Abschreckungscharakter vorherrschen, wenn nicht durch Modernisierung und Substanzveränderung auf sowjetischer Seite die Gefahr eines realen militärischen Einsatzes bestände.

Nun ist eine Modernisierung durch Weiterentwicklung der Technologie eine zwangsläufige Sache, denn jede Seite ist normalerweise bestrebt, den Wirkungsgrad ihrer Waffen zu verbessern. Die Diskussion hat sich vornehmlich an der sowjetischen Mittelstreckenrakete SS-20 und dem Fernbomber TU-22 (NATO-Jargon: Backfire) entfacht. Die SS-20 besitzt einen Mehrfachgefechtskopf mit drei getrennt steuerbaren Ladungen und eine größere Treffgenauigkeit als ihre Vorgängerin. Mit einer Reichweite von ca. 5 000 km kann sie ganz Europa und den Mittelmeerraum abdecken. Entscheidend jedoch ist, daß sie durch ihre Mobilität kaum zu orten ist. Zur Zeit sollen 150 bis 160 SS-20 bereits im Betrieb sein mit einer jährlichen Zuwachsrate von 50 Stück. Der Backfire-Bomber mit einer normalen Reichweite von ca. 5000 km, die auf strategische Entfernungen erhöht werden kann, hat eine Flugleistung von 2, 5facher Schallgeschwindigkeit. Der Bestand soll bei 145 Flugzeugen liegen mit einer jährlichen Zuwachsrate von ca. 30 Stück.

Was ist an diesen Waffensystemen so gefährlich? Mit 3 MIRV sind die 160 SS-20 heute bereits in der Lage, 480 Ziele in ganz Europa auf einen Schlag zu bekämpfen und bei ihrer verbesserten Treffgenauigkeit auch auszuschalten, ohne daß sie selbst erfaßt und zerstört werden können. Die 145 Backfire-Bomber erhöhen diese Zahl auf 625. Die 430 Systeme der NATO und Frankreichs würden zahlenmäßig allein damit überhöht abgedeckt, ohne daß der restliche MRBM-und Bomberüberhang der Sowjetunion mit ca. 900 Trägern überhaupt betroffen wäre. Ein Erstschlag wäre damit zumindest theoretisch denkbar, wenn sich das interkontinentale Potential gegenseitig neutralisieren ließe. Die übrigbleibenden westlichen U-Boote könnten natürlich auch der UdSSR Schaden zufügen; trotzdem bleibt fraglich, ob eine genaue Risikoberechung nicht für die europäischen NATO-Partner so ungünstig ausfällt, daß sie bereits durch eine Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen erpreßbar wären. Damit ist durch die SS-20 im Verhältnis zu früher eine neue Situation durch Störung der nuklearen Stabilität in Europa eingetreten.

Um dieser Bedrohung zu begegnen, ist der NATO-Nachrüstungsbeschluß für Mittelstreckenwaffen im Dezember 1979 gefaßt worden; dieser sieht vor, daß das europäische Arsenal um insgesamt 572 Raketen, bestehend aus 108 PERSHING II und 464 Marschflugkörpern (Cruise Missiles), verstärkt wird. Die PERSHING II hat eine außerordentlich große Treffgenauigkeit bei einer Reichweite bis zu 1800 km und bei hoher Mobilität eine schnelle Einsatzbereitschaft. Die Cruise Missiles können ebenfalls auf Fahrzeugen mobil installiert werden. Bei einer sehr niedrigen Flughöhe von unter 100 m sind die durch feindliche Ortung kaum zu erfassen. Die Reichweite soll ca. 2500— 3000 km betragen. Ihre Treffgenauigkeit befähigt sie, genau wie die PERSHING II, zur Bekämpfung von Punktzielen. Allerdings können sie wegen ihrer langsamen Fluggeschwindigkeit leicht durch Jäger abgeschossen werden. Beide neuen Waffensysteme können sowjetisches Territorium erreichen; sie haben damit gegenüber den bisherigen einen erheblich größeren Abschreckungswert. Mit ihrer Einführung ist allerdings nicht vor 1983 zu rechnen. Ungeachtet ihrer eigenen Überlegenheit stellt die UdSSR die beabsichtigte Nachrüstung der NATO als eine ernste Bedrohung ihrer Sicherheit dar. Für die nächsten drei Jahre sind daher Drohungen und politische Erpressungen zu erwarten. Den etwa ab 1985 verfügbaren 572 neuen NATO-Raketen wird das inzwischen mit ihren Zuwachsraten auf 410 SS-20 und 295 Backfire-Bombern angewachsene, wiederum überlegene eurostrategische Potential der Sowjetunion gegenüberstehen, wenn es nicht gelingt, die UdSSR vorher zu einem Rüstungsstopp zu veranlassen.

Die Doppelstrategie der NATO in Europa beruht daher auf den beiden Pfeilern: Weiterführung des Nachrüstungsprojekts und gleichzeitige Verhandlungen mit der Sowjetunion zur Begrenzung ihrer Rüstung. Von verschie.denen Seiten wird die Strategie der Verband, lungen bevorzugt mit der Absicht, den Nachrüstungsbeschluß erst dann in die Praxis um. zusetzen, wenn die Gespräche nicht zum Erfolg führen sollten. Dies scheint ein gefährli. ches Unterfangen, denn so hätten es die Sowjets in der Hand, bedeutsame Fragen der westlichen Sicherheit durch Verhandlungs. Verzögerung in ihrem Sinne zu beeinflussen, während sie sich selbst keine Rüstungsbeschränkungen auferlegen würden. Die Folge könnte sein, daß in einigen Jahren die sowjetische Mittelstreckenüberlegenheit das Nachrüstungsprogramm der NATO wirkungslos gemacht hätte. Der Sinn der Parallelität von Nachrüstung und Verhandlungen liegt aber in der Wiederherstellung des eurostrategischen Gleichgewichts. Bereits nach Ablauf von SALT II wurde von den Europäern eine Regelung über die Grauzonenwaffen durch SALT-III-Gespräche gefordert, wobei die unterschiedlichen Beurteilungen innerhalb der NATO bei den Auseinandersetzungen um die Stationierung dieser Waffen deutlich wurden. Im Interesse einer fortschreitenden Rüstungsbegrenzung bleibt zu wünschen, daß trotz der bekannten Schwierigkeiten die Verhandlungen zum Erfolg führen.

Eine neue Nuklearstrategie der USA?

Von den USA ist im Laufe des Jahres 1980 eine neue Nuklearstrategie in die Diskussion gebracht worden. Wenn durch größere Zielgenauigkeit und geringere Streuung militärische Punktziele wie Kommandozentralen, Raketen-silos, Depots und Flugplätze ausgeschaltet werden sollen, handelt es sich in erster Linie um Folgen einer verbesserten Technologie. An sich wäre das noch keine neue Strategie; sie würde lediglich die strategische Abschrekkung, die bisher stark auf Flächenziele ausgerichtet war, durch eine verfeinerte Bedrohung militärischer Ziele erweitern und damit wirksamer machen. Als Folge wäre die Kriegführungsfähigkeit der Sowjetunion stärker als bisher in Mitleidenschaft gezogen. Die Auswirkungen solcher technologischer Modernisierungseffekte müssen sich jedoch stets auf das Gesamtspektrum der Abschreckung erstrekken, um von vornherein der Gefahr eines begrenzten nuklear-konventionellen Krieges in Europa, vor dem nicht genug gewarnt werden kann, zu begegnen. Die europäische Substanz würde dabei in Mitleidenschaft gezogen, während die USA und die UdSSR von seinen Folgen verschont blieben. Es darf also keine AbB koppelung des strategischen Potentials geben, Abschreckung nicht teilbar ist; denn sonst würden die nuklearen Waffen ihres politischen Charakters beraubt und zum Mittel der Kriegführung mit realen zerstörerischen Begleiterscheinungen umfunktioniert. Die Gegenseite wird höchstwahrscheinlich die Verbesserung der amerikanischen Nukleartechnologie mit erhöhter Mobilität ihrer wichtigsten Kommandozentralen und Raketen beantworten und versuchen, den Folgen dieser neuen" Strategie zu entgehen. Ob der damit verbundene Rüstungsschub durch eine wirksamere Abschreckung gerechtfertigt wird oder lediglich das gesamte Rüstungsniveau gleichmäßig auf eine höhere Stufe ohne meßbaren Effekt anhebt, bleibt einer genauen Analyse nach Kenntnis aller Einzelheiten Vorbehalten. Eine Modernisierung der nuklearen Waffen ist nicht zu verhindern, ebenfalls nicht die Verwendung neuer Waffen wie z. B.der Neutronengefechtsköpfe, aber stets müsen sie als Teil der Gesamtabschreckung gesehen werden; eine gesonderte Funktion darf ihnen nicht zukommen. Das gleiche gilt für die atomaren Gefechtsfeldwaffen der Artillerie und für Kurzstreckenraketen.

Nur der Gesamtverbund aller Atomwaffen garantiert bei annäherndem Gleichgewicht die lückenlose Abschreckung und bietet einem Aggressor ein kalkulierbar unerträgliches Risiko. Unkalkulierbar darf nur Zeit, Ort, Umfang, Ausmaß und Stärke der Einsatzmittel sein. Das Risikobewußtsein der Sowjetunion dürfte diese Form der Abschreckung solange akzeptieren, wie sie entschlossen und glaubwürdig von den USA und der NATO vertreten wird. Nur das sichert nach menschlichem Ermessen den Frieden.

Interessant ist die Position von Michael S. Voslensky Er schreibt unter der Überschrift . Wollen die Russen den Krieg?'in seinem Buch: „Die herrschende Klasse hat Angst vor einem Atomkrieg. Nicht wegen der ungeheuren Opfer an Menschen oder der Gefahr der Vernichtung unserer Zivilisation. Für ihren Sieg ist die Nomenklatura durchaus bereit, Millionen von Menschen an der Front zu opfern. Allerdings nur unter zwei Bedingungen, 1. daß sie selbst nicht zu den Opfern gehört und 2., daß ihre Macht unangetastet bleibt. Die Anwendung nuklearer Waffen aber garantiert weder das eine noch das andere. Dies ist der Grund, warum die Nomenklatura so ausdrücklich nukleare Abrüstung fordert, natürlich die Abrüstung des Gegners, nicht ihre eigene".

So plädieren seit Jahrzehnten die Sowjetunion und ihre Anhänger für Ächtung der Atomwaffen — vom Rapatzky-Plan über „Kampf-demAtomtod'-Demonstrationen bis zu ihrer Anprangerung als völkerrechtswidrige Kriegs-mittel. Hätten sie mit diesen Aktionen Erfolg, wäre das entscheidende Hindernis für ihre hegemoniellen Ziele beseitigt.

Beurteilung der Gesamtabschreckung für Europa Die Beurteilung des gesamten nuklearen Komplexes führt zu der Schlußfolgerung, daß — ein Erstschlag mit garantiertem Totalerfolg nicht möglich ist, — kein zwangsläufiger Mechanismus zum Präventiveinsatz durch technologische Überlegenheit erkennbar ist, — Modernisierung und größere Leistungsfähigkeit der nuklearen Waffensysteme nicht zu einer selbständigen Funktion, herausgelöst aus dem Gesamtabschreckungsverbund, führen darf, — trotz unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Komponente das Abschreckungskonzept der NATO noch funktioniert.

Wenn auch die Überrüstung der Sowjetunion auf konventionellem wie auf eurostrategischem Gebiet nicht zu bestreiten ist, besteht für Europa aus den genannten Gründen z. Z. keine Kriegsgefahr. Dieser Zustand kann jedoch nur erhalten werden, wenn das Gleichgewicht der Gesamtabschreckung nicht noch weiter zu Lasten der NATO verändert wird. Voslensky sagt dazu: „Gewiß fürchtet sich die Nomenklatura vor einem Krieg, aber sie fürchtet ihn nur angesichts des heutigen Kräfteverhältnisses. Sollte es der Nomenklatura gelingen, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten so zu verschieben, daß der Westen eindeutig schwächer erscheint, wird sie aufhören sich zu fürchten — und kann angreifen — wie in Afghanistan — ja, angreifen."

III.

Droht Kriegsgefahr außerhalb Europas?

Der nukleare Gleichgewichtsmechanismus zwischen den USA und der UdSSR schafft für Europa — vor allem im Kernbereich Mitte — relativ stabile Verhältnisse. Auch die Sowjetunion scheint daran interessiert zu sein. Aus ihrer Sicht ist die Entspannung teilbar, um die Vorteile der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen nicht aufs Spiel zu setzen. Ferdinand O. Miksche schreibt: „Solange die Russen die begründete Hoffnung hegen, die Ziele ihrer Politik friedlich durchzusetzen, entfesseln sie keinen Großkrieg."

Dem ist zuzustimmen. Es kann nur im Interesse der Sowjetunion liegen, in Europa Ruhe zu halten und gleichzeitig ihren Einfluß in anderen Teilen der Welt auszuweiten. Mit dieser indirekten Strategie bieten sich ihr langfristig angelegte günstige Möglichkeiten in der Verfolgung ihrer Ziele zur Festigung der angestrebten Weltmachtstellung. Der Westen verhält sich außerhalb der NATO-Grenzen seit Jahren äußerst indifferent und kann sich anscheinend nicht zu einer klaren Gegenstrategie entschließen.

Dagegen steht die Politik der Sowjetunion durchaus im Einklang mit dem ideologischen Konzept der friedlichen Koexistenz das bei uns viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird. Während der Westen auf den Begriff Entspannung betont Wert legt, hält die Sowjetunion an der Fortdauer des internationalen Klassenkampfes bis zum — ihrer Über-zeugung nach — historisch zwangsläufigen Sieg des Sozialismus fest. Die Unterstützung sogenannter nationaler Befreiungskriege und revolutionärer Bewegungen in aller Welt, auch mit Mitteln der Gewalt, ist darin eingeschlossen, wobei darunter selbstverständlich nur solche Strömungen verstanden werden, die entweder kommunistisch oder eindeutig antiwestlich orientiert sind.

Die indirekte Strategie der Sowjetunion Die indirekte Strategie operiert mit weit ausholenden Zangenbewegungen globalen Ausmaßes. Die gigantische Flottenrüstung der UdSSR findet hierin ihre Begründung. Während im Nordatlantik die Seeroute Amerika— Europa unter Kontrolle gebracht werden soll, geht die südliche Umfassung Europas über den Nahen und Mittleren Osten, abgesichert durch Machtpositionen in Südostasien, um Afrika herum mit dem Ziel, Europa von seinen Rohstoffzufuhren abzuschneiden. Das ist der entscheidende Punkt der neuen Bedrohung Wenn das erreicht werden kann, ist die NATO und damit Europa nicht mehr handlungsfähig und somit erpreßbar, wenn sich nicht schon vorher aus dieser Konfrontation Konflikte ergeben, die zum Krieg führen können. Diese imperialistische Politik der Sowjetunion, die sich mehr auf Waffenlieferungen als auf Entwicklungshilfe gründet, hat inzwischen ausgerechnet in jenen Teilen der Welt zur Errichtung von Stützpunkten geführt, die für den Westen von lebenswichtigem Interesse sind. Die Kontrolle über die Suez-Route vom Mittelmeer in den Indischen Ozean ist durch die kommunistischen Regime in Äthiopien, SüdJemen und Aden bereits weitgehend gesichert. Im Nahen und Mittleren Osten wurde der sowjetische Einfluß in Syrien und im Irak durch die Intervention in Afghanistan „abgerundet', In Afrika sind Angola und Mocambique Bausteine der globalen Strategie der UdSSR und bieten mit ihren Häfen an der West-und Ost-küste Afrikas Stützpunkte für die Rote Flotte. Die geostrategische Lage des südlichen Afrika mit dem Seeweg um das Kap gewinnt für Europa in Zukunft mehr und mehr an Bedeutung, Ein Stellvertreter-Krieg wie in Angola (oder auch ein Bürgerkrieg) ließe sich bei den vorhandenen politisch-rassischen Gegensätzen in Namibia, Südafrika und Zimbabwe/Rhodesien ohne allzu große Schwierigkeiten anzetteln und könnte von Angola und Mocambique aus unterstützt werden. Bei ungewissem Ausgang würden zumindest für die Dauer solcher Befreiungskriege die Rohstofflieferungen an das westliche Ausland eingeschränkt, wenn nicht ganz unterbunden.

Seit einigen Jahren wird im Westen zwar um die Ölversorgung aus dem Mittleren Osten gebangt, kaum jemand spricht aber von unserer in gleichem Maße wichtigen Abhängigkeit von den aus Afrika kommenden Rohstoffen. Die Bedeutung des südlichen Afrika für die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität Europas wird durch den Seeverkehr auf der Kap-route unterstrichen. 75 % aller Schiffe gehen nach Europa und USA mit 80 % des für Europa und 40 % des die USA bestimmten Öls Die Sperrung oder Kontrolle dieser Transport-wege durch die Sowjetunion würde eine grundlegende Verlagerung des Machtgleichgewichts bedeuten, wenn nicht sogar eine Kriegserklärung an die westliche Welt.

Neben diesen langfristigen bedrohlichen Entwicklungen in und um Afrika hat sich durch die Revolution im Iran und die Invasion der Roten Armee in Afghanistan die strategische Lage im Mittleren Osten dramatisch zugunsten der UdSSR verschoben. Von den Flugplätzen im Süden Afghanistans sind es nur 500 km bis an die Arabische See. Ein vor der Straße von Hormuz kreuzender Flottenverband der USA kann durch die sowjetische Luftwaffe ernstlich bedroht werden. Die USA haben nach dem Sturz des Schah-Regimes nicht nur politischen Einfluß verloren, sie sind zur Zeit auch nicht in der Lage, weitab von ihren Stützpunkten militärische Macht zu entfalten. Dagegen versteht es die Sowjetunion geschickt, ihre Interessen im Nahen Osten unter Ausnutzung des Krieges zwischen Irak und Iran, unterstützt durch ihren neuerlichen Vertrag mit Syrien, zum Nachteil des Westens auszubauen und ihren Einfluß in der Golfregion ständig zu erweitern. Es kommt hinzu, daß ab Mitte der 80er Jahre mit einem unerbittlichen Rohstoff- Verteilungskampf zu rechnen ist. Alle Experten sagen eine drastische Ölverknappung für die nächsten 20 Jahre voraus. Infolge des gleichbleibenden, wenn nicht stärker werdenden Anspruchs der Industrieländer auf das geringer und teurer werdende Angebot ist der Konfliktfall regelrecht vorprogrammiert. Er wird durch die jetzt bereits erkennbare Tendenz noch bedrohlicher, daß die Produktionsländer einen erheblichen Teil ihrer Ölmilliarden in militärische Rüstungen stecken und damit die im Nahen und Mittleren Osten vorhandenen Spannungen weiter schüren. Die Energiekrise mit ihren wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Folgen läßt auch die Sowjetunion mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht unberührt; die Erschließung der sibirischen Rohölvorkommen geht nur sehr langsam voran und hält mit dem steigenden Bedarf nicht Schritt, während die großen Ölfelder im Kaukasus und im Wolga-Uralgebiet zur Neige gehen. Es ist berechnet worden, daß die UdSSR ab Mitte 1985 ihren Bedarf vermehrt aus dem OPEC-Bereich decken muß, wenn sie ihre Planungen erfüllen will; sie wird aber nicht über genügend Devisen verfügen, um die benötigte Menge auch bezahlen zu können. Die Verlockung könnte groß sein, diesem Dilemma durch den direkten militärischen Zugriff auf das persische öl zu begegnen. Die politischen Voraussetzungen dazu dürften sich wie in der CSSR und in Afghanistan ohne allzu große Schwierigkeiten arrangieren lassen. Ein solches Vordringen der Sowjetunion über Iran an den Persischen Golf, möglicherweise noch über Pakistan an den Indischen Ozean mit Errichtung von Seebasen für die Rote Flotte und einer damit verbundenen Kontrolle der Ölversorgungswege würde eine ernstliche Bedrohung des Weltfriedens darstellen. Es ist jedoch fraglich, was die USA oder Europa dagegen tun können. Die NATO ist in diesem Bereich nicht wirksam, eine militärische Intervention der USA mit Unterstützung europäischer Verbündeter aus Mangel an Kräften und der geostrategischen Lage wenig erfolgversprechend. Hier liegt der Hauptkrisenherd für die 80er Jahre — auch mit Auswirkungen auf Europa. Hier kann wirklich von Kriegsgefahr gesprochen werden, wenn beide Großmächte ihre Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen gewillt sind. Ein solcher Konflikt würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lokalisieren lassen und schließlich auch auf Europa übergreifen.

IV. Friedenssicherung und Krisenbeherrschung

Eine solche spannungsträchtige Entwicklung muß bereits im Ansatz aufgefangen und durch Maßnahmen zur Konflikteindämmung entschärft werden. Die NATO leidet unter dem Handicap, daß sie lediglich auf die Abwehr von Angriffen auf das Territorium ihrer Mitglieder begrenzt ist. Bei auftauchenden Problemen außerhalb Europas ist sie nicht aktiv handlungsfähig. Einer globalen Bedrohung wird sie unter den jetzigen Vertragsverhältnissen nicht mehr gerecht. Es ist jedoch unbestritten, daß die westliche Welt nicht tatenlos der gefährlichen Entwicklung in den außereuropäischen Gefahrenzonen zusehen kann und daß es einen langfristigen Krisenplan der NATO geben muß.

Eine Ausdehnung des NATO-Bereichs über die jetzigen Grenzen hinweg ist von offiziellen Stellen der Allianz ausdrücklich abgelehnt worden, obgleich die globale Ausweitung der Bedrohungsfaktoren nach einer Korrektur bisheriger Denkschablonen verlangt. Zumindest ist zur Konfliktbeherrschung ein Krisenmanagement der USA mit den europäischen Indu51 striemächten unabdingbar, das Voraussetzung für ein abgestimmtes Verhalten in Spannungsgebieten — ob nun innerhalb oder außerhalb der NATO — sowie für den notwendigen Kontakt mit der Sowjetunion ist.

Seine Aufgabe wäre — bei strikter Neutralität gegenüber internen Konflikten— zur Sicherung des Friedens alle beteiligten Staaten zur Erhaltung des Status quo anzuhalten und ihnen die Folgen einseitiger Veränderungen vor Augen zu führen. Ziel ist die Lokalisierung und Eindämmung aller auftretenden Spannungen. Die Friedenssicherung steht im Vordergrund dieses Krisenmanagements. Der Erfolg wäre um so größer, je besser es gelänge, die Sowjetunion mit ihren Interessen in diesen Komplex mit einzubeziehen. Erfahrungsgemäß nützt ein solches Instrument zur Krisen-beherrschung allerdings wenig, wenn nicht ein militärisches Machtpotential dahinter steht. Wer aber soll sich und in welcher Form daran beteiligen?

Während des letzten Wahlkampfes wurde von allen Parteien der Einsatz deutscher Soldaten außerhalb des NATO-Territoriums ausgeschlossen, weil ein solcher Einsatz nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei. In Art. 87a GG heißt es: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf... Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“

Zur Feststellung des Verteidigungsfalles ist es nach Art. 115 a GG erforderlich, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird. Hier ergeben sich juristische Probleme, die aber auch politisch gesehen werden müssen. Es besteht wohl kein Zweifel, daß alle europäischen Staaten, vor allem die Bundesrepublik, von der Sicherung der Rohstofftransportwege abhängig sind. Dann haben auch alle Staaten die Pflicht, notwendige Maßnahmen im glei. eben Umfang mitzutragen. Wir Deutschen können nicht nur die wirtschaftlichen Nutznießer sein und den anderen Partnern — Amerikanern, Franzosen und Engländern — die militärische Last allein überlassen.

Es wird viel von Arbeitsteilung im Bündnis gesprechen. Die Deutschen sollen die Lücken innerhalb der NATO füllen, wenn Amerikaner und andere Verbündete an die Golfregion abgezogen werden sollten.

Es ist fraglich, ob eine solche Auffassung haltbar ist. Ungleiche Aufgabenverteilung, vor allem im militärischen Bereich, ist schwer zu motivieren. Rückwirkungen auf die NATO sind dabei nicht auszuschließen. Immerhin stehen unsere Verbündeten auf unserem Territorium und in Berlin für die deutsche Sicherheit ein. Mit einem neuen Ohne-mich-Standpunkt und deutschem Reservatanspruch ist einem gemeinsamen Krisenmanagement nicht gedient. Wenn die Entspannung unteilbar ist, dann ist auch die Sicherung des Friedens unteilbar. Sogar neutrale Staaten wie Österreich und Schweden verweigern sich der Mitwirkung in der UNO-Friedenstruppe nicht. Es wird sich daher wohl nicht vermeiden lassen, daß deutsche Soldaten einem Eingreifverband als Instrument der Krisenbeherrschung angehören, wenn das von den Partnern gewünscht wird. Diese Problematik zeigt übrigens, wie überholt das nationale Denken ist. Die globale Ausweitung lebenswichtiger Interessen zwingt dazu, die europäische Einigung stärker zu forcieren.

V. Abrüstung und Rüstungsbegrenzung

Die zunehmende Kriegsgefahr in Regionen außerhalb Europas sollte die Großmächte nicht nur veranlassen, eine Lokalisierung der Konflikte in den Entstehungsgebieten anzustreben, sondern auch im direkten Machtbereich NATO—Warschauer-Pakt für den Abbau von Spannungen zu sorgen. Der beste Weg dazu wären Fortschritte in den Verhandlungen über Rüstungsbegrenzungen und Rüstungskontrolle. Da eine totale Abrüstung kaum ernsthaft erwogen werden kann, kommt es darauf an, als ersten Schritt den gegenwärtigen Rüstungsstand „einzufrieren", Ungleichgewichte zu beseitigen, um einen neuen Rüstungswettlauf zu verhindern, und schließlich das Gesamtniveau der Rüstung auf beiden Seiten ständig gleichgewichtig zu senken. Solange allerdings die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan besteht, sind solche Vorhaben mit dieser Hypothek belastet. Das Mißtrauen des Westens in die ehrliche Bereitschaft der Sowjetunion, am Abbau von Spannungen in der Welt mitzuhelfen, hat dadurch erneut Auftrieb erhalten. Eine annehmbare Regelung der Afghanistan-Frage dürfte daher Voraussetzung für die Wiederaufnahme von Rüstungsbegrenzungsgesprächen sein.

Bei allen Abrüstungsmodellen im Nuklearbereich sind zwei Forderungen zu berücksichtigen: -Gleichgewicht im interkontinentalen und eurostrategischen Bereich, _das Risiko bei einem Gegenschlag muß kalkulierbar so unerträglich sein, daß sich der Erstschlag nicht lohnt.

Damit bliebe die Abschreckung gesichert und der Frieden erhalten.

Welche Waffenmenge würde unter diesen Bedingungen zur Abschreckung ausreichen?

Mit Sicherheit erheblich weniger als jetzt vorhanden ist. Die Festlegung des ungefähren Umfangs richtet sich nach der Höhe der mutmaßlichen Zerstörungen in den verschiedenen Zielbereichen auf dem Territorium des Gegners, die für ihn nicht mehr akzeptabel sind und auch die verlockendsten Kriegsziele nicht aufwiegen.

Solche Zielbereiche sind:

— Bevölkerungszentren, — Industriekomplexe und Produktionsstätten, abgestuft nach ihrer Bedeutung für die Kriegs-wirtschaft und die Erhaltung der gesellschaftlichen Existenz, — politische und militärische Machtzentralen, Atomwaffensilos mit Abschußrampen, Flugplätze, Depots, — das Verkehrs-und Transportwesen mit seinem Kommunikationsnetz.

Alle genannten Ziele können durch interkontinental-strategische Waffen der Vereinigten Staaten in der gesamten Sowjetunion erreicht werden. Schon ein Bruchteil von Treffern würde genügen, um die staatliche und wirtschaftliche Existenz der Sowjetunion zu vernichten — im umgekehrten Fall gilt das gleiche.

Es bedarf eines komplizierten Verfahrens, um aus den verschiedenen Eigenschaften einer Nuklearwaffe (Sprengkraft, Zielgenauigkeit, Streuungsradius, Einsatzart, thermische und Kernstrahlung, Luftdruck, Zerstörungsumfang) die größte Wirkung für die verschiedenen Zielarten zu berechnen.

Dieter S. Lutz glaubt, daß 432 Sprengköpfe zu 50 KT oder alternativ 65 zu 1 MT der USA genügen würden, die 30 größten Städte der Sowjetunion, von Moskau (8 Millionen Einwohner) bis Kriwoi-Rog (550 000 Einwohner) zu zerstören. Damit würden 42 Millionen Menschen getroffen und 40 % der Industriekapazität der Sowjetunion vernichtet.

Bei der rein theoretischen Erwägung, daß bei einem Erstschlag der Sowjetunion alle verbunkerten Interkontinenralraketen der USA auf einen Schlag ausgelöscht würden — und damit auch das entsprechende Angriffspotential der sowjetischen Raketenwaffen verbraucht wäre —, müßten immer noch die unverwundbaren amerikanischen U-Boote übrigbleiben. Sie umfassen 10 Polaris-U-Boote mit je 16SLBM ä 3 MIRV (= 480 Sprengköpfe) und 31 Poseidon-U-Boote mit je 16 SLBM ä 10 MIRV (= 4 960 Sprengköpfe). Insgesamt sind das 5 440 Sprengköpfe mit einer Reichweite bis zu 5 400 km. Normalerweise befinden sich ca. 50 % der US-U-Boote im Frieden auf See, in Spannungszeiten und im Kriege werden es bis zu 80 % sein. Rechnet man Verluste durch die feindliche U-Boot-Abwehr ab und legt nur eine Einsatzfähigkeit von 60 % zugrunde, so können immer noch ca. 3 200 Sprengköpfe ins Ziel gebracht werden. Bei einer Gesamtsprengkraft der amerikanischen SLBM von 300— 350 MT wären das bei 60 % immerhin 180— 210 MT. Etwa ein Drittel dieser Menge würde schon genügen, um die von D. S. Lutz genannten Vernichtungskapazitäten zu erreichen. Für Ziele geringerer Ausdehnung bedarf es größerer Treffgenauigkeit und geringerer Streuung als die seegestützten Raketen sie besitzen. Dafür wäre eine zusätzliche Zahl von Fernbombern mit „Cruise Missiles" erforderlich, deren Anzahl sich nach einer hier nicht behandelbaren Zielanalyse richtet. Es ist anzunehmen, daß die Risikobereitschaft der Sowjetunion weit unter dem hier genannten Schadensniveau liegt und daher mit geringerem Mitteleinsatz der gleiche Effekt erreicht werden kann. Diese oberflächliche Berechnung zeigt, daß bei weitgehender Abrüstungsbereitschaft auf beiden Seiten auf einen großen Teil der Interkontinentalraketen verzichtet werden könnte.

Es ist allerdings nicht damit zu rechnen, daß ein derart radikaler Abbau des Nuklearpotentials akzeptiert wird. Eine schrittweise Niveausenkung sollte jedoch im Laufe der Zeit angestrebt werden, ohne daß die Stabilität der Abschreckung in Gefahr gerät.

VI. Eine „Europäische Verteidigungs-Union" als. zusätzlicher Weg zur Krisenbeherrschung und Kriegsverhütung

Die europäischen Staaten können nicht ernsthaft erwarten, daß die USA weiterhin allein an den Krisenherden der Welt auftreten und die Sicherung auch der für Europa lebenswichtigen Rohstoffbasen übernehmen werden. Auf die Dauer werden sich deshalb auch die Europäer zu einem solchen Engagement entschließen müssen. Dies wirft die Forderung nach gemeinsamem Vorgehen erneut auf.

Da die EG mit wirtschaftlichen Maßnahmen nur bedingt Erfolg haben wird, muß darüber nachgedacht werden, ob nicht vielmehr eine Konzentration der europäischen militärischen Anstrengungen den Gesamtinteressen außerhalb des NATO-Bereichs an der Seite der USA größeren Nachdruck verleihen kann.

Bislang ist die europäische Einigung über den Zusammenschluß von zehn Ländern in der EG noch nicht herausgekommen. Die Realisierung einer politischen Union in einem gemeinsamen Bundesstaat wird sicher noch längere Zeit dauern. Das sollte jedoch kein Hindernis sein, auf militärischem Gebiet nach Lösungen zu suchen, die zu diesem Ziel hinführen. Heute ist Westeuropa die zweitstärkste Industrie-und Wirtschaftsmacht der Welt, ohne daß sich dieser Umstand in der NATO niederschlägt. Noch immer kann jeder Staat, auch der kleinste, mit seinem Veto die Entschlußfassung im NATO-Rat erheblich verzögern und auch negativ beeinflussen. Eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik unter Zusammenfassung aller Streitkräfte in einer „Europäischen Verteidigungs-Union" (EVU) bietet eine Chance, aus dem augenblicklichen Dilemma herauszukommen und neben vielen anderen Vorteilen die Glaubwürdigkeit der Abschreckung zu erhöhen. Keineswegs darf darunter eine selbständige dritte Kraft zwischen den beiden Großmächten verstanden werden. Als unabdingbarer Grundsatz muß die Solidarität des vereinten Westeuropa mit den USA erhalten bleiben. Eine unabhängige, von der NATO und den USA losgelöste Verteidigung oder sogar ein Ausscheiden aus dem Bündnis würde die Sicherheit Westeuropas nicht nur vermindern, sondern die Überlegenheit des WP auf dem Kontinent erst recht bewirken, überdies hätte eine Abtrennung von den USA zur Folge, daß die EVU ein gleichwertiges nukleares Abschreckungspotential aufbauen müßte. Dies wäre weder politisch noch finanziell vertretbar. Auch im Rahmen einer EVU gäbe es also keine Alternative zum Gesamtverteidigungs. verbünd USA — Europa.

Allerdings wird sich nach Bildung einer EVU die innere Struktur der NATO ändern, die sich dann nur noch auf zwei Säulen stützen würde:

— USA/Kanada als atlantische Partner und — die Europäische Verteidigungs-Union als kontinentale Komponente.

Damit stände den USA nicht mehr eine Vielzahl europäischer Mittel-und Kleinstaaten in der Allianz gegenüber, sondern ein politisch potenter Bundesgenosse. Die Rolle Frankreichs wäre in diesem Konzept von entscheidender Bedeutung. Da Frankreich jedoch noch immer außerhalb der militärischen NATO-Integration steht, fällt das Land für eine gemeinsame Planung aus. Bei Fortbestand der jetzigen Struktur und Strategie der NATO unter starkem amerikanischen Einfluß ist nicht zu erwarten, daß diese Situation veränderbar ist. Es wäre also eine Lösung zu finden, die die französischen Auffassungen stärker berücksichtigt. Für Europa spielt die konventionelle Verteidigung im Gesamtabschreckungskonzept eine nach wie vor wichtige Rolle. Auch für die EVU wäre das Prinzip der Vorneverteidigung im Mittelabschnitt unabdingbar. Ein EVU-Oberkommando mit Befehlsgewalt über alle Partnerarmeen würde die militärische Handlungsfähigkeit der europäischen Streitkräfte garantieren. Die konventionellen Verbände aller EVU-Armeen einschließlich der in Europa verbleibenden US-und kanadischen Streitkräfte sind bereits im Frieden in die Kommandobereiche Europa Nord-Mitte-Süd integriert, so daß die Verantwortlichkeiten im Kriegsfall nicht zu wechseln brauchen.

Dieser kurze Überblick soll nur aufzeigen, daß die Bildung einer europäischen Streitmacht keine Unmöglichkeit darstellt — wenn man es nur will. In jedem Fall würde durch eine vereinigte, in eine neue NATO eingebettete europäische Sicherheitspolitik die Abschreckung zusätzlich gestärkt und der Frieden sicherer gemacht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. D. Sokolowski, Marschall der Sowjetunion, und Autorenkollektiv, Militärstrategie, Köln 1969.

  2. Michael S. Voslensky, Nomenklatura — die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien 1980.

  3. Andreas von Bülow, Problematik eines Ost-West-Kräftevergleichs, in: Sozialdemokratische Sicherheitspolitik, Ausgabe 3/4, 1977, S. 11.

  4. Wolfgang Schöppe, Die Überlegenheit der Zahl im Gefecht. Gedanken zum Verhältnis von Qualität und Quantität, in: Europäische Wehrkunde, Heft 10/1977.

  5. The Military Balance 1980/81, The International Institute for Strategie Studies, London 1980.

  6. The Military Balance 1980/81, I 1SS, London

  7. The Military Balance 1980/81, IISS, London 1980.

  8. Robert Close, Europa ohne Verteidigung?, Bonn

  9. Sir John Hackett, Der Dritte Weltkrieg, Gold-mann TB, Bd. 3865, 1979.

  10. Gert Krell /Dieter S. Lutz, Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt, Baden-Baden 1980.

  11. G. Krell /D. S. Lutz, a. a. O.

  12. The Military Balance 1980/81, IISS, London 1980.

  13. Michael S. Volensky, a. a. O.

  14. Ebenda.

  15. Ferdinand Otto Mischke, Bis 2000. Entscheidung in der Vierten Welt, Stuttgart 1980, S. 14.

  16. Hans Christian Pilster, Friede und Gewalt. Der militärische Aspekt der sowjetischen Koexistenzpolitik, Stuttgart 1977.

  17. Deutsche Afrika-Stiftung, Rohstofflieferant Südafrika, Schriftenreihe Heft 4, S. 25— 27.

  18. G. Krell /D. S. Lutz, Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt, a. a. O.

  19. MT = Megatonne, entspricht dem Energiewert bei einer Detonation von 1000 KT = 1000000 t TNT (Trinitroluol). Zum Vergleich: die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 20 KT.

  20. Fritz Birnstiel, Eine Europäische Verteidigungs-Union — der Weg in die Zukunft, Europäische Wehrkunde, Heft 9/80.

Weitere Inhalte

Fritz Birnstiel, geb. 1918, Generalmajor a. D.; im Kriege Frontoffizier vom Zugführer bis zum Bataillonskommandeur in einer Panzer-Division; nach Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Kaufmann in Celle; in der Bundeswehr Generalstabsoffizier in der Truppe und im BMVg, NATO-Defense-College in Rom, Stellv. Amtschef und Chef des Stabes im Heeresamt in Köln; in den letzten vier aktiven Dienstjahren General der Kampftruppen; nach der Pensionierung Mitarbeiter im Max-Planck-Institut in Starnberg; Mitherausgeber der Zeitschrift „Kampftruppen/Kampfunterstützungstruppen“, Veröffentlichungen in diversen militärischen Fachzeitschriften.