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200 Jahre Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika Entwicklungslinien und Erklärungsversuche | APuZ 6/1981 | bpb.de

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APuZ 6/1981 Artikel 1 Präsident Ronald Reagan Konturen seines außenpolitischen Profils 200 Jahre Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika Entwicklungslinien und Erklärungsversuche Der Trilateralismus als internationales Politikmanagement

200 Jahre Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika Entwicklungslinien und Erklärungsversuche

Michael Wolffsohn

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Aufsatz wird der Versuch unternommen, Daten der US-Außenpolitik in ein Grundmuster einzuordnen und nach möglichen Ursachen für dieses Grundmuster zu fragen, ohne zugleich von „Theorien“ zu sprechen. Einerseits wird ein Instrumentarium entwickelt, das Ordnung in das „Chaos der Tatsachen" bringt, andererseits wird das Instrumentarium selbst zu erklären sein. Dieses Instrumentarium besteht insbesondere aus historisch-politischen Konjunkturen bzw. Zyklen. Über den wissenschaftlichen Nutzen hinaus birgt diese Vorgehensweise noch einen praktisch-politischen, ermöglicht sie es doch, Gegenwärtiges in übergeordnete Entwicklungslinien einzuordnen (Gegenwart mit Perspektive und Gegenwart durch Perspektive). Die zentrale These des Aufsatzes: Im periodischen Wechsel von ca. fünfzig bis sechzig Jahren wurde die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika jeweils von einer innen-oder außenorientierten Strömung dominiert. Nach der Definition der verwendeten Begriffe und deren Operationalisierung werden die insgesamt fünf historisch-politischen Zyklen beschrieben und zu erklären versucht. Jeder Zyklus besteht sowohl aus einer innen-als auch einer außenorientierten Phase. Zyklus 1: 1763/1776— 1824, Zyklus 2: 1824— 1871, Zyklus 3: 1871— 1914, Zyklus 4: 1914/18 bis 1966/67, Zyklus 5 seit 1966/67. — Folgende Erklärungen in bezug auf das außenpolitische Grundmuster der historisch-politischen Zyklen werden geprüft und letztlich für unzureichend befunden: 1. Die Auseinandersetzung zwischen „Ideologen“, „Realisten“ und „Moralisten“. 2. Der „nationale Stil“. 3. Die politische Geographie („Frontier-These“). 4. Klasseninteressen. 5. Die technologische Entwicklung. 6. Die Einwanderungswellen und damit verbundene Probleme. 7. Die Parteizugehörigkeit der Präsidenten. 8. Von außen herangetragene Herausforderungen. Als alternativer Erklärungsversuch wird ein eher anthropologischer Ansatz vorgeschlagen, wobei das Ringen des Menschen zwischen Kontinuität und Wandel stärker berücksichtigt werden sollte. Zu beachten wäre dabei besonders die Abfolge der Generationen, die historisch-politische Zyklen bedingt.

Es soll Historiker geben, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, und es soll Politikwissenschaftler geben, die vor lauter Wald keine Bäume sehen. Mit anderen Worten: Nicht wenige Historiker verlieren sich im Detail, nicht wenige Politikwissenschaftler sind verliebt in ihre Verallgemeinerungen — die sie fälschlicherweise viel zu schnell und viel zu oft als „Theorien" bezeichnen. Geschichts-und Politikwissenschaft sollten sich ergänzen, indem allgemein gehaltene Thesen durch Detailuntersuchungen zu bestätigen oder widerlegen wären.

In diesem Aufsatz soll der Versuch unternommen werden, historische Einzelheiten über einen Zeitraum von zweihundert Jahren hinweg in ein Grundmuster einzuordnen, ohne sie dabei in ein Prokustesbett einzuzwängen. Darüber hinaus wird nach möglichen Ursachen für dieses Grundmuster zu fragen sein, ohne daß hochstaplerisch von „Theorien" oder gar „Gesetzen" gesprochen wird, die zwangsläufig so und keinesfalls anders ablaufen müßten.

Einerseits wird ein Instrumentarium entwikkelt, das Ordnung in das „Chaos der Tatsachen" bringt; andererseits wird dieses Instrumentarium selbst zu erklären sein. Das Instrumentarium sind historisch-politische Zyklen bzw. Konjunkturen. Sie dienen hier sowohl als Erkenntniswerkzeug als auch als Erkenntnis-gegenstand

Die vorgeschlagene Vorgehensweise hat über den wissenschaftlichen Nutzen hinaus noch einen praktisch-politischen, ermöglicht sie es doch, Gegenwärtiges in übergeordnete Entwicklungslinien einzuordnen. Statt kurzatmig zu reagieren, könnte der Zeitgenosse besser reflektieren — sich selbst und seine Umwelt relativieren. Also: Reflexion nicht als Reflex, Distanz durch Geschichte, durch Distanz Einsicht, Einsicht als Durchsicht (= Perspektive), Gegenwart mit Perspektive und Gegenwart durch Perspektive.

Die zentrale These des Aufsatzes besagt: Im periodischen Wechsel von ca. 50 bis 60 Jahren wurde die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika jeweils von einer innen-oder außenorientierten Strömung dominiert.

Wegen des wechselnden Auf und Ab sei von historisch-politischen Zyklen bzw. historisch-politischen Konjunkturen gesprochen Die zentrale Fragestellung lautet: Wie kann man diese Zyklen erklären?

Die Untersuchung gliedert sich in vier Abschnitte:

1. werden die verwendeten Begriffe definiert;

2. werden sie operationalisiert, d. h. verwendungsfähig gemacht für das wissenschaftliche Vorgehen;

3. werden die verschiedenen historisch-politischen Zyklen beschrieben;

4. werden sie erklärt.

I. Definition der verwendeten Begriffe

Wenden wir uns zunächst der historisch-politischen Konjunktur zu, einem aus der Wirtschaftswissenschaft entlehnten Ausdruck. In dieser Disziplin wird der Begriff Konjunktur durch das Erscheinungsbild definiert, also durch die Abfolge von Phasen des Wachstums und der Schrumpfung. Eine historisch-politische Konjunktur sei hier bestimmt als regelmäßig sich wiederholende Veränderung bestimmter Größen in verschiedenen Politikbereichen: Tiefstand, Aufschwung, Hochphase, Abschwung und Krise kennzeichnen den historisch-politischen Konjunkturverlauf.

Der uns interessierende Politikbereich ist die Außenpolitik der USA Als innenorientiert wird im folgenden diejenige Strömung in den Vereinigten Staaten von Amerika bezeichnet, die mehr nolens als volens Außenpolitik betrieb. Ihre Grundüberzeugung lautet Tucker zufolge Keine Bündnisse mit auswärtigen Staaten, keine militärischen Interventionen. Freilich bedeutet dies nicht den Verzicht auf Außenpolitik, denn in der einen oder anderen Weise lassen sich auswärtige Beziehungen von einem Staat zu anderen Staaten gar nicht vermeiden. Mit anderen Worten: Ein innenorientiertes Amerika ist kein isoliertes Amerika. Der Begriff „innenorientiert" ist dem Ausdruck „isolationistisch" vorzuziehen, weil bei letzterem impliziert wird, ein Staat könne sich von seiner Umwelt abkapseln.

. America first“ ist das Schlagwort der innen-orientierten Amerikaner, und genau diese Parole unterstreicht, daß es sich hierbei nicht um völlige Abkapselung handelt, denn nach einem first gibt es natürlich ein second oder third.

Die außenorientierten Amerikaner lassen sich ebenfalls in erster Linie vom nationalen Interesse leiten — so wie sie es verstehen —, insofern sagen auch sie „America first". Sie befürworten aber Bündnisse mit auswärtigen Staaten und sind bereit, das . America first“ gegebenenfalls durch militärische Interventionen zu verwirklichen.

II. Zur Operationalisierung der Begriffe

Historisch-politische Konjunkturen lassen sich durch die Abfolge der innen-und außen-orientierten Strömungen beschreiben.

Indikatoren für die außenorientierte Richtung sind z. B. Kriege, auswärtige Militärexpeditionen, Annexionen fremder Gebiete, der Erwerb von Stützpunkten im Ausland oder auch die Gründung von Militärbündnissen. Im Hinblick auf Kriege muß freilich geprüft werden, ob diese nicht etwa doch primär auch als nach innen gerichtet erklärt werden müssen: Der Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten wäre ein Beispiel für einen innen-orientierten Krieg. Über die außenpolitischen Aktionen hinaus gilt es danach zu fragen, ob und wenn ja, inwieweit auch die Meinungen im Kongreß, in den Medien, vor allem Zeitungen, und der Öffentlichkeit außenorientiert waren, also diese Aktionen entweder aktiv oder reaktiv förderten.

Auf Umfragen kann man hier erst seit ca. 50 Jahren zurückgreifen; man wird demnach außenpolitische Willensbekundungen, z. B. Demonstrationen oder auch Leserbriefe an Zeitungsredaktionen, bei der Beantwortung dieser Frage zugrunde legen müssen.

Indikatoren für die innenorientierte Richtung sind, abgesehen vom jeweiligen Gegenteil zu außenorientierten Aktionen und Meinungen, die Konzentration auf die eigenen, nationalen Probleme, besonders von Interessen-und Randgruppen, Kritik an gegenwärtigen oder früheren Bündnispartnern die erhöhte und Aufgeschlossenheit gegenüber humanitären Fragen der internationalen Politik

Mit diesem Instrumentarium ausgerüstet, sichten wir nun das historische Material und erkennen die folgenden fünf historisch-politischen Zyklen, die im dritten Teil dieser Arbeit beschrieben sind, ohne ein Repetitorium der US-amerikanischen Geschichte abhalten zu wollen.

Jeder historisch-politische Zyklus bzw. jede historisch-politische Konjunktur wird dabei unterteilt in eine innen-sowie außenorientierte Phase. Erst beide zusammen ergeben den gesamten Zyklus ,

III. Historisch-politische Konjunkturen (Entwicklungslinien)

Der erste Zyklus beginnt 1763 bzw. 1776, dem Jahr der staatlichen Unabhängigkeit, und endet 1824; er dauerte also 48 bzw. 61 Jahre.

Die innenorientierte Phase umfaßte den Zeitraum von 1763 bzw. 1776 bis 1798; die außen-orientierte Phase die Jahre 1798 bis 1824.

Zyklus 2währte 47 Jahre, nämlich von 1824 bis 1871, wobei die innenorientierte Strömung von 1824 bis 1844 dominierte, die außenorientierte von 1844 bis 1871.

Auch Zyklus 3 umfaßt 47 Jahre; er begann 1871 und endete 1914.

Von 1871 bis 1891 blicken die USA mehr auf sich selbst, von 1891 bis 1918 mehr auf die Außenwelt.

Zyklus 4 begann 1918 und hörte 1966/67 auf. Die sogenannten Isolationisten gaben von 1918 bis 1940 den Ton an, die sogenannten Internationalisten von 1940 bis 1966/67. Dieser Zyklus umfaßte 48 Jahre.

über den 5. Zyklus läßt sich bislang nur so viel sagen, daß seine innenorientierte Phase um 1966/67 begann und Ende 1979/Anfang 1980 wohl endete; Stichwort Afghanistan und die Folgen.

Da dieser Zyklus jedoch ohnehin erlebte Gegenwart und nicht mehr Geschichte, auch nicht Zeitgeschichte betrifft, können wir ihn in diesem Zusammenhang unbeachtet, freilich nicht unerwähnt lassen.

Zu den einzelnen Zyklen nun einige Grunddaten, welche die Richtigkeit der vorgenommenen Einteilung bestätigen sollen.

Der erste ZyklusYie'girmt 1763 mit einer innen-orientierten Phase, die bis 1789 fortdauerte. Es ist der Zeitabschnitt, der in der Historiographie im allgemeinen als die „Ära der amerikanischen Revolution“ bezeichnet wird, in der die Staatlichkeit der USA errungen und gefestigt wurde. Diese Ära erst 1776 eröffnen zu wollen, wäre irreführend, da die Erringung der staatlichen Unabhängigkeit in jenem Jahr Ergebnis der Entwicklungen seit 1763 war.

Nicht unerwähnt bleiben sollte die für den Interpretationszusammenhang bedeutsame Tatsache, daß sich diese innenorientierte Phase einer außenorientierten, nämlich dem siebenjährigen Krieg, anschloß, der nicht nur in Europa, sondern auch und besonders in Nordamerika zwischen Frankreich und Großbritannien ausgefochten wurde. Begonnen hat die innenorientierte Phase mit dem Stamp Act von 1763, einer unmittelbaren Folge des vorangegangenen Krieges, denn die britische Staatskasse sollte durch diese Steuer gefüllt werden.

Höhepunkt der innenorientierten Phase ist der Abschluß des Ratifizierungsvorgangs der US-Verfassung im August 1788 sowie die Wahl des ersten Präsidenten, George Washington, im April 1789 und die Verabschiedung der Bill of Rights durch das Repräsentantenhaus im September desselben Jahres.

Die außenorientierte Phase des ersten historisch-politischen Zyklus der US-Außenpolitik beginnt 1798 mit dem Seekrieg gegen Frankreich, der übrigens ohne formale Kriegserklärung geführt wurde.

Weitere Marksteine dieser außenorientierten Phase des ersten Zyklus sind der Tripolitanisehe Krieg von 1801 bis 1805, der Kauf von Louisiana im Jahre 1803, der Krieg gegen England 1812 bis 1814 und schließlich die Verkündung der Monroe-Doktrin am 2. Dezember 1823. Seit 1824 kapselten sich die Vereinigten Staaten wieder stärker von ihrer Außenwelt ab; nicht zuletzt geschah dies durch das amerikanische Zollsystem, mit dessen Hilfe die noch junge einheimische Industrie gegen ausländische Konkurrenz geschützt und der Binnenmarkt gestärkt werden sollte.

Erheblich ausgebaut wurde die Infrastruktur, besonders die Transportwege. „Winning the West", die Eroberung des Westens, gehört ebenfalls zum Stichwortkatalog der innen-orientierten Phase des zweiten historischen Zyklus. Nicht zu vergessen schließlich die „Jacksonian Revolution", die vor allem die politische Mitbestimmung breiterer Bevölkerungsschichten begründete. Am bedeutsamsten: Die Wahl des Präsidenten durch das Volk.

Spätestens 1844 ist die innenorientierte Phase des zweiten Zyklus beendet In jenem Jahr wurde die Texasfrage aufgegriffen; 1845 kam es zur Annexion dieses Staates. 1846 einigte man sich mit Großbritannien über Oregon, und von 1846 bis 1848 führten die USA Krieg gegen Mexiko, um schließlich auf diese Weise ihr Staatsgebiet bis zum Pazifischen Ozean auszuweiten. Seitdem boten sich für jede außenorientierte Politik der Vereinigten Staaten drei und nicht mehr nur zwei Aktionsrichtungen an: Erstens die traditionelle atlantische sowie zweitens die lateinamerikanische und nun schließlich drittens ab 1867, mehr noch ab 1898, die pazifische Aktionsrichtung. Selbst der Bürgerkrieg der Jahre 1861 bis 1865, zweifellos ein innenpolitisches Ereignis von tragender Bedeutung, verdrängte keineswegs außenpolitische Verflechtungen und Orientierungen. Gerade die Südstaaten bemühten sich intensiv um englische und französische Kriegshilfe, zumal die Streitpunkte zwischen Union und Konförderation unter anderem außenwirtschaftliche Bedeutung hatten. Während die freihändlerisch eingestellte Konföderation der Südstaaten ihre landwirtschaftlichen Güter, in erster Linie Baumwolle, ausführen wollte (Englands Textilindustrie war weitgehend von Baumwolle aus den Südstaaten der USA abhängig), befürworteten die Nord-und Weststaaten der Union Schutzzölle. Ein Höhepunkt in der außenorientierten Phase des zweiten Zyklus dürfte der 1867 von Außenminister Seward betriebene Kauf Alaskas gewesen sein. Für 7, 2 Millionen Dollar wurde dieser Tausch perfekt, den die Gegner des eindeutig expansionistisch eingestellten US-Außenministers als „Seward's Folly", also Sewards Wahnsinnsakt bezeichneten. Im selben Jahr wurden die rund 1 000 Meilen westlich von Hawaii liegenden Midway-Inseln besetzt.

Der von Seward vorgesehene Kauf der zu Dänemark gehörenden Westindischen Inseln scheiterte allerdings im Senat. Hier bahnte sich schon der Übergang zur innenorientierten Phase des dritten Zyklusan, was 1870 noch deutlicher werden sollte. 1870 lehnten nämlieh Kabinett und Senat die von Präsident Grant vorgeschlagene Annexion St. Domingos ab. Auch in der kubanischen Revolte hielten sich die USA Spanien gegenüber 1873 außerordentlich zurück und beschlossen, auf Herausforderungen, ja sogar auf die Erschießung von acht US-Staatsbürgern nicht zu reagieren. Künftige Streitigkeiten mit Großbritannien sollte ein internationales Schiedsgericht in Genf schlichten, so die Abmachungen des 1871 geschlossenen Vertrages von Washington, und 1878 weigerte sich der Senat, einen Vertrag zu ratifizieren, der den USA ausschließliche Stützpunktrechte in Pago Pago auf den Samoa-Inseln zugebilligt hätte.

Indikatoren für die Innenorientierung zwischen 1871 und 1891 sind zudem der Versuch, eine Reform des öffentlichen Dienstes, vor allern der Regierungsbürokratie, durchzuführen, die Arbeiterunruhen im Jahre 1877 sowie das Aufflackern agrarischer Unzufriedenheit 1884.

Die Aufhebung des Heimstättengesetzes im Jahre 1891 markiert symbolisch und zugleich praktisch-politisch das Ende der Innenorientierung während des dritten Zyklus. Der Erwerb von Grund und Boden wurde fortan für Siedler in den neuerschlossenen Gebieten des amerikanischen Westens teurer.

1893/94 schalteten sich die USA aktiv in die inneren Angelegenheiten Hawaiis ein, 1898 gelang es vor allem der Hearst-Presse im Zusammenhang mit der Kuba-Frage, die antispanischen Gefühle der amerikanischen Öffentlichkeit derart aufzupeitschen, daß Präsident McKinley, ohne die Reaktion der spanischen Regierung abzuwarten, dem iberischen Staat den Krieg erklärte. Als Folge des Waffenganges setzten sich die USA als Sieger auf den Philippinen fest, annektierten Hawaii und bestimmten, rechtlich abgesichert durch das „Platt-Amendment" aus dem Jahre 1901, weitgehend die Richtlinien der kubanischen Politik. Wie hieß es doch in den Bestimmungen des Platt-Amendments, das die verfassungsgebende Versammlung des karibischen Insel-staates annahm? „Die USA werden ermächtigt, zur Sicherung der Unabhängigkeit Kubas zu intervenieren sowie Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten." Weitere Beispiele für die außenorientierte Phase im dritten Zyklus zwischen 1891 und 1918 seien kurz genannt: Die 1899 verkündete „Politik der offenen Türe", die zunächst in bezug auf China galt. Ein Jahr später beteiligten sich die USA an der Niederschlagung des dortigen Boxeraufstands. 1903 unterstützten die Vereinigten Staaten eine Revolte in Panama, die dazu führte, daß sich diese Provinz von Kolumbien trennte, ihre staatliche Unabhängigkeit erklärte und den USA zeitlich unbegrenzt volle Souveränität in der Kanalzone zusicherte, was 1914, als der Kanal für den Verkehr freigegeben wurde, auch eingehalten wurde.

1905 vermittelte Präsident Theodore Roosevelt im Russisch-Japanischen Krieg, ein Jahr darauf in der Konferenz von Algeciras. Seit 1909 wollte Präsident Taft Lateinamerika mit Hilfe der „Dollar-Diplomatie" politisch durchdringen, entschied sich 1911 in Nicaragua dann aber doch für direktere Methoden und intervenierte militärisch. 1915 ordnete Präsident Wilson die Landung von Marinesoldaten auf Haiti an, und 1916 ließ er in Mexiko intervenieren. 1917 wollte Woodrow Wilson die ganze Welt für die Demokratie sichern.

Der Übergang zur innenorientierten Phase des vierten Zyklus erfolgte abrupt. Sie dauerte bis 1940 an. 1920 lehnte es der Senat ab, dem Völkerbund beizutreten, 1928 wurde im Kellogg-Pakt der Krieg geächtet. Ein Jahr zuvor kam es zu einem außenorientierten Zwischenfall, als die USA nach Nicaragua Truppen entsandten, um im Bürgerkrieg zu schlichten. 1933 setzte Präsident Hoover den Abzug der amerikanischen Soldaten durch. 1934 wurde das Platt-Amendment annulliert, Kuba also wieder tatsächlich souverän; ebenfalls 1934 wurden die US-Truppen aus Haiti heimgeholt. Auch in den folgenden Jahren unternahm die Administration Franklin Delanoe Roosevelts Versuche, die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika freundlich zu gestalten. 1937 wurde das Datum für die Unabhängigkeit der Philippinen auf den 4. Juli 1946 festgesetzt. Höhepunkte isolationistischer Illusionen waren die 1935, 1936 und 1937 vom Kongreß verabschiedeten Neutralitäts-Gesetze, die den Verkauf von Waffen sowie die Verlängerung oder Gewährung von Krediten an kriegführende Staaten und Bürgerkriegsparteien verboten. Die Wende zur außenorientierten Phase des vierten Zyklus bahnte sich mit dem Japanisch-Chinesischen Krieg an, der am 7. Juli 1937 begann. In einer Rede am 5. Oktober 1937 verlangte Roosevelt, Aggressoren seien unter „internationale Quarantäne“ zu stellen.

1939 rang sich der Kongreß zu „Cash and Carry" -Waffenexporten durch; Ende Mai 1940 verlangte Roosevelt zusätzliche Mittel, um die militärische Einsatzbereitschaft der USA zu verbessern. Die Aufrüstung lief an, und 1941 traten die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg ein; es begann die außenorientierte Phase des vierten Zyklus, die bis 1966/67 fortdauerte. Einige Sichworte seien in diesem Zusammenhang erwähnt: Die Truman-Doktrin aus dem Jahre 1947, die Eisenhower-Doktrin, die zehn Jahre später verkündet und 1958 bei der Libanon-Intervention in die Tat umgesetzt wurde. Das Nato-Bündnis unterstreicht ebenso wie Cento und Seato das weltweite Engagement der USA, das auch 1953 im Iran sowie 1954 in Guatemala bedeutsam wurde. Zu erwähnen wären natürlich noch der Korea-und der Indochinakrieg, die Schweinebucht-Aktion 1961 in Kuba und Landung der Marines 1965 in der Dominikanischen Republik.

Mitte der sechziger Jahre widersetzte sich die amerikanische Öffentlichkeit immer vehementer dem weltweiten Engagement ihrer Truppen und verlangte vor allem den Rückzug aus Vietnam.

Der fünfte Zyklus ist eher Gegenstand politik-wissenschaftlicher Erörterungen. Wir können daher abschließend den Versuch wagen, die skizzierten Entwicklungslinien der amerikanischen Außenpolitik zu interpretieren

IV. Erklärungsversuche

Wie, so lautet die Frage, lassen sich die historisch-politischen Zyklen bzw. Konjunkturen erklären?

Hans J. Morgenthau glaubt in seiner 1951 erschienenen Darstellung der Geschichte der amerikanischen Außenpolitik drei Denkschulen erkennen zu können, die nacheinander bestimmend wären Die realistische, die ideologische sowie die moralische Schule: Robert E. Osgood variierte 1953 diesen Ansatz geringfügig und unterschied lediglich zwischen Ideologen einerseits und Realisten andererseits Diese Differenzierung ist inzwischen fast Allgemeingut geworden.

Sie sei kurz näher erläutert Die „Realisten", so Morgenthau, denken und handeln, indem sie sich in Kategorien der Macht und das heißt für ihn vornehmlich am nationalen Interesse orientieren.

Die „Ideologen" dächten zwar in moralischen Kategorien, handelten aber ebenfalls Macht-vorstellungen entsprechend. Die „Moralisten" dächten und handelten moralischen Vorstellungen gemäß, erklärt Morgenthau weiter.

Die Realisten hätten, so Morgenthau, das erste Jahrzehnt unabhängiger US-amerikanischer Außenpolitik geprägt, die Ideologen das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Spanisch-Amerikanischen Krieg, also bis 1898, die Moralisten seien seitdem bestimmend gewesen.

Es versteht sich fast von selbst, daß Morgenthau mit den Realisten, allenfalls noch mit den Ideologen, nicht jedoch mit den Moralisten sympathisiert.

Auf eine Auseinandersetzung mit diesem außerordentlich normativen Ansatz wird in diesem Zusammenhang verzichtet; auch die übrigen Interpretationen werden nicht aus sich selbst heraus kritisiert. Alle werden daran gemessen, ob sie das zweifellos feststellbare Grundmuster der amerikanischen Außenpolitik der innen-und außenorientierten Zyklen erkennen und darüber hinaus noch erklären.

Unter „erklären" wird das Erarbeiten von empirisch immer wieder bestätigten oder noch nicht widerlegten Wenn-dann-Beziehungen verstanden, also das Erarbeiten einer Theorie, konkret einer Theorie der amerikanischen Außenpolitik. Bescheidener und zugleich realistischer formuliert: Zunächst sollen aus den Beobachtungen vorläufige Erklärungen, also Hypothesen, abgeleitet werden. Eine, auch nur eine, Widerlegung disqualifiziert demnach die Theorie, macht historische Detailarbeit notwendig, weist Verallgemeinerungen in ihre Schranken.

In bezug auf Morgenthau und die anderen Autoren, die seinen Ansatz übernehmen, muß festgestellt werden, daß sie weder das Grund-muster erkennen noch es erklären.

Stanley Hoffmann ist zwar Politikwissenschaftler in Harvard, beweist jedoch durch seine Methodik, daß ein guter Politikwissenschaftler zunächst und vor allem auch historisch arbeiten muß Hoffmann also versucht in seinem Buch „Gullivers Troubles“ (1968) in Anlehnung an Richard Hofstadter, mit dem Begriff des „Nationalen Stils" zu arbeiten. Er versteht hierunter „die Überzeugungen, Meinungen und Handlungen der für die Außenpolitik Verantwortlichen".

Der nationale Stil, so Hoffmann weiter, beeinflusse Wahrnehmungen und Handlungen anderen Nationen gegenüber. Im bezug auf die Vereinigten Staaten von Amerika nennt er drei Stilrichtungen:

Erstens die „liberale", zweitens die „konservative" und drittens diejenige, die „von der Illusion der Omnipotenz" ausgehe.

Gewiß, diese Stilrichtungen mag es gegeben haben, aber sie ermöglichen weder das Erkennen noch das Erklären der unbestreitbar vorhandenen außenpolitischen Zyklen. Weite Beachtung fand die 1893 von Frederik Jackson • Turner formulierte Frontier-These. Unter „frontier" ist die jeweilige Siedlungsgrenze zu verstehen. Es ist die Stelle, wo die menschliche Zivilisation vorläufig endete, die menschenleere Natur begann. Ursprünglich bezeichnete man in den USA „frontier“ als das Gebiet, in dem nicht weniger als zwei und nicht mehr als sechs Menschen eine Quadratmeile bewohnten. Stets gab es demnach mehrere Frontier-Linien. Turner führte nun in seinem Aufsatz „The Significance of the Frontier in American History" die Ausprägung der amerikanischen Demokratie und des amerikanischen Individualismus auf die bis ungefähr 1880 vorhandene Frontier zurück, die es ermöglichte, etwaige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme durch die Aus-und Umsiedlung der Problemgruppen zu lösen, zumindest aber (und dies ist meine Formulierung) zu verschieben, und zwar im wirklichen, d. h. geographischen Sinne. Der amerikanische Westen war demnach das politische Sicherheitsventil für den Osten des Landes.

Nur Rande daß Turner seine am sei vermerkt, scheinbar originelle These möglicherweise „entlehnt" hat, denn im Jahresbericht des „Superintendent of the Census" hieß es 1890, daß die USA bis 1880 eine frontier gehabt hätten, danach aber nicht mehr

Wie einflußreich die Frontier-These noch heutzutage auch bei uns in Deutschland ist, kann man u. a. daran erkennen, daß Hans-Ulrich Wehler in der Einleitung seines erstmals 1970 erschienenen Aufsatz-Sammelbandes „Imperialismus" darauf verwies, man müsse die seit 1898 imperialistische Politik der USA im Zusammenhang mit dem Ende der frontier betrachten So überzeugend diese These auf den ersten Blick hin scheint, so wenig bleibt sie es bei näherem Hinsehen.

Die Frontier-These beinhaltete ja vor allem die Möglichkeit, westwärts zu ziehen, um dort ein neues, ertragreicheres Leben zu beginnen. Diese Möglichkeit aber war seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts keineswegs erschöpft. Im Gegenteil, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die größte Westwanderung der Amerikaner erfolgte in den Jahren 1890 bis 1930, als der Zuwachs in den Berg-und Küstengebieten rund 300 Prozent betrug, dann zwischen 1940 und 1960, als rund 14 Millionen Menschen dorthin kamen . Ganz abgesehen davon, gab es ja auch bis in die neunziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts keineswegs nur innenorientierte Phasen der amerikanischen Außenpolitik.

Die Frontier-These, die sowohl geographische als auch soziologische und ökonomische Interpretationsfaktoren enthält, erkennt und erklärt nicht das Muster der amerikanischen Außenpolitik.

William Appleman Williams versuchte in mehreren Büchern den Nachweis zu erbringen, daß die US-Außenpolitik von den Klasseninteressen, besonders den Außenhandelsinteressen der politischen Entscheidungsträger des Landes bestimmt worden sei, und diese, so der Autor weiter, seien fast ausschließlich expansionistisch eingestellt gewesen. Ob „Contours of American History“, „Tragedy of American Diplomacy" oder „Roots of American Foreign Policy", die zentrale These bleibt unverändert .

Können wir mit diesem allgemeinen Erklärungsmuster, zugleich definiert als „Theorie", arbeiten? Schauen wir z. B. auf die Entwicklung des amerikanischen Außenhandels und hier besonders auf die des Exports

Von 1789 bis 1815 blühte der Außenhandel auf, weil die USA als neutrale Nation von den europäischen Wirren profitierten.

Diese Hochphase fällt mit der ersten außen-orientierten Phase der Außenpolitik weitgehend zusammen. Auch in den vierziger und fünfziger Jahren verlaufen Expansion des Außenhandels und Außenorientierung der Außenpolitik fast synchron. Ganz anders sieht es mit dem nächsten Wachstumsschub des Außenhandels von 1866 bis 1900 aus. Er fällt in die innenorientierte Phase der Außenpolitik.

Aber: Nach 1900 setzte sich das Wachstum des Außenhandels ebenso dramatisch fort wie die aus den USA stammenden Direktinvestitionen im Ausland. Diese betrugen 1897 erst 634 Millionen Dollar, 1919 schon 3, 8 Milliarden Dollar. Also doch eine große Übereinstimmung zwischen Außenhandel und Außenpolitik?

ist Beurteilung Auch hier Vorsicht bei der geboten, denn gerade in der innenorientierten Phase der Außenpolitik, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, steigt das Volumen der amerikanischen Direktinvestitionen auf 7, 5 Milliarden Dollar im Jahre 1929. Bis 1958 waren schließlich rund 27 Milliarden Dollar erreicht.

Fazit: Das Bild ist zu uneinheitlich, als daß wir Außenhandelsinteressen als ausschließlichen Erklärungsfaktor der amerikanischen Außenpolitik billigen können.

Ein ähnlich differenziertes Bild ergibt sich übrigens auch, wenn man die Muster der miteinander -Zoll und Außenpolitik ver gleicht, obwohl es auch in diesem Bereich hier und dort übereinstimmende Zyklen gibt. Dennoch: Eine Theorie bedarf immer wieder bestätigter Wenn-dann-Beziehungen. Ausnahmen mögen zwar im Volksmund die Regel bestätigen, nicht aber die Theorie eines Wissenschaftlers.

Beachtenswert wäre der Zusammenhang zwischen außenpolitischen Zyklen und technologischer Entwicklung Auch hier nur einige Beispiele, die sich beliebig ergänzen ließen: Morison/Commager und Leuchtenberg heben hervor, daß Errungenschaften der industriellen die Revolution erst seit den siebziger Jahren der Landwirtschaft, besonders der Eroberung der High Plains im Mittelwesten, zugute kamen, also anwendungsfähig wurden. Dies betraf z. B. Bewässerungsanlagen, wobei erstmals mit Hilfe von Windmühlen Grund-wasser hochgeschöpft und somit landwirtschaftlich verwendungsfähig gemacht werden konnte. Scheinbar völlig bedeutungslos, praktisch jedoch sehr bedeutsam schließlich die Erfindung des Stacheldrahtzaunes, der die Abgrenzung großer Flächen ermöglichte und damit einerseits große Weideflächen für das Vieh sicherte und andererseits das Verschwinden der Rinder verhinderte. Holzzäune wären in dieser Gegend unerschwinglich gewesen wegen der Transportkosten.

Die Anwendung dieser Techniken fällt weitgehend zusammen mit der innenorientierten Phase der Außenpolitik, aber auch mit einem drastischen Preissturz für landwirtschaftliche Produkte.

Der Großhandelspreisindex für landwirtschaftliche Güter sank von 112 im Jahre 1870 auf 71 in den Jahren 1890 und 1900. (Der Basis-zeitraum ist dabei 1910— 14

Der Grund für den Preissturz leuchtet schnell ein. Immer mehr Menschen versprachen sich gerade wegen der neuen Agrartechnologie Gewinnmöglichkeiten, gingen in die Landwirtschaft, die immer mehr produzierte und womit sie selbst Preise immer anbot, die weiter drückte. Daher seit den achtziger Jahren auch die agrarischen Proteste, die politisch folgenreich waren. Eine außenorientierte Außenpolitik war gewiß nicht die richtige Antwort auf diese binnenwirtschaftlichen Probleme, erklärt den Zyklus seit 1891 also keineswegs. Auch der Ausbau des amerikanischen Eisenbahnnetzes erklärt uns diese Zyklen unzureichend, denn der erste größere Bauboom erfolgte zwischen 1826 und 1840 in einer innen-orientierten Phase, während der zweite zwischen 1862 und 1893 und der dritte zwischen 1873 und 1907 sowohl in eine innen-als auch außenorientierte Phase fällt Noch weniger aufschlußreich bleibt der Ausbau des Flugwesens, das besonders in die Zeit der isolationistischen zwanziger Jahre fällt Ähnlich problematisch ist der Bezug auf Massenkommunikationsmittel wie Radio und Fernsehen: Radio in den zwanziger Jahren, Fernsehen in den außenorientierten fünfzigern Auch die Einwanderung scheidet als Erklärungsfaktor aus, denn die Zahl der Immigranten war eigentlich beständig groß So wanderten zwischen 1871 und 1890 rund 8 Millionen Menschen ein, zwischen 1881 und 1911 sogar 12, 5 Millionen. Mehr Menschen bedeuten zunächst auch mehr innenpolitische Probleme; man hätte also eher eine innenorientierte Außenpolitik erwarten müssen, aber genau das Gegenteil trifft zu.

Wenig Glück haben wir auch mit der Parteizugehörigkeit der Präsidenten. Ganz abgesehen davon, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Weiße Haus fast ausschließlich von Republikanern bewohnt wurde, stellen wir fest, daß die republikanischen Präsidenten der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts zweifellos innenorientiert waren, unter Eisenhower aber das Außenengagement der USA stärker als je zuvor war.

Die letzte Frage lautet: Wurden die außenorientierten Phasen von außen an die USA herangetragen? In den Jahren seit 1798 nur sehr bedingt, seit 1844 eindeutig nicht, seit 1891 zum Teil ja, wenn man an den Krieg mit Spanien denkt, zum Teil nein, bezieht man sich auf den Ersten Weltkrieg; ebenfalls ja für die Zeit seit 1940, umstritten für die Jahre des soge-nannten Kalten Krieges.

Wodurch kann man also die Zyklen erklären, im Sinne einer Theorie erklären? Um es vorweg zu nehmen: Die Konstruktion einer Theorie im hier definierten Sinne dürfte weitgehend unmöglich sein. Zu viele Besonderheiten gilt es zu berücksichtigen. Jede historische Situation weist ihre Eigentümlichkeit auf.

Ein eher anthropologischer Erklärungsfaktor sollte dennoch stärker als bisher beachtet werden. Ich verstehe dies allerdings nur als vorläufige Erklärung, noch bescheidener ausgedrückt: als vorläufigen Erklärungsversuch, also als einen ersten Schritt zur Formulierung einer Hypothese.

Ebenso wie Wirtschaftsentwicklungen und politische Ideen in bezug auf ihre Wirksamkeit Höhen und Tiefen durchlaufen, scheint es auch mit außenpolitischen Grundstimmungen zu sein. Grundsätzlich möchte man an ihnen festhalten, ja, man gibt sie sogar weiter, und Sozialwissenschaftler nennen dies politische Sozialisation. Doch im Laufe der Jahre kommen Zweifel auf, hier und da macht sich Überdruß breit, auch Enttäuschungen bleiben nicht aus, zum Teil sind sie sogar durch eben diese Überzeugungen bzw. politische Grundrichtungen bedingt, und teilweise verfügt man über neue Instrumentarien, die außenpolitische Versuche weniger riskant werden lassen. Kurzum: Die Bedürfnisse nach Kontinuität einerseits und Wandel andererseits ringen miteinander. Das jeweils Neue durchläuft Aufschwung, Hochphase und Abschwung, bis es wieder von etwas Neuem abgelöst wird, dem es nicht anders geht, wobei dieser Zyklus von 50 bis 60 Jahren durchaus mit dem Lebenszyklus des Menschen weitgehend zusammenfällt, zumindest seiner aktiven Zeit.

Mit anderen Worten: Die Natur, das Wesen des Menschen, sein Ringen zwischen Kontinuität und Wandel sollten auch Historiker beachten, die Erklärungsmuster für das außenpolitische Verhalten eines Staates suchen.

Über den Lebenszyklus hinaus sollte dabei die Abfolge der Generationen untersucht werden: Hier Kontiuität, dort Wandel — getragen von verschiedenen, jedoch gleichzeitig lebenden Generationen; jede im Abstand zu früheren Zyklen denkend und handelnd

Hier geht es nicht darum, „Theorien“, also immer wieder bestätigte Wenn-dann-Beziehungen, über den Verlauf der amerikanischen Außenpolitik aufzustellen; an der Theorie von Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte sind Zweifel erlaubt (als „Gesetze" sind unwiderrufliche Theorien zu verstehen). Letztlich wäre dies ein Rückfall hinter die durchaus vorhandenen Errungenschaften des Historismus, der die Bedeutung des Individuellen, Unwiederholbaren unterstrich, manchmal freilich zu stark. Lehnt man aber ein nomothetisches Vorgehen ab (Windelband), braucht man nicht in das andere Extrem, in eine rein ideographische (Windelband) Arbeitsweise, zu verfallen. Geschichte besteht eben auch nicht nur aus Unwiederholbarem und Individuellem. Selbst den Historisten war dies bewußt. So hob z. B. Ranke hervor, daß durch jede Individualität ein Allgemeines hindurchscheine. Die individuellen Erscheinungen sind für die Historisten durchaus verschiedene Ausprägungen allgemeiner, sich in der Geschichte entfaltender Prinzipien. Sogar ein so scharfer Kritiker des Historismus wie Georg G. Iggers räumt dies ein

Hier ging es primär um das Erkennen und Beschreiben von Verlaufsmustern. Die diversen Zyklen wären als Verlaufstypen zu betrachten, die zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als heuristische Instrumente sind.

Diese Verlaufstypen zu erkennen, ist ein zeitgeschichtliches Desiderat, denn offensichtlich begegnen wir hier einer Vergangenheit, die in der Gegenwart wirksam ist, den Zeitgenossen betrifft.

Wie formulierte es Droysen doch in der „Historik"? „Das, was war, interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinn ist, indem es noch wirkt.. .

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 19. Von hier die zitierten Formulierungen sowie die Überlegungen über „lange Wellen", die ich jedoch ganz anders anwende. Insofern nur entfernte Ähnlichkeiten. Diese historisch-politischen Zyklen sind nicht zu verwechseln mit sogenannten politischen Wirtschaftszyklen bzw. politisch bedingten Wirtschaftszyklen, wie sie in der „neuen politischen Ökonomie" diskutiert und analysiert werden (vgl. dazu: Paul Whiteley, ed., Models of Political Economy, London-Beverly Hills 1980).

  2. Vgl. dazu Michael Wolffsohn, Die Debatte über den Kalten Krieg. Politische Konjunkturen und historisch-politische Wissenschaft, Leverkusen-Opladen 1980.

  3. Robert Tucker, The Radical Left and American Foreign Policy, Baltimore 1971, Introduction, auch S. 148 f.

  4. Zur Operationalisierung siehe Frank L. Klingberg, Cyclical Trends in American Foreign Policy Moods and Their Policy Implications, in: Charles W. Kegley/Patrick J. McGowan, eds.: Challenges to America. United States Foreign Policy in the 1980s, Beverly Hills—London 1980, S. 51 f„ Anm. 2.

  5. Zusammengestellt aus diversen Darstellungen der US-Geschichte, bes. Samuel E. Morison/Henry Steele Commager/William E. Leuchtenberg, The Growth of the American Republic, 2 Bde., Oxford 19696. Letztlich habe ich die Einteilung von Klingberg, a. a. O., S. 38, übernommen. Er kommentiert aber die Zyklen nicht näher, sondern stellt sie aufgrund seiner Materialsammlung (u. a. Auswertung der Presse der diversen Zeitabschnitte) fest.

  6. Zu diesem Zyklus vgl. ausführlich M. Wolffsohn, Die Debatte über den Kalten Krieg ..., a. a. O.

  7. Hans J. Morgenthau, In Defence of the National Interest. A Critical Examination of American Foreign Policy, New York 1952.

  8. Robert E. Osgood, Ideals and Self-Interest in Americas Foreign Relations, Chicago 1953.

  9. Morgenthau, a. a. O., S. 14 ff.

  10. Stanley Hoffmann, Gullivers Troubles. Or the Setting of American Foreign Policy, New York 1968, S. 87 ff.

  11. Morison/Commager/Leuchtenberg, a. a. O., Bd. 2, S. 24.

  12. Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Imperialismus, Köln—Berlin 1970, Einleitung.

  13. Morison/Commager/Leuchtenberg, a.a.O., Bd. 2, S. 24.

  14. William Appleman Williams, The Contours of American History, Cleveland, 1961; ders., The Tragedy of American Diplomacy, Cleveland 1959 (ähnlich auch in der umgearbeiteten und erweiterten Fassung von 1962 [New York] in bezug auf die zentrale These); ders., The Roots of American Foreign Policy. An Analysis of Power and Purpose, Boston 1969.

  15. Daten in: Richard B. Morris/Henry Steele Commager, eds„ Encyclopedia of American History, enlarged and updated, New York 1970, S. 510 ff.

  16. Aa. O., S. 518 ff.

  17. Morison/Commager/Leuchtenberg, a. a. O., Bd. 2,

  18. Morris/Commager, a. a. O., S. 503 ff.

  19. Morison/Commager/Leuchtenberg, a. a. O., Bd. 2, S. 31 ff.

  20. Morris/Commager, a. a. O, S. 458 f.

  21. Ebd., S. 459f.

  22. Morris/Commager, a. a. O., S. 467 ff.

  23. In meinem Buch „Politik in Israel“, Leverkusen-Opladen 1981, Teil II, habe ich versucht, diesen Ansatz zu verwirklichen. Kontinuität und Wandel im israelischen Parteiensystem, ja im politischen System überhaupt, habe ich im Zusammenhang mit dem Wechsel der politischen Generationen erörtert. Dort bin ich auch ausführlicher auf die theoretische Literatur eingegangen. Ein Überblick auch in: Abraham Diskin/Michael Wolffsohn, Strukturelle Veränderungen in den politischen Parteien Israels, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. Bd. 27, (1979), bes. S. 457 ff.

  24. Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, bes. S. 106f„ 139 ff., 182 ff., 194 ff.

  25. Zitiert aus: Waldemar Besson (Hrsg.), Geschichte (Fischer Lexikon), Frankfurt/Main 1970, S. 61.

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Michael Wolffsohn, Dr. phil., geb. 1947; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und in Tel Aviv; 1975— 80 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Politikwissenschaft an der Universität des Saarlandes; 1980 Habilitation in Politikwissenschaft; 1980 Habilitation in Zeitgeschichte; z. Zt. Lehrstuhlvertreter Politikwissenschaft, insbes. Internationale Beziehungen, an der Hochschule der Bundeswehr Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Industrie und Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik? Studien zur Politik der Arbeitsbeschaffung in Deutschland 1930— 1934, Berlin 1977; Die Debatte über den Kalten Krieg, Leverkusen-Opladen 1980; Politik in Israel, Leverkusen-Opladen 1981.