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Preußen — Ein Weg in die Moderne? | APuZ 52-53/1981 | bpb.de

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APuZ 52-53/1981 Preußen — Ein Weg in die Moderne? Nationalsozialismus und Preußentum Preußentum und DDR-Sozialismus

Preußen — Ein Weg in die Moderne?

Rudolf von Thadden

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die zentrale These des Beitrags besteht in der Aussage, daß Preußen mehr als ein Ancien rgime’ der Deutschen ist. Trotz aller noch im 19. und 20. Jahrhundert gegebenen feudalen Züge der Gesellschaft in Preußen hat der Hohenzollernstaat in wichtigen Bereichen Wege in die moderne Welt bereitet, die auch heute noch Bedeutung haben. Dies zeigte sich im Lauf der Geschichte vor allem in konkreten Alternativen: a) zu Österreich in der Frage der Begründung der nationalen Einheit Deutschlands; b) zu Polen in der Frage des Aufbaus einer modernen Staatlichkeit; c) zu Frankreich in dem freilich problematischen Versuch, ohne Revolution und Demokratie einen modernen Industriestaat aufzubauen. Entsprechend war Preußen — nach den Worten Tocquevilles — eine Mischung von „modernem Kopf" und „altfränkischem Rumpf". Weil Preußen nicht einfach das Ancien rgime der Deutschen ist, ist es auch heute nicht nur Gegenstand einer romantischen Sehnsucht. Vielmehr weist das Interesse an seiner Geschichte auf bestimmte Defizite in der Landschaft unserer heutigen Konsumgesellschaft hin. Vor allem die Sucht nach einer historisch begründeten Identität der Deutschen und ein Verlangen nach einer weiterführenden Orientierung der an ihre, Grenzen stoßenden modernen deutschen Industriegesellschaft scheinen den Hintergrund für das gegenwärtige Preußen-Interesse zu bilden. Als wichtigstes Ergebnis der zahlreichen Preußen-Diskussionen im zurückliegenden Jahr will dem Verfasser die Begegnung von Fachhistorie und Öffentlichkeit erscheinen. Sie sollte die aktuelle Preußen-Diskussion überdauern.

Um eine Nachlese ergänzte Rede zur Eröff-^ng der Preußen-Ausstellung in Berlin am ^. August 1981

Ich möchte mit der Schilderung einer Gesprächserfahrung beginnen, die — was den Ausgangspunkt betrifft — wohl viele in diesem Jahr gemacht haben werden. Der Ausgangspunkt war die immer wieder gestellte Frage: „Warum wird Preußen gegenwärtig so viel Interesse entgegengebracht?" Die Partner meines Gesprächs waren jedoch keine Deutschen, sondern Engländer und Franzosen, die Mühe hatten, das aktuelle Preußen-Interesse der Deutschen zu verstehen. Die Engländer rätselten, ob es sich mehr um ein echtes oder mehr um ein künstliches Interesse handele; die Franzosen hatten dagegen eine verblüffend einfache Erklärung bereit: „Alle Völker", so sagten sie, „haben Sehnsucht nach einem Stück „Ancien regime. Die Engländer befriedigen in Feiern wie der königlichen Hochzeit einen Teil davon, und die Deutschen versuchen -in Ermangelung vergleichbarer Möglich-leiten —, mit großen Ausstellungen etwas Ähnliches zu erreichen."

Preußen: ein Stück . Ancien rgime, ein Stück ständisch geprägte alte Welt der Deutschen — ist dies das Motiv der diesjährigen Preußen-Ausstellung in Berlin, das Motiv unseres gegenwärtigen Preußen-Interesses? So einleuchtend der französische Erklärungsversuch auch im Augenblick zu sein schien, so zwiespältig nimmt er sich doch bei näherem Zusehen aus. Preußen — ein Stück . Ancien regime': das hieße — wenn es so wäre — zweierlei zugleich. Es würde besagen, daß Preußen als historisches Phänomen vor allem unter dem Blickwinkel des Vormodernen Aufmerksam-keit verdient. Und es würde außerdem anzeigen, daß Preußen als Thema unseres aktuellen Interesses überwiegend nostalgiebestimmte Bedeutung hat.

Gewiß: Für beide Annahmen gibt es durchaus Anhaltspunkte in der gegenwärtigen Preußen-Diskussion. Es gibt Historiker, die das Wesentliche der preußischen Geschichte in ihren vormodernen Zügen sehen. Und es gibt Publizisten, die am gegenwärtigen Preußen-Interesse für bedeutsam halten, daß es ein ruhender Gegenpol zur Hektik der Gegenwart sein und manchen Verflachungserscheinungen in unserem politischen Selbstverständnis entgegenwirken könnte.

Aber, so müssen wir hier fragen, warum dann Preußen und nicht andere Teile unserer Geschichte? Bieten sich, wenn es um Sehnsucht nach . Ancien rgime gehen sollte, nicht andere Länder oder Kulturbereiche eher an, haben nicht das Rheintal oder der Süden Deutschlands mehr von dieser vormodernen Welt, deren Zauber uns vielleicht Entspannung in den Zwängen einer übermächtigen Moderne gewähren könnte? Vor allem aber: Sind es wirklich in erster Linie Sehnsüchte nach besseren Welten oder nach tieferer Verwurzelung unserer Existenz, die uns 34 Jahre nach der formellen Auflösung des preußischen Staates wieder stärker nach dessen Geschichte fragen lassen?

Ich möchte auf diese Fragen zu antworten versuchen, indem ich einige Gedanken sowohl zu Preußen als historischem Phänomen als auch zu Preußen als Thema unserer Zeit vortrage. Ich tue dies im Bewußtsein der Tatsache, daß jeder einzelne der beiden Teile Stoff genug für eine eigene Abhandlung böte, glaube aber vor dem Hintergrund der Preußen-Ausstellung keinen der beiden Aspekte vernachlässigen zu dürfen.

I. Preußen als historisches Phänomen

Wenn Preußen in die Perspektive eines Stücks Ancien regime'der Deutschen rückt, ergibt sich zwangsläufig die Frage, wie altertümlich oder umgekehrt: wie modern es eigentlich gewesen ist. Diese Frage ist keine Entdeckung unserer Zeit. Sie bewegt sich, seitdem es ein Bewußtsein von Modernisierungsproblemen gibt, zwischen der bisweilen feindseligen An-klage, Preußen sei ein rückständiger Feudalstaat geblieben, und der begeisterten Lobpreisung, Preußen sei — jedenfalls zeitweilig — der modernste Staat Europas gewesen. Die einen sahen in Preußen ein fatales Experiment der Verlängerung und Befestigung überalterter Sozialstrukturen in weit darüber hinaus fortgeschrittenen Zeitverhältnissen. Die anderen hielten es für einen gelungenen Schritt aus dem Mittelalter heraus, für ein Stück Überwindung dessen, was im alten Europa als „Ancien rgime’ bezeichnet worden ist. In manchen Fällen stehen Anklage und Lobpreisung dicht beieinander. So kann derselbe preußische Dichter Theodor Fontane in einer bestimmten Situation von Preußen als dem „Staat der Zukunft" reden und wenige Jahre später es als untüchtig für neue Aufgaben bezeichnen

Solche Beurteilungskonflikte waren nie nur akademischer Natur. Sie waren und sind eingebettet in reale Positionskonflikte, die sich kaum losgelöst von Alternativen ausdrücken. So achtete man auf den Modernitätsgrad Preußens besonders genau in der Konkurrenz zu Osterreichals sich im Zeitalter des Kampfes um nationale Einigung die Frage stellte, ob die in der 48er Revolution sichtbar gewordenen Strukturprobleme mehr durch Unterdrückung oder mehr durch Aufnahme von Strömungen der Zeit gelöst werden könnten. Hier sollte es von entscheidender Bedeutung für den weiteren Weg nicht nur Deutschlands werden, daß Preußen in diesen Jahrzehnten weniger konterrevolutionär reagierte als Österreich, daß es stärker die Auseinandersetzung mit den vorwärtsdrängenden Kräften der Zeit aufnahm. Es ging, so könnte man formulieren, auf die Bewegung des Zeitalters ein, ließ sich aber nicht von ihr ins Schlepptau nehmen. Es stellte sich den Veränderungen der politischen Landschaft, ließ sich aber nicht von ihrem Geiste leiten. Es griff die Ergebnisse der Revolution auf, verschloß sich aber gegenüber ihren Impulsen.

Dies war alles andere als eine revolutionsfreundliche Haltung. Sie trug auch keineswegs nur zur Entschärfung von Gegnerschaften bei.

Aber sie machte Entwicklungen möglich, die — richtig begriffen — aus den Blockaden allzu einfacher Antithesen herausführen konnten.

Kaum jemand hat dies damals deutlicher erkannt als Lassalle, der im Unterschied zu Marx auf die preußische Karte setzte und die in der preußischen Staatlichkeit enthaltenen Modernitätsansätze für seine Politik des sozialen Fortschritts zu nutzen gedachte. Aber nicht nur der kleindeutsche Lassalle, auch der österreichfreundliche, großdeutsch denkende August Bebel begriff auf seine Weise sehr wohl, daß gerade der größere Modernitätsgrad Preußens im Vergleich zu Österreich Rückwirkungen auf den Verlauf der politischen und sozialen Auseinandersetzungen haben mußte.

In seinen kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Erinnerungen wog er Vor-und Nachteile des preußischen Sieges über Österreich ab und kam dabei zu dem aufschlußreichen Urteil, daß ein Sieg Österreichs als Sieg eines weniger effektiven Staates mehr Luft für Volksbewegungen gelassen hätte: „Österreich", so überlegte er, „war und ist nach seiner ganzen Struktur ein innerlich schwacher Staat, ganz anders als Preußen. Aber die Regierung eines starken Staates ist für dessen demokratische Entwicklung gefährlicher." Eine österreichische Regierung hätte Bebel zufolge nach einem Siege über Preußen versucht, reaktionär zu regieren. Aber sie hätte genau damit das Volk nicht nur in Preußen gegen sich aufgebracht und eine Revolution ermöglicht „Die demokratische Einigung des Reiches“, so schließt Bebel, „wäre die Folge gewesen. Der Sieg Preußens schloß das aus."

Nach diesen vielschichtigen und sicherlich auch in mancher Hinsicht anfechtbaren Wor-. ten Bebels ist es also gerade die innere Stärke des preußischen Staates gewesen, die ihn über Österreich siegen und entsprechend für eine revolutionäre Entwicklung Deutschlands gefährlich werden ließ. Nicht ein „Ancien-rgi-

me-Preußen siegte über ein wie auch immer schwaches Österreich, sondern ein durch vergleichsweise größere Modernität stärker gewordenes Preußen überwand ein überalterten Strukturen verhaftetes und deshalb schwaches Österreich. In dieser Alternative war also das Ancien rögime'eindeutig mehr in Österreich verankert — so sehr dies auch neue Probleme im nunmehr durch Preußen geführten Deutschland schaffen sollte.

Als nicht geringer stellte sich der Modernitätsvorsprung Preußens im Vergleich zu einem anderen Staat des alten Europa dar: im Vergleich zur alten Adelsrepublik Polen (im ! 18. Jahrhundert). Auch hier erwies sich Preußen — nicht nur aufgrund seiner Armee — als das leistungsstärkere Staatswesen, auch hier wurde der Kontrahent durch größere Ancienrgime’-Belastungen geschwächt. Ohne die verwerflichen Teilungen Polens — ohne die es keinen Ausbau Preußens zu einer europäischen Großmacht gegeben hätte — nur auf innere Schwächen der alten Aldelsrepublik zurückführen zu wollen, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß Polen Modernitätsdefizite hatte, die seine Teilung erleichterten.

Diese Defizite hatten in den Augen des preußisch-ostdeutschen Bürgertums nicht nur politische, sondern auch soziale Gründe, so ambivalent diese auch sein mochten. So ließ der Schlesier Gustav Freytag in seinem im Bürgertum so beliebten Roman . Soll und Haben das bürgerliche Selbstbewußtsein zweier Preußen in kritischer Distanz zum polnischen Adel Kontur gewinnen. In einer Unterhaltung der beiden deutschen Kaufleute des Romans über das aufständische Polen der dreißiger Jahre urteilt der eine mit Zielrichtung gegen den polnischen Adel: „Es gibt keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen... Dort drüben erheben die Privilegierten den Anspruch, das Volk darzustellen. Als wenn Edelleute und leibeigene Bauern einen Staat bilden könnten!" Darauf erwidert der andere Kaufmann: „Sie haben keinen Bürgerstand", woraufhin der erste Kaufmann noch einmal einwirft: „Es ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Zivilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauern zu einem Staat erhebt, aus sich heraus zu schaffen.“

Solche zweifellos auch anfechtbaren Deutun-gen polnischer Verhältnisse aus preußisch-deutscherSicht — auf die der polnische Adel übrigens mit Karikaturen preußisch-deutscher Bürgerlichkeit im Sinne pedantischer Ordnungsliebe und Staatsfrömmigkeit antwortete — zeugen nicht von Rückständigkeitsbewußtsein. Sie machen vielmehr deutlich, wie weit das Überlegenheitsgefühl von Preußen im 19. Jahrhundert reichen konnte: bis hin zur Verdrängung der eigenen Ancien-rgime’-Grundlagen, die doch trotz zahlreicher Ansätze von staatlichen Reformen das Leben des Alltags prägten.

Wiederum anders nahm Preußen sich im Wettstreit mit dem europäischen Westen aus. Hier war es weniger die bloße Gegenüberstellung von Modernität und . Ancien rgime, die in der Diskussion eine Rolle spielte, als vielmehr ein Vergleich der unterschiedlichen Formen, einen Weg vom Mittelalter in die moderne Welt zu finden. Im Gegensatz zu Frankreich vor allem, das nur durch revolutionäre Umwälzungen aus den Bindungen seines . Ancien rgime’ herauszutreten vermochte, betonte man in Preußen die Möglichkeit, auch ohne Revolution den Durchbruch zur Moderne zu schaffen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb es weithin preußische Maxime, dem westlichen Weg revolutionsgeprägter Demokratisierung der Gesellschaft einen eigenen Weg revolutionsloser Modernisierung jedenfalls staatlicher Machtfaktoren entgegenzusetzen — zur besseren Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen.

Auch noch, als sich dies als zunehmend schwierig erwies — im Vor-und Umfeld des Ersten Weltkriegs —, hielt das nunmehr ins Deutsche Reich hineingewachsene Preußen an seinem Weg zwischen . Ancien rgime’ und Revolution fest: jetzt ganz konkret in seiner Doppelfront gegen das feudale Zarenrußland und die Demokratien des Westens. In dieser Frontstellung trat es nicht als Anwalt des europäischen . Ancien rgime’ gegen den Fortschrittsanspruch des Westens auf, sondern agierte als eigentümliche Mischung von Modernismus und Traditionalismus.

Wie weit die Abgrenzung gegenüber dem Westen führen konnte, zeigt eine Äußerung eines anderen gebürtigen Schlesiers, der von starkem preußischen Selbstgefühl durchdrungen war: eine Äußerung von Ernst Niekisch aus dem Jahre 1930. Angesichts der drohenden Machtergreifung Hitlers sieht er in konsequenter Distanz zu den bürgerlichen Wertvorstellungen des Westens die Preußen angemessene Form des Widerstandes und setzt dabei die Akzente geradezu umgekehrt wie sein Landsmann Gustav Freytag im Dialog mit Polen. Er schreibt: „Der preußische Lebensstil war das bedingungslos Un-und Antibürgerliche; der preußisch-deutsche Staat mit seinen militärischen, feudalen und autokratischen Formen war der Staat, den der Bürger je länger desto mehr unerträglich fand: dieser Staat widersprach seinem Lebensgefühl." Dementsprechend sah Niekisch Berührungspunkte zwischen Linien der preußischen und der sozialistischen Entwicklung, die alle von der bürgerlichen Welt wegführten •Preußen hatte also viele Gesichter und ist nicht auf einfache Formeln zu bringen. Dem Westen gegenüber konnte es als vergleichsweise wenig bürgerlich und liberal erscheinen, dem Osten gegenüber wirkte es jedoch als Land, das weit über das Ancien r^gime'hinausgewachsen war. Und dies entsprach seiner geographischen Lage: Vom Niederrhein bis an die Memel-reichend, hatte es Berührungspunkte sowohl mit dem Westen als auch mit dem Osten Europas. Je nach der Orientierung hatte es verschiedene Aspekte.

Und doch ist das Phänomen Preußen nicht einfach auf geographische Relationen zu reduzieren. Seine Position zwischen altständischer Welt und moderner Demokratie hat auch etwas mit seiner inneren Struktur zu tun, mit

II. Preußen als Gegenstand gegenwärtigen Interesses

Aber was ist sie dann? Und damit bin ich bei dem zweiten — gegenwartsnäheren — Teil: Was hat die Beschäftigung mit preußischer Geschichte heute zu bedeuten? Wenn man die Intentionen der für die Preußen-Ausstellung Verantwortlichen in Betracht zieht, dann ist die erneute Aufmerksamkeit für preußische Geschichte jedenfalls eines nicht: eine Flucht vor der uns umgebenden Wirklichkeit, ein Versuch der Emigration aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Eher seiner Verfassung im vollen Sinn des Wortes. Niemand hat dies schärfer gesehen und prägnanter formuliert als der große französische Analytiker sozialer Verhältnisse: Alexis de Tocqueville. In seiner Studie über das Allgemeine Preußische Landrecht (im Anhang zu seinem Werk über das Ancien rögime und die Revolution) spricht er von Preußen als einer Verbindung von „modernem Kopf" und „altfränkischem Rumpf", die sich bisweilen wie ein Zwitter ausnehme: „un tre monstrueux qui semble une transition dune cration ä une autre" Preußen — ein Übergang von einer alten in eine neue Gestalt: das will mir als die glücklichste Formulierung dessen erscheinen, was die historische Realität des Hohenzollern-staates in ihrer politischen, sozialen und nicht zuletzt auch kulturellen Komplexität ausmacht. Sie behält beides im Blick: die preußische Leistung der Modernität von Verwaltung, Rechtsstaat und industrieller Entwicklung und — unverkürzt — die gesellschaftliche Basisproblematik des preußischen Staates, die sich, je länger, desto mehr, schließlich auch staatsgefährdend auswirken sollte. Wie man es also dreht und wendet: es wird schwer fallen, Preußen als unverbindliches Stück . Ancien regime'der Deutschen hinzustellen. Zu einem Fluchtpunkt in einer bedrängten und bedrängenden Moderne taugt es nicht. Weil es selber so stark in unsere moderne Welt hineinreicht, kann es kein bloßer Museumsgegenstand sein. Eine Preußen-Ausstellung ist etwas anderes als eine Staufer-Ausstellung. wird man sagen können, daß das neue Preußen-Interesse Ausdruck eines wachsenden kritischen Empfindes für die flache Verwurzelung unserer Gegenwart ist, daß es ein Verlangen nach stärkerer Verankerung der Gegenwart im Boden der Geschichte signalisiert. Damit sind freilich Gefahren verbunden, die ohne Verzug genannt werden sollten: Wenn es zutrifft, daß das verstärkte Geschichtsinteresse der heutigen Zeit zu weiten Teilen aus einem Gefühl der Unsicherheit und der Manipu-lierbarkeit entspringt, wenn es ferner einen Zusammenhang zwischen dem Verlangen nach mehr geschichtlicher Fundierung und der Klage über Erscheinungen einer „Technokratie ohne Gedächtnis" gibt, dann ist die Gefahr groß, daß Geschichte zum bloßen Versatzstück von Augenblicksinteressen wird. Dann steht zu befürchten, daß die Geschichte ihre kritische Funktion der Gegenwart gegenüber verliert und nur noch untermauert, was ohnehin an politischen Vorstellungen vorhanden ist Und diese Gefahr ist nicht ganz von der Hand zu weisen. In der DDR ist die Neigung zur Instrumentalisierung der Geschichte für politische Gegenwartsinteressen ohnehin ersichtlich. Aber auch in der Bundesrepublik gibt es Anzeichen dafür, daß man die Geschichte lieber als Kitt für brüchig werdende Stellen im Mauerwerk benutzt, als daß man sich kritisch mit ihr auseinandersetzt. Im Falle Preußen ist das sichtbarste Beispiel dafür die neu entfachte Tugend-Diskussion. Als tauge die preußische Geschichte zu nichts anderem als zur Lieferung von Ordnungsmodellen, wird die Besinnung auf ihre Inhalte vielfach allzu simpel als Gegenheit zur Wiederaufwertung sogenannter preußischer Tugenden betrachtet

Dabei wird mindestens zweierlei vergessen: Zum einen wird verdrängt, daß keineswegs nur in Preußen Ordnungsliebe, Pflichterfüllung oder Sparsamkeit Geltung hatten. Zum anderen wird verkannt, daß die bisweilen gegengewichtslos hohe Wertschätzung dieser Eigenschaften in Preußen an bestimmte Bedingungen der wirtschaftlichen und sozialen Existenz gebunden war, die in unserem heutigen Staatswesen nicht in gleicher Weise gegeben sind. So bedurfte Preußen in mancher Hinsicht der starken Betonung von Ordnungsqualitäten, um seinen Mangel an anderen Kraft-Quellen ausgleichen zu können, seinen Mangel vor allem an gesellschaftlichem Zusammenhalt. Das aber trifft für die Bundesrepublik nicht zu. Sie hat trotz mancher Mängel der politischen Kultur inneren Zusammenhalt und Politische Substanz genug, um Sparsamkeit und Pflichtbewußtsein walten zu lassen, ohne dabei Preußen als „Modell“ strapazieren zu müssen. Ein demokratisches Staatswesen verfügt schließlich auch noch über andere Werte, die seinen Bestand sichern helfen können.

Plausibler erscheint ein anderes, gelegentlich sichtbar werdendes Motiv gegenwärtigen Preußen-Interesses: die Suche nach Bezugspunkten in der Geschichte zur besseren Konturierung der eigenen Identität Hierhin gehört die Frage nach den Auswirkungen der Einigung Deutschlands durch Preußen auf die politische Mentalität der Deutschen (im Vergleich zu anderen Nationen). Hierhin gehört aber auch die fast noch wichtigere Frage, welche Folgen der Eintritt Deutschlands in die Welt moderner Industriegesellschaften im Zeichen erfolgreich durchgesetzter preußischer Autoritätsvorstellungen gehabt hat — nicht zuletzt für das Sozialverhalten der Deutschen. Es ist nicht unnütz, ins Bewußtsein zu heben, welche Prägungen unser Volk — in seinen beiden Teilen übrigensl — aus seiner preußischen Vergangenheit mitbringt. Es ist sogar nötig, dies zu tun, wenn man mit Angehörigen anderer Nationen über Vor-und Nachteile bestimmter geschichtlicher Ent-’ Wicklungen sinnvoll sprechen will.

Diese Identitätsprobleme stellen sich heute deutlicher als in den vergangenen Jahren der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Während es damals Platz für alle und auch für offene Experimente gab, wird heute strenger nach den Qualifikationsmerkmalen, nach den Sicherungen und Gefährdungen gefragt. Und da will es dann nicht mehr ausreichen, allein Ziele und Absichten zu bekunden; es muß auch deutlich gemacht werden können, aus welchen Quellen sie sich speisen. Die Frage, wo ein Weg herkommt, zählt wieder neben der, wo ein Weg hinführt. Geschichtliche Erfahrungen wiegen wieder.

Aber nicht nur die geringer gewordenen Handlungsspielräume, auch manche zerronnenen politischen Hoffnungen mögen im Hintergrund von Rückbesinnungen auf die eigene Geschichte stehen. So hat es für das neue Preußen-Interesse ganz zweifellos Bedeutung, daß weiterreichende politische Perspektiven sich als wenig greifbar und konkret erwiesen haben. Europa scheint in fernen Horizonten zu verschwimmen, Deutschland als Ganzes hat aber ebenfalls nicht als erfahrbare Realität hinzugewonnen, so daß teilstaatliche Traditionen wieder stärker Beachtung finden. Mehr als bisher auf sich selbst gestellt, müssen die Deutschen der Bundesrepublik und auch der DDR ihre Identitätsgrundlagen reflektieren, zu denen nicht zuletzt die Geschichte der sie bildenden Territorien gehört.

Das gegenwärtige Preußen-Interesse ist also weit mehr als nur museal, wenn es andererseits auch sicherlich nicht so unmittelbar politisch ist, wie weniger wohlwollende Kritiker unterstellen. Weder ist die Besinnung auf preußische Geschichte ein kunstvoll ausgedachtes Mittel zur Reaktivierung der deutschen Frage, noch ist sie eine simple Reaktionserscheinung, ein Element politischer Gegensteuerung nach den Jahren eines unbeschwerten Aufbruchs zu neuen Ufern. So einfach sind Motivationen in der Regel nicht gelagert.

Wohl aber wird man sagen können, daß das gegenwärtige Preußen-Interesse indikatori-sche Bedeutung hat. Es zeigt an, daß in der politischen Landschaft unserer Konsumgesellschaft bestimmte Defizite vorhanden sind, die nach Ausgleich verlangen. Zu diesen Defiziten gehört zweifellos mit an vorderer Stelle der oft beklagte Mangel an historischer Tiefenschärfe im Selbstverständnis der Deutschen; aber für sich allein genommen muß er den Blick nicht unbedingt auf Preußen lenken. Geschichtsbewußtsein läßt sich auch in Auseinandersetzung mit anderen Erscheinungen der vielschichtigen deutschen Vergangenheit gewinnen. Das besondere Interesse an preußischer Geschichte scheint mir hingegen nicht zuletzt Ausdruck eines Orientierungsbedürfnisses unserer an ihre Grenzen stoßenden modernen deutschen Industriegesellschaft zu sein’, die sich verstärkt ihrer Grundlagen vergewissern zu sollen meint. Unangefochtene Überflußgesellschaften haben wenig Anlaß, sich mit besonderer Anteilnahme der Geschichte desjenigen Staates zuzuwenden, der sich rühmte, sich groß gehungert zu haben. Gesellschaften hingegen, die Grenzen ihrer Dynamik erfahren, die sich darauf einrichten müssen, mit knapper werdenden Ressourcen zu leben, könnten Affinitäten zur Geschichte eines Staates spüren, der nur unter Entbehrungen und Einschränkungen den Weg in die moderne Welt zu beschreiten vermochte.

Erscheinung, sondern als Staatswesen, das unter gewaltigen — und sicherlich nicht durchweg zu rechtfertigenden — Anstrengungen ein Stück „Ancien regime'zu überwinden versuchte und unter schwierigen Bedingungen ein Tor zur modernen Welt aufstieß. Zwar bleibt auch dann — mit Worten Golo Manns — die Brücke „schmal" zwischen Preußen und der Bundesrepublik, denn die Wachstums-schwierigkeiten unserer heutigen Wirtschaft haben auch noch andere Aspekte als die Anfangsprobleme der frühen Industriegesellschaft. Aber der preußische Staat als Formelement der Modernisierung Deutschlands war bedeutsam genug, um auch noch in anderen Zeitverhältnissen nicht nur wirkungsgeschichtliches Interesse zu wecken. Beispiele aus Ländern der Dritten Welt zeigen jedenfalls, daß dies nicht auf die deutschen Staaten beschränkt zu bleiben braucht.

In diesem Licht der Aufmerksamkeit für Grundlagenprobleme der Moderne mag eine Epoche der preußischen Geschichte verstärkt Beachtung finden, die auf dem Weg des Ho-henzollernstaates zur deutschen Vormacht bald nur noch umrißhaft erinnert wurde: die Epoche der Stein-Hardenbergschen Reformen. Hier sind Maßstäbe gesetzt worden, die für jede zwischen Traditionsbindungen und Modernisierungszwängen stehende Gesellschaft bedenkenswert sind, Maßstäbe der Reform insbesondere, die einer gerade an dieser Stelle unsicher gewordenen Generation etwas bedeuten können. Während in der heutigen Zeit Reformen meistens nur auf dem Hintergrund finanzieller Überschüsse gedacht und entsprechend in Phasen eingeschränkter Möglickeiten zurückgestellt werden, ist im Preußen Steins und Hardenbergs einem Reformbegriff Geltung verschafft worden, der die Alternativen . Wandel durch Wachstum’ oder . Stagnation'sprengt. Im damaligen Preußen bestand die Bereitschaft, auch unter Bedingungen materieller Mängel notwendig werdende Reformen anzugehen und Chancen der gesellschaftlichen Erneuerung zu eröffnen — nicht durch eine Beliebigkeit der Mittel, sondern durch bewußte Setzung von Prioritäten.

Erneut tritt Preußen hier nicht als Inbegriff eines nostalgisch ersehnten „Ancien regime'in Preußen ist also auch in dieser Perspektive alles andere als nur ein Stück Ancien rgime der Deutschen. Es reicht bis an die Fundamente unserer Gegenwart, wenngleich häufig mehr mit Fragen als mit Antworten. Es vermag uns daran zu erinnern, wie ungewöhnlich wichtig es ist, die Grundlagen der Modernität zu reflektieren, und wie folgenreich es ist, wenn dieses nicht im notwendigen Maße geschieht. Gewiß: Hitlers Gewaltherrschaft hat Deutschland anders hinterlassen, als sie es vorgefunden hat, und hat auch an die ständischen Reste des alten Preußen gerührt. Das von Tocqueville bezeichnete Problem der preußischen Doppelstruktur von „modernem Kopf" und „altfränkischem Rumpf“ ist nicht mehr gegeben. Und doch bleibt das damit angesprochene Grundlagenproblem der Modernität als Frage auch an die nachpreußische Zeit der deutschen Geschichte bestehen. Es gibt weiterhin Anlaß, auf die gesellschaftliche Basis unserer technischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu achten und bei Modernisierungsschritten danach zu fragen, wie weit sie wirklich von den Bürgern getragen werden. Die preußische Geschichte stellt uns also nach wie vor Fragen, wenngleich häufig anderes als Nostalgie sie hervorbringt. Sie macht uns in besonderer Weise deutlich, daß Geschichte uns betrifft, uns etwas angeht. Aber sie vermag dies so nachhaltig nur zu tun, weil sie mehr ist als ein bezauberndes Stück „Ancien rgime’ der Deutschen: Sie ist ein zentrales und unverwechselbares Stück unserer Geschichte — in beiden Teilen Deutschlands.

III. Nachlese: Suum cuique?

Wer das Preußen-Jahr kritisch Revue passieren läßt, könnte zu dem ironischen Kommentar verleitet sein, daß letzten Endes doch nur das Gesicht aus dem Wasserspiegel zurückschaut, das hineinschaut. Polen suchten in der Berliner Ausstellung Spuren der polnischen Geschichte und waren enttäuscht, wenn sie zu wenig davon fanden. Franzosen hofften auf Relikte der Hugenotteneinwanderung oder französische Texte der Zeit des großen Preußenkönigs Friedrich und urteilten gerne nach Maßgabe von deren Vorhandensein. Alte Preußen schließlich schauten sich nach Anhaltspunkten für die eigene Erinnerung um und runzelten die Stirn, wenn das Gefundene nicht eindeutig zur Erinnerung paßte. Aber ist das alles, was sich nach einem Jahr ungeahnt intensiver Beschäftigung mit preußischer Geschichte sagen läßt? War das Preußen-Interesse wirklich nur ein Reflex der jeWeils eigenen Preußen-Vorstellungen? Ich möchte meinen, daß die Dinge komplizierter liegen, daß eine Analyse der einzelnen Motivationen nicht bei dem Fazit stehen bleiben kann: jedem sein Preußen. Ganz abgesehen davon, daß historisches Interesse sehr häufig mit Bem Bestreben verbunden ist, sich selbst in der Geschichte wiederzufinden, kann es bei einem Thema von der zeitlichen Nähe Preußens nicht wundernehmen, daß es Menschen auch in ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen berührte, aufrührte. Die preußische Vergangenheit reicht zu weit in die Gegenwart hinein, als daß man ohne weiteres von den Komplexitäten des subjektiven Zugangs und der persönlichen Betroffenheit absehen könnte. Preußen ist in unmittelbarer Weise Teil unserer Vergangenheit als das mittelalterliche Reich der Staufer. Aber aus dieser Beobachtung kann nicht gefolgert werden, daß die Vergegenwärtigung preußischer Geschichte im wesentlichen nur ein Wachrufen von Erinnerungen gewesen sei. Auch nahe Vergangenheit ist mehr als eine Summe von Erinnerungen. Vielmehr wird man sagen müssen, daß ein herausragendes Element der Preußen-Diskussion in diesem Jahr die Gegenüberstellung von Geschichte als Erinnerung und Geschichte als Wissenschaft war, die Berührung von zwei verschiedenen Aggregatzuständen von Geschichte. In einer Zeit, in der die Geschichtswissenschaft langsam wieder mehr Resonanz in der Öffentlichkeit findet und manche verlorenen Positionen im Orientierungsprozeß der Gesellschaft zurückgewinnt, sind Ansätze einer Kommunikation sichtbar geworden, die ausgebaut zu werden verdienen. Im Preußen-Jahr sind we9 der die Zeitgenossen mit ihren Erinnerungen allein geblieben, noch hat die Zunft der Historiker nur in sich selbst rotiert

Beispiele für diese wieder aufgelebte Kommunikation gibt es viele. Sie finden sich nicht nur in den zahlreichen Diskussions-und Vortrags-veranstaltungen, die das ganze Jahr über in allen Teilen des Landes stattfanden und überdurchschnittlich gut besucht wurden, sondern auch in den Auflagenhöhen der Preußenbücher und in den Einschaltquoten der Preußen-sendungen in Rundfunk und Fernsehen. Die Berliner Ausstellung selbst wurde zu einem Kristallisationspunkt der Diskussion. Dabei kam es auch zu einem ungeahnt intensiven Dialog mit der jungen Generation, die keine eigenen Vorstellungen von Preußen als historischer Realität mehr mitbringt und doch am Prozeß der Selbstverständigung der Gesellschaft über Grundlagenprobleme der Gegenwart vital beteiligt ist.

Fragt man nach den Inhalten der Diskussion, so wird man erheblich differenzieren müssen. Es gab regionale Besonderheiten, die Beachtung verdienen; es gab aber auch konfessionell und sozial bedingte Unterschiede, von den politischen Akzentsetzungen ganz zu schweigen. So zeigten viele Diskussionen in Süddeutschland, daß Preußen nach wie vor mit gewissen unliebsamen Erscheinungen des deutschen Weges in die moderne Industriegesellschaft in Verbindung gebracht wird, ohne daß dabei hinreichend die Frage nach Alternativen erörtert wurde. Die Abneigung gegen Preußen konnte so weit gehen, daß man den süddeutschen Anteil an deutschen Fehlentwicklungen verdrängte und sich beispielsweise nicht mehr der Frage stellte, warum denn die nationale Erneuerung Deutschlands im 19. Jahrhundert nicht vom Süden her — etwa unter österreichischem Vorzeichen — Erfolg gehabt hat. Auch die Herkunft vieler führender Nationalsozialisten aus dem südlichen Deutschland war häufig nicht im Blick.

Umgekehrt gab es in Norddeutschland häufig allzu einfache Gleichsetzungen von Preußen, Protestantismus und politisch-sozialer Neuordnung Deutschlands, von Preußen als Modell deutscher politischer Selbstverwirklichung in Zeiten eingeschränkter wirtschaftlicher Möglichkeiten. In norddeutschen Städten wurde häufig allzu unkritisch über Preußens Rolle im Prozeß der nationalen Einigung Deutschlands gesprochen — als habe Deutschland nur gewonnen und nicht auch bezahlt in seiner Ehe mit dem Machtstaat Preußen. Vor allem im protestantischen Bürgertum Norddeutschlands sind die Kräfte immer noch stark, die im Ausfall Preußens eine Belastung für die Lösung der deutschen Frage heute sehen und sich eine wie auch immer geartete deutsche Einigung nicht ohne Rückgriff auf preußische Traditionen denken können.

Demgegenüber war in katholisch geprägten Kreisen des deutschen Westens häufig eine Haltung anzutreffen, die man auf die Formel bringen könnte: Preußen als politisches Ordnungsmodell nein, als soziales Ordnungsmodell ja. Man zeigte Abneigung gegen den auf Berlin ausgerichteten preußischen Macht-staat, sympathisierte aber mit dem in Preußen angelegten Sozialstaat, mit dem Land der staatlich geregelten Kranken-und Sozialversicherung. Hier trat am meisten verbreitet ein selektives Verhältnis zur preußischen Geschichte zutage, eine Neigung zur Herauslösung bestimmter Ergebnisse politischer und sozialer Auseinandersetzungen aus ihrem historischen Rahmen.

Auf dem Hintergrund dieser verschiedenen Preußen-Optionen in der Bundesrepublik mußten Stellungnahmen aus der DDR besonderes Interesse finden, die einer zu weit gehenden Regionalisierung der Preußen-Diskussion entgegenzuwirken versuchten. So lehnte die in der Preußen-Forschung der DDR führende Historikerin Ingrid Mittenzwei auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing eine Vergleiche scheuende Betonung preußischer Besonderheiten und Fehler ab und ließ keine Wesensunterschiede etwa zwischen preußischem und bayerischem Absolutismus zu. Für sie trugen regional bestimmte Differenzierungsversuche zwischen eher westlich-städtisch oder östlich-ländlich geprägten Entwicklungstypen wenig aus für eine Klärung der Voraussetzungen, die für Deutschlands Weg in die Demokratiefeindlichkeit schließlich von Bedeutung werden sollten. Für sie unterschied sich der preußische Staat nur graduell von anderen europäischen Staaten der Zeit. Noch stärker am europäischen Vergleich interessiert waren verständlicherweise die Gesprächspartner aus den europäischen Nachbarstaaten, allen voran Polen und Frankreich. Während die Franzosen sich gerne mit der Frage beschäftigten, wie weit Preußen an den großen geistes-und sozialgeschichtlichen Bewegungen des europäischen Westens partizipiert habe, ob und wie weit es etwa durch Hu-genotten-Einwanderung und Wirkung der Aufklärung zu einem Stück Westeuropa im europäischen Osten geworden sei, neigten die Polen vielfach dazu, in Preußen eine Art Gegenstück zur eigenen politischen Welt zu sehen, einen in jeder Hinsicht ausgeprägten Antipoden. Hier wurden mehr als sonst gesellschaftspolitische Implikationen derkonfessionellen Prägung geltend gemacht: das protestantische Preußen mit seiner überdimensionalen Betonung des Staates als Ordnungs-macht im Unterschied zum katholischen Polen, in dem vor allem die Kirche immer einen Faktor der politischen Integration bildete. Gemessen an der französischen und polnischen Beteiligung schien das Preußen-Interesse in den angelsächsischen Ländern geringer zu sein. Weder in den USA noch in England gab es mehr als begrenzte Aufmerksamkeit für die wissenschaftlichen Publikationen des Preußen-Jahres, gab es tieferes Verständnis für die preußisch gefärbten Identifikationsbemühungen im heutigen Deutschland. Preußen, um es mit Gordon Craig zu sagen, ist in der englischsprechenden Welt kein Thema der aktuellen politischen Diskussion mehr. Demgegenüber ist es genau diese gegenwartsbezogene Suche nach Identität, die in beachtlichen Teilen der jungen Generation der Bundesrepublik Interesse an preußischer Geschichte hervorgerufen hat. Auch wenn die hier gezeigte Bereitschaft, die Berliner Ausstellung zu besuchen, nicht allzu unmittelbar als Ausdruck eines historischen Orientierungsbedürfnisses gewertet werden darf, verlangt doch die Tatsache Aufmerksamkeit, daß mehr als in früheren Jahren nach den geschichtlichen Prägungen unserer Gegenwart gefragt worden ist. Preußen war hier nicht nur ein attraktiver Museumsgegenstand nach dem Motto: Berlin ist eine Reise wert, sondern häufig auch ein Anlaß zur Diskussion über die Fundamente unserer heutigen Existenz. Angehörige der jungen Generation fragten intensiver als bisher, wo Identifikationsmöglichkeiten in der deutschen Geschichte gegeben seien, welche Traditionen oder Hinterlassenschaften eines Staatswesens wie Preußen für deutsches Selbstverständnis heute von Bedeutung seien. Preußen forderte zur Begründung von Standpunkten heraus.

Doch wird man auch diesen Aspekt des Preußen-Interesses nicht überschätzen dürfen. Es gibt andere Punkte, an denen die Suche nach Konturen der Identität mit größerer Deutlichkeit zum Ausdruck kommt. Lind Geschichtsbewußtsein läßt sich auch anders wecken. Wohl aber wird man darauf achten müssen, daß die wieder stärker gewordene Wechselbeziehung von Öffentlichkeit und Fachhistorie die Preußendiskussion überdauert. Es wäre jedenfalls nicht das schlechteste Ergebnis des Preußen-Jahres, wenn die Geschichtswissenschaft den Impuls zur Kommunikation über ihre Fach-grenzen hinaus bewahren würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So in einer Rezension Fontanes von Gustav Freytags . Soll und Haben'von 1855, in: Sämtliche Werke, Bd. 21, 1, S. 225; und sein Brief an Georg Friedlaender vom 5. 4. 1897, in: Briefe an Georg Friedlaender, hrsg. v. Kurt Schreinert, Heidelberg 1954, S. 310.

  2. August Bebel, Aus meinem Leben, 1. Teil, 1. Aufl Berlin 1910, hier zitiert nach der Ausgabe von 1946 (Berlin), S. 145.

  3. Gustav Freytag, Soll und Haben, Roman in sechs Büchern mit einem Nachwort von Hans Mayer, München 1977, S. 330f.

  4. Ernst Niekisch, Entscheidung, Berlin 1930, S. 48.

  5. Alexis de Tocqueville, Oeuvres completes, Bd. II, 1, Paris 1952, S. 269.

  6. Golo Mann, in: Preußen. Porträt einer politischen Kultur, hrsg. v. Hans-Joachim Netzer, München 1968, S. 204.

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Rudolf von Thadden, Dr. phil., geb. 1932; Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1959; Fragen der Kirchenreform (hrsg. m. Harald von Rautenfeld), Göttingen 1964; Restauration und napoleonisches Erbe. Der Verwaltungszentralismus als politisches Problem in Frankreich 1814— 1830, Wiesbaden 1972; Das liberale Defizit in den Traditionen des deutschen Konservatismus und Nationalismus, in: Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen (Hrsg.), Göttingen 1978; Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, München 1981.