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Nationalsozialismus und Preußentum | APuZ 52-53/1981 | bpb.de

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APuZ 52-53/1981 Preußen — Ein Weg in die Moderne? Nationalsozialismus und Preußentum Preußentum und DDR-Sozialismus

Nationalsozialismus und Preußentum

Wolfgang Wippermann

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Nationalsozialisten haben von Anfang an versucht, sich als Erben Preußens und als Verkörperung des Preußentums auszugeben. Auf diese Weise haben sie vor 1933 den inneren Zusammenhalt der Partei und die Anziehungskraft auf . preußisch'gesonnene bürgerliche Kreise erhöht. Die ideologische Adaption des . preußischen Beispiels'hat dann im Dritten Reich zu seiner inneren Festigung beigetragen. Nachdem sich das Kriegsglück von Hitler abgewandt hatte, diente die Berufung auf Preußen im allgemeinen und auf Friedrich den Großen im besonderen als sogenannte Durchhaltepropaganda. Neben den Nationalsozialisten hatten sich jedoch auch die bürgerlichen Parteien und selbst die SPD und KPD der Weimarer Republik auf bestimmte Erscheinungen und Epochen Preußens berufen. Besonders intensiv haben sich einige Mitglieder der bürgerlich-militärischen Kreise des deutschen Widerstandes an dem „wahren Preußen" orientiert. Diese völlig konträre Auslegüng war deshalb möglich, weil der Begriff des Preußentums inhaltlich nie geklärt worden ist und sehr unterschiedliche, ja ambivalente Erscheinungen umfaßte. Je mehr sich nämlich Preußen historisch veränderte und je mehr es in Deutschland aufging, um so mehr wurde das Preußentum verherrlicht und verdammt zugleich. Die Nationalsozialisten haben dann die Janusköpfigkeit Preußens und die Ambivalenz des Preußentums für ihre propagandistischen Zwecke ausnützen können, obwohl es keine stringenten und ungebrochenen Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Preußen und dem Dritten Reich gab und obwohl wesentliche Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht mit der Berufung auf das preußische Beispiel zu legitimieren waren. Dies gilt vor allem für den rassenideologischen Kern des nationalsozialistischen Programms. Dennoch haben viele Deutsche den Nationalsozialisten geglaubt, daß es ihnen um die Verwirklichung des Preußentums ginge. Während also die realhistorischen Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und Preußentum kaum vorhanden sind, gibt es gerade im ideologischen und im sozialpsychologischen Bereich Verbindungslinien zwischen dem nationalsozialistischen und dem . preußischen' autoritären Charakter.

Am 25. Februar 1947 erließen die Alliierten das Kontrollratsgesetz Nr. 46, in dem es heißt: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört"

Der zweite Teil dieses Satzes ist zweifellos richtig. Preußen hat „zu bestehen aufgehört"; es ist tot, und kein Deutscher in West und Ost denkt im Ernst daran, es wieder zum Leben zu erwecken. Doch stimmt auch der erste Teil des Zitats? War Preußen immer und von jeher „Träger des Militarismus und der Reaktion", insbesondere der nationalsozialistischen, der schlimmsten Reaktion in der deutschen Geschichte? Blickt man auf die Aussagen führender Nationalsozialisten, dann wird man diese Frage zweifellos mit Ja beantworten müssen.

I. Preußentum in der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda

Die Nationalsozialisten haben bereits lange vor der sogenannten Machtergreifung nichts unversucht gelassen, um sich als Nachfolger Preußens und als Verkörperung des Preußentums dazustellen Wenn sie auf das Preußentum im allgemeinen und auf Friedrich den Großen im besonderen hinwiesen, dann geschah dies einmal, um die Repräsentanten der Weimarer Republik wie Friedrich Ebert und Gustav Stresemann mit den angeblich . großen Preußen'zu vergleichen und verächtlich zu machen. Der Hinweis auf Friedrich den Großen diente aber auch dem Ziel, die Mitglieder der NSDAP, die in den zwanziger Jahren ja nur eine Splitterpartei darstellte, aufzumun-tern. Das Schicksal Friederichs des Großen zeigte nämlich, so wurde argumentiert, daß es möglich sei, durch Entschlußkraft und Willensstärke über einen überlegenen Gegner zu triumphieren. Im Jahre 1932 waren die Nationalsozialisten diesem Ziele sehr nahe gekommen. Die Weimarer Republik war von den bürgerlichen Parteien weitgehend preisgegeben worden und wurde allein von der SPD verteidigt. Im Bewußtsein des nahen Sieges erklärte Joseph Goebbels bereits im April 1932: „Der Nationalsozialismus darf mit Fug und Recht von sich behaupten, daß er Preußentum sei. Wo immer wir Nationalsozialisten auch stehen, in ganz Deutschland sind wir die Preußen" Im gleichen Jahre — 1932 — hatte der SA-Führer Graf Helldorf Friedrich den Großen gar zum „ersten Nationalsozialisten" ernannt Im Dritten Reich haben die Nationalsozialisten dann wiederholt versucht, sich als die wahren Erben Preußens und als die Verkörperung des Preußentums darzustellen. Dies wurde in vielen Reden, Propagandaveranstaltungen, Bildern und Dokumenten zum Ausdruck gebracht. Auf einer im März 1933 veröffentlichten Postkarte konnte man unter den Bildnissen von Friedrich dem Großen, Bismarck, Hindenburg und Hitler den Satz lesen: „Was der König eroberte, der Fürst formte, der Feldmarschall verteidigte, rettete und einigte der Soldat!"

Uns erscheinen diese Propagandamachenschaften als banal und leicht durchschaubar. Bei den Zeitgenossen, insbesondere im bürgerlichen Lager, ist diese Propagandamasche aber offensichtlich sehr erfolgreich gewesen. Dies gilt vor allem für den berühmten „Tag von Potsdam" am 21. März 1933 Auf Goebbels'Idee hin wurde der am 5. März 1933 gewählte Reichstag mit einem Staatsakt in der Garnisonkirche von Potsdam, in der Friedrich der Große beerdigt war, eröffnet. Der 21. März wurde deshalb gewählt, weil Wilhelm I. genau 62 Jahre vorher — 1871 — den ersten deutschen Reichstag eröffnet hatte. Goebbels war es auch, der die Regie der Feierlichkeiten übernahm, wobei ihm zum ersten Mal auch der staatliche Rundfunk völlig zur Verfügung stand. Die Festansprachen wurden übertragen, preußische Märsche gespielt und verschiedene Gedichte wurden verlesen. In einem von ihnen, geschrieben von einer gewissen Anne-marie Koeppen, heißt es:

„Du bist nicht gestorben, König Fritz.

Du lebst! Und Dein Blick hat uns alle durchglüht, Und all das Große, das jetzt geschieht.

Du gibst unserem Führer den Krückstock zur Hand:

, Da, mach Er mir Ordnung im Preußenland.

Er kann's! Von allen nur Er allein.

Er soll meines Willens Vollstrecker sein!'"

Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Hitler in der Tat „Ordnung gemacht". Die „Reichstagsbrandverordnung" war erlassen worden, die KPD war verboten, ihre Mitglieder wurden verfolgt und in vielen sogenannten . wilden'KZs gefoltert und ermordet. Dies alles hat die in der Potsdamer Garnisonkirche versammelten bürgerlichen Honoratioren und Militärs nicht gestört. Im Gegenteil! Begeistert blickten sie auf die Fahnen der alten preußischen Regimenter, die in der Kirche aufgehängt und mit Lorbeer-kränzen geschmückt worden waren. Ebenso begeistert nahmen sie es zur Kenntnis, daß in der ehemaligen Kaiserloge ein Sessel für den Kaiser freigelassen worden war. Die Feier erreichte ihren Höhepunkt, als der ehemalige preußische Feldmarschall und Ersatzkaiser Hindenburg dem neuen Reichskanzler Hitler ostentativ die Hand reichte.

Die Weimarer Republik war, wie Hermann Göring stolz verkündete, „überwunden" Der „Geist von Potsdam", der Preußengeist, triumphierte. Dies ist damals in vielen deutschen Städten und Dörfern, in denen ähnliche Feiern stattfanden, behauptet worden, überall beteiligten sich auch die Kirchen an dieser Versöhnung und Vereinigung von Nationalsozialismus, Preußentum und, was häufig betont wurde, Protestantismus.

Fast alle Deutschen schienen begeistert zu sein; auch Männer, die später zum Widerstand stoßen sollten. Die vielen Insassen der Zuchthäuser und KZs wurden eben nicht befragt. Daher mußte die sozialdemokratische „Saarbrücker Volkszeitung", die im Saargebiet erschien, das damals nicht zum Deutschen Reich gehörte, resignierend in einem Gedicht feststellen: „Nun haben sie reichlich . gefeiert'.

Und sich dabei unserer Not nicht geschämt — Sie haben potsdämlich geleiert Und die Hälfte der Deutschen verfemt... Der Michel ist halt nicht zu retten.

Er leckt halt gern Götzen die Schuh.

Er trägt gern klirrende Ketten, Und brüllt auch noch , hurra'dazu."

Am 1. September 1939 brüllten die Deutschen schon etwas leiser „hurra". Der Zweite Welt-krieg hatte begonnen. In seiner Reichtstagsrede, in der er der Welt den bereits erfolgten Überfall auf Polen verkündete, erklärte Hitler: „Wenn irgendjemand aber meint, daß wir vielleicht einer schweren Zeit entgegengehen, so möchte ich bitten, zu bedenken, daß einst ein Preußenkönig mit einem lächerlich kleinen Staat einer der größten Koalitionen gegen-übertrat und in drei Kämpfen am Ende doch erfolgreich bestand, weil er jenes gläubig starke Herz besaß, das auch wir in dieser Zeit benötigen"

Die Berufung auf das Herz Friedrichs des Großen und auf das . preußische Beispiel'schlechthin zieht sich dann wie ein roter Faden durch die nationalsozialistische Kriegspropaganda. Wiederholt wurde das Ausland gewarnt, nicht wie 1918 mit einer deutschen Kapitulation zu rechnen, weil man, wie es Hitler ausdrückte, im Dritten Reich ein „friderizianisches Deutschland" vor sich habe Nach der Zerschlagung Polens und der Okkupation Norwegens und Dänemarks erklärte Hitler jedoch in einem Anflug von . Bescheidenheit', daß seine . Erfolge'im Vergleich zu denen Friedrichs des Großen noch klein seien. Unter Hinweis auf das Bild Friedrichs des Großen, das immer in seinem Arbeitszimmer hing, sagte Hitler zu Rosenberg: „Er (gemeint ist Friedrich der Große) verfügte ja nicht über die Machtmittel, die heute in unserer Hand sind" In den folgenden Jahren hat Hitler wiederholt darauf hingewiesen, daß Friedrich dem Großen im Siebenjährigen Krieg mit seinen 3, 7 Millionen Preußen eine Koalition von 50 Millionen Menschen gegenübergestanden habe. Daher habe man im nationalsozialistischen Deutschland kein Recht, Vergleiche mit der frideriziani-sehen Zeit zu ziehen, denn: „Wir haben die stärkste Armee der Welt. Wir haben die stärkste Luftwaffe der Welt. Friedrich der Große mußte gegen eine Übermacht kämpfen, die geradezu erdrückend war."

Nachdem eine dieser „stärksten Armeen der Welt“, die 6. nämlich, in Stalingrad kapituliert hatte, griffen die Nationalsozialisten dann in zunehmendem Maße auf das Beispiel Friedrichs des Großen zurück. Am 18. Februar 1943 wandte sich Goebbels im Berliner Sportpalast mit der Suggestivfrage an seine Zuhörer, ob sie bereit seien, „es ihm (gemeint war Friedrich der Große), wenn die Stunde es einmal gebieten sollte, gleichzutun?" Dies wurde ebenso begeistert bejaht wie die gleichzeitig gestellte Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?" Je totaler der Krieg und je auswegloser die Situation für die Nazis wurde, um so mehr klammerte man sich an das historische Vorbild Friedrichs des Großen, der ja schließlich auch eine ausweglos scheinende Situation gemeistert hätte. Die nationalsozialistische Propaganda hämmerte der Bevölkerung ein, daß die nun eingetretene sogenannte „friderizianische Krise“ durch ein „Wunder oder durch eine höhere Schicksalsfügung", wie sich Goebbels ausdrückte überwunden werden könnte. Dabei dachte man offensichtlich an den Tod der russischen Zarin Elisabeth im Jahre 1762, der damals zum unerwarteten Ausscheren Rußlands aus der antipreußischen Koalition und zum erfolgreichen Abschluß des Siebenjährigen Krieges, der eigentlich schon verloren war, geführt hatte. Die Berufung auf Preußen und das Preußentum wurden jetzt zur Durchhaltepropaganda. Schließlich glaubten die Nationalsozialisten selber an ihre eigene Propaganda. Als am 13. April 1945 im Berliner Führerbunker die Nachricht eintraf, daß Präsident Roosevelt gestorben war, soll Goebbels nach dem Zeugnis von Albert Speer „wie besessen" auf Hitler zugegangen sein und erklärt haben: „Hier haben wir das große Wunder, das ich vorhergesagt habe... Der Krieg ist nicht verloren" Wir haben also gesehen, daß sich führende Nationalsozialisten vom Anfang bis zum Ende ständig auf das . preußische Beispiel'berufen haben. Sind Nationalsozialismus und Preußentum daher gleichzusetzen?

II. Preußentum in der Ideologie und Propaganda der Konkurrenten und Gegner des Nationalsozialismus

Gegen die in West und Ost weitverbreitete Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Preußentum spricht einmal die Tatsache, daß sich auch die bürgerlichen Konkurrenten und späteren Verbündeten der NSDAP in ihrer Ideologie und Propaganda auf Preußen und das Preußentum berufen haben. Gestalten der preußischen Geschichte wie Friedrich der Große, Königin Luise, Blücher, Bismarck usw. erscheinen in der Wahlwerbung der konservativen DNVP, der rechtsliberalen DVP und selbst der linksliberalen DDP ebenso häufig wie glückliche Familien in den Wahlspots heutiger Parteien

Auch die SPD hat keineswegs immer und keineswegs grundsätzlich Preußen und das Preußentum abgelehnt. Obwohl die Sozialdemokraten im Kaiserreich zusammen mit den Juden und den nationalen Minderheiten — den Polen, Elsässern und Dänen — zu den „Reichsfeinden“ gezählt und verfolgt worden waren, haben sie 1918 darauf verzichtet, den preußischen Staat zu zerschlagen. Statt dessen haben sie einen Neuaufbau Preußens im demokratischen Geist angestrebt. Diese Bestrebungen waren nicht gänzlich erfolglos. Der preußische Teilstaat, der zwei Drittel des damaligen Reichsgebietes und drei Fünftel der Reichsbevölkerung stellte, wurde in der Zeit der Weimarer Republik mit nur kurzen Unterbrechungen von einer Koalition regiert, die aus den demokratischen Parteien SPD, Zentrum und DDP gebildet wurde. Ministerpräsident war zwölf Jahre lang der Sozialdemokrat Otto Braun. In diesem „rot-schwarzen“ Preußen wurden die verfassungsfeindlichen Parteien auf der Linken und Rechten weitaus schärfer behandelt als im übrigen Reichsgebiet. Mitglieder der KPD und der NSDAP durften in Preußen nicht Beamte werden. Einige hohe Polizeioffiziere und Regierungspräsidenten wurden durch überzeugte Demokraten ersetzt Daher war es durchaus ernst gemeint, wenn der sozialdemokratische Oberpräsident der Provinz Hannover, Gustav Noske, sich rühmte, „jede Garantie dafür übernehmen zu können ..., daß eine ernste Erschütterung der stattlichen Ordnung ... abgewendet würde, wenn irgendwelche radikalen Gruppen den Versuch machen sollten, sie zu stören“

Dies waren große Worte, denen jedoch leider keine Taten folgten. Der Aufstieg der NSDAP wurde nicht verhindert, und viele traditionell antidemokratische Beamten wurden nicht entlassen. Am 20. Juli 1932 ließ sich gar die sozialdemokratische Regierung Braun vom damaligen Reichskanzler von Papen absetzen. Papen dokumentierte damit, daß es auch im scheinbar demokratischen Preußen nach wie vor genügte, den berühmt-berüchtigten . Leutnant und zehn Mann'zu senden, um das parlamentarische System aufzulösen. Die von vielen Sozialdemokraten so gefeierte „demokratische Sendung Preußens“ erwies sich in der Stunde der Bewährung als Illusion.

Interessanterweise hat sich auch die KPD in ihrer Propaganda an bestimmten Phasen der preußischen Geschichte orientiert. Schon 1923 feierten sich die Kommunisten als „Fahnenträger des nationalen Befreiungskampfes in Deutschland", wobei sie ausdrücklich auf das historische Vorbild der preußischen Befreiungskriege von 1813 hinwiesen Die KPD, die sich ähnlich wie die bürgerlichen Parteien ständig gegen den „Versailler Versklavungsfrieden“ gewandt hatte, weil er zu einem „Ausverkauf Deutschlands" geführt habe verkündete 1930 ein „Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Vol-kes" Die Kommunisten versprachen, „das Problem der Ostgrenze im brüderlichen Einverständnis mit den Arbeitern und Bauern Polens zu lösen" Selbst nach der Machtergreifung Hitlers hat die KPD gefordert, daß die ehemals preußischen Ostprovinzen, die an Polen gefallen waren, wieder an das Reich zurückzugeben seien. Damit war vor allem der sogenannte „Korridor" zwischen Ostpreußen und dem Reich gemeint

Dieser nationalistische Kurs ist nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Jahre 1941 wieder aufgenommen worden. Kommunistische Propagandisten versuchten, gefangene deutsche Offiziere und Soldaten für den Kampf auf der Seite der Sowjetunion zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurde das „Nationalkomitee Freies Deutschland" gegründet, das die Farben des Bismarck-Reiches, schwarz-weiß-rot, übernahm Besonders häufig verwies man in diesem Zusammenhang auf die Konvention von Tauroggen von 1812, als sich der preußische General Yorck von Napoleon losgesagt und Rußland angeschlossen hatte.

In den Kreisen des bürgerlich-militärischen Widerstandes hat man besonders häufig und besonders intensiv an die preußische Tradition erinnert. Viele Offiziere, die zunächst im Nationalsozialismus die Verkörperung des Preußentums gesehen hatten, erkannten nun, daß der Nationalsozialismus in Wirklichkeit den Bruch mit allen preußischen Traditionen bedeutete. Viele Männer des 20. Juli 1944 haben ihren Entschluß zum Widerstand mit der Berufung auf das „wahre Preußentum" begründet. Henning von Tresckow erklärte, daß „vom wahren Preußentum ...der Begriff Freiheit niemals zu trennen" sei. Nur in der „Synthese zwischen Bindung und Freiheit" liege die „deutsche und europäische Aufgabe des Preußentums, liegt der . preußische Traum'"

Die Verwirklichung dieses „preußischen Traumes" war nach dem Selbstverständnis vieler dieser preußischen Widerstandskämpfer nicht identisch mit der Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie. Dies darf bei aller Anerkennung für den Mut und die Einsatzbereitschaft der Männer vom 20. Juli nicht vergessen werden. Viele von ihnen strebten keinen demokratischen, sondern einen . preußischen Staat'an, was immer man darunter und unter dem Begriff „wahres Preußentum" auch verstehen wollte

Genau dies ist das entscheidende Problem. Wenn, wie wir gesehen haben, Anhänger und Gegner des Nationalsozialismus sich zu Preußen und zu diesem Preußentum bekannt haben, dann verstanden beide unter Preußen und Preußentum offenbar etwas völlig anderes. Die Beantwortung der generellen Frage, ob der Nationalsozialismus mit dem Preußentum identisch war, hängt also entscheidend davon ab, was man unter Preußentum verstehen will. Eine Definition dieses inhaltlich nie geklärten Begriffes scheint, nur auf historischem Wege möglich zu sein. Worin, so ist zu fragen, hat sich der preußische Staat von anderen unterschieden? Welche seiner Eigenschaften waren spezifisch und ausschließlich preußisch?

III. Was ist Preußentum?

Das Besondere an dem 1701 entstandenen Königreich Preußen war seine geographische Lage. Der preußische Staat verfügte im 18. Jahrhundert sowohl im Westen Deutschlands, am Niederrhein, wie im Osten an Weichsel und Memel über Besitztümer, die nicht miteinander verbunden waren. Im Königreich Preußen lebten Brandenburger, Ostpreußen, Pommern und Rheinländer, die keine gemeinsame Tradition hatten, die unterschiedliche Dialekte sprachen und die sogar unterschiedlichen Konfessionen angehörten. Preußen war ein Staat ohne Staatsvolk und ohne Staatstradition.

Der preußische Staat mit seinen zwischen West-und Ostdeutschland zerstreuten Territorien war nur mit Hilfe einer starken Armee zu verteidigen. Sie wurde bekanntlich vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. aufgebaut, um dann von Friedrich II. eingesetzt zu werden, der skrupellos, aber erfolgreich danach strebte, die preußischen Länder zu arrondieren und abzurunden. Um eine solche Armee unterhalten und um solche Kriege führen zu können, bedurfte es eines effektiven Verwaltungs-und Wirtschaftssystems. Dies war wiederum ohne eine gewisse Rechtsgleichheit der Bewohner und einen Abbau ständischer Vorrechte des bis dahin noch sehr rebellischen brandenburgischen und preußischen Adels nicht möglich.

Sieht man genauer hin, so unterschied sich das Preußen des 18. Jahrhunderts mit seiner nüchtern-pragmatischen Politik im Inneren und im Äußeren keineswegs so grundsätzlich von seinen europäischen Nachbarn — von England, Schweden und Polen einmal abgesehen —, wie dies von späteren Anklägern und Verteidigern des Preußentums immer behauptet worden ist. Sicherlich war das friderizianische Preußen, wie bereits die Zeitgenossen spotteten, eher eine Armee mit einem Land als ein Land mit einer Armee -Sicherlich fand schon im 18. Jahrhundert im Zuge der Kompanie-und Gutswirtschaft eine Militarisierung im politischen und gesellschaftlichen Leben statt Sicherlich gab es auch die so gerühmte Toleranz gerade in religiösen Dingen, die dazu führte, daß Preußen vor den Vereinigten Staaten das klassische Einwanderungsland war.

Dennoch waren dies nicht spezifisch und vor allen Dingen nicht ausschließlich preußische Züge. Starke und disziplinierte Armeen findet man auch in anderen Ländern, obwohl in Preußen immerhin 3, 4% der Gesamtbevölkerung zum Militär gehörte. Elemente einer gewissen Toleranz hat es auch in anderen Staaten in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus gegeben. Österreich sei hier nur als Beispiel genannt. Selbst die ostelbischen Gutsbesitzer, die die eigentliche soziale Basis des preußischen Staates bildeten, unterschieden sich in ihrer sozialen Stellung und politischen Macht im 18. Jahrhundert noch nicht so wesentlich von den englischen und französischen Großgrundbesitzern

Das Besondere und Spezifische des preußischen Maschinenstaates, wie er bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert genannt wurde lag in seiner Traditionslosigkeit und Modernität. Nach dem Tode Friedrichs des Großen wurden jedoch bestimmte Züge seiner damals relativ modernen Regierungs-und Verwaltungspraxis als Wert an sich, als typisch preußisch — kurz als Verkörperung des Preußentums — gefeiert. Dem so nüchtern und pragmatisch denkenden und handelnden Friedrich dem Großen wäre eine derartige Glorifizierung eines spezifischen Preußentums völlig unverständlich gewesen. Der Begriff selber ist von ihm nie benutzt worden. Die posthume Verherrlichung, ja Ideologisierung des frideri-zianischen Preußens als Inbegriff eines Preußentums führte nun dazu, daß man sich ängstlich davor hütete, irgend etwas an dem von Friedrich dem Großen geschaffenen System zu ändern. Das einstmals relativ moderne, wandlungs-und anpassungsfähige Preußen erstarrte und wurde gleichzeitig als Preußentum ideologisiert. 1806 zeigte sich dann dieses alte und verknöcherte Preußen in militärischer und politischer Hinsicht den Armeen Napoleons nicht gewachsen. Preußen brach innerhalb von wenigen Wochen zusammen. Die preußischen Reformer Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Gneisenau usw. zogen dann die Lehren aus der Niederlage und legten den Grundstein für den Wiederaufstieg des neuen Preußens. Ihre Leistungen, die nicht im einzelnen aufgeführt werden können, sind unbestritten. Dennoch muß betont werden, daß es sich hier um Reformen handelte, durch welche die Grundstrukturen und Grundprobleme des preußischen Staates, nicht verändert wurden. Die preußische „Revolution von oben" wie sie von Friedrich Engels und vielen anderen Zeitgenossen genannt wurde, war eben kein Ersatz für eine wirkliche, bürgerliche Revolution , von unten'. Hinzu kam, daß die preußischen Reformen nicht fortgeführt wurden. Die soziale und politische Machtstellung des ostelbischen Junkertums wurde nicht angetastet. Das Bündnis, ja die Priorität von Thron über Altar blieb erhalten, aus der Kirche der Altpreußischen Union entwickelte sich kein Gegengewicht gegen den preußischen Militärstaat Aus dem Preußen der Reformen wurde das Preußen der Reaktionszeit.

Dennoch wurde auch das Preußen der Reformen im nachhinein ideologisiert. Diese Ideologie des Preußentums zeigt sich an dem bekannten Ausspruch Bismarcks, wonach in Preußen die Könige die Revolution machen. Der Glaube an die Allmacht und Wirksamkeit eines angeblich reformierenden, in Wirklich-keit aber reaktionären preußischen Staates wurde deshalb zur Ideologie, weil eine grundlegende Modernisierung Preußens im Gehäuse des halbabsolutistischen Obrigkeitsstaates nicht möglich war. Die immanenten Spannungen und Konflikte im politischen und gesellschaftlichen Bereich, die im Zuge der Industrialisierung der westlichen Gebiete Preußens noch verstärkt wurden, wurden nur verschleiert, aber nicht beseitigt. Die modernen Züge im organisatorisch-technischen Bereich wurden mehr und mehr durch die antimodernen Elemente konterkariert und verdrängt

Das durch die Reformen von 1813 verjüngte, dann jedoch wieder erstarrte Preußen des 19. Jahrhunderts ging zwar nicht wie das ebenfalls zunächst moderne, dann verknöcherte fri-derizianische Preußen des 18. Jahrhunderts unter, dafür ging es aber, gewollt oder nicht gewollt, in Deutschland auf. Preußen übernahm die negativen Züge des deutschen Nationalismus, um gleichzeitig die positiven des Preußentums abzulegen. Wenn sich das im Grunde traditionslose Preußen als Verkörperung und Vorkämpfer des deutschen Nationalismus feierte und feiern ließ, so hatte es mit dieser Ideologie von seiner angeblichen deutschen Sendung die berühmten Geister gerufen, die es wie der Zauberlehrling nun nicht mehr loswerden sollte. Das Streben nach der nationalen Einheit Deutschlands bedrohte die Existenz Preußens in doppelter Hinsicht: Einmal war das germanisierte Preußen nicht mehr fähig und bereit, seine polnische Minderheit als preußische Staatsbürger zu integrieren, denn wenn diese Polen schon keine Preußen sein wollten, so wollten sie noch weniger zu Deutschen werden Andererseits war die Schaffung eines deutschen Nationalstaates nur dann möglich, wenn dieses Preußen, das eben keine eigene Tradition und keine eigene Staatsnation besaß, in diesem neuen Deutschland aufging. Das Deutsche Reich von 1871 war, je nach dem Blickwinkel des Betrachters, ein kleindeutsches oder ein großpreußisches Reich. Obwohl die Nationalisierung der Deutschen im Bismarck-Reich im guten wie im bösen voran-schritt, blieb dieser preußisch-deutsche Zwit-tercharakter bis 1918, ja bis in die Weimarer Republik hinein erhalten. Die Überwindung dieses Dualismus fand erst im faschistischen „Großdeutschland" statt. Die fatalen Folgen sind bekannt. Diese Folgen waren aber weder vorhersehbar noch zwangsläufig.

IV. Preußen und das Dritte Reich: Kontinuität oder Kontinuitätsbruch?

Es gibt keine ungebrochene Kontinuitätslinie, die von Friedrich dem Großen über Bismarck und Wilhelm II. zu Hitler reicht Preußen und Nationalsozialismus miteinander zu identifizieren ist schon deshalb nicht möglich, weil es nicht das, sondern, wie wir gesehen haben, mehrere Preußen gegeben hat. Das friderizianische ist von dem nachfriderizianischen, das Preußen der Reformen ist von dem Preußen der Reaktionszeit zu differenzieren. Das klein-deutsche oder großpreußische Reich unter Bismarck unterschied sich wiederum von dem Deutschland Wilhelms II. Der . Erfolg'des Nationalsozialismus ist jedoch ohne spezifisch preußisch-deutsche Voraussetzungen nicht vorstellbar. Allerdings waren diese nur einige der Faktoren , die den Aufstieg und die Machtergreifung der NSDAP begünstigten. Hinzu kam u. a. die Bereitschaft führender Kreise der Industrie und der Landwirtschaft, die faschistische Partei finanziell und politisch zu unterstützen, um sie dann in Form eines Bündnisses an die Macht zu bringen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine bloße Machtübertragung. Die nationalsozialistische Massenpartei stellte einen eigenständigen politischen Machtfaktor dar. Es war ihr gelungen, große Teile des in der Weltwirtschaftskrise verarmten Mittelstandes zu gewinnen. Dies gelang dank der Überzeugungskraft der Person Hitlers und der Anziehungskraft der nationalsozialistischen Weltanschauung und Propaganda. Die Wirkung der nationalsozialistischen Ideologie war aber auch deshalb so groß, weil die nationalsozialistischen Propagandisten sich häufig und sehr geschickt auf die Traditionen und Ideologien des Preußentums berufen haben.

So problematisch also die realhistorischen Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und Preußen anzusehen sind, so eng scheinen die ideologiegeschichtlichen Verbindungen zwischen dem Preußentum und der nationalsozialistischen Weltanschaung zu sein.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Zahl und Bedeutung der Ideologien des Preußentums geradezu in einer geometrischen Progression gewachsen, während die realgeschichtliche Bedeutung Preußens, das immer mehr in Deutschland aufging, geringer geworden war. Als spezifisch preußisch wurde (und wird z. T. bis heute) vieles erklärt, um dann entweder glorifiziert oder dämonisiert zu werden. Dies gilt zunächst einmal für den Militarismus, der als spezifisch preußisch gefeiert und verurteilt wurde, obwohl es sich hier eben um einen Ismus, nämlich um ein allgemeines, keineswegs allein auf Preußen zu beziehendes Merkmal eines Staates handelt. Eng mit der Verehrung oder Verdammung des Militarismus ist auch die Verherrlichung und Verurteilung des angeblich typisch preußischen Autoritarismus und Despotismus verbunden. Man tut gerade so, als ob es autoritäre Regime nur in Preußen gegeben habe!

Während nun einige Ideologen die militärische Kraft und Tüchtigkeit sowie den Führer-gedanken als Verkörperung des Preußentums feierten, erklärten andere Tugenden wie Fleiß, Ordnungsliebe, Disziplin, Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Gehorsam zu spezifisch und ausschließlich preußischen Eigenschaften. Dabei handelt es sich um Tugenden und Eigenschaften, die zwar schon in der Bibel und von den antiken Stoikern vorgeschrieben und gelobt worden sind, die man jedoch für jede — gute und böse, demokratische und antidemokratische — Zwecke beanspruchen kann. Hinzu kommt, daß es sich keineswegs ausschließlich und spezifisch um preußische Eigenschaften handelt. Sind nur Preußen fleißig, ordentlich, pünktlich, sauber usw.?

Der Witz bei diesen, wie ich sie nennen möchte, . trivialen Ideologien des Preußentums’ ist nun, daß es sich hierbei noch nicht einmal um nationale Stereotypen handelt, denn eine preußische Nation hat es nie gegeben. Es gab und gibt noch nicht einmal eine preußische Küche und preußische Nationalgerichte.

Gerade weil nun die verschiedenen Ideologien des Preußentums so unbestimmt und deshalb so instrumentalisierbar waren, konnten sie in die ebenfalls widersprüchliche und in vielen Punkten einfach unklare nationalsozialistische Weltanschauung aufgenommen werden. Die Janusköpfigkeit Preußens und die Ambivalenz des Preußentums machten diese ideologische Adaption möglich.

Dennoch hätte aufmerksamen Lesern von Hitlers „Mein Kampf" auffalen müssen, daß es Hitler ja gar nicht nur um Preußen ging. Doch wer hat dieses merkwürdige Buch damals gelesen und ernst genommen? Hitler bezeichnete hier die „Geschichte als die geeignetste Lehrmeisterin für unser eigenes politischen Handeln" und nannte in diesem Zusammenhang drei Epochen innerhalb der deutschen Geschichte, die als besonders beispielhaft und lehrreich für die Gegenwart gelten könnten: „Erstens: Die hauptsächlich von Bajuwaren betätigte Kolonisation der Ostmark, zweitens: Die Erwerbung und Durchdringung des Gebietes östlich der Elbe und drittens: Die von Hohen-zollern betätigte Organisation des brandenburgisch-preußischen Staates als Vorbild und Kristallisationskern eines neuen Reiches."

Hitler hat sich an dieser programmatischen Stelle also keineswegs ausschließlich auf Preußen berufen. Die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung und, wie es im folgenden dann heißt, der Ordensstaat im späteren Ostpreußen und im Baltikum galten ebenfalls als vorbildlich und beispielhaft. Diese historischen Erscheinungen hatten jedoch mit Preußen nichts zu tun. Innerhalb der nationalsozialistischen Propaganda wurden bekanntlich ferner noch das mittelalterliche deutsche Reich und die germanische Vorzeit gefeiert. All dies war genauso wenig mit dem historischen Preußen und dem Preußentun zu verbinden wie die rassenideologischen Zielsetzungen der Nationalsozialisten, die im Mittelpunkt ihres Programmes standen. Die utopisch-reaktionäre und dann mit barbarisch-bürokratischer Konsequenz und Gründlichkeit verwirklichte Zielsetzung einer . Neuordnung’ der Welt, wobei die als gut angesehene germanische Rasse über slawische Völker herrschen sollte, während die sogenannte „jüdische Weltpest" zu vernichten sei — dieser Kernpunkt des nationalsozialistischen Programms war in keiner Weise durch die Berufung auf das . preußische Beispiel’ zu rechtfertigen. In ihrem rassenideologischen Kern war die nationalsozialistische Weltanschauung nicht historisch, sondern ahistorisch-biologistisch geprägt Um diesen . Kern’ gruppierten sich dann verschiedene andere Ideologeme. Dies gilt für den Antimarxismus und den gleichzeitigen, merkwürdig verschwommenen Antikapitalismus, den Nationalismus und Antidemokratismus und — nicht zuletzt — für den Antisemitismus.

Das . preußische Beispiel’, die Ideologie des Preußentums, hatte also innerhalb der natio-

nalsozialistischen Weltanschauung nur eine sekundäre Bedeutung. Dennoch war die nationalsozialistische Adaption des Preußentums, historisch gesehen, ungeheuer wirkungsvoll. Warum? Wie kann man diesen Widerspruch erklären? Warum haben so viele Deutsche den Nazis so lange geglaubt, daß es ihnen um eine Verwirklichung des Preußentums ging? Hatte man vergessen, daß es kein anderer als Goebbels war, der noch 1932 das Wesen des Preußentums mit folgenden Worten beschrieben hatte: „Das Volk ist nicht für die Organe des Staates, die Organe des Staates sind für das Volk da ... Die Justiz ist eine Pflegestätte der Gerechtigkeit. Sie hat sich freizuhalten von parteipolitischen Einflüssen und muß unbe-rirrbar urteilen gegen Hoch und Niedrig..."

Im angeblich . preußischen'Dritten Reich war das Volk für den Führer da, nicht umgekehrt; war die Justiz von einer „Pflanzstätte der Gerechtigkeit" zu einem furchtbaren Hilfsorgan des nationalsozialistischen Terrorregimes geworden. Im angeblich . preußischen'Dritten Reich war das Eingangstor des KZ Buchenwald mit dem Wahlspruch des preußischen Schwarzen Adlerordens . Jedem das Seine!" geziert. Eine zynischere Pervertierung, ja Umkehrung der altpreußischen Ideale läßt sich nicht vorstellen!

All dies wußte man, oder hätte es wissen können. Dennoch haben so viele Deutsche geschwiegen, gehorcht und ihre Pflicht getan.

Schließlich hatte man in Elternhaus und Schule nichts anderes gelernt. Gehorsam, Pflichterfüllung, Ordnung — dies waren ja preußische Tugenden, die als Wert an sich angesehen und nicht . hinterfragt'wurden.

In diesem trivialen, ja privaten Bereich liegen denn wohl auch die engsten und tiefsten Beziehungen zwischen Preußentum und Nationalsozialismus. Wenn die internationale Erscheinung des Faschismus gerade in Deutschland so erfolgreich und folgenreich werden konnte, dann hatte dies seine Ursache mit darin, daß hier die Anfälligkeit im sozialpsychologischen Bereich besonders groß war. Gemeint ist der von Horkheimer und Adorno beschriebene „autoritäre Charakter" den man natürlich auch in anderen Ländern antreffen kann, der jedoch gerade in Preußen-Deutschland durch die geschilderten trivialen Ideologien und Erziehungsideale des Preußentums so geformt und geprägt worden ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Amtsblatt des Alliierten Kontrollrats in Deutschland Nr. 14 v. 31. 3. 1947.

  2. Eine sehr scharfsinnige Kritik dieser Propaganda-machenschaften findet man bereits bei Werner Hegemann, Entlarvte Geschichte, Leipzig 1933. Während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ist die These von der Kontinuität, ja Identität von Preußentum und Nationalsozialismus innerhalb der deutschen, angloamerikanischen, sowjetischen und polnischen Forschung übernommen worden, wobei nur das wertende Vorzeichen ins Gegenteil verkehrt wurde. Vgl. dazu: Wolfgang Wippermann, „Deutsche Katastrophe“ oder „Diktatur des Finanzkapitals"? Zur Interpretationsgeschichte des Dritten Reiches im Nachkriegsdeutschland, in: Horst Denkler/Karl Prümm (Hrsg.), Die deutsche Literatur im Dritten Reich, Stuttgart 1976, S. 9— 43. Die Frage nach den Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und Preußentum ist seit den sechziger Jahren gerade in dieser Zeitschrift häufiger diskutiert worden. Vgl. vor allem: Eberhard Kessel, Adolf Hitler und der Verrat am Preußentum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/61, S. 649— 661, bes. S. 660 ff.; Manfred Schlenke, Das «Preußische Beispiel'in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/68, S. 15— 23-, Johannes Rogalla von Biberstein, Preußen und Preußentum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/80, S. 26— 38. Zum folgenden bes.: Konrad Barthel, Friedrich der Große in Hitlers Geschichtsbild, Wiesbaden 1977; Manfred Schlenke, Nationalsozialismus und Preu-Ben/Preußentum. Bericht über ein Forschungsprojekt, in: Otto Büsch (Hrsg.), Das Preußenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions, Berlin 1981, S. 247— 264.

  3. Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen, Oldenburg i. O. 1933, S. 64.

  4. Zit. nach Hegemann (s. Anm. 2), S. 114.

  5. Zit. nach Schlenke, Nationalsozialismus und Preußen/Preußentum (s. Anm. 2), S. 252.

  6. Dazu vor allem Schlenke, Das „preußische Beispiel" (s. Anm. 2), S. 17 ff. Materialreich ist die Propagandaschrift von: Hans Hupfeld (Hrsg.), Reichstags-Eröffnungsfeier in Potsdam. Das Erlebnis des 21. März in Wort und Bild, Potsdam 1933.

  7. Zit. nach Schlenke, Nationalsozialismus und Preußen/Preußentum (s. Anm. 2) S. 260 f.

  8. Rede Görings in: Ursachen und Folgen, Bd. 9, Berlin 1964, S. 122— 124.

  9. Zit. nach Schlenke, ’ Nationalsozialismus und Preußen/Preußentum (s. Anm. 2), S. 262.

  10. Zit. nach Schlenke, Das „preußische Beispiel (s. Anm. 2), S. 22.

  11. Hitler in Danzig am 19. 9. 1939, zit. nach Barthel, Friedrich der Große in Hitlers Geschichtsbild (s. Anm. 2), S. 16.

  12. Hitler zu Rosenberg am 20. 4. 1940, zit. nach: Barthel, Friedrich der Große in Hitlers Geschichtsbild (s. Anm. 2), S. 16.

  13. Hitler am 30. 1. 1942 im Berliner Sportpalast, zit nach: ebd., S. 17.

  14. Goebbels in einer Rede vor Offizieren im Juli 1943, zit. nach: ebd., S. 20.

  15. Goebbels am 13. April 1945, zit. nach: ebd.,

  16. Einige Beispiele wurden in der Berliner Preußenausstellung gezeigt

  17. Akten des Oberpräsidiums Hannover im Staatsarchiv Hannover Des 122a XI Nr. 79 u. 80, zit. nach: Wolfgang Wippermann, Aufstieg und Machtergreifung der NSDÄP in Bremerhaven-Wesermünde, in: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 57, 1978, S. 165— 199, S. 188. Zur Politik der SPD im Preußen der Weimarer Republik mit weiteren Literaturhinweisen: Horst Möller, Das demokratische Preußen, in: Büsch (Hrsg.), Das Preußenbild (s. Anm. 2), S. 230— 245.

  18. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt/M. — Berlin — Wien

  19. Resolution der Kommunistischen Internationale vom 13. Mai 1923, in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII, 2, Berlin 1966, S. 306f.

  20. So etwa auf dem VIII. Parteitag der KPD vom 28. Januar bis 1. Februar 1923 in Leipzig, zit. nach: Dokumente und Materialien VII, 2 (s. Anm. 20) S. 241.

  21. Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes, in: Inpre-korr 10, 1930, S. 1755— 1757.

  22. Erklärung der Redaktion der „Internationale" zur Reichstagswahl vom 21. Juli 1930, in: Dokumente und Materialien, Bd. VIII, S. 393.

  23. Zit. nach: Bodo Scheurig, Henning von Tresckow, Oldenburg 1973, S. 147. Vgl. auch: Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967.

  24. Dazu vor allem: Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: Walter Schmitthenner/Hans Buchheim (Hrsg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Köln/Berlin 1966, S. 73— 168.

  25. Eine, den moderneren Forschungsstand zusammenfassende, Gesamtdarstellung der preußischen Geschichte fehlt bisher. Heranzuziehen ist immer noch: Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, Berlin 1915. Vgl. ferner die konservativ orientierten Arbeiten von: Richard Dietrich, Kleine Geschichte Preußens, Berlin 1976; sowie: Hans-Joachim Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 1966. Aus der Sicht der DDR: Günter Vogler/Klaus Vetter, Preußen. Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, 2. Aufl., Berlin 1973. Sehr wichtig sind die Sammelbände von: Büsch (Hrsg.), Das Preußenbild in der Geschichte (s. Anm. 2), Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, Dirk Blasius (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte, Königstein 1980. Nach Fertigstellung des Manuskriptes erschienen: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Moderne Preußische Geschichte. Eine Anthologie, Bd.

  26. Dieser Ausspruch wird häufig fälschlich Mirabeau zugeschrieben. Vgl. dazu: Christian Graf von Krockow, Warnung vor Preußen, Berlin 1981, S. 105.

  27. Vgl. dazu vor allem: Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen, 1713— 1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962.

  28. Vgl. zu dieser Problematik, die hier nur angedeutet werden kann, besonders: Hannah Schissler, Die Junker. Zur Sozialgeschichte und historischen Bedeutung der agrarischen Elite in Preußen, in: Puhle/Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick (s. Anm. 28), S. 89— 122.

  29. Dieser Vergleich taucht bereits in der Denkschrift über die Verwaltung Südpreußens während der ersten Amtsperiode des Ministers von Voss (September 1794) auf. Zit. nach: Walther Hubatsch (Hrsg.), Urkunden und Akten zur Geschichte der preußischen Verwaltung in Südpreußen und Neu-ostpreußen 1793— 1806, Frankfurt/Bonn 1961, S. 61— 79.

  30. Dazu besonders: Rudolf von Thadden, Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, München 1981, S. 108 ff.

  31. Zur Kontinuitätsproblematik mit weiteren Literaturhinweisen: Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, 4. Aufl., Darmstadt 1980, S. 104 ff.

  32. Dazu vor allem: Martin Greiffenhagen, Die Aktualität Preußens. Fragen an die Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1981.

  33. Wolfgang Wippermann, Ideologien des Preußentums, in: Mitteilungen der Gesellschaft der Freunde der Universität Mannheim 30, 1981, S. 20— 35.

  34. Adolf Hitler, Mein Kampf. 2 Bände in einem Band, ungek. Ausgabe, 29. Aufl., München 1933, S. 742.

  35. Wolfgang Wippermann, Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik, Berlin 1979, S. 253 ff.; ders., Der .deutsche Drang nach Osten’. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981, S. 104 ff.

  36. Zit. nach: Schlenke, Nationalsozialismus und Preußen/Preußentum (s. Anm. 2), S. 248.

  37. Max Horkheimer/Samuel H. Flowerman (Hrsg.), Studies in Prejudice, New York 1950.

Weitere Inhalte

Wolfgang Wippermann, Dr. phil., geb. 1945; Assistenzprofessor und Privatdozent für Neuere Geschichte am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, Darmstadt 1972, 1980*; Faschistische und neofaschistische Bewegungen. Probleme empirischer Faschismusforschung, Darmstadt 1977 (zusammen mit Hans-Ulrich Thamer); Der Ordens-staat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik, Berlin 1979; Der .deutsche Drang nach Osten'. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981; Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Habil. Sehr. FU Berlin 1978 (im Druck); Broschüren und Aufsätze in Sammelwerken und Fachzeitschriften zu den Problemen des Faschismus, Marxismus, der deutschen und osteuropäischen Historiographie und der jüdischen Geschichte.